Mandy Buchholz »Karow oder die Sehnsucht nach Heimat«

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08:59 Uhr ab Ostbahnhof / knallroter Regionalexpress RE1 / freier Platz im Fahrradabteil / Wir erreichen jetzt den Bahnhof Berlin-Alexanderplatz. / … / Friedrichstraße / Hauptbahnhof / … in Potsdam wird der Zug schlagartig leer / Ankunft Genthin Bahnhof 10:19 Uhr / Schulferien in Sachsen- Anhalt / nächster Bus nach Karow fährt erst wieder um … ? /

werde abgeholt, Mutti schließt mich in die Arme, wir gehen zum Edeka, Früh-

stück im Bäcker Schäfer, bis 12 Uhr für 1,99 Euro, gar nicht teuer - mit zwei Schrippen und Kaffee soviel man will, aber der Kochschinken ist zusammengeklebte Presswurst, sagt Inge, den lassen wir alle liegen, Früher hat’s doch sowas nicht gegeben!, ... da hinten ist doch Frau xy, Was hat die denn alles im Korb?, Na ja – gab ja grad Hartz IV!, Dass die alle nicht wirtschaften können mit ihrem bisschen Geld; wahrscheinlich fährt sie jetzt noch mit dem Taxi nach Hause gelbes Ortseingangschild / Karow / von der Ernst-Thälmann-Straße an Losekamms Ecke links in die Wilhelm-Pieck-Straße einbiegen / Neubau /

schreiend begrüßen mich Kinder, Toni, Celina, Dominik, Adrian, Monique,

Mütter, Jugendliche, Ehepaar Fenger, alle sitzen draußen an Plastiktischen vor dem Neubau, so wie jeden Tag, jeden Abend – wenn es warm ist, alles vor der Tür, Kaffeekannen, Milchschnitte auf die Hand, keine Geheimnisse, alles sehen, alles wissen, alles hören,  Viel zu laut! , sagen die, die Arbeit haben, da kommt man geschafft aus dem Büro und dann grillen die da schon lauthals in der Sonne!, früher habe hier nur die Prominenz gewohnt, sagen die Karower, meinen damit die Lehrer, sind dafür extra alle nach Karow gezogen damals, Herr Müller z.B., der kam aus Magdeburg, Brief vom Amt, schnell hoch in Muttis Küche, Tür zu, Termin in der Arbeitsagentur Genthin, 09:00 Uhr bei Herrn Röder, Zimmer 1.03, Mutti hat Angst, ist jetzt 56, bloß nicht wieder auf die Schulbank, Machen uns ’ne schöne Zeit, wir beide! , sagt Mutti, Spaziergänge, Leute besuchen, Sportgruppe, › Senioren und Freunde  ‹, Fahrradtouren, Sonntags kommt der Eiswagen, Brötchen holen wir uns am Bäckerwagen  [1] – fast wie Ferien

Wilhelm-Pieck-Straße hoch / zur Ernst-Thälmann-Straße / rechts zu Frau Witte / bunt geblümte Dederonschürze, viele tausend Blüten, freue mich so, Elsbeth ist fix und fertig, hat Erdbeeren gepflückt schon ganz früh, bevor die Hitze kommt, Sind zweijährige, ist nichts mehr; nur noch kleine Dinger dran, schüttet alles in eine Plastetüte, gibt sie uns mit, Erdbeermarmelade dazu, nebenbei schnell noch Spargel

abwiegen, schafft alles nicht mehr, ist so kaputt, wird alles zuviel, so ein großes

[1] Im Zuge der Schließung vieler Verkaufsstellen in ländlich-peripheren Regionen werden fast alle Dörfer mit mobilen

Verkaufswagen von Bäckereien und Metzgereien versorgt.

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