Semiotik des Medikaments

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verantwortlich sein könnten. Solche Paradigmen streben nach Erklärungen, die, jenseits eines pathogenen Agens, der Unordnung der Krankheit einen Sinn geben könnten. In diesen Paradigmen wird, wie im vorherigen Kapitel ausgeführt wurde, außer einer lokalisierbaren organischen Unordnung eine Desorganisation des kranken Individuums im Hinblick auf sein soziales und kulturelles Umfeld in Betracht gezogen. So zeigt sich, daß die Geschichte der Krankheit und ihrer Behandlung nicht mit dem Standpunkt des pathogenen Agens und der pharmazeutischen Chemie beendet ist. Die Schlußfolgerung dieses Kapitels stimmt mit der Meinung von Foucault überein, der zu Beginn seiner Diskussion über die im Körper lokalisierbare Krankheit schreibt: „Diese Ordnung des festen und sichtbaren Körpers ist indessen für die Medizin nur eine der Arten, die Krankheit zu verräumlichen. Sie ist weder die erste noch die fundamentalste – es gibt andere und ursprünglichere Verteilungen der Krankheit.“84

Die heutigen Konzepte der Krankheit gehen aus von der Vorstellung einer physischen und/oder psychischen Störung der normalen Lebensvorgänge, die sich meistens in einer Minderung der Leistungsfähigkeit des Organismus und körperlichen Veränderungen äußert. Diese Konzepte stellen einen krankheitserzeugenden Reiz (äußere Erreger, mechanische, thermische, chemische oder physikalische Ursachen sowie ererbte oder seelische Krankheitsanlagen) in den Vordergrund und werden als negativ bewertete Konzepte individuell und sozial abgelehnt. Die diachronische Sicht der Krankheit hat aufgezeigt, wie diese Realität wahrgenommen und bewertet wurde. Aus der Entwicklung können verschiedene Sichtweisen dieser Realität unterschieden werden, die zu den heute vorhandenen Interpretanten für das Phänomen der Krankheit und seiner Behandlung geführt haben. Die Entwicklung der pharmazeutischen Chemie zu der Form, wie sie heute vorhanden ist, war nur möglich, nachdem die pathologische Anatomie den Erreger der Krankheit ausgemacht hatte. Von der Lokalisierung der Krankheit an entwikkelt sich eine spezialisierte Denk- und Sprachform, die versucht, die Erscheinungsformen, die Behandlung und die Heilung der Krankheit zu beschreiben. Wie im vorherigen Kapitel dargestellt wurde, herrscht eine spezialisierte Lexik und Syntax vor, die um so spezialisierter ist, je mehr sie von einer internen Sicht des Organismus und des Medikaments ausgeht. Die Art, mit diesen Realitäten umzugehen, entwickelt die aktuellen Konzepte von Gesundheit, Krankheit und Medikament. Im Anschluß sollen deshalb einige Repräsentationen dieser Realitäten und der möglichen Interpretanten betrachtet werden.

84 Ibd., S. 19.


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