delirium /// Literaturmagazin

Page 40

Kritik

ganz alleine dastehe. Diese Dinge einer für mich zu-

erdenkbaren Welt, weitergeführt werden könnte, wozu

nächst fremden und mittlerweile eigenen – aber im-

ich eigentlich nur auf eine bestimmte Weise zu hören

mer noch vereinsamten, eigenartigen und somit

bräuchte.

entfremdenden – Welt überfallen mich mit ihrer hör-

Dieser besondere Bezug zu Dingen beinhaltet nicht

baren Feindseligkeit: «das grollen». Sie überfallen mich

das spirituelle Heil oder die gesellschaftliche Annehm-

also mit einem hörbaren Seinsmodus, der sich den zäh-

lichkeit durch konventionelles Ge-horchen von Got-

menden Konventionen der Sprache – denjenigen, die

tes Wort oder durch konventionelles Dazu-ge-hören

es normalerweise ermöglichen, Fremdes durch das

zur sprachlichen Gemeinschaft. Das besondere Glück

Ge-meinsame eigen zu machen – entzieht. Zu diesem

dieses neuen und eigenen Bezugs zu einer Welt ist

hörbaren Seinsmodus, der sich den zähmenden Kon-

lediglich das Entsetzen, mit dem uns unvermittelte

ventionen entzieht, zählt jedoch nicht nur «das grollen

Dinge hörbar entgegentreten. Ein riskantes Glück wird

/ der toten» als unheimliche Feindseligkeit. Auch das

also dem Leser oder dem Kritiker durch das Gedichtete

«seufzen der wolken» als melancholische Zärtlichkeit

suggeriert, ein Glück, das auch für die Dichtung selber

ge-hört dazu. Es handelt sich offensichtlich um einen

– als literarisches Unterfangen, das als solches und

hörbaren Seinsmodus der Dinge und der Welt, dessen

zugunsten der poetischen Bildhaftigkeit notwendiger-

Unvermitteltheit sich nur noch durch poetische Bild-

weise auf spirituelles Heil und gesellschaftliche

haftigkeit repräsentieren lässt.

Annehmlichkeiten verzichten muss – riskant bleibt.

Erst in dieser Situation also, in der es mir nicht mehr durch die zähmenden Konventionen der Sprache heimelig gemacht wird, in der ich aber immer noch

Die Autonomie der Dichtung

in der gedichteten Welt daheim bin, kann mir auch Folgendes nicht mehr verheimlicht werden: ein

Wir haben nun ein ‹glückliches Hören› – ein

Seinsmodus der Dinge, in dem diese so sind, wie sie

Hören der Dinge, so wie sie gerade sind und uns ent-

sind und wie sie mir gerade hörbar entgegentreten;

gegentreten – als unser neues und eigenes Objekt der

ein unvermittelter Seinsmodus, der nur in poetischer

literarischen Kritik gewonnen. Nun kann dieses Objekt

Bildhaftigkeit durch die Sprache repräsentiert und auf-

befragt werden. Falls ein solches glückliches Hören tat-

bewahrt werden kann; ein Seinsmodus, der auch ein

sächlich ein Fundament von authentisch literarischer

potenzielles Für-sich ausmacht und somit die Kritik

Dichtung sein sollte, müsste dann diese nicht einfach

einlädt. Mit anderen Worten scheint sich hier zu zeigen,

implizit von ihm ausgehen, anstatt es als Fundament

dass ein ungezähmtes und unvermitteltes Hören auf

erst explizit zu konstruieren? Wir können dasselbe

die Dinge ganz im Sinne einer poetischen Bildhaftig-

auch anders fragen: Verbleibt eine Dichtung, die vor

keit und ihrer potenziellen Lesbarkeit ist, dass dies also

allem darauf ausgerichtet ist, ihr Fundament explizit zu

eine fundamentale Bedingung sowohl für die Möglich-

konstruieren – als glückliches Hören, das sich im Ge-

keit authentisch literarischer Dichtung als auch ihrer

dichteten durch wachsende Insistenz behauptet – nicht

Kritik ist. In seinen letzten Versen stellt das Gedicht

gerade deshalb auf einer Vorstufe des eigentlich in der

genau diese Bedingung – und es erfüllt sie zugleich.

Dichtung allgemein Intendierten – der poetischen

Das letzte «und höre» des Gedichts ist eine Be-

Bildhaftigkeit, die sich erst gegen Schluss des ent-

stätigung dafür, dass das neue Objekt des Kritikers

sprechenden Gedichts behauptet, um dann sogar ganz

auch sein eigenes Objekt ist. Ich bin durch das Lesen

zurückzutreten? Daraus folgt auch die zweite Frage:

des Gedichts zum Kritiker geworden, weil mich dieses

Was könnten allfällige Motive einer solchen – schein-

durch die poetische Bildhaftigkeit in einen eigenen

bar unvollständigen – Ausführung von Dichtung sein?

oder unvermittelten Bezug zur gedichteten Welt

Auf der Ebene des einzelnen Gedichts «und höre»

treten liess, deren Dinge in der Folge direkt zu mir

und seiner unmittelbaren literarischen Kontextuali-

‹gesprochen› haben. Das letzte «und höre», dem eine

sierung können wir diese Fragen wie folgt erörtern:

Leere folgt, ist ein Zeichen dafür, dass sich nun sogar

Die Aussage des Gedichteten kann dahin gehend ge-

die poetische Bildhaftigkeit zurückzieht, dass sie also

lesen werden, dass authentisch literarische Dichtung

nur noch als Abwesenheit anwesend sein soll. Das sug-

und ihre Kritik sich ihr eigenes sprachliches Gesetz ge-

geriert, dass ein unvermittelter Bezug zu Dingen von

ben sollten, dass sie autonom sein sollten und dass sie

mir auch jenseits der gedichteten Welt, also in jeder

Letzteres vor allem durch glückliches Hören erreichen.

38


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.