HICEN lectures: Modul 1 – Neugeborenen-Hörscreening

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Modul 1 – Neugeborenen-Hörscreening Einführung

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Ziel des Moduls Methode

Kapitel 1 – Warum die Früherkennung von Hörstörungen so wichtig ist

Risikofaktoren und Häufigkeit frühkindlicher Hörstörungen • Sensible Phasen der Hörbahnreifung • Zusammenfassung Evaluation

Kapitel 2 – Was ist ein NeugeborenenHörscreening?

Messverfahren • TEOAE-Messung • AABR-Messung • TEAOA und AABR • Ablauf des Neugeborenen-Hörscreenings • Rahmenbedingungen des ScreeningProgramms • Aufklärung der Eltern • Tracking • Follow-up • Therapiebeginn • Zusammenfassung Evaluation

Literatur


Einführung Ziel des Moduls Im Gegensatz zu den Möglichkeiten unserer Eltern und Großeltern lässt sich heute für die Entwicklung von Kindern mit einer angeborenen Hörstörung behaupten, dass nicht mehr die Hörstörung das eigentliche Problem darstellt, sondern vielmehr der Zeitpunkt ihrer Entdeckung und Behandlung. Je früher Hörstörungen entdeckt werden, desto besser sind ihre Behandlungschancen. Die diagnostischen, apparativen und therapeutischen Fortschritte in unserer Zeit ermöglichen den betroffenen Kindern eine Entwicklung, die der Entwicklung hörender Kinder gleichkommt. Eine Hörstörung kann in der Regel nicht geheilt werden, doch lassen sich die bestehenden Defizite frühzeitig gut aus-gleichen, so dass dem Kind kein Nachteil daraus entstehen muss. Ziel dieses Moduls ist es, Verständnis für die große Bedeutung des Neugeborenen-Hörscreenings zu wecken. Es geht darum, gute Argumente zu liefern, warum Eltern nicht auf diese Vorsorgeuntersuchung verzichten sollten. Es wird aufgezeigt, warum die Früherkennung von Hörstörungen wichtig ist und welche Chancen mit einer frühen Diagnose und daran anschließend einer frühen Habilitation verbunden sind. Es wird dargestellt, welche Messverfahren zum Einsatz kommen und welche Bedingungen zusätzlich zu beachten sind, damit das Neugeborenen-Hörscreening erfolgreich ist. Methode Im Selbststudium sollen die Leser Grundlagenwissen zum Neugeborenen-Hörscreening erwerben. Sie sollen dies in der Elternberatung anwenden können. Die wesentlichen Lernziele sind zu Beginn des jeweiligen Kapitels formuliert. Außerdem haben die Leser die Möglichkeit, Ihren Wissenszuwachs anhand von Evaluationsfragen zu jedem Kapitel selbst zu überprüfen. Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1 – Warum die Früherkennung von Hörstörungen so wichtig ist Die wichtigsten Lernziele bestehen darin: • • • •

Risikofaktoren frühkindlicher Hörstörungen zu kennen zu wissen, dass das Neugeborenen-Hörscreening ein wirksames und zeitgemäßes Mittel ist, bei Geburt vorhandenes Hörstörungen früh zu erkennen zu erkennen, dass das Hörsystem in Abhängigkeit der ihm angebotenen Reize ausreift zu verstehen, dass durch die frühe Diagnose die Folgewirkungen von Hörstörungen minimiert werden können

1.1 Risikofaktoren und Häufigkeit frühkindlicher Hörstörungen Etwa ein bis zwei von tausend gesund geborenen Kindern kommen mit einer Hörminderung zur Welt oder erwerben diese in der Neugeborenenphase. In einem Teil der Fälle sind die Ursachen dafür nicht auszumachen. In etwa der Hälfte der Fälle liegen bestimmte Risikofaktoren für das Auftreten der Hörstörungen vor. Diese können vor der Geburt (pränatal), während der Geburt (perinatal) oder nach der Geburt (postnatal) auftreten. Potentielle Risikofaktoren sind (Hildmann 2008):

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genetische Defekte, die zur Häufung von Hörstörungen in bestimmten Familien führen können genetische Syndrome Fehlbildungen des Kopfes, des Gesichts und der Ohren Infektionen in der Schwangerschaft, z.B. (Röteln, Herpes, Toxoplasmose, Zytomegalie) extreme Unreife bei Frühgeburt (Geburtsgewicht < 1500g) Langzeitbeatmung (länger als 8 Stunden) kritische Hyperbilirubinämie (Starke Neugeborenengelbsucht) Anwendung innenohrschädigender (ototoxischer) Medikamente Meningitis (Hirnhautentzündung) alle Krankheiten oder Bedingungen, die einen Aufenthalt von 48 oder mehr Stunden in einer neonatologischen Intensivstation erfordern

Beim Vorliegen eines der Risikofaktoren geht man davon aus, dass mindestens 1-3 von 100 Kindern neben anderen Krankheiten oder Behinderungen auch eine Hörschädigung haben können. 1.2 Sensible Phasen der Hörbahnreifung Das Hören ist bei Geburt nicht vollständig entwickelt. Damit es seine volle Funktion entfalten kann, bedarf es der Ausreifung der Hörbahn nach der Geburt. Diese Reifungsprozesse vollziehen sich in bestimmten Zeitfenstern, den sensiblen Perioden, die für verschiedene Prozesse unterschiedlich lang sind. Sie laufen nur dann ungestört ab, wenn in diesen Phasen die entsprechende Stimulation erfolgt und eine Stabilisierung der sinnvollen neuronalen Verbindungen durch Schallreize stattfindet (Klinke 2008). Damit besteht ein eng umrissenes Zeitfenster für die Behandlung frühkindlicher Hörstörungen, die spätestens bis zum Ende der sensiblen Hauptphase der Hörbahnreifung, etwa mit Abschluss des ersten Lebensjahres, therapiert sein müssen, wenn nicht irreversible Schäden zurückbleiben sollen. Werden frühkindliche Hörstörungen nicht rechtzeitig, das heißt in den ersten sechs Lebensmonaten, mit Hörhilfen oder hörverbessernden Operationen behandelt und wird nicht zeitnah eine professionelle Frühförderung eingeleitet, so können sich daraus in der Folge Sprachentwicklungsstörungen, Lernstörungen mit emotionalen, psychosozialen und kognitiven Folgen und Auswirkungen auf die Schulbildung, die Berufsausübung und die Familien der Betroffenen ergeben. Nach internationalen Studien liegt das bisherige Diagnosezeitalter ohne Neugeborenen-Hörscreening bei etwa 21-47 Monaten. Frühkindliche Hörstörungen werden daher meist erst nach Ablauf der sensiblen Reifungsphasen versorgt. Es gibt eine Reihe von Belegen dafür, dass früh versorgte Kinder sich in verschiedenen Entwicklungsbereichen umso besser entwickeln je früher der Versorgungszeitpunkt liegt. Es stehen frühzeitig geeignete Mittel zu Verfügung, so dass das Hör- und Sprachsystem hörgeschädigter Kinder eine gleichwertige Entwicklung wie bei hörenden Kindern nehmen kann (Yoshinaga-Itano 2003).


1.3 Zusammenfassung Frühkindliche angeborene Hörschädigungen sind verglichen mit anderen angeborenen Krankheiten im Kindesalter relativ häufig. Hörgeschädigte Kinder verfügen wie alle Menschen über ein Hörerwerbssystem. Daher können sie Hören lernen wie alle anderen Kinder auch. Dies setzt voraus, dass die Hörschädigung in den ersten 6 Lebensmonaten sicher diagnostiziert und das Kind einer geeigneten Therapie zugeführt wird. Evaluation 1. Wie häufig treten Hörstörungen im Neugeborenenalter auf? • Selten, etwa ein bis zwei von 10.000 Kindern sind betroffen. • Gelegentlich, etwa ein bis zwei von 3.000 Kindern sind betroffen. • Häufig, etwa ein bis zwei von 2.000 Kindern sind betroffen. • Sehr häufig, etwa ein bis zwei von 1.000 Kindern sind betroffen. Beim Auftreten bestimmter Risikofaktoren kann sich die Zahl auf ein bis drei von 100 Kindern erhöhen. 2. Kommen Kinder mit einem voll ausgereiften und funktionstüchtigen Hörsystem zur Welt? • Ja, die Verarbeitung von Schalleindrücken vollzieht sich beim Neugeborenen wie beim Erwachsenen. • Ja, daher kann man mit einem Neugeborenen-Hörscreening sehr gut die normalhörenden von den hörgestörten Kindern unterscheiden. • Nein, das Hörsystem reift auch nach der Geburt weiter. Defizite müssen aber frühzeitig erkannt und vor Abschluss bestimmter kritischer Phasen ausgeglichen werden da sonst irreversible Schäden zurückbleiben können. • Nein, das Hörsystem reift in verschiedenen Phasen bis etwa zum 15. Lebensjahr. Fehlendes Hörtraining in den ersten Lebensjahren kann später durch therapeutische Maßnahmen gut ausgeglichen werden. 3. Was wird in den sensiblen Phasen der Hörbahnreifung angelegt? • Die Cochlea (Hörschnecke) mit ihren Sinneszellen (Haarzellen). • Die neuronalen Verschaltungen von Nervenzellen der Hörbahn und des auditorischen Kortex. • Die Verbindung zwischen Außen- und Innenohr beim Säugling. • Die Nervenbahnen zwischen der rechten und linken Cochlea (Hörschnecke). 4. Wann müssen Hörstörungen erkannt und therapiert werden? • So früh wie möglich, spätestens aber bis zum 6. Lebensmonat, da Hörbahnreifung bereits im Mutterleib beginnt und hörgestörte Kinder schon mit einem „Trainingsdefizit“ zu Welt kommen. • Etwa innerhalb des ersten Lebensjahres, da dann diese Reifungsphase abgeschlossen ist. • Mit etwa drei Jahren, da im Kindergartenalter komplexere Leistungsanforderungen an das Hörsystem des Kindes gestellt werden. • Mit etwa 18 Monaten, da das Kind bereits die ersten Worte bilden und sein Hörsystem selbst mit „trainieren“ kann. Inhaltsverzeichnis


Kapitel 2 – Was ist ein Neugeborenen-Hörscreening? Die wichtigsten Lernziele bestehen darin: • • • •

Zu verstehen, was das Ziel des Neugeborenen-Hörscreenings ist Zu wissen, welche Messverfahren zum Einsatz kommen Mögliche Schwachstellen der Ablaufstruktur zu kennen Geeignete Anlaufstellen für die Bestätigungsdiagnostik benennen zu können

Ein Neugeborenen-Hörscreening ist eine einfach durchzuführende Untersuchung bei der die überwiegend normale Funktion des Hörorgans einer Population über automatisierte Verfahren nachgewiesen werden kann. Ein Screening stellt einen systematischen Siebtest dar. Das Ziel besteht darin, mit geringem Aufwand eine möglichst sichere Aussage über die normale Funktion des Hörorgans zu erhalten. Daher können mit dem Neugeborenen-Hörscreening keine Aussagen über eventuell vorliegende Funktionsstörungen getroffen werden. Ein nicht bestandenes Hörscreening bedeutet nicht unbedingt, dass eine Hörschädigung vorliegt. Das Screening kann nur mit einem unauffälligen Ergebnis, mit einem abgebrochenen oder nicht durchgeführten Versuch, oder mit einem kontrollbedürftigen Test abgeschlossen werden. Niemals wird also eine Krankheit identifiziert, sondern überwiegend die normale, ungestörte Funktion des Organs nachgewiesen. Die Funktionsstörung des Gehörs ist, neben Mängeln bei der Durchführung der Untersuchung und systematischen und zufälligen Messfehlern, nur eine unter mehreren möglichen Ursachen für ein kontrollbedürftiges Testergebnis. Ein bestandenes Screening wird als PASS bezeichnet, ein nicht bestandenes mit REFER oder CONTROL. 2.1 Messverfahren Für das Neugeborenen-Hörscreening haben sich in den letzten Jahren zwei Messverfahren etablieren können. Es handelt sich dabei um die Messung von transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE) und die Messung automatisiert ausgewerteter akustisch evozierter Hinstammpotentiale (automated auditory brainstem response, = AABR). 2.1.1 TEOAE-Messung TEOAE-Verfahren messen im übertragenen Sinne die „Antworten des Innenohrs auf Schallreize“, besser noch: die Antwortsignale der äußeren Haarzellen im Innenohr. Diese erzeugen mit ihren aktiven Eigenschaften selbst wieder einen Schall, der über das Mittelohr in den äußeren Gehörgang übertragen und dort mit einem Mikrofon gemessen werden kann. Das Hörorgan wird dabei in der Regel über eine dicht mit dem Gehörgang abgeschlossene Sonde beschallt. Beim Erhalt von Emissionen kann man davon ausgehen, dass der Hörverlust nicht größer als 30 dB ist. Da bei den meisten Funktionsstörungen des Innenohres die Funktion der äußeren Haarzellen beeinträchtigt ist (siehe Modul 2), können otoakustische Emissionen dann nicht gemessen werden. Ein Ausbleiben der Emissionen kann aber auch andere Gründe haben, wenn zum Beispiel die Sonde nicht ausreichend gut im äußeren Gehörgang platziert ist oder die Emissionen am Mikrofon der Sonde von anderen Schallereignissen überlagert werden, d.h. die Umgebung zu laut ist. Die Messung kann am schlafenden oder wachen, aber sehr ruhigen Kind durchgeführt werden (Abb.1). Die Messzeit beträgt bei modernen Screening-Messgeräten unter günstigen Messbedingungen etwa 3 Sekunden bis 1,5 Minuten. Abb. 1: Messung Otoakustischer Emissionen (OAE) im Rahmen des Neugeborenen-Hörscreenings (Quelle: Mack Medizintechnik) 2.1.2 AABR-Messung AABR-Verfahren messen im übertragenen Sinne die „Antworten des Hirnstamms auf Schallreize“. Über Elektroden am Schädel werden dabei Potentialunterschiede auf der Hautoberfläche gemessen. Das Hörorgan wird über eine Sonde im äußeren Gehörgang oder über Schalen- oder Einsteckkopfhörer beschallt. Über den Trommelfell-Gehörknöchelchen-Apparat des Mittelohrs wird der Schall in die Hörschnecke (Cochlea) übertragen und dort von den Haarzellen in Aktionspotenziale umgewandelt. Diese werden über den Hörnerv und die sich anschließende Hörbahn in Richtung der Hörrinde weitergeleitet (siehe Modul 2). Auf ihrem Weg dorthin entstehen an verschiedenen Schaltstellen synchrone Entladungen vieler Zellen, die am Schädel über Elektroden abgeleitet werden können. Das Ausbleiben von Antworten des Hirnstamms kann auf eine Störung im Außenohr, im Mittelohr, im Innenohr (äußere und innere Haarzellen) oder im Hörnerv bis zum Hirnstamm hinweisen. Damit decken die AABR verglichen mit den TEOAE einen größeren Teil des Hörsystems ab. Allerdings liegen die Ursachen der meisten behandelbaren kindlichen Hörstörungen im peripheren Hörorgan und sind überwiegend schon über die TEOAE erfassbar.


Moderne AABR-Messgeräte verwenden einen Reizpegel von 35 Dezibel (Hearing Level, auch Hörpegel) für die Messung und können somit eine Hörschwelle ab 35 dB nachweisen. Das Messen von Hirnstammpotentialen benötigt im Vergleich zur Messung der otoakustischen Emissionen eine längere Vorbereitungszeit. In Abhängigkeit des verwendeten Messgerätes werden entweder drei Einmalelektroden am Kopf aufgeklebt oder Permanentelektroden an den bevorzugten Ableitstellen der Haut aufgesetzt. Die Vorbereitung und die nachfolgende Messung sollten vorzugsweise am schlafenden oder sehr ruhigen Kind erfolgen. Die Ableitung am unruhigen oder wachen Kind führt in der Regel zu einer Verlängerung der Messdauer, unter Umständen auch zu einem kontrollbedürftigen Ergebnis, da Muskelartefakte oder andere neuronale Ereignisse die akustisch ausgelösten Antworten des Hirnstamms überlagern können und deren Nachweis erschweren. Ein kontrollbedürftiges Ergebnis muss also auch hier nicht auf einen Hörschaden hinweisen, sondern kann durch fehlerhaftes Vorgehen oder schlechte Messbedingungen zustande kommen. Bei modernen Messgeräten liegt die Messzeit unter günstigen Messbedingungen zwischen 30 Sekunden und 3 Minuten. Abb. 2: Automatisierte Hirnstammaudiometrie (AABR) im Rahmen der Neugeborenen-Hörscreenings (Quelle: Mack Medizintechnik) 2.1.3 TEAOA und AABR Beide Verfahren, TEOAE und AABR, gewährleisten eine hinreichend genaue Trennung zwischen unauffälligen – und damit in der Regel auch gesunden – und auffälligen Ohren, die weiterer Untersuchungen bedürfen. TEOAE-Messungen sind schneller, einfacher in der Anwendung und günstiger in Hinblick auf die Gerätekosten. Zudem sind sie sensitiver in der Entdeckung geringgradiger Hörverluste. Sie haben weltweit große Verbreitung erfahren. Ihr Nachteil besteht in einer höheren Empfindlichkeit gegen Verlegungen des äußeren Gehörgangs mit Rückständen wie „Käseschmiere“ (die das Neugeborene umgibt) oder des Mittelohres mit Fruchtwasser, wie es in den ersten 48 Lebensstunden häufig auftritt. Im Hinblick auf Schallleitungsstörungen übertrifft die Empfindlichkeit der TEOAE grundsätzlich die der AABR. Daher weisen AABR-Messungen in den ersten 48 Lebensstunden höhere PASS-Raten auf. Während der letzten Jahre gewannen kombinierte TEOAE-AABR-Verfahren für ein NeugeborenenHörscreening weltweit an Bedeutung. Letzteres beinhaltet die Messung von OAE und bei deren Testauffälligkeit nach einem oder mehreren Tests eine sich anschließende AABR-Messung. Ein solches Vorgehen verknüpft die Vorteile der kurzen Messdauer, einer niedrigen Detektionsschwelle (30 dB) und niedriger Kosten für Verbrauchsmaterialien von OAE-Messungen mit denen einer höheren Spezifität und der Erfassung einer längeren Strecke des Hörsystems von AABR-Messungen. 2.2 Ablauf des Neugeborenen-Hörscreenings Wie der Ablauf des Neugeborenen-Hörscreenings organisiert ist, ist in verschiedenen Ländern noch nicht einheitlich geregelt. In Deutschland gibt es seit 01.01.2009 das universelle Neugeborenen-Hörscreening (d.h. alle Neugeborenen werden gescreent) als gesetzliche Regelleistung der Krankenkassen. Es erfolgt für jedes Ohr mittels TEOAE oder AABR und sollte bis zum 3. Lebenstag durchgeführt werden. Bei Risikokindern ist als Messverfahren ausschließlich AABR vorgesehen. Bei Frühgeborenen soll die Untersuchung spätestens zum Zeitpunkt des errechneten Geburtstermins, bei kranken oder mehrfach behinderten Kindern unter Beachtung der Zusatzstörungen und notwendigen klinischen Maßnahmen spätestens vor Ende des 3. Lebensmonats erfolgen. Bei auffälligem Testergebnis der Erstuntersuchung mittels TEOAE oder AABR soll möglichst am selben Tag, spätestens bis zum 10. Lebenstag an beiden Ohren eine Kontroll-AABR durchgeführt werden. Bei einem auffälligen Befund in dieser Kontroll-AABR soll eine umfassende pädaudiologische Konfirmationsdiagnostik bis zur 12. Lebenswoche erfolgen. Bis zum 6. Lebensmonat soll eine geeignete Therapie (Versorgung mit technischen Hörhilfen und Frühförderung) eingeleitet werden. 2.3 Rahmenbedingungen des Screening-Programms Das Neugeborenen-Hörscreening ist ein sehr komplexes Räderwerk vieler Komponenten. Es kann nur seine Wirksamkeit entfalten, wenn alle Abläufe verlässlich und zeitnah aufeinander abgestimmt sind. Für ein universelles, d.h. jedes Kind erfassendes Hörscreening ist es nötig, nicht nur die Screening-Technik im Blick zu haben, sondern auch die Rahmenbedingungen des kompletten Screening-Programms einer Region oder eines Landes, um dem eigentlichen Ziel des Screenings gerecht zu werden: der Vorverlegung des Therapiezeitpunktes frühkindlicher Hörstörungen im Vergleich zu dem in einer nicht systematisch gescreenten Population. Warum auch mit Neugeborenen-Hörscreening der Diagnosezeitpunkt nicht immer vorverlegt werden kann, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, die sich einer frühzeitigen Therapie entgegenstellen können. Bleibt z.B. der Test kontrollbedürftig muss das Kind nach einigen Tagen einen Kontrolltest erhalten können. Wo erhält das Kind eine fachgerechte Kontrolle? Wann erhält das Kind einen Termin dafür? Kommen die Eltern mit ihrem Kind zu diesem Termin? Besteht überhaupt ein Vertrauen in das Ergebnis des ersten


Screenings? Was geschieht, wenn die Screening-Kontrolle wiederum ein auffälliges Ergebnis zeigt? Wer kann kindliche Hörstörungen ausreichend genau diagnostizieren? Wann kann eine Therapie beginnen? In welcher Qualität wird die Therapie durchgeführt? Notwendigerweise kann der Screening-Prozess erst dann als abgeschlossen gelten, wenn der Ausschluss einer Hörstörung festgestellt oder die Hörstörung eindeutig und umfassend, unter Festlegung der Therapiemaßnahme und deren Beginn, diagnostiziert wurde. 2.3.1 Aufklärung der Eltern Schriftliche Elterninformationen und die Aufklärung über den Vorteil eines Hörscreenings besitzen einen großen Einfluss auf die Teilnahme daran. Je etablierter das Screening in einer Region ist, desto öfter fragen Eltern auch aktiv nach einem Hörtest für ihr Kind. Die Gruppe der „Verweigerer“ ist verschwindend gering, daher muss nicht näher auf sie eingegangen werden. Deutlich größer ist die große Gruppe der „Gleichgültigen“, die einen solchen Test nicht erwarten und sich weiter auch nicht dazu verhalten wenn ihnen das Screening nicht nahe gebracht wird. Beim kontrollbedürftigen Messergebnis sollte eine Aufklärung hinsichtlich der möglichen Ursachen erfolgen. Diese werden in den ersten Lebenstagen oft durch Schallübertragungsprobleme auf Grund von „Käseschmiere“ oder Fruchtwasserresten hervorgerufen, sind aber unproblematisch, da die ScreeningKontrolle nach Ablauf einiger Tage bei ca. 90% der Fälle bereits ein unauffälliges Ergebnis erbringt. Bei Frühgeborenen sind die Hirnstammpotentiale oft erst um den errechneten Geburtstermin herum abzuleiten. Genauso kann das Ergebnis aber auch auf eine Funktionsstörung des Hörsystems hinweisen. Daher sind in jedem Falle diagnostische Aussagen, aber auch Tendenzen und Spekulationen nach einem Screening zu vermeiden. In Abhängigkeit des Wissensstandes der Untersucher wird gern zu Ausflüchten gegriffen wie: „Das Gerät funktioniert manchmal nicht.“ oder „Das liegt am Fruchtwasser.“ Die Problematik dabei liegt auf der Hand. Während sich der Untersucher „entlastet“, ruft er dieselbe Wirkung auch bei den Eltern hervor. Für sie erscheint eine Kontrolle überflüssig, da es ja konkrete Gründe für das kontrollbedürftige Ergebnis gab. Solchermaßen aufgeklärte Eltern sind später nur sehr schwer von der notwendigen Kontrolle für das Kind zu überzeugen. Ein guter Untersucher sollte auf das gesamte Spektrum der Möglichkeiten hinweisen und die Notwendigkeit einer zeitnahen und fachgerechten Kontrolle erläutern können. 2.3.2 Tracking Ein Tracking hat die Aufgabe, Kinder nach Entlassung aus der Geburtseinrichtung weiter zu begleiten, bis sie wieder einer eventuell notwendigen Screening-Kontrolle oder zu einer Diagnostik vorgestellt wurden. Es kümmert sich folglich um Kinder, welche die Geburtseinrichtung ohne ein beidseitig unauffälliges Ergebnis verlassen haben (eine einohrige Screening-Strategie wird mehrheitlich nicht mehr verfolgt). Ein Tracking ist notwendig, da das Elternengagement unterschiedlich gelagert ist. Dieser Sachverhalt ist teilweise nachvollziehbar, weil „Störmeldungen“ im Prozess der Eltern-Kind-Bindung grundsätzlich schlecht toleriert werden. Die Tatsache, dass ohne ein Tracking aber nur etwa 50% der Eltern ihr Kind wieder einer Kontrolle vorstellen, gibt Auskunft über die weitgehende Verdrängung dieser Thematik nach der Entlassung aus der Geburtseinrichtung. Über Erinnerungsbriefe und Telefonate wird den Eltern des Kindes nahe gelegt, das Hörorgan zeitnah in einer geeigneten Einrichtung (follow-up – Einrichtung) überprüfen zu lassen. Dafür müssen regionale Leitstellen mit systematischen Prozeduren zur Verfügung stehen. 2.3.3 Follow-up Unter follow-up versteht man die Überprüfung kontrollbedürftiger Screeningbefunde mit diagnostischen Mitteln. Spezialisierte Einrichtungen halten dafür verschiedene Untersuchungsverfahren vor und sind besonders auf die kindliche Diagnostik von Hörstörungen eingerichtet. Diagnostik und Therapie sind in hohem Maße von Qualifikation und Erfahrungswissen geprägt. Therapeutische Maßnahmen und Ziele werden hier in der Regel begonnen oder festgelegt. Diese speziell für kindliche Diagnostik qualifizierten Hals-Nasen-Ohren – Ärzte oder Pädaudiologen führen eine Konfirmationsdiagnostik (Bestätigungsdiagnostik) durch. Da Kinder nicht aktiv bei der Diagnosestellung mitarbeiten können, kommen hier mehrere Messverfahren zur Ermittlung der Art, der Lokalisation und des Grades der Hörstörung zum Einsatz (siehe auch Modul 2). Der Begriff der Pädaudiologie (Kinderaudiologie) ist angebracht, wenn neben audiometrischen Methoden auch Ursachen und Behandlung sowie medizinische Betreuung, Hörgeräteversorgung und Sprachförderung hörgeschädigter Kinder in Betracht gezogen werden. Grundsätzlich gehören Hörprüfungen bei Kindern in die Hand erfahrener Untersucher, damit sowohl falsch positive als auch falsch negative Ergebnisse vermieden werden. Als wichtigste Untersuchungsmethoden seien hier die Messung der otoakustischen Emissionen mit diagnostischen Verfahren, die frequenzspezifische Hirnstammaudiometrie, die Tympanometrie im Hoch- und Tieftonbereich sowie die Reflexaudiometrie bei Säuglingen genannt (siehe Modul 2). Für eine differenzierte Diagnostik müssen ebenfalls die möglichen Ursachen der Krankheit (Ätiologie) abgeklärt, eine Prognose und eine


Therapieindikation erstellt werden. Ein follow-up kann und sollte sich kurzfristig einem kontrollbedürftigen Screening anschließen. Die Diagnosestellung kann auch in den ersten Lebenswochen erfolgen. Die meisten Therapien stehen frühzeitig zur Verfügung. Bis zum Abschluss des dritten Lebensmonats sollten alle Kinder diagnostiziert sein! 2.3.4 Therapiebeginn Die Versorgung und Therapie von kindlichen Hörstörungen hat sich mit dem medizinisch-technischen Fortschritt gravierend gewandelt. Technische Hörhilfen, insbesondere das Cochlea-Implantat (CI), ermöglichen selbst hochgradig hörgeschädigten Kindern den Eintritt in die Welt des Hörens. Grundsätzlich können hörverbessernde Operationen oder Hörgeräteversorgungen frühzeitig, etwa ab einem Alter von zwei Monaten durchgeführt werden. Hörverbessernde Operationen kommen insbesondere für Kinder mit angeborenen Gesichtsspalten, z.B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten in Betracht. Hier ist häufig eine frühe Versorgung der Kinder mit mittelohrbelüftenden Paukenröhrchen nötig, da die gestörte Gaumenfunktion eine normale Mitteohrbelüftung behindert. Beidseitige Verschlüsse der Gehörgänge im Rahmen von Ohrfehlbildungen werden erst im späteren Kindesalter operiert und bedürfen einer Versorgung mit Knochenleitungshörgeräten. Die Hörgeräteversorgung derart junger Kinder stellt besondere Anforderungen an Hörgeräteakustiker, Frühförderer und das medizinische Personal. Bleiben Hör- und Sprachentwicklung trotz einer Hörgeräteversorgung rudimentär oder ganz aus, kann die Versorgung mit einem Cochlea-Implantat (CI), einer elektronischen Innenohrprothese nötig sein. Diese unter die Kopfhaut implantierte Prothese ermöglicht die direkte Reizung des Hörnervs durch elektrische Impulse, aus dem das Gehirn nach einiger Trainingszeit Höreindrücke erzeugt, selbst wenn das Kind nie zuvor gehört hat. Voraussetzung ist, dass die Ursache der praktischen Taubheit im Innenohr liegt, was meistens der Fall ist und dass ein intakter Hörnerv vorhanden ist. Diese Therapie, mit der praktisch gehörlose Kinder hören können, ist umso erfolgreicher, je früher sie erfolgt (siehe Modul 3). Die Hörgeräte- bzw. CI-Versorgung stellt nur eine Teilmaßnahme im Rahmen einer mehrjährigen Betreuung des hörgeschädigten, mitunter auch mehrfach behinderten Kindes sowie seiner Eltern dar. Es schließt sich eine besonders intensive Hör-Habilitation an. Neben der fachlichen Begleitung spielt die Einbindung der Eltern in den Therapieprozess eine wichtige Rolle (siehe Module 4 & 5). 2.4 Zusammenfassung Das Neugeborenen-Hörscreening verbessert die Chance, dass ein Kind mit einer angeborenen Hörstörung früher diagnostiziert und einer geeigneten Therapie zugeführt wird. Insbesondere in den europäischen Ländern sollten Neugeborenen-Hörscreening – Programme außerhalb jeder Diskussion stehen. Die medizinisch-technischen Möglichkeiten sind ausreichend erforscht und werden beständig weiterentwickelt. Neugeborenen-Hörscreening – Programme sind vergleichsweise kostengünstig und können allen Kindern zur Verfügung stehen. Bei frühzeitiger Entdeckung und Behandlung frühkindlicher Hörstörungen haben diese Kinder die gleichen Bildungs-, Berufs- und Entwicklungschancen wie die (zufällig) als hörgesund zur Welt gekommenen Kinder. Evaluation 1. Lässt sich über ein Neugeborenen-Hörscreening eine Hörstörung feststellen? • Nein, ein Hörscreening gibt lediglich einen Anhaltspunkt für eine eventuell vorliegende Funktionsstörung, die erst über diagnostische Verfahren bestätigt werden kann. Screening und Diagnostik sollten in kurzem Zeitabstand erfolgen. • Ja, da die Mehrheit der Kinder den Test besteht, ist die Wahrscheinlichkeit einer Hörstörung in der verbleibenden Gruppe der Kinder mit einem kontrollbedürftigen Test sehr hoch. • Ja, sonst könnte man ein solches Hörscreening nicht empfehlen. Die Messverfahren müssen aber geeignet und die Messergebnisse automatisch ausgewertet sein, damit auch unerfahrene Untersucher zu einer sicheren Diagnose kommen können. • Nein, ein Hörscreening ist kein diagnostisches Verfahren. Es dient dazu, Hörstörungen bei der Mehrheit der Kinder sehr früh ausschließen zu können. Für Kinder, die den Test nicht bestehen, ist ein Anhaltspunkt gegeben, die weitere Hör- und Sprachentwicklung genauer zu verfolgen. 2. Weiß man nach einem Hörscreening, ob ein Kind hört oder nicht hört? • Ja, man unterscheidet bei den Ergebnissen in normalhörende und hörgestörte Kinder. • Nein, viele Beispiele zeigen, dass die Tests noch nicht aussagekräftig genug sind. • Nein, insbesondere kontrollbedürftige Kinder müssen eine zeitnahe Kontrolle erhalten. • Ja, mit dem Ergebnis des Hörscreenings erhält man eine ausreichend verlässliche Antwort.


3. Wie viele Eltern stellen ihr Kind wieder zeitgerecht zu einer Kontrolle vor, wenn das ScreeningErgebnis kontrollbedürftig war? • etwa 80%. • etwa 75%. • etwa 50%. • etwa 25%. 4. Tracking steht für: • das Nachverfolgen und Begleiten testauffälliger Kinder. • das Schreiben von Erinnerungsbriefen an Eltern testauffälliger Kinder. • die Verantwortlichkeit der Durchführung des Screenings und des Begleitens der Kinder bis zu einer Kontrolluntersuchung. • das Nachverfolgen testauffälliger, nicht vollständig oder nicht gescreenter Kinder bis zu einem abschließenden Ergebnis, gegebenenfalls bis zum Beginn einer Therapie. 5. Unter einem follow-up versteht man: • die Wiedervorstellung eines kontrollbedürftigen Kindes in einer ärztlichen Einrichtung. • die Kontrolle eines auffälligen Screening-Befundes in der Geburts- oder in einer ärztlichen Einrichtung. • die Hörgeräteversorgung und –Anpassung in einer spezialisierten Facheinrichtung. • die Bestätigungsdiagnostik (Konfimationsdiagnostik) in einer spezialisierten (pädaudiologischen) Facheinrichtung. 6. Wann sollte ein follow-up erfolgen? • Innerhalb der ersten Lebenswochen, spätestens aber bis zum Abschluss des 3. Lebensmonats. • Nicht vor Abschluss des 3. Lebensmonats, spätestens aber bis zum 6. Lebensmonat. • Nicht vor dem Abschluss des ersten Lebensjahres. • Erst nach der Bestätigung des kontrollbedürftigen Befundes durch den behandelnden Kinderarzt, dann aber ohne weiteren Zeitverlust (Terminmanagement). 7. In welchem Zeitraum sollte mit der Therapie einer frühkindlichen Hörstörung begonnen werden? • Spätestens bis zum Abschluss des 3. Lebensjahres (Kindergartenalter). • Spätestens bis zum Abschluss des 6. Lebensmonats. • Spätestens bis zum Abschluss des 2. Lebensmonats. • Spätestens bis zum Abschluss des 2. Lebensjahres. Inhaltsverzeichnis


Literatur Hildmann A (2008): Frühkindliche Hörstörung – eine interdisziplinäre Aufgabe. Sprache Stimme Gehör 32, 2-5 Joint Committee on Infant Hearing (2007) Year 2007 Position Statement: Principles and Guidelines for Early Hearing Detection and Intervention Programs. Pediatrics 120,898-921 http://www.pediatrics.org/cgi/content/full/120/4/898 (07.02.2009) Klinke R (2008): Hören lernen – die Bedeutung der ersten Lebensjahre. Sprache Stimme Gehör 32, 6-11 Yoshinaga-Itano C (2003): From Screening to Early Identification and Intervention: Discovering Predictors to Successful Outcomes for Children With Significant Hearing Loss. Journal of Deaf Studies and Deaf Education 8:1, 11-30

Inhaltsverzeichnis


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