Maulnes-en-Tonnerois

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Der Grundriss des Schloßes Maune (jetzt Mosne, im Département der Yonne), zeigt, daß die Erbauer offenbar glaubten, es müsse die Wahl von regelmäßigen geometrischen Formen der Anlage etwas von einer ideal-mysteriösen Vollkommenheit verleihen. Im Wesentlichen glaubt diese Stilrichtung ihrem Ziel zu nahen, wenn sie der Composition ihrer Werke Formen zu Grunde legt, wie den Kreis, das Quadrat und regelmäßige Figuren, die in sich schon den Begriff einer objectiven vollkommenen Eigenschaft enthalten und folglich auch zu erwecken vermögen. Ebenso wie die Materie nur im Zustande der Reinheit die höchste Erscheinung in der Form, die Krystallisation, annehmen kann. Heinrich von Geymüller

Maulnes-en-Tonnerrois

Das Château de Maulnes, das in wesentlichen Teilen noch erhalten ist, wurde nach einer umfassenden Quellenforschung in achtzehn Bauaufnahmekampagnen in allen Details dokumentiert und einer umfassenden Bauforschung unterzogen. Die Arbeit erstreckte sich über mehr als fünfzehn Jahre, und im Ergebnis entstand so eine vollständige Dokumentation und Analyse dieses Schlüsselbauwerks der späten französischen Renaissance, die auch alle Fragen nach Sinn und Bedeutung des Gesamtkonzeptes wie der einzelnen architektonischen Formen systematisch erörtert. Als Programmbauwerk und bekenntnishafte Positionierung im Glaubensstreit der Epoche steht Maulnes allerdings nicht allein, und der zweite Teil des Buches ist deshalb den Vergleichsbauten gewidmet, die während der unruhigen Regierungsjahre Karls IX. und der Königinmutter Katharina Medici von den Mitgliedern des Königshauses, den Parteigängern der streitenden Konfessionen und von den Anhängern der Ziviltoleranz errichtet wurden. So entstand am Ende eine vergleichende Untersuchung über den Manifestcharakter der Architektur des französischen Schlosses im Zeitalter der Religionskriege.

Geymüller

120918 Schutzumschlag_neu_Jacket Maulnes 09.10.12 13:03 Seite 1

1997 erschien in der Edition Axel Menges Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht als erster Teil einer Tetralogie zur Architektur der Renaissance, die mit dem vorliegenden Buch im Geymüller Verlag fortgesetzt wird.

www.geymueller.de

Jan Pieper

Jan Pieper veröffentlichte zahlreiche Forschungsarbeiten zur vergleichenden Architekturgeschichte, die auf langjährigen Aufenthalten in Süd- und Südostasien während der 1960er und 70er Jahre beruhen. Seit 1982 liegt der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit in Forschungen zur italienischen Renaissance und ihrer Rezeption nördlich der Alpen, insbesondere in Frankreich. Mit dem frankophonen Raum ist er auch persönlich eng verbunden, denn seit 1980 lebt er auf der deutsch-französischen Sprach- und Kulturgrenze im wallonischen Belgien.

Jan Pieper Maulnes-en-Tonnerrois

Jan Pieper, geboren 1944, ist seit 1982 Professor für Baugeschichte. Er studierte Architektur in Berlin und Aachen und an der Architectural Association School of Architecture, London, danach Architekturgeschichte (Arts and History) an der London University. Nach langjähriger Tätigkeit als Mitarbeiter von Gottfried Böhm habili tierte er sich für das Fach »Geschichte der Architekturtheorie« am Institut für Kunstgeschichte der RWTH Aachen unter der Ägide von Hans Holländer. Von 1988 bis 1993 war er Direktor des Instituts für Architektur- und Stadtgeschichte der Technischen Universität Berlin, seither ist er Ordinarius für Baugeschichte an der RheinischWestfälischen Technischen Hochschule Aachen.

Jan Pieper

Maulnes-en-Tonnerrois Ein Konstrukt aus dem Geiste des Manierismus

Das Château de Maulnes (1566–1573) ist eines der dreißig Schlösser der französischen Renaissance, dem die Ehre widerfuhr, noch während der Bauzeit in die Plus Excellents Bastiments de France von Jacques Androuet Ducerceau aufgenommen zu werden, zu Recht, denn ohne Frage ist es eine der eigenwilligsten Schöpfungen der Epoche. Über einem fünfeckigen Grundriß errichtet und vollkommen schmucklos, birgt das Corps de Logis in der Mitte eine natürliche Quelle, die monumental von einem zylindrischen Brunnenschacht eingefaßt wird, um den sich eine spiralförmige Treppe durch alle Geschosse nach oben windet. Das Treppenhaus selbst ist eine Domäne des Außenraumes im Zentrum des Gebäudes, das den Naturgewalten Wind und Wetter ungehinderten Zutritt gestattet und zudem die Elemente Wasser, Feuer, Luft und Erde wie Exponate isoliert, zugleich räumlich faßt und architektonisch überhöht. Rings um dieses offene Gehäuse der Naturelemente gruppieren sich die Appartements des Wohnens und der Repräsentation. Die Bauherren, Antoine de Crussol und Louise de Clermont, haben mit dieser Raumdisposition die Natur selbst in ihr Haus geholt, sie haben sie auf ihre grundegenden Erscheinungen nach der antiken Elementenlehre reduziert, einzeln vorgeführt und sie so zum Gegenstand einer architektonischen Inszenierung gemacht, daß darin die Aura des Elementaren in der Natur aufscheint. Sie haben dadurch ihrer eigenen Wohnung eine Mitte gegeben, die von den Vier Elementen in einer unbedingt sakral zu nennenden Fassung besetzt ist, gerahmt von einer Architektur, die nach Zentralbautypologie, Lichtregie und auratischer Überhöhung der Verehrungsobjekte alle Qualitäten der Sakralbaukunst aufweist. Diese offenkundige Hinwendung zum Sensus Numinis in den Elementargestalten der Natur und der Versuch, ihn im Bau des Schlosses architektonisch zu fassen, ist keineswegs das beiläufige Ergebnis einer zufälligen Bauherrenlaune, sondern ein mit bekennerhaftem Ernst vorgetragenes Programm. Das Schloß ist die persönliche Antwort des Bauherrenpaares auf die dramatische Verschärfung der religiösen Auseinandersetzungen, die am Vorabend der Hugenottenkriege alle Züge eines kollektiven Wahns anzunehmen begannen. Antoine de Crussol und Louise de Clermont waren beide hohe Funktionsträger des Staates, sie waren auf verschiedenen Seiten und auf unterschiedliche Weise in die Ereignisse verstrickt, selbst in bester Absicht mit schuldig geworden, bis sie sich zunehmend skeptisch von den Glaubensgewißheiten der streitenden Parteien abwandten, um in Maulnes das große Gemeinschaftsprojekt ihres Lebens zu verwirklichen: ein Manifest zur Überwindung der religiösen Gegensätze in der Rückkehr zu den Ursprüngen des Religiösen überhaupt. So entstand mit dem Château de Maulnes ein Bauwerk, das in quasi naturreligiöser Verehrung die Vier Elemente inszeniert, als Chiffre einer platonischen Weltsicht und skeptischen Abkehr von der kirchlich verfaßten, dogmatisch de-finierten Rechtgläubigkeit, hin zu einer Rückbindung des religiösen Empfindens an die Präsenz des Göttlichen in der Natur.


Jan Pieper

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Maulnes-en-Tonnerrois Architektur der Skepsis, des Glaubens, der Ziviltoleranz

Geym端ller | Verlag f端r Architektur


Jan Pieper Maulnes-en-Tonnerrois Architektur der Skepsis, des Glaubens, der Ziviltoleranz


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Das System der Raumnumerierung bezeichnet mit der ersten Ziffer die Ebene, mit der Ziffer nach dem Punkt den Raum, mit dem darauf folgenden Buchstaben die Wand, beginnend auf der Südseite mit A und dann in alphabetischer Reihenfolge im Uhrzeigersinn fortlaufend. Bei Maßangaben bedeutet »p«: »pied de Roi« (Alter Pariser Fuß von 0,3248 m), ebenso »Fuß«, wenn nicht ausdrücklich ein anderer – z.B »antikrömischer Fuß« – benannt wird. »T« bedeutet »Toise« (Klafter von 1,949m)

© 2007 Edition Axel Menges Für diese Ausgabe: © 2012 Geymüller Verlag für Architektur ISBN 978-3-943164-06-0 Alle Rechte vorbehalten, besonders die der Übersetzung in andere Sprachen.

Druck und Bindearbeiten: Everbest Printing Co., Ltd., China Design, Layout und Satz: [synthese], Aachen


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Vorwort

10

1. Der Bautyp Jagdschloß, Scheinfestung, Kaprize

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2. Die Rezeption Das vergessene Schloß der Plus Excellents Bastiments de France

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3. Der Plan Urheber, Anreger, Bauherren, Baumeister 53.1 Die Bauherrschaft. Antoine de Crussol und Louise de Clermont 3.2 Die anonymen Architekten. Sebastiano Serlio, Jacques Androuet Ducerceau, Philibert De l’Orme, Jean Chéreau

56 88

132 134 156 186 210 234 264 280 312 344 362

366 410 436

456 476

508

512 532

538 550 552 553 614 620

628 644 650 654

4. Das Schloß Bestand, Rekonstruktion, Deutung 4.1 Die Empfangsarchitektur 4.2 Die Treppe 4.3 Das Podium 4.4 Die Bäder 4.5 Die Appartements 4.6 Die Dachlandschaft 4.7 Die Fassaden 4.8 Die Gärten 4.9 Die Communs 5. Die Epoche Architektur im Zeichen des Glaubens, der Skepsis, der Ziviltoleranz 5.1 Die Bauten des Königshauses. Die Tuilerien (1564), Charleval (1570), Chenonceaux (1576) 5.2 Verneuil. Das Refugium des Philippe de Boulainvilliers (1560) 5.3 Das Maison Blanche von Gaillon. Das Theatrum Sacrum des Kardinals Charles de Bourbon (1566) 5.4 Montargis. Die Gärten der Renée de France (1560) 5.5 Das Château-Neuf von St-Germain-en-Laye (1557/1567/1595). Königlich Programmarchitektur zwischen Bürgerkriegen und Toleranzedikten 6. Der Stil Die klassische und die manieristische Renaissance in Frankreich 6.1 Die Renaissance des Manierismus zwischen den Stilen »Henri II« und »Henri IV« 6.2 Maulnes. Ein Konstrukt aus dem Geiste des Manierismus 7. Die Bauaufnahmen des Château de Maulnes 7.1 Tabularium Molnitanum 7.2 Maße und Zahlen in Pieds de Roi 7.3 Atlas der Bauaufnahmen: Grundrisse, Schnitte, Ansichten, Details 7.4 Die schöne Kunst der Geometrie: Das Vermessungsexperiment »Mesurer Maulnes« 7.5 Plan und Wirklichkeit. Der Plan der Feldmesser, der Plan der Maurer, der Plan der Steinmetzen. Ein Nachtrag von Bruno Schindler Anmerkungen Bibliographie Register Abbildungsnachweis


»Die Welt ist ein stetes Schaukelbrett. Alles wankt ohne Ende: die Erde, die Felsen des Kaukasus, die Pyramiden Ägyptens.« Michel de Montaigne »Er sagte sich […]: Baue auf, während die anderen zerstören, versuche vernünftig zu sein für dich inmitten des Wahnsinns. Schließ dich ab. Bau dir deine eigene Welt.« Stefan Zweig über den Rückzug Montaignes in seinen Turm, 1570


Vorwort Maulnes-en-Tonnerrois. Das französische Schloß des Manierismus am Vorabend der Religionskriege. Ein baugeschichtliches Forschungsprojekt über ein Schloß der Renaissance, noch dazu, wenn es verlassen und halb ruinös ist wie das Château de Maulnes, dessen ursprüngliche Anlage und Gestalt vollständig nur in einem einzigen zeitgenössischen Bericht überliefert ist, gleicht einer Entdeckungsreise des 16. Jahrhunderts zu einer fernen, sagenhaften Insel. Zunächst hat man nur davon gehört in vagen Berichten, weiß ungefähr, wo sie liegt und ahnt, welche Schätze sie bergen könnte. Dann faßt man den Entschluß zur Reise, trifft sorgfältig alle Vorbereitungen, heuert die Mannschaft an und geht endlich in See. Nach langen Wochen wird Land gesichtet, erst eine Insel, dann ein ganzes Archipel, schließlich die Küste eines unbekannten Festlandes. An Land warten ungeahnte Wunder, und alles ist ganz anders, als in den vagen Berichten von ehedem – fremder, reicher, rätselhafter. Es braucht Monate, bis die Topographie aufgenommen, Fauna und Flora gezeichnet sind, Jahre, bis sich die Kultur erschließt. Hindernisse tun sich auf, die örtlichen Mandarine sind feindselig, das Klima zu Zeiten mörderisch. Gleichwohl geht die Erkundung voran und es öffnen sich immer neue, immer faszinierendere Räume. Am Ende begreift man, daß man damit begonnen hat, die Terra Incognita eines geistigen Kontinents zu vermessen. So jedenfalls war es bei unseren Forschungen zum Château de Maulnes: Am Anfang gab es den knappen, eher vagen Bericht der Plus Excellents Bastiments de France, der allein schon etwas ganz Besonderes verhieß, es gab den Gewährsmann, der dort gewesen war und darüber ins Schwärmen geriet. Der erste Besuch in Maulnes war eine ganz erstaunliche und nachhaltig berührende Begegnung, bei der die grundlegende Bauidee augenblicklich vor Augen stand. Aber erst in den langen Jahren der Bauaufnahmen vor Ort gab das Schloß seine Geheimnisse preis, seine Baugeschichte, seine Geometrie, die ursprüngliche Nutzung einzelner Räume, dann ganzer Geschosse, schließlich auch das Vokabular und die Syntax seiner architektonischen Zeichensprache. Am Ende wurde deutlich, daß das Château de Maulnes als ein Schlüsselbauwerk der französischen Renaissance zu begreifen ist, als ein besonders reifes Zeugnis ihrer späten, manieristischen Phase, daß von hier aus eine ganze Epoche erschlossen werden konnte, eben jene ausgesprochen programmatische Art zu bauen, die die Schloßbauten aus den ersten Jahrzehnten der Religionskriege nach Gattung und Stil aus dem gewohnten Baugeschehen der Zeit heraushebt. Im Zuge der Bauaufnahmen wurden nach und nach alle wesentlichen Details des Schloßes gemessen und gezeichnet und in diesen Einzelheiten zeigte sich eine so auffällige Nähe zum Stil Philibert De l’Ormes, daß man den Bau in der Ausführung entweder seinem nächsten Umfeld, wenn nicht gar ihm selbst zuschreiben mußte, wie dies auch Pérouse de Montclos in seiner jüngsten Monographie des Architekten getan hat. Wenn diese Zuschreibung zutrifft, und angesichts der hier vorgetragenen Indizienkette zur Planungsgeschichte ebenso wie zum Corpus der delormeschen Architekturdetails ist daran bonae voluntatis kaum zu zweifeln, dann haben wir in Maulnes

nicht nur das Spätwerk, sondern auch den einzigen, weitgehend erhaltenen Schloßbau des großen Meisters vor uns. Überhaupt kann das Château de Maulnes eine besondere Rolle im Denkmalbestand der französischen Renaissance beanspruchen, da es das einzige erhaltene Schloß aus den ersten Jahrzehnten der Religionskriege ist. Alles andere ist untergegangen und nur noch in Schrift- und Bildquellen überliefert. Dieser Verlust ist umso schmerzlicher, als die Architektur dieser Zeit in besonders pointierter Zuspitzung Programmarchitektur sein will. Die wenigen Bauherren, die in den Wirren dieser Jahre überhaupt noch zu bauen im Stande waren, taten dies, um sich mit den Programmen und Manifesten ihrer Bauten im großen Streit der Epoche zu positionieren. Die architektonischen Gesten des Château de Maulnes sind zuallererst aus dieser Absicht zu erklären. Mit einem Schloß über der Quelle, das das Wasser im tiefsten Grund wie ein Heiligtum faßt und überhöht, das den Elementen Wind und Wetter freien Zutritt in sein Innerstes gewährt und das den Lichteinfall aus dem Kuppelscheitel in der Tiefe des Brunnenschachtes spiegelt, haben die Bauherren ihrer Wohnung eine quasi naturreligiöse Mitte gegeben. Antoine de Crussol und Louise de Clermont haben mit diesem Programmbauwerk eine ähnliche Antwort auf den mörderischen religiösen Streit der Zeit gefunden, wie Montaigne mit dem Rückzug in seinen Turm, sie haben getan, was dieser riet: »Schließ dich ab. Bau dir deine Welt.« Deshalb habe ich Montaignes Sicht auf die Epoche, und die Summe, die Stefan Zweig daraus gezogen hat, als Motto diesem Buch vorangestellt. Die Position, die in Maulnes eingenommen wird, ist so präzis formuliert, zugleich so kompromißlos allen anderen Aspekten dieses Bauwerks vorangestellt, daß sich die Architektur nur noch als weltanschauliche Indienstnahme begreifen läßt. Dies allerdings ist bei den wenigen Vergleichsbauten der Epoche nicht anders und deshalb entstand nach Abschluß der monografischen Darstellung des Château de Maulnes der Plan, die Arbeit um eine vergleichende Untersuchung zu erweitern, der es darum getan ist, diesen Manifestcharakter im Bauen der Epoche zu belegen. So entstand der zweite Teil des Buches, der die untergegangenen Schlösser der Epoche wiederzugewinnen sucht, so wie sie vor allem Jacques Androuet Ducerceau überliefert hat, um daran zu ergründen, wie die Parteigänger im Streit der Epoche mit ihren Bauten Position bezogen haben, oder wie sich abgeklärt, skeptisch oder resigniert herauszuhalten suchten. Am Ende mußte der Versuch unternommen werden, das Schloß in stilistischer Hinsicht zu fassen und damit den größeren kunst- und geistesgeschichtlichen Strömungen der Epoche zuzuordnen. Seit die Kunst- und Baugeschichte vor etwa hundert Jahren gelernt hat, nicht mehr den gesamten Zeitraum von der ersten Wiederbelebung antiker Formen im toskanischen Quattrocento bis zum Eklektizismus des Fin de Siecle mit der Bezeichnung »Renaissance« zu belegen, sondern innerhalb dieser vielfältigen Erneuerungen des antiken Formenrepertoires größere und sehr unterschiedliche Stilepochen zu unterscheiden, hat sie ihr Augenmerk nicht mehr nur auf Einzelerscheinungen und isolierte Probleme gerichtet, sondern stattdessen deren Rolle und Zugehörigkeit innerhalb der epochalen Zusammenhänge zu ergrün-

den gesucht. Die Aussagekraft des Epochenbegriffs »Renaissance« hat entschieden dadurch gewonnen, daß die Spätformen ihrer Kunst von den 20er Jahren an mit dem Begriff »Manierismus« belegt wurden, auch wenn manche Verwirrung dadurch entstanden ist, daß damit sowohl eine das ganze Jahrhundert durchziehende antiklassische Haltung gemeint sein kann, als auch die Jahrzehnte vom Ende der Hochrenaissance bis zum Beginn des Barock. Das Château de Maulnes ist nach Komposition, Gestik und Architekturdetail unbedingt »manieristisch« zu nennen, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie etwa Jacques Androuet Ducerceau oder Philibert De l’Orme als »Manieristen« bezeichnet werden müssen, und von nahezu allen neueren Forschern außerhalb Frankreichs auch so bezeichnet werden. Die Wortführer der französischen Kunstgeschichte jedoch meiden solche Zuordnungen, stattdessen konzentrieren sie sich vornehmlich auf den Einzelbau und seine Probleme, die insbesondere im regionalen Vergleich und aus nationalgeschichtlicher Perspektive untersucht werden. Damit löst man nicht nur die kunstgeschichtlichen Einzelfragen aus dem Problemgefüge der europäischen Kunstgeschichte, in den sie unzweifelhaft hineingehören, man verliert auch den Blick auf die Zusammenhänge insgesamt. Die traditionelle französische Klassifikation der Stile nach den regierenden Königen befördert diesen Partikularismus zudem in der Begrifflichkeit, die eben gerade nicht inhaltlich, sondern dynastisch angelegt ist. Ein Bauwerk von der Qualität des Château de Maulnes ist jedoch niemals nur ein Einzelphänomen, ist nie hinreichend aus regionalen oder nationalen Traditionen zu begreifen, sondern es ist selbstverständlich Teil des gesamteuropäischen Kunstgeschehens. Insofern ist es unbedingt aus einer weitergerfaßten Perspektive zu betrachten, selbstverständlich insbesondere vor der Folie des italienischen Manierismus und seiner Kunsttheorie, die im 16. Jahrhundert auch in Frankreich den Gesprächsstoff der Cenàcoli geliefert hat. Der Blick von außen kann dabei nur befreiend sein, ich hoffe, daß er auch so verstanden wird, und in diesem Sinne mache ich mir – mutatis mutandis – den Satz zu eigen, mit dem Leopold von Ranke in der Einleitung der Französischen Geschichte seine Perspektive auf den Stoff erläutert: »Ich wage es, ein Deutscher, das Wort über die französische Geschichte zu ergreifen […]. Vielleicht läßt sich behaupten, daß der vornehmste Unterschied zwischen den griechischen Historikern, welche die Geschichte des alten Roms […] behandelten, und den römischen selbst eben darin liegt, daß jene die welthistorische Seite ergriffen, diese die nationale Auffassung festhielten und ausbildeten.« In der Frage der stilistischen Zuordnung des Château de Maulnes geht es um eben diese historischen Zusammenhänge, um die Besonderheiten, die das Schloß mit den Hauptströmungen der europäischen Kunst und Architektur der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbinden, oder eben gerade davon trennen. So weit ich die französische Literatur zum Thema überschaue, fehlt bisher dieser unverstellte Blick des »Griechen«, denn die »Römer« können auch »römisch« nur als »gallo-romain« passieren lassen. So war also am Ende aus einer Arbeit, die als Monographie über das Château de Maulnes begonnen hatte, eine Untersuchung über das französische Schloß des Manierismus im Zeitalter der Religionskriege geworden. Ich habe dies im Titel zum Ausdruck gebracht: Im Mittelpunkt steht 7


noch immer die Monographie zu »Maulnes-enTonnerrois«, aber im Untertitel heißt es dann: »Architektur der Skepsis, des Glaubens, der Ziviltoleranz«. Damit ist gesagt, daß es um nicht weniger geht, als um eine Bestimmung der verschiedenen programmatischen Positionen im weltanschaulichen Fundamentalstreit der Epoche, die in den wichtigsten Schloßbauten der Zeit eine sehr konkrete architektonische Gestalt angenommen haben. In der Überschrift des Vorwortes, die wie ein zweiter Untertitel zu lesen ist, habe ich die allen Projekten gemeinsame künstlerische Haltung dahingehend präzisiert,daß ich sie als »manieristisch« bezeichnet habe, so daß nunmehr »Das französische Schloß des Manierismus am Vorabend der Religionskriege« im Mittelpunkt steht. Der bestimmte Artikel zeigt an, daß es um die Gattung insgesamt geht, wobei allerdings mitschwingt, daß Maulnes das einzig erhaltene und insofern »das« Schloß der Epoche ist. Das Zeitalter der Religionskriege umspannt die Jahre von 1562 bis 1598, es beginnt mit dem Morden von Vassy und endet mit dem Edikt von Nantes. Der Bau des Château de Maulnes und aller wichtigen Vergleichsbauten fällt in die Regierungszeit Karls IX., also in die Jahre von 1560 bis 1574. Dies ist noch die letzte Zeit eines relativen Friedens und die drei ersten Hugenottenkriege, die in diesen Jahren geführt werden, sind noch eher begrenzte Auseinandersetzungen, erst mit dem vierten und der Belagerung von La Rochelle werden alle militärischen und logistischen Mittel aufgeboten, die der Epoche zur Verfügung standen. Ausgelöst durch die Bartholomäusnacht am 24. 8. 1572, kommt es zu den grundstürzenden Ereignissen, die eigentlich mit dem Zeitalter der Religionskriege gemeint sind. Vor diesem Hintergrund schien es mir richtig, die 60er und 70er Jahre des Jahrhundets, die in ihrer Kunst und Architektur bereits eine Ahnung des heraufziehenden Unglücks zu haben scheinen, als den »Vorabend« der Religionskriege zu bezeichnen, auch wenn die Kampfhandlungen schon begonnen hatten. Als die Arbeit am Château de Maulnes 1991 begann, waren die Feldforschungen zu meinem ersten großen Renaissanceprojekt in Pienza abgeschlossen und ich hatte mit der Niederschrift des Textes begonnen. Jetzt, wo ich die Ergebnisse des zweiten Projektes über das Château de Maulnes druckfertig mache, steht die Feldforschung des dritten über die Villa Imperiale vor dem Abschluß. Ein viertes großes Renaissanceprojekt wird derzeit vorbereitet, ein Forschungsvorhaben zur Architektur und Stadtplanung von Sabbioneta. All diese Projekte beruhen auf langjähriger Arbeit vor Ort, auf umfassenden Bauaufnahmen und Bauforschungen, bei denen die gesamte, materielle Substanz der Architektur in allen Einzelheiten aufgemessen, gezeichnet, dokumentiert und beschrieben wird. In Pienza haben wir neun Jahre vor Ort gearbeitet, in Maulnes, wo die Kampagnen kürzer sein mußten und weniger häufig stattfinden konnten, dreizehn Jahre, in der Villa Imperiale inzwischen fünf. Bei diesen langen Aufenthalten im Gebäude entsteht eine geradezu körperliche Vertrautheit mit der historischen Architektur und nur so – das ist meine in langer Erfahrung gewonnene Überzeugung – beginnt man sie wirklich zu verstehen. Wenn Baugeschichte so etwas ist wie ein Aufrollen des gesamten Bauund Planungsprozesses von seinem Ende her, vom Ergebnis des fertig dastehenden Bauwerks zurück zum ersten Baugedanken, dann braucht man dafür ebenso lange wie die Meister, die dies 8

alles ersonnen und bis ins Detail des Steinschnitts umgesetzt haben. Nur auf diesem Wege, und nur mit der Geduld und Ausdauer, die dies erfordert, erschließen sich die künstlerischen Absichten, die einem historischen Bauwerk von der Qualität eines Château de Maulnes zugrunde liegen, nur so kann es gelingen, die Kohärenz vom Konzept bis ins Detail zu durchdringen, die ein Wesensmerkmal jeder bedeutenden Architektur ist. Erst wenn in dieser unermüdlichen Arbeit vor Ort der architektonische Schlüssel gefunden ist, der alles vom Gesamten bis in die Einzelheiten beherrscht, kann es gelingen, bis in das Arkanum des Gedankengebäudes vorzudringen, das Architekt und Spiritus Rector des Vorhabens ganz zu Anfang entworfen haben. Die sachkundliche Arbeit von Bauforschung und Architekturgeschichte, die auf Genese und Entwicklung des Bauwerks zielt, wird meist als Mikroskopie betrieben, die den Blick ausschließlich auf das einzelne Gebäude richtet. Topik und Themenkunde der kunstwissenschaftlichen Betrachtung dagegen, die den Besonderheiten des Einzelbauwerks einen Platz im kulturellen und künstlerischen Zusammenhang der Epoche zuweisen möchte, präsentiert sich notwendigerweise als Makroskopie. Zwischen beiden Ansätzen gibt es in der Wissenschaft praktisch keine Berührungspunkte, so daß die Methoden der Bauforschung, die sehr wohl geeignet wären, entscheidende Beiträge nicht nur zur »Sach«- sondern auch zur »Sinnkunde« zu liefern, bei der Klärung von Topik und Ikonologie der Architektur gar nicht herangezogen werden. Eben dies aber ist das Anliegen einer Baugeschichte, die die Arbeit des Baumeisters durch die Geschichte zurückverfolgt, die aus dem fertigen Bau und seinen Einzelheiten den Weg zurück bis zum ersten Entwurfsgedanken rekonstruiert. Dabei kommen die dokumentarischen Methoden der historischen Bauforschung – Bauaufnahme, Material- und Oberflächenanalyse, Dendrochronologie und Photogrammetrie – zur Anwendung, das Bauwerk selbst wird als Quelle seiner Geschichte herangezogen, allerdings bleibt die Betrachtung nicht bei der Feststellung von Genese, Ausbauzuständen und Chronologie der späteren Eingriffe in die originale Bausubstanz stehen, sondern das Material wird darüber hinaus auch zur Klärung der kunsthistorischen Stil- und Zuschreibungsprobleme und schließlich zur Detailbetrachtung von Topik und Ikonologie herangezogen. Im Ergebnis ist so eine architektonische Bedeutungsforschung entstanden, die vom Bauwerk selbst ausgeht. Dieser Ansatz ist deshalb besonders fruchtbar, weil in der Architektur Sinn und Bedeutung nicht nur im großen Konzept des Gesamtentwurfes konstruiert werden, sondern auf allen Ebenen der architektonischen Gestaltung. Für die Architektur gilt, stärker noch als für die übrigen Künste – und eben deshalb von der klassischen Architekturtheorie in der Kategorie der »Concinnitas« nachdrücklich theorisiert – das vollkommene Zusammenwirken des Ganzen und seiner Teile. Das große Thema eines Entwurfes wird – zumindest im wirklich künstlerischen Bauen – von der Gesamtkonzeption bis zum Detail durchgehalten. Diese Besonderheit der Gattung Architektur macht es notwendig, das Bauwerk vom Großen bis ins Kleinste minutiös zu erfassen, und das heißt, zu messen und zu zeichnen. Erst im Corpus der Dokumentationen, der im Verlauf dieser Arbeiten entsteht – vom kleinmaßstäblichen Lageplan, der die Einbindung in Topographie und Landschaft zeigt, bis zum

großmaßstäblichen Detail, das in den Einzelheiten seiner formalen Durchbildung die Intentionen des Ganzen verdeutlicht – lassen sich Sinn, Bedeutung und künstlerische Absicht spiegeln, die einem Bauwerk in Entwurf und Konstruktion einbeschrieben werden. Die Projekte, an denen diese vom Bauwerk selbst ausgehende Methode der Architekturikonologie und architektonischen Topik im Laufe der Jahre entwickelt, erprobt und verfeinert wurde, zuerst Pienza, dann Maulnes, schließlich die Villa Imperiale und nun Sabbioneta, sind mir aus einer im Rückblick schicksalhaften Disposition von wissenschaftlicher Neigung, architektonischem Instinkt und persönlicher Bindung zugefallen. Am Anfang stand immer das unmittelbare, mich zutiefst berührende Architekturerlebnis, eine unvermittelte Begegnung mit einem Bauwerk, das ich zwar aus der Literatur kannte, das auch durchaus meine Neugier geweckt hatte, das aber dann ganz anders war und gleich beim ersten Zusammentreffen so auf mich einzuwirken begann, daß es mich beunruhigte, daß ich daran zu arbeiten hatte. Zufall oder nicht, tatsächlich steht jedes der vier Projekte für eine formative Phase der Renaissance, Pienza (nach 1459) für die Anfänge, die Villa Imperiale (nach 1522) für die römisch geprägte Hochrenaissance, Sabbioneta (nach 1554) für die späte, manieristische Wendung der Epoche. Das Château de Maulnes (nach 1565), nahezu zeitgleich mit Sabbioneta, gehört ebenfalls in diese gedankenschwere Spätzeit des Stils, zugleich aber steht es für die späte Assimilation des Renaissancestils außerhalb Italiens. Pienza ist toskanisch, die Imperiale römisch-kirchenstaatlich mit einem venezianisch-urbinatischen Kolorit, Sabbioneta lombardisch. Aber Maulnes ist burgundisch, und es ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Renaissance jenseits der Alpen, noch dazu im Ursprungsland der Gotik selbst, in sehr besonderen manieristischen Brechungen der fränkischen Welt anverwandelt wurde. Aus diesen Gegebenheiten, die zunächst gar nicht absichtlich angegangen worden waren, sondern die sich einfach in beinahe dreißig Jahren baugeschichtlicher Lehre und Forschung eingestellt hatten, erwuchs der Gedanke, das gesamte Material in vier aufeinander bezogenen und einander ergänzenden Bänden zur Architektur der Renaissance zu ordnen und zu bearbeiten. Es entsteht damit eine Reihe nach Art der klassischen Tetralogie, die die Renaissance in ihren wichtigsten Epochen und in einer regionalen Adaption jenseits der Alpen behandelte – gewissermaßen »drei Tragödien und ein Satyrstück«, so wie es die athenische Regel will. Im Mittelpunkt steht immer ein architektonisches Schlüsselereignis, eben Pienza, die Imperiale, Sabbioneta und Maulnes, und von dort aus läßt sich die Epoche erschließen wie von einem archimedischen Punkt. Aus dieser Reihe wird nunmehr ein weiterer Band vorgelegt, nach Art und Umfang entspricht er dem schon erschienenen über Pienza, aber in der chronologischen Reihe müsste es der vierte sein, während er aus Gründen der Projektfolge als zweiter erscheint. Das Projekt der vier verschieden angelegten Perspektiven auf die Architektur der Renaissance jedenfalls ist damit eröffnet und ich hoffe – Dieu aydant – daß es mit vergönnt sein wird, das Ganze zum Abschluß zu bringen. Daß ein so umfassendes Projekt überhaupt in Angriff genommen werden konnte ist in erster Linie den klassischen Strukturen meiner Universität, der RWTH Aachen, zu verdanken. Die Feldfor-


schungen zu Pienza habe ich noch von Berlin aus unternommen, wo ich Leiter des Instituts für Architektur- und Stadtbaugeschichte am Fachbereich 8 der Technischen Universität war. Meine Arbeiten in Maulnes begannen, als ich auf den Lehrstuhl für Baugeschichte der Fakultät für Architektur an der RWTH Aachen berufen wurde, wo ich geeignete Rahmenbedingungen für die Forschung und eine der Bedeutung des Faches angemessene Ausstattung vorfand. Die hier noch von keiner Reform der letzten Jahrzehnte beschädigte Lehrstuhlstruktur gestattete es mir, alle Kräfte auf unsere Forschungsprojekte zu konzentrieren und insofern muß mein erster Dank der RWTH Aachen gelten, die noch mit vollem Recht als Alma mater zu titulieren ist. Von allen Mitarbeitern, die mit mir in Maulnes tätig waren, habe ich vor allem Susanne Traber zu danken, die nicht nur über Jahre hinweg die Last der Organisation der vielen Bauaufnahmekampagnen getragen hat, sondern die mir vor allem eine kompetente Gesprächspartnerin war. Die Gedanken entwickeln sich beim Reden und am Ende so mancher Diskussion standen Thesen und Überlegungen im Raum, die das Projekt entschieden vorangebracht haben, bei denen aber nicht mehr zu sagen war, wer sie eigentlich ausgesprochen hatte. So ist Maulnes auch in ideeller Hinsicht und in vielen Ergebnissen unser gemeinschaftliches Projekt. Ein großes Bauaufnahmeprojekt kann nur mit Hilfe eines baugeschichtlich versierten Geodäten in Angriff genommen werden und wieder war es Holger Wanzke, der wie schon in Pienza, unsere Arbeit über Jahre hinweg begleitet hat. Ohne ihn wären wir an der komplexen Fünfeckgeometrie des Château de Maulnes fraglos gescheitert. Bei der Bauforschung standen uns Klaus Endemann und Burghart Schmidt zur Seite. Klaus Endemann hat die Materialuntersuchungen im Schloß durchgeführt, die uns besonders mit der Bestimmung der Putzfolgen eine große Hilfe bei der Feststellung der ursprünglichen Raumnutzungen waren. Burghart Schmidt hat die Dendrochronologie im Dachstuhl und den leichten Zwischenwänden durchgeführt, so daß wir damit eine gesicherte Datenbasis für unsere Forschungen hatten. Eine persönliche Bereicherung war für mich die Zusammenarbeit mit Naomi Miller, die eine wirkliche Pioniertat vollbracht hat, als sie in jungen Jahren das Château de Maulnes der architekturikonologischen Diskussion zuführte. Ich habe ihr besonders für unser gemeinsames Studium des Ducerceau-Konvoluts in der Pierpont-MorganLibrary in New York zu danken. Mein Dank gilt auch den französischen Kollegen, die die Szene betraten, als das Schloß in den Besitz des Conseil Général de l’Yonne überging und die von da an unsere Arbeit kritisch begleitet haben. Besonders anregend waren die vielen konstruktiven Gespräche, die ich mit Jean-Marie Pérouse de Montclos und Françoise Boudon führen konnte. Claude Renouard, der sich als ein profunder Kenner des Schlosses erwies, hat entscheidenden Anteil an der hier vorgetragenen Sicht auf Konzeption und Ikonologie der Gesamtanlage. Hilfreich waren aber auch die kontrovers geführten Diskussionen mit den Kollegen, die aus einer ganz anderen wissenschaftlichen Position an das Château de Maulnes herangingen, insbesondere mit Jean Guillaume, Krista de Jonge und Monique Chatenet. Sie haben mir gezeigt, wo ich deutlicher werden mußte, wo der eigene Standpunkt noch nicht hinreichend durchdacht oder

begründet war, oder eben auch, wo die Grenzen der Verständigung über unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze liegen. Für die kollegiale Zusammenarbeit im Comité de Pilotage, das die Restaurierung des Schlosses vorbereiten sollte, danke ich Bruno Decaris, dem Architecte en chef des Monuments Historiques, der uns immer gastfreundlich in seinem Pariser Büro aufgenommen hat. Er hat entscheidenden Anteil an meinem Kapitel über die ursprüngliche Gestalt der Communs. Elisabeth Chaussin verdanke ich zahlreiche Informationen zur Biographie der Bauherren. Von Anne Allimant habe ich wichtige Anregungen zu meiner Rekonstruktion der Gärten von Maulnes erhalten. Während unserer letzten Kampagnen im Schloß begann die Arbeit eines Archäologenteams unter der Leitung von Fabrice Henrion und Christian Sapin, das unabhängig von uns tätig war, aber auf Veranlassung der Direction d’archéologie de Bourgogne auch zweimal den Part des archäologischen Konsiliars übernahm. Isabelle Denis und Frédérique Boura von der Direction sei dafür herzlich gedankt. Am Schluß unserer Arbeiten haben wir im Herbst 2000 auf dem Acker in der Achse des Schlosses die Gesamtanlage einschließlich der Bastionen mit historischen Instrumenten und Vermessungsmethoden abgesteckt, die Konturen mit dem Spaten ausgehoben und das ganze dann aus der Luft fotografiert. Wir sind dem Eigentümer des Ackerlandes, Daniel Thibault, dankbar, daß er uns dieses Experiment gestattet hat, ebenso dem Piloten Claude Waldteuffel, mit dessen Ballon wir die Gesamtfigur des Schlosses aus der Luft dokumentieren konnten. Norbert Winkler hat das Experiment vermessungstechnisch betreut. Ganz am Ende des Projektes führten wir im Mai 2001 in Aachen ein Symposium zum Thema »Maulnes und der Manierismus in Frankreich« durch, an dem außer unseren französischen Kollegen Flaminia Bardati, Andreas Beyer, Hervé Brunon, Sabine Frommel, Gerhard Goebel, Hans Holländer, Krista de Jonge, Nils Meyer, Philippe Potié und Andreas Tönnesmann teilnahmen. Diese Schlußveranstaltung bot noch einmal die Gelegenheit, unsere Thesen und Ergebnisse zum Château de Maulnes ausführlich und oft kontrovers zu diskutieren. Gerade die kontroversen Diskussionen, wie sie Jean-Pierre Halevy als Vorsitzender des Comité de Pilotage anregte und durch seine Publikation der Cahiers de Maulnes nachhaltig gefördert hat, waren mir eine große Hilfe bei der Klärung unserer eigenen Position. Nie ist mir die Notwendigkeit einer Baugeschichte so deutlich geworden, die eben nicht bei der reinen Sachkunde stehenbleibt, sondern zur Ikonologie und Topik der Architektur vorzudringen sucht, wie in diesen Diskussionen. Ein Großteil der französischen Architekturgeschichte steht ganz unreflektiert in der Tradition des Positivismus, mit größter Sorgfalt und bewundernswerter Kompetenz werden die Sachfragen geklärt, aber nur selten geht es um die eigentlich wichtigen Fragen nach Sinn und Bedeutung der Architektur. Eben hierin aber scheint mir das wirkliche Ziel der Baugeschichte zu liegen, wenn sie als Wissenschaft einen Beitrag zum Verständnis von Architektur als Kulturphänomen leisten will. Erst wenn sie über die Einzelprobleme hinausgeht und die Zusammenhänge durchdringt, erlangt sie kulturwissenschaftliche Relevanz, und dieser Herausforderung kann und darf sich die Disziplin nicht verweigern.

Unsere Arbeit in Maulnes wäre nicht möglich gewesen, wenn uns nicht die damalige Eigentümerin des Schlosses, Madame Vallery-Radot, auf Vermittlung des Kulturrates der französischen Botschaft in Berlin, Monsieur Guillard, den Zugang gestattet und der örtliche Denkmalpfleger von Auxerre, Monsieur Claustre uns nicht dabei unbürokratisch unterstützt hätte. Ihnen allen sei dafür auf das Herzlichste gedankt. So konnten wir jahrelang im Château de Maulnes arbeiten, als es noch in seinem tiefsten Dornröschenschlaf ruhte. Diese Jahre werden allen, die daran teilhaben durften, als ein unwirklich zeitloses Erlebnis in Erinnerung bleiben. Als das Schloß 1997 in öffentlichen Besitz überging, waren wir schon seit sechs Jahren an der Arbeit. Dies hat nicht allen gefallen, die dann die Szene betraten. Um so mehr bedanke ich mich für die sehr herzliche Aufnahme, die wir am Ort selber erfahren haben, vor allem bei der Bürgermeisterin von Cruzy-le-Chatel, Madame Savie und bei unseren Gastgebern, Madame und Monsieur Batréau, die uns viele Jahre lang in ihrem wunderbaren Anwesen ein wirkliches Zuhause gegeben haben. Unvergessen sind auch die gastlichen Abende bei Pierre-Jules Gaye in Auxerre, dem unermüdlichen Streiter für das Château de Maulnes, der unsere Arbeit dort immer als Chance und Bereicherung für alle Beteiligten angesehen hat. Ein letzter Dank geht an unsere Köchin, Madame Martine, und an die Auberge de la Mélusine in Cruzy, wo wir die kulinarischen Freuden des alten Burgund genossen haben – es hatte schon etwas von »Gott in Frankreich«. Für die Bereitschaft, das Buch in gleicher Form und Ausstattung wie Pienza herauszubringen, und schließlich die ganze exemplarische Tetralogie zur Architektur der Renaissance ins Auge zu fassen, danke ich meinem Verleger Axel Menges, last not least allen, die an der Herstellung des Buches beteiligt waren, den vielen helfenden Händen von Alejandro Campoverde, Nevin Cosan, Tobias Glitsch, Corinna Granich, Caroline Helmenstein, Anna Maria Skrzypek-Wypich, Nicole Juchems, Gesine Junker, David Müller, Bernhard Niethammer und Sophie Ritz, vor allem aber Björn Schötten, der Layout und Druckvorlage hergestellt hat. Die Arbeit der vielen Studenten, die an den Bauaufnahmen beteiligt waren wird am Schluß des Buches noch einmal im Namensverzeichnis eines »Monumentum Molnitanum« gebührend gewürdigt, aber auch an dieser Stelle sei ihnen allen noch einmal ganz herzlich gedankt. Für meine Studenten habe ich dieses Buch vor allem geschrieben und deshalb soll es ihnen auch gewidmet sein. Montzen, den 6. 12. 2006

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1. Der Bautyp Jagdschloß, Scheinfestung, Kaprize Maulnes liegt auf einem weiten und einsamen Plateau östlich von Tonnerre, inmitten der gleichnamigen Grafschaft, die zum alten Herzogtum Burgund gehört.1 Seit ältester Zeit ist die Gegend dicht bewaldet, durchzogen von Rodungen, die im frühen Mittelalter in den Talsohlen entlang der Wasserläufe und vereinzelt auch auf den Höhen des Plateaus angelegt wurden. Dort betrieb man Viehzucht und Ackerbau, erst in jüngster Zeit wurden die im 19. Jahrhundert erheblich ausgedehnten Rodungen in riesige Getreidefelder verwandelt, aber auch heute noch gehört diese Landschaft zu den waldreichsten Gebieten Burgunds. Der Name Maulnes scheint von einem fränkischen Gut herzurühren, das 863 mit der lateinischen Bezeichnung »Molnitum« erstmals erwähnt wird. Es muß am Ort des heutigen Schlosses oder in seiner unmittelbaren Nähe gelegen haben. Die Grafen von Tonnerre, die seit dem frühen Mittelalter als die Herren des Gutes genannt werden, nutzten es als Stützpunkt und Quartier für die Jagd, da es günstig inmitten der wildreichen Forste gelegen war. Sie errichteten dort ein festes Haus, vielleicht auch eine kleine Burg, die jahrhundertelang als »maison de chasse« genutzt wurde. Als um 1566 mit dem Bau des heutigen Schlosses begonnen wurde, das – am gleichen Ort im tiefsten Herzen der Wälder gelegen – wiederum als Ausgangspunkt der herrschaftlichen Jagd zu dienen hatte, waren von den fränkischen und mittelalterlichen Vorgängerbauten wohl nur noch Trümmer und Ruinen vorhanden.2 Das Château de Maulnes, das sich heute im Verfall, aber im wesentlichen noch immer erhalten, auf der höchsten Anhöhe des Plateaus erhebt, ist eines jener rätselhaften Gebäude, über das die Chroniken schweigen, das aber dennoch für die Baugeschichte der französischen Renaissance eine außerordentliche Bedeutung besitzt. Maulnes ist geradezu ein Schlüsselbauwerk der späten Renaissance in Frankreich, deren Eigenarten und wichtigste Zeugnisse eng mit den Ereignissen der Herrschaft und Regentschaft Katharina Medicis verflochten sind. In diesem burgundischen Schloß durchdringen sich die unterschiedlichsten Bestrebungen der Architektur dieser Epoche auf vielfältige Weise und einzelne, wesentliche Baugedanken der Zeit werden hier geradezu lehrbuchhaft vorgeführt. In der Programmatik seiner zeichenhaften Architektur jedoch steht es einzigartig da: Das Schloß ist über einer kräftig sprudelnden Quelle errichtet, die es mit dem Treppenhaus in seiner Mitte in monumentaler Weise einfaßt und überhöht, und damit besitzt es im Denkmalbestand der Epoche eine ganz ungewöhnliche Sonderrolle, die nicht primär den gewohnten Funktionen des Wohnens oder der herrschaftlichen Repräsentation dient, sondern in erster Linie der architektonischen Auszeichnung der natürlichen Elementarerscheinung des aus der Erde hervortretenden Wassers. Gleichermaßen ungewöhnlich ist auch die äußere Baugestalt, die aus regelmäßigen geometrischen Elementarfiguren unter der Herrschaft des Fünfecks zusammengesetzt ist, aber im Hinblick auf die vielfältigen Brechungen und gesuchten Zuspitzungen wiederum, die die Komposition beherrschen, kann man darin durchaus das typische

Repertoire einer gesamteuropäischen Kunstrichtung erblicken, einen charakteristischen Ausdruck des Manierismus nämlich. Insofern also liegt das Château de Maulnes wiederum ganz im Hauptstrom des Jahrhundertstils, und man muß es als einen modellhaften Versuch im architektonischen Umgang mit den Kunstmitteln dieses Stils begreifen. Zugleich ist zu konstatieren, daß die künstlerischen Möglichkeiten, im Sinne des Manierismus zu bauen, hier in bis dahin nicht gekannter Originalität und mit einzigartiger Meisterschaft vorgeführt werden. Die architektonische Fassung und Überhöhung der Naturelemente im innersten Kern des Gebäudes jedoch enthebt dieses Bauwerk jeden Vergleichs, sie ist absolut einzigartig, und auch in der Inszenierung der fünf Sinneswahrnehmungen, die hier versucht wird, ebenso wie in der Reduktion der architektonischen Formen auf die platonische Elementargeometrie, die das Bauprogramm beherrscht, steht das Château de Maulnes ganz allein in seiner Zeit. Diese Besonderheiten des Schlosses sind wohl nur aus der Biographie der Bauherrn zu erklären. Der fünfeckige Bau wurde vor 1566 durch den Grafen Antoine de Crussol (1528–1573) in Auftrag gegeben. Ein zufällig erhaltener Handwerkervertrag vom 7. Mai 1566, dem Dienstag nach Jubilate, ist als Terminus quo ante zu betrachten, so daß die Bauabsichten und Planungen auf den Vorabend der Hugenottenkriege (1562–1593) verweisen, auf eine Zeit also, als man die heraufziehenden Katastrophen noch nicht in ihren wahren Dimensionen erfassen konnte, aber vielleicht eben zu ahnen begann, welche Schrecken die nun hereinbrechenden Religionskriege mit sich bringen könnten. Es gibt keine schriftlichen Quellen, die die Gründe für die Wahl des Standortes, die genauen Umstände der Planung oder den Namen des Architekten preisgäben. Allerdings hat sich eine Reihe von Plänen erhalten, die mehr oder weniger eng mit dem Château de Maulnes zusammenhängen und die verschiedene Planungsschritte erkennen lassen. Danach ist mit einiger Sicherheit für die Fünfeckidee Sebastiano Serlio, für die ide-

1 Der Brunnenschacht in der Hohlspindel der Treppe von Maulnes, der sich im Wasserspiegel der Quellfassung in der Tiefe illusionär verdoppelt. 2 Die Reste des Château de Maulnes – das Corps de Logis, ein Flügel der Communs und die vollkommen überwucherten Gärten – inmitten der weiten Wälder auf dem Plateau von Cruzy-le-Chatel.

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altypische Gesamtkonzeption des Kompaktbaus auf einer bastionierten Plattform jedoch Jacques Androuet Ducerceau als Urheber zu benennen. Die Details der Ausführung hingegen verraten die Hand Philibert De l’Ormes, ebenso wie einige der charakteristischen Unterschiede zwischen den älteren Idealplanungen und dem tatsächlich ausgeführten Schloß. Wenn diese Zuschreibungen zutreffen, wie an anderer Stelle noch zu zeigen sein wird, dann haben in Maulnes einige der bedeutendsten Architekten des Jahrhunderts die Hand im Spiel gehabt. Die erhaltenen Handwerkerverträge sind von Antoine de Crussol persönlich unterzeichnet, was ein sehr großes Interesse des Bauherrn an dem

3 Fernsicht auf das Château de Maulnes, das als typisches Jagdschloß inmitten ausgedehnter Forste liegt, vom nördlich gelegenen Dorf Villon aus gesehen. 4 Die Lage des Schlosses im Departement Yonne, 180 km südöstlich von Paris, in der alten Grafschaft Tonnerre des nördlichen Burgund. Das Schloß liegt 47°53' N, 4°11' O in der Gemeinde Cruzy-le-Châtel ca. 6 km nördlich der D 965 von Tonnerre nach Châtillon-sur-Seine. 5 Das fünfeckige Corps de Logis von Nordosten. 12

Projekt erkennen läßt, denn üblicherweise wurden dergleichen Geschäfte einem Beauftragten überlassen. Dennoch dürfte das Schloß nicht nur eine Schöpfung des Grafen allein, sondern als Gemeinschaftsprojekt von Antoine und seiner Frau, Louise de Clermont (1504–1596) entstanden sein. Wir werden auf die Rolle der Bauherrschaft bei der Konzeption des Schlosses noch eingehen, bevor die eigentliche Baugeschichte untersucht wird. Hier sei nur vorab mitgeteilt, was die einschlägigen Biographien der Epoche in aller Kürze über die beiden verzeichnen. Antoine de Crussol wird dort meistens als Hugenotte geführt, er war tatsächlich zu einem nicht


näher bekannten Zeitpunkt zum Protestantismus übergetreten und 1562 wurde er von den Generalständen des Languedoc, dem seine Familie entstammte, zum »Protecteur des Calvinistes du Midi« gewählt. Man muß in dieser Rolle aber nicht unbedingt ein religionspolitisches Bekenntnis, schon gar nicht eine vorbehaltlose Parteinahme für die Sache der Reformation sehen, denn es dürften vor allem die Patronatspflichten als Feudalherr dieses überwiegend protestantischen Landes gewesen sein, die wahrzunehmen er der Mehrheit seiner Untertanen schuldig war, und dies mag ihn zur Annahme der Wahl bewogen haben. Zu Calvin, mit dem er in Briefwechsel stand, ging er nach 1563 zunehmend auf Distanz, und persönliche Erlebnisse im Verlauf der Religionskriege, an denen er in königlicher Mission an vorderster Front teilnehmen mußte, haben ihn gründlich an jeder Form religiösen Eiferertums zweifeln lassen. Mit seinem Aufstieg am Hof Katharina Medicis und Karl IX. verband er die Position eines »Moyenneur«, eines gemäßigten Katholiken, aber im Grunde seines Herzens könnte er – und war es wohl auch – ein rabelaischer Freidenker gewesen sein. Dem König und der Regentin diente er seit 1560 als Conseiller d’Etat, gehörte also zu der nicht mehr allein durch adelige Abstammung, sondern vor allem durch militärische und administrative Fähigkeiten ausgezeichneten Elite von Funktionsträgern, auf die das französische Königtum schon seit Ludwig XI. (1423–1483) seine Macht stützte, anstatt allein auf feudale Bindungen zu vertrauen. Antoine de Crussol heiratete 1556 Louise de Clermont, eine der großen Damen des Hofes, die kein geringerer als Ronsard als geistreiche, charmante und zudem sehr energische Frau in einem seiner Sonette unsterblich gemacht hat. Die Ehe mit Louise machte Antoine zum Grafen von Tonnerre, dem der Titel des Ersten Grafen Frankreichs gebührte, und diese Verbindung versetzte ihn in die Lage, nötigte ihn wohl auch, in der Grafschaft ein Schloß zu bauen. Die Stammsitze beider Familien lagen im Süden, im Dauphiné und im Vivarais, und die traditionelle Residenz der Grafen, die alte Burg von Tonnerre, lag seit mehr als einem Jahrhundert in Trümmern.3

Man entschied sich jedoch, keine neue Residenz für die dauernde Hofhaltung und Repräsentanz in der Stadt zu errichten, weder am alten Ort noch in seiner Nähe, sondern ein weit abgelegenes Jagdschloß, das nur für vorübergehende Aufenthalte geeignet sein mußte, dafür aber einen idealen Ausgangspunkt für die Jagd darzustellen hatte. Ein Grund für die Entscheidung dürfte in den dauernd angespannten Beziehungen der Grafen, insbesondere aber Louise de Clermonts zu der Bürgerschaft der Stadt Tonnerre zu sehen sein, ein anderer, daß das gräfliche Paar eng in das Leben am französischen Königshof eingebunden war und sich deshalb ohnehin nur selten in der Grafschaft aufhielt. Zudem hätte sich eine so programmatische Architektur, wie sie das Château de Maulnes bedeutet, auf dem Burghügel von Tonnerre wohl kaum verwirklichen lassen, und so entschied man sich zum Bau des entrückten, in der Tiefe der Wälder verborgenen Schlosses. Louise gehörte zu den Hofdamen Katharina Medicis, sie war darüber hinaus auch eine ihrer engsten Vertrauten, und Antoine zählte zu den Chevaliers d’honneur der Regentin und Königin Mutter. In den kunstsinnigen Zirkeln des Hofes, in denen sie jahrelang verkehrten, und die über die familiären Beziehungen der Regentin einen regen Austausch mit Italien pflegten, mögen beide auch mit den Architekturtheorien italienischer Baumeister in Berührung gekommen sein, deren Einfluß auf den Entwurf des Schlosses immer wieder behauptet worden ist. Wir haben also im versteckt gelegenen Château de Maulnes den zwar ungewöhnlichen, wenn auch nicht ganz einzigartigen Fall vor uns, daß das Schloß die Präsenz des Grafen im Territorium architektonisch zum Ausdruck zu bringen hatte, dies aber nicht in einer Residenz im Angesicht der Untertanen, sondern in einem abgelegenen Jagdschloß mitten im Walde. Maulnes ist somit Anwesenheit und Abwesenheit des Landesherrn in einem, entrückt aber dennoch präsent hielt es den Seigneur im Verborgenen auch dann, wenn er im Lande weilte. Das Château de Maulnes ist nur noch teilweise erhalten. Das Corps de Logis ist weitgehend unversehrt, die Communs stehen noch zur Hälfte,

aber Galerie und Kryptoportikus sind verschwunden, ebenso die Gärten und die Bastionen, die ehemals die gesamte Anlage umgaben. Wir sind jedoch über das ursprüngliche Aussehen gut unterrichtet, da das Schloß in eines der wichtigsten Quellenwerke zur französischen Architektur der Renaissance aufgenommen wurde, in Jacques Androuet Ducerceaus Les Plus Excellents Bastiments de France, veröffentlicht in zwei Folgen 1576 und 1579. Dieses Werk enthält im ersten Band einen Grundriß und eine Kavaliersperspektive des Schlosses, außerdem eine knappe, aber präzise Beschreibung. Danach lassen sich Typologie und Konzeption der Gesamtanlage klar erfassen, die Einzelheiten sind ohnehin aus dem Baubefund des Bestandes noch gut abzulesen oder zu rekonstruieren. Typologisch gesehen ist Maulnes nach Ducerceaus Zeichnungen ein »Château-sur-Plate-forme«, also ein Baugefüge aus Solitär- oder Flügelbauten, die auf einer ringsum abgegrabenen, meist bastionierten Plattform errichtet werden. In diesem Fall handelt es sich um einen Kompaktbau, dessen Corps de Logis selbständige, untereinander nicht verbundene Nebenbauten zugeordnet sind. Sie bilden stark in die Länge gezogene, formal expressive Arme, in denen eine zweigeschossige, unten offene Galerie und die halbkreisförmig ausschwingenden Communs untergebracht sind. Diese umschließen die vorgelagerte Basse Cour, während die offenen Arkaden unter der Galerie die Funktion der Cour d’honneur übernehmen. Rings um das Corps de Logis ist ein Kryptoportikus in Form eines Zweidrittelkreises in die Erde gesenkt, dessen Zweckbestimmung nicht mehr mit Sicherheit festzustellen ist. Der Entwurf verrät die Absicht, die Gesamtanlage nach geometrischen Elementarfiguren zu ordnen, die unvermittelt gegeneinander gesetzt sind oder sich teilweise überlagern und durchdringen. Die Plattform bildet ein Rechteck, aus dem in der Mitte ein Quadrat für den Garten und ein Kreis für den Kryptoportikus ausgeschnitten sind. Darin steht allseitig frei das fünfeckige Corps de Logis, turmartig, wie ein Donjon. Am Äußeren des Schlosses fällt zunächst die ungewöhnliche Grundrißfigur des Corps de Logis

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6 Lageplan des Schlosses im Maßstab 1 : 1000 mit dem heute noch erhaltenen Bestand: Im Norden steht noch ein Flügel der Communs, in der Mitte das fünfeckige Corps de Logis und man erkennt noch die Umrisse des in die Topographie eingesenkten Gartens. Der Verlauf der Höhenlinien gibt nur noch eine Andeutung der bastionierten Plattform, die kaum mehr von den natürlichen Geländeformationen zu unterscheiden ist. 7 Rekonstruktion des Schlosses mit den heute verschwundenen Bastionen nach den Plänen von Jacques Androuet Ducerceau, ergänzt um das Glacis, dessen Form und Ausdehnung nicht überliefert ist. 8 Die turmartige Erscheinung des Corps de Logis von Südwesten.

ins Auge. Der Baukörper ist wie eine Festung über einem regelmäßigen Fünfeck errichtet, die glatten Fassaden mit den turmartigen Eckrisaliten sind völlig schmucklos gehalten. Streng und abweisend wie ein Wehrbaus steht der stereometrische Körper in der weiten Landschaft. Auch in Inneren ist die Raumregie konsequent der Geometrie des Fünfecks unterworfen. Im Zentrum des Gebäudes liegt ein fünfeckiges Treppenhaus, das in einem Zuge durch alle Geschosse geführt ist. Es umschließt einen außen fünfeckigen, innen aber zylindrischen Schacht, der tief unten eine natürliche Quelle einfaßt. Diese Brunnenröhre, die sich vom Souterrain bis zum Dach durch alle Geschosse hindurchzieht, ist der innerste Kern des Ganzen. Wie das sagenhafte Schloß der Melusine ist das Château de Maulnes über einer kräftig sprudelnden natürlichen Quelle errichtet, die merkwürdigerweise nahe beim höchsten Punkt des nach allen Seiten sanft abfallenden Plateaus entspringt. Im Emporsteigen auf der Treppe wird man vom wechselnden Gemurmel der Quelle begleitet, das aus den Fenstern der dämmrigen Röhre dringt. Schaut man hinein, so sieht man in der Tiefe den Widerschein des Lichtes gespiegelt, das von ganz oben einfällt. Mit diesem ersten Eindruck ist bereits der wesentliche Baugedanke erfaßt. Das Château de Maulnes ist ein fünfeckiger, stereometrischer Körper, der in seinem Innersten die Naturelemente Licht und Wasser erfaßt und sie in ein sehr genau durchdachtes architektonisches Programm einbindet. Von der Funktion her ist das Château de Maulnes ein Jagdschloß. Es hatte also weder primär der Landesverteidigung zu dienen, noch der Sicherung von Handel und Verkehr, und es war auch nicht in erster Linie zum dauernden Wohnen mit Hofhaltung und Repräsentanz bestimmt, sondern es sollte ein abgelegner Ort sein, den man nur zu bestimmten Jahreszeiten für kürzere Aufenthalte ohne Zwänge und Pflichten aufsuchte, eben in Verbindung mit der höfischen Jagd. Jagdschlösser erlauben eine große Freiheit bei der »Distribution«, bei der inneren Anordnung und Aufteilung der Räume, und sie zwingen auch nicht in gleichem Maße zur architektonischen Re-

präsentation wie die Residenzen. Die Herrschaft der kanonischen Ordnungen wird bei diesem Bautyp nicht absolut gesehen und damit geht zugleich eine große Offenheit bei der formalen Gestaltung der Details und insbesondere der ikonologischen Programme einher. Eine erste Anspielung auf die Zweckbestimmung des Gebäudes als Jagdschloß liefert ein Detail des Hauptgesimses. Dort sind in regelmäßigem Wechsel mit den Konsolen streng dreinschauende Hundeköpfe angebracht, die wie individuelle Porträtbüsten vor die Metopen gesetzt sind. Sie gehören alle der gleichen, schon im 16. Jahrhundert gebräuchlichen Rasse von Parforcehunden (Chien St-Hubert, Bloodhound) an, wenngleich der plastische Stil zweifeln läßt, ob sie nicht doch erst einer Restaurierung des 18. Jahrhunderts zu verdanken sind. Eine ganze Meute dieser Charaktertiere blickt aus der Gebälkzone auf den Betrachter herab und verkündet im Sinne einer einigermaßen befremdlichen »architecture parlante«, welchen Freuden das Château de Maulnes vor allem dienen sollte: der Parforcejagd zu Pferde, bei der das flüchtige Wild von einer Hundemeute gehetzt und schließlich vom Jäger gestellt wird. Jagdschlösser dienten zwar der Jagd, aber mit dem gleichnamigen Freizeitvergnügen moderner Hubertusvereine hat die höfische Jagd absolut nichts zu tun, sie war ein Spezifikum der höfischen Kultur und darin so unabdingbar wie die spanische Etikette. Die höfische Jagd ist ein so zentrales Element im Selbstverständnis des feudalen Staates, daß daraus schon im ausgehenden Mittelalter die Notwendigkeit erwuchs, für die Jagd eigene Gebäudetypologien zu entwickeln, mit besonderen, auf die Praxis und die gesellschaftliche Rolle der Jagd ausgerichteten Ausstattungen. Dies gilt zuerst natürlich für die Funktionen und Raumgliederungen, es müssen große Pferdeställe und Hundezwinger für die Parforce-Jagd vorhanden sein, besondere Lagerräume für Jagdgeräte, Reusen, Fallen und Jagdschirme, ferner Küchen, Räuchereien und Backöfen, dazu alles was man für Lagerung und Konservierung der Beute benötigte. Und man brauchte besondere, meist kleine, aber gut ausgestattete Quartiere für die geladene Jagdgesellschaft und ihr Personal. 15


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9 Grundriß der Gesamtanlage mit den heute verschwundenen Außenwerken nach den Plus Excellents Bastiments de France von Jacques Androuet Ducerceau, 1576, hier nach der Destailleur-Fassung von 1868 im Originalmaßstab 1” = 60 p

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10 Kavaliersperspektive der Gesamtanlage mit den heute verschwundenen Außenwerken nach den Plus Excellents Bastiments de France von Jacques Androuet Ducerceau, 1576, hier nach der Destailleur-Fassung von 1868 im Originalmaßstab 1” = 60 p (M 1 : 720) abgebildet. 19


11 Unter dem Schloß sprudeln Quellen, die in der Mitte in einer Brunnenschale gefaßt sind. Darüber erhebt sich der zylindrische Schacht, um den die zentrale Wendeltreppe geführt wird. Von hoch oben fällt das Licht ein, das sich in der Tiefe im Wasser spiegelt. 12 Das Hauptgesims des Corps de Logis ist zur sinnfälligen Darstellung der Gebäudefunktion »Jagdschloß« mit Hundeköpfen besetzt. 13 Parforcehunde stellen einen Eber im Wald von Vincennes. Monatsbild »Dezember« aus dem Stundenbuch des Herzogs von Berry, um 1450. 20

Nicht nur in ihrer Funktionalität, auch in der Zeichenhaftigkeit ihrer Typologien und Ausstattungen bilden Jagdschlösser eine Gattung eigener Art. Denn die höfische Jagd ist zuallererst der stilisierte Ausdruck der unumschränkten Herrschaft des Fürsten über sein Land, wie über seine Untertanen, so auch über die Natur, die wilden Tiere und alle übrigen Dinge, die in der Rechtsgeschichte zu den »herrenlosen Sachen« gerechnet werden. Diese offensichtliche Herrschaftsgestik bekommt dadurch eine besondere Brisanz, daß die Jagd nicht primär an Besitz und Eigentumstitel gebunden ist, sondern an herrschaftliche Privilegien. Der Fürst kann überall jagen, auch auf fremdem Land. Insofern ist die Jagd eine periodische Vorführung der Feudalgewalt, der es erlaubt ist oder die es sich herausnimmt, selbst den individuellen Besitz, das Private überhaupt, zu mißachten. Abgesehen von diesen Herrschaftsgesten, die sich an die Adresse der Untertanen richten, hat die Jagd auch eine sehr wichtige »innerhöfische« Funktion. Für die Gesellschaft der Residenz kam ihr eine umso größere Bedeutung zu, je mehr alles Leben bei Hof im Zeremoniell erstarrte, ein Prozess, der gegen Ende des 15. Jahrhunderts in den italienischen Prinzipaten seinen Anfang nahm. Die höfischen Jagdzüge sind die notwendige Reaktion auf diese zunehmende Formalisierung des Hoflebens und die damit verbundene Unmöglichkeit, ungezwungen oder einfach menschlich miteinander umzugehen. Auf der Jagd dagegen lebte man scheinbar wieder im Zustand archaischer Wildheit, für lange Wochen, oft Monate im Jahr, wurde man wieder zum »Jäger und Sammler« – und in diesen Masken waren der Fürst und seine Höflinge nicht an den starren Verhaltenskodex der Residenz gebunden. Vom Château de Chambord – auch dieses ein Jagdschloß, wenngleich von kolossalen Ausmaßen, fertiggestellt für Franz I. als Witwer – hat man richtig gesagt: »Man sieht hier zum Unterschied von Blois, dem Lieblingsaufenthalt des königlichen Ehepaares, besonders der Königin Claude bis zu ihrem Tode, das Jagdschloß des ehelosen Witwers mit Männergefolge, ganz im Gegensatz zu sonstiger höfischer Sitte und landesväterlicher Verantwortlichkeit, lediglich zügelfreiem Sichausleben erwünschte Stätte bietend«4. Dies ist natürlich nur der rauhe Aspekt des Jagdschlosses, daneben hatte es auch seine milden Züge: Bei den Dianenfesten, die zum festen Bestand der Jagdzüge gehörten, wurde die Fiktion der urzuständlichen Gleichheit, wie sie die wilde Jagd für ein paar dramatische Stunden vortäuschte, auch in der Geselligkeit aufrecht erhalten. Während der pantagruelschen Gelage galten Etikette oder Tischmanier nur noch bedingt und nach Tisch schlüpfte man in die unschuldige Verkleidung des Schäfers und der Schäferin, um die rigiden Standesunterschiede der höfischen Existenz in der spontanen zwischenmenschlichen Zuneigung wenigstens für den Augenblick zu überspielen. Das Jagdschloß als Bautyp ist die architektonische Einrichtung, die dieser mehrfachen Zweckbestimmung der Jagd dient: Es ist zunächst einmal ein Instrument zur technischen Durchführung der Jagd. Danach ist sein Standort ausgewählt, meistens, wie im Fall des Château de Maulnes, inmitten ausgedehnter Wälder, und darüber hinaus ist es mit den besonderen Funktionsbauten ausgestattet, die schon beschrieben wurden. In Maulnes sind die Ställe und Zwinger, wie man sie für die Parforce-Jagd braucht, nicht mehr zur Ausführung gekommen. Aber sie waren schon in Planung, als Ducerceau seine Veröffentlichung

vorbereitete, denn er hat dafür sowohl im Druck wie auch in den Zeichnungen Reserveflächen freigehalten. Es wird noch in aller Gründlichkeit ausgeführt werden, daß dafür die chiffrenhaft als ummauert dargestellten Bereiche rechts und links von den Communs vorgesehen waren, die man von den beiden dahinter gelegenen Wirtschaftshöfen problemlos erschließen und versorgen konnte. Ebenso gut wie für seinen praktischen Zweck ist das Jagdschloß als Bautyp aber auch für seine gesellschaftlichen Aufgaben gerüstet, die zuallererst im periodischen Rückzug aus der Starre und dem auf Dauer nicht zu ertragenden Zwang des Hofes zu sehen sind. Jede hochgradig formalisierte oder gar ritualisierte Gesellschaft muß sich mit ihrem strengen Kodex zugleich Formen der Entlastung schaffen, vorbestimmte Ausbruchsmöglichkeiten, ohne die das System auf Dauer nicht aufrecht zu erhalten wäre. Im höfischen Staat wurde dafür das Jagdschloß erfunden, das einerseits alle Voraussetzungen für einen sehr maskulinen, gefährlichen Sport zu schaffen hatte, zugleich aber auch die Kulisse für ein operettenhaftes »retour à la nature«, bei dem die Hierarchie wie im Spiel nicht mehr unumstößlich galt und über die rigiden Standesgrenzen hinweg Möglichkeiten zur persönlichen Begegnung und ungekünstelter Sympathie gegeben waren. Deshalb überwiegen im Raumprogramm die Einrichtungen der Gesellschaft vor denen der Repräsentation, anstelle von Audienz- oder Thronhallen gibt es Bankettund Festsäle, und insbesondere die Bäder, die die Renaissance im Unterschied zu den folgenden Epochen noch sehr schätzte, spielen als Ort eines zwanglosen Miteinanders im Bautyp des Jagdschlosses eine ganz besondere Rolle. Die große Bedeutung, die die Jagd in mehrfacher Hinsicht für die höfische Gesellschaft besaß, spiegelt sich auch in der Programmatik von Architektur und Dekor. Den Bautyp charakterisiert eine gattungsbedingte ikonographische Aufladung, die die Jagd und ihre Funktion im Selbstverständnis des Ancien Regime charakterisiert. Die höfische Jagd ist der Inbegriff der unumschränkten Herrschaft des Menschen über die Natur. Diese elementare Bedeutung des Jagens legte es von Anfang an nahe, den Bautyp in seiner weiteren Gestaltung zu einer architektonischen Äußerung über das Verhältnis von Mensch und Natur überhaupt zu machen – über die äußere Natur, aber auch über die eigene innere Natur, über die naturhafte Seite der menschlichen Existenz. Im Château de Maulnes ist dieses Generalthema aller Jagdschlösser mit ganz besonderer Meisterschaft gestaltet worden, so daß man sagen kann, daß der Bau geradezu idealtypisch die Merkmale seiner Klasse zeigt. Nach den Zeichnungen Jacques Androuet Ducerceaus stand das noch erhaltene fünfeckige Corps de Logis ursprünglich im Zentrum eines langgezogenen Mauervierecks, das wie die Fünfeckchiffre als Zitat einer tatsächlichen Wehrarchitektur aufzufassen ist. Wie eine Festung ist die Gesamtanlage mit Eckbastionen gesichert, hätte aber in Wirklichkeit militärisch diese Funktion niemals wahrnehmen können. Die Mauern sind viel zu schwach, und der empfindlichste Bereich, nämlich das Tor, ist gar nicht befestigt: Dort liegen die Communs, die einen offenen Hof bilden. Offensichtlich handelt es sich um eine Scheinfestung, um eine reine Papierarchitektur, die das Bild der Festung benutzt, um eine bestimmte Idee wiederzugeben, die Idee nämlich, daß hier aus der Weite der Landschaft und der Natur ein besonders geschützter und geordneter Binnenraum ausgegrenzt ist.


Natürlich ist die bastionierte Plattform des Château de Maulnes nicht ausschließlich als »Bild einer Festung« zu verstehen, sondern sie ist durchaus im Stande, einige, allerdings sehr eng begrenzte Verteidigungsfunktionen zu erfüllen. Sie ist für eine militärische Konfrontation geeignet, die in den Traktaten der Zeit »battaglia a mano« genannt wird, für leichte Scharmützel also. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts macht die Artillerie eine geradezu rasante Entwicklung durch. Die Feuerkraft wurde durch immer neue Erfindungen in den wenigen Jahrzehnten zwischen den Italienfeldzügen Franz I. und den Hugenottenkriegen auf ein Vielfaches gesteigert, zugleich wurden die Geschütze so leicht, daß man sie auf Lafetten montieren und schnell von einem Kriegsschauplatz zum anderen bewegen kann. Die Befestigungstechnik dagegen war zwar ebenso schnellen Veränderungen unterworfen, die theoretisch auch jederzeit das Gleichgewicht zwischen Angriff und Verteidigung wiederherstellen konnten, nur praktisch ließen sich die baulichen Maßnahmen ungleich langsamer umsetzen als die Neuerungen der Waffentechnik. Die bastionären Festungssysteme erforderten ungeheure Erdbewegungen, wenn sie wirksam sein sollten, meist waren die dafür nötigen Arbeitskräfte nicht verfügbar, und selbst wenn die Ressourcen vorhanden gewesen wären, hätte es viel zu lange gedauert, bis die Befestigungen wieder auf den neuesten Stand gebracht waren. In der Zwischenzeit war die Entwicklung der Angriffswaffen dann schon wieder auf der nächsten Stufe angekommen. Dies führte dazu, daß um die Mitte der 50erJahre des 16. Jahrhunderts nur noch die Zentralgewalt und ein Teil des Hochadels ökonomisch in der Lage waren, sich gegen Artillerie und Belagerungskriege zu schützen, außerdem noch die wirklich reichen und mächtigen Städte. Die kleineren Feudalherren konnten in diesem Wettlauf schon lange nicht mehr mithalten. Dies alles brachte es mit sich, daß meist gar nicht mehr der Versuch unternommen wurde, die Schlösser gegen diese Form der Kriegsführung zu befestigen, sondern sie nur noch gegen kleinere und leicht bewaffnete Verbände zu sichern. Dazu genügten wie in der Vergangenheit Mauern und Gräben und es war viel wichtiger, in der Umgebung weitere Stützpunkte mit leichter Reiterei zur Verfügung zu haben, die die Angreifer stören oder sogar in die Zange nehmen konnten. Obwohl die Befestigungen nunmehr ausschließlich für diese leichte und mobile Form der militärischen Auseinandersetzung hergerichtet wurden, orientierten sie sich architektonisch dennoch am Formenrepertoire der modernen »schweren« Befestigungstechnik mit bastionierten Plattformen, geschützt durch Gräben mit Escarpe und Contrescarpe. Sie verwendeten also die architektonische Sprache der modernsten, auf Belagerung und Artilleriebeschuß ausgelegten Wehranlagen, auch wenn sie dafür viel zu schwach ausgeführt waren und Kasematten und Geschützplattformen gänzlich fehlten. In diesem Sinne muß man diese Anlagen als »Scheinfestungen« bezeichnen, die den Binnenraum des Schlosses nicht mehr tatsächlich gegen den modernen Krieg der Epoche absichern konnten, sondern die ihn nur noch symbolisch beschützten.5 In Maulnes ist dieser zeichenhaft gesicherte Binnenraum nun weiter in Einzelräume untergliedert, die jeweils nach einer exakt konstruierten geometrischen Figur angelegt sind. Im Norden liegt ein kreisförmiger abgesenkter Hof mit radial überwölbten Kammern, über deren Funktion sich 21


14 Die Scheinfestung Maulnes, von Nordosten gesehen. 15 Grundriß und Schrägaufsicht eines wirklich verteidigungsfähigen »Palazzo in Fortezza«: Das Schloß in der Zitadelle Jülich, 1549 begonnen, in der Darstellung von Daniel Speckles Architectura von Vestungen, Straßburg 1589. 16 Entwurf einer Scheinfestung als »Château sur plate-forme«: Modell VIII aus dem Troisième Livre d’Architecture von Jacques Androuet Ducerceau, 1572/82. 17 Die beiden Wirtschaftshöfe rechts und links der Communs mit den an die Bastionen angrenzenden Flächen, die vermutlich für die Bebauung mit Ställen und Zwingern für die Parforcejagd vorgesehen waren. Ducerceau ausschweigt. Vom Bautyp her handelt es sich um einen Kryptoportikus, um ein in die Erde hineingebautes Raumsystem vor einer Stützmauer. Für gewöhnlich sind Räume in Kryptoportiken grottenartig ausgekleidet, mit Statuen besetzt oder in Rocaillearbeiten mit Tieren und Fabelwesen bevölkert, die das wirkliche oder das mythische Tierreich repräsentieren. In Maulnes ist der Kryptoportikus zwar verschüttet, aber unter den Erdmassen noch als Ruine erhalten, allerdings haben sich von solch grottenartigen Ausstattungen bisher keine Spuren gefunden. Auf der Südseite, dem Kryptoportikus gegenüber, befindet sich ein ebenfalls abgesenkter, quadratischer Garten mit regelmäßigen Broderien und beschnittenen Pflanzen, und darin liegt, nochmals abgesenkt, das rechteckige Nymphäum. Aus diesen versunkenen Architekturen der fabulösen Fauna und topiarischen Flora, aus dem kreisrunden Kryptoportikus und dem orthogonalen Garten, erhebt sich fünfeckig und wie eine Festung, nur über eine Zugbrücke zu erreichen, die menschliche Wohnung. Sie ruht auf einem Sockelgeschoß mit Grotten, die – hier, wie überall im Schloßbau der Epoche – ebenfalls die belebte und unbelebte Natur in ständiger Metamorphose darstellen sollen, somit ist die erste Idee des Entwurfs offensichtlich: Eine Symbiose von Mensch, Tier und Pflanze ist hier in strenger hierarchischer Ordnung aus der alles umgebenden Wildnis ausgegrenzt. Aus diesen Chiffren der natürlichen Welt erhebt sich die menschliche Behausung als Fünfeck. Im Schnitt erkennt man, daß das Eingangsgeschoß zwei Ebenen über dem Nymphäum liegt. Der Eingang selbst ist mit einer Zugbrücke gesichert, auf das Tor folgt ein Vestibül und von dort aus geht es einige Stufen zur Treppe im Zentrum hinauf. Quer vor der Hauptfront nach Süden liegen drei gleichartige Räume, umgeben von kleineren Kammern und großen Sälen, die eine ganze Flucht von Bädern enthalten. Ducerceau be-

Hof

Ställe ?

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schreibt sie als »Poelles, étuves, bagnoires ...«, also als »Öfen, Schwitzkammern und Baderäume«. Gleich auf der Eingangsebene liegt somit ein ganzes System von Gehäusen der Badelust. Dieses System wurde nach Art einer römischen Therme in einem Kreislauf betrieben, denn ein unter dem Vestibül hindurchgeführter Gang ermöglicht die interne Kommunikation zwischen allen Räumen dieses Geschosses, ohne je die Erschließung der Haupttreppe kreuzen zu müssen. Im Abstieg auf der repräsentativen Escalier d’honneur gelangt man in den Sockel des Gebäudes, der ein komplettes Grottengeschoß beherbergt, das vor allem der architektonischen Fassung und Überhöhung des Wassers dient. Vom unteren Treppenaustritt blickt man links in die monolithische Schale des Treppenschachtes, die das Wasser der Quelle sammelt und exponiert, hell erleuchtet durch das hoch oben im Scheitel einfallende Licht. Nach rechts öffnet sich das Nymphäum, in das von allen Seiten über offene Steinrinnen das Wasser eingeleitet wird, und über die spiegelnde Wasserfläche blickt man hinaus in die Helligkeit des Gartens. Innen erkennt man in Halbdunkel und Gegenlicht den sorgfältigen Steinschnitt und den regelmäßigen Wechsel zwischen rötlichen und weißgrauen Schichten, und dieser feierliche Gestus der Architektur, begleitet von dem immerwährenden Gemurmel des Wassers, verleiht dem Gewölbe die Aura eines Quellheiligtums. Keinem praktischen Zweck hat diese künstliche Höhe je gedient, sondern ganz der auratischen Überhöhung des Wassers. Zu beiden Seiten des Nymphäums liegen niedrige, muldenüberwölbte Räume, die unvollendet blieben, aber nach dem Baubefund zu Grotten ausgebaut werden sollten. Die fertiggestellten Tür- und Fenstergewände sind in schwerer Rustika gehalten, ganz im Einklang mit der unterweltlichen Stimmung des Nymphäums, und auch hier

Hof

Ställe ?


1 Avantcour 2 Communs 3 Galerie 4 Kryptoportikus

5 Corps de Logis 6 Nymphäum und Theater 7 Versunkener Garten 8 Exedra

Kellergeschoß:

Eingangsgeschoß:

Beletage:

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Vestibül Saal Verbindungsgang, der eine Kommunikation zwischen allen Räumen unter Umgehung des Außenraumes der Treppe ermöglichte 4 Schwitzraum mit Unterbodenheizung 5 Tauchbad mit Wasserleitung 6 Baderaum, ursprünglich mit Holzvertäfelung 7 Baderaum mit beheizten Sitznischen 8 Baderaum 9 Zur Treppe geöffneter, von hinten beleuchteter Raum, im Boden ein Unterflurofen für eine ursprünglich hier aufgestellte Warmwasserbereitungsanlage 10 Nebentreppenhäuser

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wird man sich keine profanen Zwecke und Nutzungen denken dürfen, sondern an erster Stelle die kontemplative Betrachtung der Naturelemente Wasser und Licht. Aus dieser Unterwelt steigt man auf der Treppe hinauf dem Licht entgegen und empor zu den Appartements der Wohngeschosse. Auf dem Podest der Beletage passiert man zwei vollendet gearbeitete Säulen der dorischen Ordnung. Sie bezeichnen dem Besucher, daß er erst hier die Sphäre des Unterirdischen verläßt und daß von hier an die eigentliche Architektur – im Sinne menschlicher Behausung und Selbstdarstellung – beginnt, auf deren unterste Ebene der klassische Kanon die Dorica gestellt hat. Die beiden Säulen sind die einzigen klassischen Bauglieder überhaupt, die in Maulnes zu finden sind. Ohne Frage sind diese so pointiert eingesetzten klassischen Elemente als architektonische Ehrenzeichen der Beletage zu

verstehen, und im Sinne der Gesamtkonzeption wird man kaum zweifeln, welche Räume sie hervorheben sollen: Sie stehen nämlich vor den Eingängen zu den beiden Bereichen des Wohnens und der Geselligkeit, vor dem Appartement d’apparat und der Grande Salle. Kein anderer Bereich des Schlosses ist in ähnlicher Weise architektonisch ausgezeichnet. In der architektonischen Nobilitierung gerade der Appartements und des Festsaals, und eben nicht der Audienzhalle, die es gar nicht gibt, aber auch nicht der Eingangsfront oder anderer repräsentativer Bauglieder, die allesamt ohne die klassischen Ordnungen auskommen müssen, bringt das Château de Maulnes noch einmal eine charakteristische Zweckbestimmung des Bautyps zum Ausdruck: Jagdschlösser dienen nicht in erster Linie der Ausübung der herrschaftlichen Rollen, sondern dem Privaten, nicht der Strenge und Dis-

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Treppenraum mit Brunnenschacht (A) und Durchblick zum Nymphäum (B) Kellerräume (unvollendet) Quelle Quelle Kabinette, die in der Verfallsphase des Schlosses als Latrinen dienten. Nymphäumsseitenräume (unvollendet), wie die Keller als Grotten geplant Nymphäum

18 Die Elemente des Château de Maulnes. 19 Die Binnengleiderung der Hauptgeschosse.

4 5 6

Großer Saal Appartement (der Dame) Appartement (des Herrn) a) chambre, b) cabinet c) étude Erscheinungsbalkon Dienertreppen Treppenpodest mit den beiden klassischen Säulen

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ziplin des Hofzeremoniells, sondern der zwanglosen Geselligkeit, nicht dem förmlichen Staatsbankett, sondern dem üppigen Festmahl und Gelage. Und nicht zuletzt sind sie die ureigene Domäne der Favoritin und nicht der First Lady, sie sind ausdrücklich als Austragungsorte der wirklichen Leidenschaften der großen Herren angelegt, während die Residenzen Schauplätze der mehr oder weniger zeremoniell geführten Ehen waren. Maulnes ist in dieser Hinsicht allerdings kein typisches Jagdschloß, denn die Appartements des Corps de Logis waren, wie wir noch sehen werden, ausschließlich dem Bauherrenpaar vorbehalten. Die Säulen auf der Beletage nobilitierten also das Privatleben und die Geselligkeit eben dieser Beziehung, die man zwar in mancherlei Hinsicht als ungewöhnlich bezeichnen kann, und die nach allem was wir wissen auch sehr eng war, aber wohl nicht im Sinne der üblichen Jagdschloßeskapaden. Wir werden uns mit den Gemeinsamkeiten und Gegensätzen von Louise de Clermont und An-

Das Château de Maulnes ist vollkommen schmucklos. Nur zwei Mal wird vom klassischen Dekorum Gebrauch gemacht, in der Rustika des Sockelgeschosses und in den beiden Säulen vor den Appartements de Parade. 20 Die rustizierte Nymphäumsfassade. 21 Die Elementargeometrie des Treppenhauses, die außer den platonischen Körpern und den Grundfiguren der euklidischen Geometrie keinerlei Schmuckformen gelten läßt. 22, 23 Die beiden klassischen Säulen der Beletage – die einzige Anwendung der kanonischen Ordnungen im Château de Maulnes – die als architektonisches Ehrenzeichen vor den Bankettsaal und die Appartements gestellt werden. 24

toine de Crussol noch ausführlich auseinandersetzen, denn eben darin liegt der Schlüssel zu so mancher Besonderheit des Château de Maulnes. Die Ikonologie des Schlosses beschreibt in gebauten Bildern und architektonischen Metaphern das Verhältnis von Mensch und Natur und trägt damit das klassische Programm vor, das dem Bautyp Jagdschloß eigen ist. Allerdings dringt der kritisch musternde Blick den diese gebauten Bilder hier förmlich auf sich ziehen, so tief in die Elementarien dieser Symbiose ein, wie dies nur ganz selten gelingen kann. Von überragender Bedeutung ist dabei die Architektur der zentralen Treppenhalle. Die Treppe ist das alles verbindende und erklärende Element der Anlage, und sie bringt buchstäblich System in die Einzelheiten. Sie erschließt das Gebäude nicht nur im vordergründigen Sinne, sondern stellt auch dessen Bedeutungszusammenhang her. Im allmählichen Aufstieg wird nämlich Stufe für Stufe deutlich, daß


dieses Gebilde aus Treppen, Brunnenröhre, Wasserspiegel und Lichtöffnung neben mancherlei Verweisen auf das vielfältige Bedeutungsrepertoire der Renaissanceikonologie vor allem einem ganz elementarem Anliegen dient: der systematischen Inszenierung der fünf Grunderfahrungen der sinnlichen Wahrnehmung. Zuerst werden die visuellen Grundempfindungen auf dreifache Weise vorgeführt, einmal ganz direkt im Lichteinfall, dann in der Spiegelung als optische Verdoppelung der Brunnenröhre, in einer Form der optischen Täuschung also, und schließlich noch einmal in den Durchblicken, die sich von der Treppe aus immer wieder ergeben, da die Brunnenröhre ja nach allen Richtungen durch rechteckige Fenster geöffnet ist. Dann geht es in einem zweiten Schritt um die haptischen Empfindungen, die auszulösen ohnehin ein gattungstypisches Anliegen der Architektur ist, insbesondere der Treppenarchitektur, wo der Raum ja in allen drei Dimensionen mit dem Kör-

per durchmessen und ertastet wird. Und schließlich wird mit der Brunnenröhre auch die akustische Wahrnehmung angesprochen: Das Wasser rieselt beständig aus den Quellen in die steinerne Brunnenfassung, wo es ein murmelndes Dauergeräusch hervorruft, das im engen zylindrischen Schacht beträchtlich verstärkt wird. Dies ist der Cantus firmus des Gebäudes, der aber gelegentlich durch eine wahre Wassermusik überlagert wird. Die Dachterrasse entwässert nämlich nach innen, und in ihrer Mitte befindet sich ein kreisrundes Opaion, eine Lichtöffnung, die von einer Rinne umgeben ist. Diese Rinne, die das Regenwasser der Dachterrasse sammelt, mündet in fünf Tropfnasen, die in den fünf Ecken des Fünfecks das Wasser in den Brunnenschacht fallen lassen. Sie kragen so weit vor, daß das Regenwasser nicht an der Wand entlangläuft, sondern im freien Fall durch die ganze Höhe des Gebäudes über 20 m tief hinabfällt. Bei Regen entsteht hier im Inneren ein orgelartiges Brau24 Die Dachterasse mit dem Opaion und den fünf Tropfnasen in den fünf Ecken des Treppenhauses, über die das Regenwasser im freien Fall im Inneren der Brunnenröhre in die Brunnenschale in der Tiefe fällt. 25 Detail der Tropfnasen. 26 Rekonstruktion der heute verschwundenen, ehemals rauchenden Obelisken auf den Kaminen in den fünf Ecken der Dachterasse. 27, 28 Der Aufstieg auf der Treppe aus der Unterwelt des Sockelgeschosses zu den lichtdurchfluteten Obergeschossen. Blick von oben. Blick von unten. 24 27

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sen, das mit den wechselnden Regengüssen anund abschwillt. Und gleichzeitig sieht man von unten das Wasser in Tropfen herabfallen, die wie Perlen im Gegenlicht blitzen. Wenn es noch irgendeines Details bedürfte, um die Intentionalität des gesamten Programms zu belegen, so wäre es diese Detailausbildung der Tropfnasen, die keinem anderen Zweck dient als der Aufführung dieser natürlichen Musik und der kristallinen Erscheinung des Lichtes. Oben auf der Dachterrasse kommen wir dann zur letzten Inszenierung der fünf sinnlichen Grunderfahrungen, zu Geruch und Geschmack, die natürlich in der Architektur nur indirekt präsent sein können. Auch in Maulnes werden diese beiden Sinne nur metaphorisch angesprochen, dafür allerdings an prominenter Stelle. In den fünf Ecken des Treppenkernes werden fünf Kamine über Dach geführt, und diese Austrittsöffnungen des Rauchs sind ausgesprochen monumental behandelt: Fünf Obelisken sind wie eine Krone auf das Gebäude gesetzt, und aus dieser in die Architektur übertragenen Würdeform entweicht der Rauch. Rauch aber ist nach der antiken Naturauffassung eine manifest sichtbare Form des Geruchs und des Geschmacks.6 Man hat Maulnes eine »Kaprize« genannt, einen wunderlichen Einfall eines schrulligen Bauherrn, sogar ein »Monster« aus dem »Traum eines Architekten«7, aber solche Titulierungen gehen an Qualität und Anspruch dieser Architektur völlig vorbei. Das Schloß ist weder bizarr noch verspielt, sondern eine Architektur von großem Ernst, die einen ganz systematischen Blick auf die Natur und den Menschen darin unternimmt. Damit bleibt es zunächst noch im Rahmen der gattungsbedingten Ikonologie, denn die architektonische Thematisierung des Verhältnisses von Mensch und Natur ist ein typisches Ausstattungsund Darstellungsprogramm des Bautyps Jagdschloß. Die besondere Perspektive jedoch, die im Château de Maulnes entwickelt wird, geht weit über den üblichen Rahmen dieser architektonischen Konversationsstücke hinaus. Hier geht es nicht um ein unverbindliches Rollenspiel von Mensch, Tier und Pflanze, schon gar nicht um den üblichen Topos der unumschränkten Naturbeherrschung, sondern um das essentielle Eingebundensein des Menschen in die Natur. Diese Perspektive wird aus einer naturphilosophischen Haltung heraus entwickelt, die im tiefsten Grunde als naturreligiös bezeichnet werden muß. Dies alles aber geschieht in Maulnes nicht als rein akademische Übung, und schon gar nicht als Kaprize aus einer bloßen Laune heraus, sondern in fundamentalem Ernst im Angesicht der Jahrhundertkatastrophe der Religionskriege, die, eben begonnen, von nun an ihren unheilvollen Lauf nehmen sollten. Die Architektur des Château de Maulnes ist eine in der Analyse erschreckend klarsichtige, in der Konsequenz kompromißlose, und in ihrer künstlerischen Qualität überragende Reaktion auf diese Ereignisse. Damit ist vorab die Kernthese dieses Buches in den Raum gestellt, der rote Faden benannt, der sich durch alle Kapitel hindurch zieht: Das Château de Maulnes ist eine in Architektur gefaßte Antwort auf den zivilisatorischen Kollaps der Zeit, verursacht durch religiösen Wahn und gewalttätige Intoleranz, und es bedeutet in seiner naturreligiösen Grundhaltung, die sich über dem Konflikt der Parteien weiß, eine demonstrative Positionierung der Bauherrn im großen Streit der Epoche. Die naturreligiöse Haltung, die hier souverän und abgeklärt über allem stehend eingenommen

wird, erschließt sich ohne Weiteres aus der Mitte des Schlosses selbst. Die Fassung der Naturelemente Licht, Luft und Wasser in einer Architektur aus den einfachsten Formen der Elementargeometrie ist von einer unmittelbar sprechenden Archaik. Noch unseren heutigen, an die Reduktionen der Moderne gewöhnten Augen geht dies ohne weiteres auf, um wieviel mehr muß den Zeitgenossen dieses von jedem Dekor befreite Treppengehäuse aus nacktem Stein mit der Quellschale im tiefsten Grund und der runden Lichtöffnung hoch oben als eine Architektur der uranfänglichen Einfachheit erschienen sein. Die Typologien, die hier miteinander verschmolzen wurden, sind der antiken Sakralbaukunst für den Kult der Elemente entlehnt, sie greifen auf den Bautyp des römischen Quelltempels zurück und verbinden damit die Raumidee der Lichtheiligtümer, die die Sonne nur im Scheitel einfallen lassen. So entsteht eine Architektur ohne Präzedenz. Der Raum, der hier geschaffen wurde ist unbedingt sakral im ursprünglichen Sinn des Wortes: Er grenzt den Gegenstand der Verehrung, die Naturelemente Licht, Luft und Wasser, aus dem kontinuierlichen Fluß der Erscheinungen in der Welt draußen aus, faßt sie in Architektur und macht sie damit in ihrer reinen Form der Kontemplation zugänglich. Dieses Programm bezieht den Menschen mit ein, macht auch ihn zum Gegenstand seiner Inszenierungen. Als Besucher und Betrachter durchwandert er den Raum und fühlt sich eingebunden in die Natur, in der er mit den Sinnen wurzelt, wie die Pflanzen im Erdreich. Die sinnlich wahrnehmbaren Empfindungen der Klänge und Stoffe, der Formen und Farben, der Lichteindrücke von Hell und Dunkel, denen er hier wie in einer Versuchsanordnung ausgesetzt ist, lassen ihn seine Einbindung in die natürliche Welt physisch erfahren. Mit diesen Verwurzelungen ist er im platonischen Sinn Teil des Weltganzen, erfährt er sich durchdrungen vom Geist der Schöpfung, der die Wesen und Dinge in unendlicher Metamorphose auseinander hervorgehen läßt. Die Treppenhalle im Château de Maulnes ist so gebaut, daß in einer schlicht anagogisch zu nennenden Hinführung jedem, der auf diesen Stufen auf- und absteigt, seine Zugehörigkeit zu dieser Welt der Elementarien bewußt wird, seine Teilhabe an dem in der Natur präsenten Deus absconditus vor Augen steht. Insofern ist das Château de Maulnes ein deistischer Entwurf, der das Denkgebäude der platonischen Philosophie in einer konkreten Architektur aus Stein und Raum nacherschaffen hat. Am Vorabend der Religionskriege muß man in diesem Konstrukt ein Bekenntnis der Bauherrschaft zu einer Religion ante litteram sehen, vor und jenseits aller in Kirchen verfaßten Glaubensgemeinschaften. Während sich Protestanten und Katholiken in der nun einsetzenden militärischen Phase der Glaubenskämpfe mit einer noch nie dagewesenen Härte und Grausamkeit bekriegen und dabei den Staat und seine Zivilisation mit in den Abgrund zu stürzen drohen, ensteht in Maulnes ein humanistischer Gegenentwurf, der nicht bekehren oder reformieren will, sondern zu den Ursprüngen aller Religion im Sensus numinis zurückführt. Hier wird eine Position bezogen, die an keine Reformation mehr glauben mag, die die römische Kirche längst hinter sich gelassen hat, und die angesichts der unsäglichen Greuel, die die Verfechter der geoffenbarten Glaubenstatsachen untereinander begehen, ihren Frieden nur noch im Glauben an die latente Gegenwart des Göttlichen in den Naturreichen finden kann.

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29 Regentropfen, die im von hoch oben belichteten Brunnenschacht des Treppenhauses wie Perlen im Gegenlicht aufblitzen oder wie gläserne Fäden herabhängen. 30 Die zentrale Wendeltreppe ist als offener Außenraum im Inneren des Gebäudes angelegt: Das Opaion im Scheitel der Kuppel (1) ist nach oben geöffnet, und der untere Treppenantritt führt direkt in das offene Nymphäum und weiter in die beiden ebenfalls offenen Grottenräume an den Seiten (2). Vor allem aber steht das Treppenhaus selbst an prominenter Stelle – auf der Ebene der Beletage und darüber – über mehrgeschoßhohe Seitenöffnungen (3) direkt mit dem Außenraum in Verbindung, so daß Wind und Wetter ungehindert durch das Innere wehen und das Licht von allen Seiten bis tief in den Gebäudekern fallen kann.

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1. Buch

2. Buch 30 Bauten Les Plus Exellents Bastiments de France

15 Bauten 10 Bauten

15 Bauten 5 Bauten

Text Widmung

9 DS

8 Bauten

7 Bauten

Text Widmung Domaine Royal

Domaine Privé

Domaine Royal

Domaine Privé

Louvre – La Muette

Verneuil – Maulnes

Blois – Chenonceaux

Chantilly – Bury

64 Doppelseiten

8 DS

61 Doppelseiten

73 Doppelseiten

69 Doppelseiten 142 Doppelseiten

30 = Die lunare Ordnungszahl der Zeit (den 2 x 15 Tagen der Mondphasen entsprechend)

15 = Die Zahl der hellen Hälfte der Mondphase

10 = Die Ordnungszahl des Gesetzes

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15 = Die Zahl der dunklen Hälfte der Mondphase

5 = Die Ordnungszahl des Mikrokosmos

8 = Die Zahl der Vollendung und Erlösung

7 = Die Zahl der Schöpfung und des Werdens


2. Die Rezeption Das vergessene Schloß der Plus Excellents Bastiments de France Eines der wenigen Schlösser der französischen Renaissance, dem vielleicht noch während seiner Bauzeit, auf jeden Fall aber im Jahrzehnt seiner Fertigstellung die Ehre zuteil wurde, in die Plus Excellents Bastiments de France aufgenommen zu werden, ist das Château de Maulnes. Die Anthologie der dreißig ausgezeichnetesten Schloßbauten Frankreichs, die Jacques Androuet Ducerceau in zwei Bänden 1576 und 1579 veröffentlicht hat, spiegelt gewiß zuerst das persönliche Urteil des Autors, insbesondere in der Einschätzung, daß es sich um »die« herausragendsten Bauwerke der Epoche handelt, gleichwohl dürfte nicht ein Beispiel darunter sein, daß nicht im allgemeinen Urteil der zeitgenössischen Kritik als bemerkenswerte, überdurchschnittlich gute Architektur bestanden hätte. Daß Ducerceau dem Château de Maulnes eine ganz herausragende Rolle in der Schloßbaukunst seiner Zeit zugestehen wollte geht schon allein daraus hervor, daß er dem Schloß auch in der editorischen Gesamtdisposition seines Werkes eine Schlüsselposition einräumt. Ducerceau hat die zwei Bücher der Plus Excellents Bastiments de France so eingeteilt, daß im ersten Band auf zehn Schloßbauten des Königshauses fünf Privatbauten folgen, im zweiten Band dagegen auf acht Bauten der Domaine Royal sieben der Domaine Privé. Die Bauten der Krone werden im ersten Band in der absteigenden Rangfolge ihres Status abgebildet, vom Louvre bis La Muette, vom Regierungssitz bis zum Pavillon de Chasse also, die der Privatleute dagegen sich steigernd in der Rangfolge ihrer architektonischen Qualität, von Valery bis Maulnes. Der zweite Band beginnt so wie der erste endet, mit dem Ordnungsprinzip der sich mit jedem Exempel steigernden architektonischen Exzellenz, nur daß jetzt keine Privatbauten, sondern acht Königsschlösser aufeinanderfolgen; die Sequenz beginnt mit Blois und endet mit Chenonceaux. Danach reiht Ducerceau sieben Privatbauten aneinander, die diesmal nach dem Status der Bauherrschaft geordnet sind; den Anfang macht Chantilly, der Hauptsitz des Connétable Anne de Montmorency, den Schluß bildet Bury, das Schloß eines Sekretärs Karls VIII. Mit Bedacht hat Ducerceau gerade dreißig Bauwerke ausgewählt und sie in je zwei mal fünfzehn Zyklen geordnet. Er greift damit auf die elementaren Ordnungszahlen der Zeit zurück, auf die dreißig Tage der Mondphasen des Kalenders, die sich in eine helle und eine dunkle Hälfte von je fünfzehn Tagen teilen. Der Domaine Royal hat er die geraden Zahlen zehn und acht zugeordnet, der Domaine Privé die ungeraden Zahlen fünf und sieben. Die absolute Ordnungszahl Zehn der Domaine Royal verdoppelt im Ersten Buch die Fünf der Domaine Privé in der Harmonie der Oktave, im Zweiten Buch vollendet die endzeitliche Acht die Schöpfungszahl Sieben des Werdens und Entstehens. In Analogie zum einfach gegebenen Rhythmus der natürlichen Ordnung und im Rückgriff auf die altbekannte Zahlensymbolik der biblischen Tradition präsentiert Ducerceau seine Auswahl der Plus Excellents Bastiments de France als den Inbegriff des Gesetzmäßigen, Richtigen, ja geradezu Gottgegeben. In diesem krebsartig gespiegelten, aber zugleich kunstvoll in Asymmetrien geteilten Aufbau

des Werkes beendet Maulnes als das hervorragendste Exempel der Domaine Privé den ersten Band, als Höhepunkt der Achterreihe der Domaine Royal entspricht ihm am Anfang des zweiten Bandes das Königsschloß Chenonceaux. Maulnes steht also am Ende des ersten Bandes, als Höhepunkt einer Gattung, und im Mittelpunkt der dreizehn herausragendsten Bauten überhaupt, um die sich das ganze Werk beiderseits in zehn Schlössern aus der Domaine Royal und sieben aus der Domaine Privé organisiert. Einen prägnanteren Ehrenplatz als diesen konnte Ducerceau dem Château de Maulnes unter den Plus Excellents Bastiments de France überhaupt nicht anweisen. Es besetzt gewissermaßen den Dreh- und Angelpunkt des gesamten Werkes. Trotzdem geriet das Château de Maulnes schon bald nach dieser außerordentlichen literarischen Würdigung in Vergessenheit. Es erscheint noch einmal auf einem Stich von Israel Silvestre, der um 1650 zu datieren ist, aber schon die Vorlagewerke des 18. Jahrhunderts – etwa von Jean Mariette, 1727, oder von Jacques-François Blondel 1752/56 – nehmen keine Notiz mehr davon8. Nur bei Jean-Nicolas-Louis Durand taucht das Château de Maulnes überraschend um 1800 noch einmal auf, allerdings als »Verschönerungsvorschlag« mit einigen klassizistischen Ergänzungen, einem halbrunden Nymphäumsbogen und einer Arkatur in Kryptoportikus und Communs, die das Schloß wie einen Musterentwurf aus den »Leçons d’architecture« von 1819 erscheinen lassen. Offensichtlich hat Durand das Schloß aus eigener Anschauung gekannt, denn im Begleittext empfiehlt er es als sehenswertes Reiseziel.9 Ziel regelrechter Architekturreisen war das Château de Maulnes um 1800 auf jeden Fall, besucht wurde es allerdings schon früher, und es sollte auch bis in unsere Gegenwart ein Objekt der Architektenneugier bleiben. Dies belegen die zahllosen Graffiti aus allen Jahrhunderten, die sich im Gebäude finden. Das Schloß ist geradezu übersät davon und die ersten Daten reichen bis auf eine Generation an den Abschluß der Bauarbeiten heran. Das älteste Graffiti mit dem Namenszug »F. Carré« ist auf 1625 datiert und findet sich mit einigen anderen aus der gleichen Zeit auf dem Gesims der Kaminhaube im ausgebauten Dachgeschoß (6.09 A). Weitere Graffiti des 17. Jahrhunderts gibt es im Appartement de Parade des Hausherrn (4.08 E), datiert 1642, im Sockelgeschoß unterhalb der Bäder in großer Dichte – »Claude Chabenat 1678« (2.06 B), ein besonders schönes mit christologischem und marianischem Trigramm10 sowie einer Jahreszahl, die entweder als »1651« oder »1671« zu lesen ist (2.06 A) – und schließlich ab 1694 auch im Haupttreppenhaus (4.0). Diese frühen Graffiti legen den Schluß nahe, daß schon zu Anfang des 17. Jahrhunderts das Schloß nicht mehr bewohnt wurde, oder jedenfalls nicht mehr herrschaftlichen Zwecken diente, denn die »Narrenhände, die verzieren Tisch und Wände« dürften dem Hausherrn wohl kaum gefallen haben.11 Von 1722 an nimmt die Graffitidichte erheblich zu. Ab 1766 gibt es Handwerkergraffiti – »Langronant, Couvreur 1766« (in der Türlaibung 6.00 E) – weitere von 1875, 1890 dicht daneben. 1816 hat sich ein Zimmermann in der Türlaibung vom Appartement de Commodité des Hausherrn zur Treppenhausloggia (5.13 C) verewigt: »P. Panais Charpentier a St. Vinnemer ce 14. septembre 1816«. Solche Graffiti sind eine große Hilfe bei der Datierung von Ausbauzuständen, Putz- und Farbfassungen usw. und wir werden an entsprechender Stelle wiederholt darauf zurückkommen.

31 Schematische Zusammenstellung der im gleichen Maßstab gezeichneten Massenpläne der Schlösser, die Jacques Androuet Ducerceau in die Plus Excellents Bastiments de France (1576/79) aufgenommen hatte, in der gleichen Reihenfolge, in der sie im Buch stehen. Darunter das numerische Gliederungsprinzip des Werkes. Das Buch ist sinnbildlich in den elementaren Ordnungszahlen 30 und 15 angelegt, die der naturgegebenen Gliederung der Zeit entlehnt sind. Es umfaßt insgesamt dreißig Schloßbauten, geteilt in zwei Gruppen zu je fünfzehn, entsprechend den 2 x 15 Tagen des Mondzyklus. Das erste Buch enthält zehn Bauten der Domaine Royal, fünf Bauten der Domaine Privé, das zweite Buch acht Bauten der Domaine Royal und sieben Bauten der Domaine Privé. 10 ist die mosaische Ordnungszahl schlechthin, 5 die Zahl des Mikrokosmos, 8 die Zahl der Vollendung, 7 die Zahl des Schaffens und Werdens. Die Bauten der Domaine Royal sind in geraden Zahlen geordnet, die der Domaine Privé in ungeraden (Primzahlen). Das erste Buch ist vier Doppelseiten länger als das zweite, Maulnes steht auf diesen zusätzlichen Seiten genau in der Mitte des Werkes, als Drehund Angelpunkt der Plus Excellents Bastiments de France.

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Besonders interessant jedoch sind die Graffiti, die belegen, daß das Schloß von kunstinteressierten Reisenden besucht wurde. Darunter sind so prominente Namen wie »Boullée« (3.15 D), undatiert, aber in der Kanzleischrift des 18. Jahrhunderts sauber in den Kalkstein geritzt, und im Dach liest man auf einem Kamingesims (6.09 A), ebenfalls undatiert, den Namenszug »Durand«. In beiden Fällen wird es sich vermutlich um Namensvettern der berühmten Architekten handeln, jedenfalls liegt dies bei der Häufigkeit des Namens Durand durchaus nahe. Da Maulnes aber um 1800 in Durands zitiertem Stichewerk auftaucht, könnte es sich dennoch um den Verfasser der Leçons d’architecture handeln, und beispielhaft würde ihm das Schloß allemal gewesen sein. Ohne Frage gilt dies auch für Boullée, der die Architektur »als die Kunst definiert, bildliche Eindrücke durch die Art der Anordnung von Körpern zu schaffen«12 und für eben diese Architekturauffassung liefert das Château de Maulnes geradezu das Lehrstück par excellence. Daß Maulnes kontinuierlich und über lange Zeiträume hinweg von einem kultivierten Publikum aufgesucht wurde zeigen beispielhaft zwei Graffiti im Dachgeschoß. Bei dem einen liest man in kunstvoll geschwungenen Schriftzügen: »Pierre Bœuf, sellier, en villegiature au Château de Maulnes, le 1er avril 1911«. Hier hat ein kunstliebender Sattelfabrikant dem Schloß einen Besuch abgestattet, als er im Frühling Ferien auf dem Lande machte. Ein zweites zeigt ein sehr schönes Selbstporträt des Zeichners im Gehrock mit Buch und Kerze, daneben den Namen: »Gaspard de Silvestre, Château de Maulnes, 1885« (6.09 A). An den Graffiti läßt sich ablesen, daß das Schloß immer wieder Besucher angezogen hat, nicht nur aus der Umgebung, sondern auch aus Paris, Lyon und den entfernteren Regionen Frankreichs. Das gesamte Bauwerk ist buchstäblich davon übersät – gewiß sind es an die tausend Namen, die hier eingeritzt wurden, wahrscheinlich tausende. Da bestimmt nicht jeder Besucher seinen Namen auf die Wände gekritzelt hat, sondern nur jeder dritte, vierte, zehnte, ist die Zahl der Neugierigen, die hierher kamen, noch sehr viel höher anzusetzen. Vor allem im 18. und 19. Jahrhundert muß es einen regelrechten »Maulnes-Tourismus« von Architekturliebhabern gegeben haben. Die verschiedenen Namen und Ortsangaben belegen ferner, daß es sich um einen überregionalen Tourismus handelte, um reisende Connais-

seurs also, die nicht zufällig vorbeikamen, sondern ganz bewußt angereist sind. Wären nur die Bauernjungen aus Cruzy, Arthonnay oder Villon ins Schloß eingestiegen, so fände man an den Wänden auch nur die drei Dutzend Namen aus der Umgebung. Tatsächlich aber sind es unendlich viele verschiedene. Kennerschaft und gehobenes Bildungswesen verraten auch die sehr zahlreichen Schriftzüge, die klar und von geübter, täglich schreibender Hand in den weichen Stein geritzt wurden. Dies deutet auf aristokratische oder großbürgerliche Urheberschaft, denn die Masse des Volkes schrieb zu dieser Zeit noch sehr selten, war ungeübt, auch wenn sie Lesen und Schreiben gelernt hatte. Die Landbevölkerung im Frankreich des 18. oder frühen 19. Jahrhunderts war durchweg des Schreibens unkundig. Einzelne mochten imstande sein, ihren Namen wie ein Rebus mühsam auf die Wand zu kritzeln, keineswegs aber in so eleganten Schriftzügen oder in so schön geschnittenen Versalien, wie man sie so oft in Maulnes findet.13 Die Graffiti bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich in ungewohnter Häufigkeit überall am Gebäude finden, geben ein wirkliches Rätsel auf. Sie belegen einen überregionalen Architekturtourismus, während gleichzeitig die offizielle Salondiskussion keinerlei Notiz von der Existenz des Schlosses nahm. Während Maulnes nach der Publikation in den burgundischen Veduten von Israel Silvestre 1645 in keiner der großen Vedutenfolgen oder der auflagestarken Architekturpublikationen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vorkommt, zog es doch einen großen Kreis von Kennern aus dem ganzen Lande an. Das Schloß verschwand aus dem Gesichtskreis der offiziellen Kunstliteratur, aber es blieb ständig im Blick einer heimlichen Gemeinde von Connaisseurs, und so ist es eigentlich bis heute geblieben.14 Erst mit der auf Vollständigkeit abzielenden Baugeschichtsschreibung um die Mitte des 19. Jahrhunderts gelangte Maulnes wieder in das Blickfeld der akademischen Kunstbetrachtung, nicht daß ihm von nun an eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt oder dem Schloß gar eine Monographie gewidmet worden wäre, zumindest aber wurde es überhaupt wieder in den Kreis der beachtenswerten Renaissancebauten aufgenommen. Allerdings haftete an ihm nunmehr der hautgout des Befremdlichen, sogar Abtrusen, und dies von dem Augenblick an, wo sich die Literatur mit dem Schloß zu befassen beginnt. Den Anfang macht Claude Sauvageots grundlegendes Werk Pa-

32, 33 Maulnes auf einem Musterblatt der Leçons d’architecture von Jean-Nicolas-Louis Durand, um 1800, wo es neben dem 1791 abgebrochenen Château de Madrid steht. Gegenüber der Version in Jacques Androuet Ducerceaus Anthologie, aus der der Gesamtplan entnommen ist, sieht man bezeichnende Veränderungen, wie den wassergefüllten Graben, eine Brücke als Zugang zur Avantcour, veränderte Treppen in den Communs, eine geänderte Fassung des Kryptoportikus mit breitem Endpfeiler und einem eckigen Turm anstelle des halbrunden Eingangsrisaliten. Die Treppe zeigt Durand als Vollkreis, der einem fünfeckigen Treppenhaus einbeschrieben ist. 31


lais, châteaux, hôtels et maisons de France du XVe au XVIIIe siècle, Paris 1867, das vor allem wegen seiner Erstveröffentlichung einigermaßen exakter Bauaufnahmen zahlreicher Bauten der behandelten Epochen außerordentlich verdienstvoll ist. Maulnes wird darin nur ganz beiläufig erwähnt, allerdings in einer Episode, die für die Rezeptionsgeschichte des Schlosses folgenreich sein sollte. Sauvageot erzählt, daß ihn der Marquis de Tanlay anläßlich eines Aufenthaltes auf seinem Schloß überredet habe, ein merkwürdiges, ganz in der Nähe gelegenes »Gutshaus« zu besuchen, eben das Château de Maulnes. Er unternimmt den kurzen Ausflug, ist auch höchst beeindruckt, zugleich jedoch auch äußerst befremdet und so schließt er sein Kapitel mit den Zeilen: »Wir wollen diese Notiz über das treffliche Château de Tanlay nicht beenden, ohne nicht auch ein paar Worte über ein Gutshaus in der Nachbarschaft gesagt zu haben, über ein fremdartiges, bizarres Gebäude, das eine Art geheimnisvoller Treffpunkt zur Jagd mitten in den weiten Wäldern gewesen ist, weitab von jedem bewohnten Ort. Wir sprechen von dem fünfeckigen Schloß Maune«.15 Mit diesen Zeilen hat Sauvageot den Ton für die folgende Literatur angegeben: bizarr, geheimnisvoll, abgelegen und von rätselhafter Fünfeckform – dies alles sind Requisiten aus dem Arsenal der Gothic Novel und die Illustration, die dem kurzen Text beigegeben ist, eine romantische Impression nach dem Stich von Israel Silvestre, hat dazu das ihrige beigetragen. Maulnes bleibt auch weiterhin das enigmatische Schloß eines Esoterikers, die geheimnisumwitterte Szenerie ungeschriebener Schauerromane oder bestenfalls die architektonische Grille eines Sonderlings.

34 Maulnes im Zustand des einsetzenden Verfalls auf einem Stich von Israel Silvestre, ca. 1650.

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Ebenfalls 1867 erschien als Band IV in Franz Kuglers Geschichte der Baukunst eine erste Fassung von Wilhelm Lübkes Geschichte der Renaissance in Frankreich, die unter dem gleichen Titel, aber erheblich erweitert, 1885 in zweiter Auflage ein Klassiker der Baugeschichtsschreibung werden sollte. Dem Château de Maulnes ist darin ein kurzes Kapitel gewidmet, das mit den Worten beginnt: »Die lebhafte Beschäftigung mit geometrischen Formen und Constructionen, der sich die Architekten der Renaissance mit Vorliebe hingaben, führte sie gelegentlich dazu, statt der naturgemäßen rechtwinkligen Anlagen einzelne Versuche mit complicirteren Grundrissen zu machen. Der Kreis und die verschiedenen Arten von Polygonen in mannigfacher Anwendung und Verbindung spielen dabei eine Hauptrolle, und es ist, als

ob in solchen Compositionen ein Stück Phantastik aus früheren Epochen nachspuke, um sich auf Kosten des sonst so rationellen Baugeistes dieser Zeit geltend zu machen […] In Wirklichkeit hat sich ein Bauwerk dieser Gattung bis auf unsere Tage erhalten zum Beweise, daß bisweilen […] aus solchen Spielen der Einbildungskraft monumentaler Ernst wurde. Es ist das kleine Schloß Maune (Mosne), bei der Eisenbahnstation Tanlay an der Linie von Paris nach Lyon, im alten Burgund, Departement der Yonne gelegen. Der Herzog von Uzès ließ es in Form eines regelmäßigen Fünfecks erbauen […].«16 In diesen Zeilen hat Wilhelm Lübke das Streben nach geometrischen Idealfiguren, das der Gesamtkonzeption von Maulnes zugrunde liegt, präzis erfaßt, und er hat ebenso klar die Architekturtheorie der Zeit als Quelle dieser Bestrebungen benannt. Die Neigung zur Reduktion der Bauformen auf elementargeometrische Grundformen dagegen, die er wohl bemerkt hat, bleibt ihm fremd, wenn er feststellt: »Die Architektur des Äußeren ist von absoluter Nüchternheit, ohne eine Spur von künstlerischer Form«. Unübersehbar dringt hier die Stimme des Eklektikers durch, der angesichts der elementargeometrischen Reduktion und der leeren Wände in Maulnes nur einen abgrundtiefen horror vacui empfinden konnte. Wilhelm Lübke artikuliert in diesen Zeilen in entlarvender Deutlichkeit das Unbehagen des Wilhelminismus an der einfachen Form und der elementaren Geometrie, die zu seiner Zeit nur als Ausdruck einer künstlerischen Leere empfunden werden konnte. Für die architektonische Größe von Maulnes, die in eben dieser Reduktion auf das Elementare in Form und Inhalt liegt, blieben ihm die Augen verschlossen und so schließt auch er mit dem Vorwurf der Bizarrerie, wenn er zusammenfaßt: »Wir erwähnen das wunderliche Gebäude nur, weil es für eine Richtung des Baugeistes jener Zeit bezeichnend ist, im übrigen, um mit Du Cerceau zu reden ›plus pour plaisir et diversité que pour autre chose‹«.17 Mit dieser kurzen Liste ist die Reihe der wirklich wissenschaftlich zu nennenden Werke, die sich im 19. Jahrhundert mit Maulnes befassen, vorerst erschöpft. Zugleich wird es in dieser Zeit zum Gegenstand einer regional eng begrenzten, von heimatkundlichem Interesse geleiteten Lokalforschung, der wir jedoch die Kenntnis zahlreicher, allgemeinhistorisch relevanter Fakten zu den Entstehungsumständen des Schlosses verdanken. In den siebziger bis achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erscheinen mehrere Lokalgeschichten, in denen auch das Château de Maulnes erwähnt wird. Den Anfang macht 1874 die Histoire du Comté de Tonnere von M.A. Challe, die dem Schloß einige Seiten widmet, wovon allerdings der Abdruck des Textes aus den Plus Excellents Bastiments de France einschließlich der Kavaliersperspektive von Ducerceau den breitesten Raum einnimmt. Das Schloß wird darin als Bauwerk »von großer Eleganz und kraftvoller Originalität« gewürdigt. Zum Schluß der kurzen Darstellung bringt Challe zwei Lokalüberlieferungen in Umlauf, die seither in der Literatur zahllose Wiedergeburten erlebt haben. Die erste betrifft die Gesamtform des Grundrisses des Château de Maulnes, die nach dieser Lesart Reitersporen darstellen sollen, so daß das fünfeckige Corps de Logis mit seinen Ecktürmen das zackige Sporenrad, die langgestreckte Galerie den Sporenstamm und die halbrunden Communs die Fersengabel der Sporen abbildeten. Ganz offensichtlich handelt es sich bei diesem Material um eine volkstümliche


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35, 36 Graffiti mit christologischem und marianischem Trigramm, 1651 oder 1671 (2.06A), daneben ein zweites von 1670. 37 Graffiti »F. Carré« von 1625 (6.09A). 38 Gaspard de Silvestre, Selbstportrait mit Gehrock und Kerze, Château de Maulnes, 1885 (6.09A). 39 Graffiti von 1678 (2.06B). 40 Handwerkergraffiti von 1816 (5.13C). 41 Graffiti mit dem Namenszug »Boullée«, undatiert, aber in der Kanzleischrift des 18. Jhdt. (3.15 D). 33


42 Der fünfeckige Turm des Stammsitzes der Familie Clermont im Dauphiné (Chirens, Isère) nach Israel Silvestre. 43 Romantische Impression des Château de Maulnes nach dem Stich von Israel Silvestre, die Claude Sauvageot 1867 einer knappen Beschreibung des Schlosses beigegeben hat. 44 Caprarola in einer nur vier oder fünf Jahre nach Fertigstellung (1573) entstandenen Ansicht von G. Hœfnagel, die auch die beiden Gärten zur Sommer- und Winternutzung zeigt. 34

Legende, die keinerlei Bezüge zur tatsächlichen Ikonologie des Schlosses für sich hat und die auch in der Emblematik der Epoche ganz sinnverloren dastünde. Die zweite Geschichte, die auch nicht viel mehr Wahrscheinlichkeit geltend machen kann, leitet die Fünfeckform des Corps de Logis vom Stammsitz der Familie Clermont im Dauphiné ab, da aus dessen Ruinen noch immer ein fünfeckiger Donjon emporrage.18 Diesen fünfeckigen Turm gibt es tatsächlich oberhalb von Chirens (Isère), er gehört in der Tat zu den Ruinen des Schlosses von Clermont-en-Viennois, aber die Proportionen sind soviel steiler, eben turmartig, und das Fünfeck ist so unregelmäßig aus dem spitzwinkligen Verlauf des Berings heraus entstanden, daß von dieser zufälligen Form keinerlei Anregungen zur Konstruktion des geometrisch exakten und eben deshalb bedeutungsmächtigen Pentagons des Château de Maulnes ausgegangen sein können. 1879 und 1881 erschienen im Annuaire Historique du Département de l’Yonne die historischen Notizen über »Cruzy-le-Chatel et Maulnes« von E. Lambert.19 Der Text, der aus einer Vielzahl von Lokalchroniken und Archivalien zusammengetragen wurde, enthält immer wieder nützliche Hinweise zur Familiengeschichte der Clermont und der Crussol, zur wirtschaftliche Bedeutung der immensen Forste von Maulnes und zum gesellschaftlichen und historischen Umfeld, in dem das Château de Maulnes entstanden ist. Einige Seiten sind auch explizit dem Schloß gewidmet, enthalten Auszüge aus Archivalien, die Materiallieferungen für den Bau, die Anlage der Forstschneisen oder Aufenthalte der Bauherren am Ort betreffen. Sie sind von großem Wert für die Baugeschichte, da die Originale, aus denen sie exzerpiert wurden, trotz intensiven Nachforschens bisher unauffindbar blieben.20 Eine Baugeschichte des Schlosses von den ersten Gründungsmaßnahmen bis zur Einstellung der Arbeiten läßt sich dennoch daraus nicht erarbeiten und sie wird auch solange ein bedauerliches Desiderat bleiben, bis Zufallsfunde die offensichtlich verschollenen oder verlegten Archivalien wieder zutage fördern, aus denen Lambert seine Notizen zusammengetragen hat. Die Arbeit von Lambert wurde 1895 durch die kleine Schrift von Emile Picq – Notice sur le château de Maulnes – ergänzt, die vor allem wichtige Nachrichten zum Schicksal des Schlosses nach seiner Fertigstellung in den späteren Phasen seiner Umnutzung als Glasbläserei enthält, die im 18.

Jahrhundert in den Communs und einigen neu erbauten Nebengebäuden eingerichtet wurden.21 Aus der Summe der Angaben bei Lambert und Picq, den wenigen Archivalien und vor allem aus dem Baubefund läßt sich einigermaßen sicher eine Skizze der Baugeschichte des Schlosses und seiner späteren Ausbauzustände rekonstruieren. Diese Aufgabe hat die ältere Literatur jedoch nicht gesehen und so blieb es unseren eigenen Forschungen vorbehalten, sie in Angriff zu nehmen. Nach Sauvageot und Lübke, beide 1867, war es erst wieder Heinrich von Geymüller, der das Château de Maulnes über das Interesse der Heimatkunde erhob, und ihm eine knappe, aber präzise Würdigung zuteil werden ließ. Seine 1898 und 1901 erschienene zweibändige Baukunst der Renaissance in Frankreich, die zu den wirklich großen Leistungen der deutschsprachigen Baugeschichtsschreibung gehört, enthält im zweiten Band ein Kapitel (8) über den »Idealbau als Stilrichtung«. Mit »Idealbau« ist jener notwendigerweise nur selten verwirklichte Anspruch des Baumeisters gemeint, einen Entwurf ohne Rücksichtnahme auf irgendwelche äußeren Umstände wie Terrainbeschaffenheit, Grundstücksschnitt und dergleichen zu konzipieren, eine nur aus der Logik der Konzeption entwickelte »Idealarchitektur […], die als Kunst total unabhängig ist von den, so zu sagen, prosaischen, gemeinen Anwendungen auf die menschlichen Bedürfnisse«.22 Zu solchen Architekturen rechnet Heinrich von Geymüller das Château de Maulnes, das kurz erwähnt wird: »Der Grundriß […] zeigt, daß die Erbauer offenbar glaubten, es müsse die Wahl von regelmäßigen geometrischen Formen der Anlage etwas von einer ideal-mysteriösen Vollkommenheit verleihen«.23 Nachdem der Nestor der deutschen Baugeschichte, Wilhelm Lübke, das Château de Maulnes in die deutschsprachige Literatur eingeführt hatte und der Grandseigneur der deutschen Rezeption der französischen Renaissance, Baron Heinrich von Geymüller, ihm mit seinem Werk die Ehre der Kanonisierung angedeihen ließ, wurde das Schloß fortan in der deutschen Fachliteratur erwähnt. Die Belegstellen sind kurz und meist nicht aus eigener Anschauung geschrieben, aber ausgesprochen zahlreich und regelmäßig wiederkehrend, während das Schloß für die Renaissanceforschung in Frankreich selbst nicht zu existieren scheint. 1914 legte Marie Louise Gothein ihre zweibändige Geschichte der Gartenkunst vor, die als erste deutschsprachige Gesamtdarstellung des Gegenstandes the-


matisch außerordentlich breit angelegt war. Sie behandelt die Gartenkunst von ihren Anfängen im Alten Ägypten bis zu den Gartenausstellungen ihrer Zeit. Selbst in diesem Übersichtswerk findet Maulnes eine kurzgefaßte, aber prominente Erwähnung am Anfang des neunten Kapitels über »Frankreich im Zeitalter der Renaissance«: »Jede geometrische Form schien möglich, sei es ein Dreieck, wie in Azay-le-Rideau, sei es ein Fünfeck, wie in dem reizenden kleinen Schlößchen von Maulnes, das wie eine Miniaturausgabe von Caprarola anmutet. Der Plan scheint fast mit dem Zirkel hergestellt, so regelmäßig schließen sich Kreise und Verbindungslinien zusammen. Nur an einer Seite liegt ein hübscher kleiner Garten, der von der Hausfront mit einem vertieften Bassin eingeleitet wird. Bei den großen Idealentwürfen, die die Baumeister in ungehemmter Phantasie auf das Reißbrett brachten, sind solche Zentralbauten in allen geometrischen Gestalten sehr beliebt […].«24 Der Wortlaut des Textes verrät die Abhängigkeit von Geymüllers Gedanken über den »Ideal-Bau«, zeigt aber eben auch die breite Akzeptanz, die dessen Sicht auf die Elementargeometrien im französischen Schloßbau der Renaissance in Deutschland gefunden hatte. Auch Albrecht Haupt beruft sich implizit auf Geymüller, wenn er in seiner 1923 erschienenen Baukunst der Renaissance in Frankreich und Deutschland zunächst ganz allgemein, dann aber noch einmal ausdrücklich auf Maulnes bezogen festhält: »Der italienische Bauherr sucht die mächtigsten Tatmenschen, der französische die großen Künstler des Papiers, die sicheren Meister der Lehre […] Und so blieben die zahllosen Idealentwürfe […] nur mehr Häufungen, Papierphantasien ohne aufbauende Größe, ihre Bedeutung liegt ausschließlich im Grundriß […]. Die merkwürdige Kaprize des Schlosses Maune in Burgund gehört noch in diesen Bereich. Das fünfeckige Schloß liegt in einem hufeisenförmigen Raum von Arkaden umgeben, in der Achse eines Schloßwinkels, der als Eingang dient, geht eine lange Eingangshalle auf einen ovalen Vorhof mit zwei seitlichen Flügeln. Hinter dem Schloß tiefliegendes Gartenparterre. Alles achsial gerichtet, doch mehr eine geometrische Phantasie, wie das Fünfeck des Schlosses selber, wie Caprarola in Italien und Schloß Stern in Böhmen ein merkwürdiges Zeugnis der theoretisch-zeichnerischen Neigungen dieser Zeit«.25 In diesem Staccato ist Geymüllers positive Sicht der »Ideal-Architektur« in eine Kritik an der dürren Theorie der

Reißbrettphantasien gewendet, verknüpft mit dem Befremden über das Kapriziöse, Launenhafte des kleinen Schlosses, wie es schon die ältere französische Literatur vorgetragen hatte. In den großen französischen Übersichtswerken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kommt das Château de Maulnes nicht vor. Dies mag teilweise daran liegen, daß sie unvollendet geblieben sind, wie Léon Palustres’s La Renaissance en France, 1879–1889 und vielleicht hat auch er, wie offensichtlich die Mehrzahl der Bauhistoriker dieser Zeit geglaubt, daß das Château de Maulnes längst untergegangen sei. In anderen Werken, wie in Auguste Choisy’s Histoire de l’architecture, 1899, wird Maulnes nur kurz als Beispiel dafür erwähnt, wie sich die Schloßarchitektur unter dem Eindruck der Religionskriege verändert. Choisy glaubte, die »bastionierten Formen der Umfangsmauern und des Schlosses hätten für den hugenottischen Bauherrn besondere Berechtigung gehabt«, ein Irrtum, wie wir noch sehen werden.26 Anders als in Deutschland nimmt die französische Literatur trotz der prominenten Publikation des Schlosses durch Ducerceau von Maulnes keine Notiz, obwohl der Bau nahezu als einziger aus der Zeit Karls IX. noch aufrecht stand und auch regelmäßig von Kennern aufgesucht wurde, wie die zahlreichen Graffiti am Bau selbst belegen. Selbst das bedeutende Werk von François Gebelin Les Châteaux de la Renaissance, 1927, hervorgegangen aus umfangreichen Quellenstudien, wie sie bis dahin noch niemand unternommen hatte, bleibt zu Maulnes stumm – vielleicht deshalb, weil dem Autor die wenigen verstreut und unsystematisch publizierten Schriftquellen zur Geschichte des Schlosses verborgen blieben, ihm aber nach Anlage des Werkes allein auf diesem Wege ein Zugang zur historischen Architektur möglich schien. So schlief Maulnes weiter seinen Dornröschenschlaf, ungestört von den Rittern der akademischen Turniere.27 Dies änderte sich erst sehr spät, als 1938 mit dem kurzen Aufsatz von Pierre Du Colombier und Pierre d’Espezel Un château de Mélusine. Maulnes-en Tonnerrois. die erste bauhistorisch re-

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levante Arbeit über das Schloß erschien.28 Die beiden Autoren, die zuvor mit Schriften über Sebastiano Serlio an die Öffentlichkeit getreten waren,29 sind die ersten, die von den wenigen bekannten Schriftquellen zur Baugeschichte von Maulnes gebrauch machen. Sie beziehen sich auf die beiden Handwerkerverträge vom 7. Mai 1566, die Eugène Drot schon 1901 aufgefunden und publiziert hatte, und seither existiert für die Baugeschichte ein sicheres Datum, an dem der Bau begonnen wurde.30 Die knappe Beschreibung des Schlosses, die von eigener Anschauung und Aufenthalten vor Ort zeugt, bezieht sich im Wesentlichen auf Ducerceau und die deutschsprachigen Publikationen. Insoweit enthält der Aufsatz nichts Neues, aber die dem Text beigegebenen Fotografien sind die ersten bildlichen Darstellungen des Schlosses seit Silvestre, und zum ersten Mal wird nun dem Publikum damit eine Vorstellung von den architektonischen Besonderheiten des Schlosses gegeben. Insbesondere wird in diesen Fotografien von Treppenhaus und Brunnenschacht erstmals die Nüchternheit und elementargeometrische Reduktion dieser Architektur be36

kannt gemacht, die das Publikum der späten dreißiger Jahre eigentlich als »Protomoderne« hätte wahrnehmen müssen. Aber die Zeitumstände des beginnenden Zweiten Weltkrieges haben wohl verhindert, daß es zu einer solchen Wirkung der Veröffentlichung gekommen ist. Die Autoren selber waren für diese modernistischen Reize des Bauwerks offensichtlich vollkommen unempfänglich, denn bei allen Verdiensten ihres Aufsatzes werden sie der hohen Qualität der Architektur nicht gerecht. Sie beschreiben den Bau als einen »bizarren Entwurf, die Art von Architekturtraum, von dem man geschworen hätte, daß niemals etwas daraus werden würde«, als »Werk eines Geometriebesessenen, eines Wahnsinnigen mit dem Zirkel«. Und ihre Überlegungen zur Urheberschaft des Schlosses beginnen mit der Frage: »Wer hat dieses Monstrum dem Herzog von Uzès vorgeschlagen?« Offensichtlich war es um die architektonische Urteilsfähigkeit der beiden nicht zum besten bestellt, und so liegt das wirkliche Verdienst der Autoren darin, das Gebäude mit modernen fotografischen Abbildungen einem weiten Kreis von Interessierten vorgestellt zu ha-


ben. Darüber hinaus haben sie ein Archivdatum, das in einer entlegenen Publikation begraben lag, der allgemeinen Baugeschichtsschreibung zugänglich gemacht, und sie haben in die Diskussion um die Urheberschaft des Schlosses zum ersten Mal den Peruzzi-Serlio-Kreis eingeführt. Trotz der Schwierigkeit, daß Serlio zwölf Jahre vor Baubeginn von Maulnes gestorben ist, verweisen sie auf die fünfeckigen Palastentwürfe in Serlios VI. Buch, sie diskutieren intensiv und kompetent den aus der deutschen Literatur entnommenen Hinweis auf Caprarola, und schließlich stellen sie erstmals die Parallelen zwischen der Nymphäumsfassade von Maulnes und Serlios »porta arco scemo« im Libro Quarto dell’Ornamento Rustico her.31 Sie schließen ihre Beobachtung mit der Feststellung: »Nichts verbindet Maulnes mit den Werken französischer Architekten der Renaissance, alles verweist auf Italien«.32 Dies ist ganz gewiß nicht richtig, stattdessen gibt es ein kompliziertes Wechselspiel von italienischen und französischen Elementen, dem wir noch im Einzelnen nachgehen werden. Dennoch bleibt festzuhalten, daß mit dem Aufsatz von Du Colombier und d’Espezel ein neues Kapitel in der Rezeptionsgeschichte von Maulnes aufgeschlagen wird, das den allgemeinen bauhistorischen Kontext des Schlosses in den Blick nimmt und das vor allem die eigene Anschauung im Medium moderner Dokumentationsverfahren, wie der Fotografie, einem breiten Publium vermittelt. Dies ist nicht eben wenig für einen Aufsatz von gerade einmal sieben Seiten. Die Wechselbeziehungen, die es zwischen Vignola, seiner Schöpfung Caprarola und dem Château de Maulnes gegeben haben muß, werden sehr gründlich um 1939 von Wolfgang Lotz in seinen Vignola-Studien. Beiträge zu einer VignolaBiographie diskutiert.33 Der Autor geht von der absoluten Sonderstellung aus, die Caprarola im italienischen Denkmalbestand innehat: »So häufig sich die Fünfeckfigur für Befestigungsanlagen findet, so einzigartig ist ihre Verwendung in einem vielgeschossigen Palast, es gibt dafür in Italien weder ein Vorbild noch ist das Beispiel Caprarola später in einem anderen Bau nachgeahmt worden«. Lotz glaubt, daß diese Ausnahme durch außeritalienische, nordische Baugedanken zu erklären ist, hält Umschau nach vielgeschossigen Fünfeckbauten »oltrealpe« und wird schließlich fündig in Maulnes. Dabei geht er irrigerweise von einem sehr frühen Vollendungsdatum des Schlosses in den vierziger Jahren aus und kommt deshalb zu der Vermutung, daß Caprarola zwischen 1556 und 1558 als Erinnerung an Maulnes entworfen worden sein könnte, denn Vignola hatte sich um 1540 in Frankreich aufgehalten. Daß dies nicht so gewesen sein kann steht inzwischen aufgrund der gesicherten Chronologie fest. Dennoch enthält die Schrift sehr bedenkenswerte Überlegungen zur Anverwandlung des vorgegebnen Festungsfünfecks von Caprarola, das – als Festung begonnen – zunächst niedrig, beinahe zweidimensional konzipiert war, dann aber zu einem vielgeschossigen Bauwerk emporwächst. Die Horizontalität des bastionierten Fünfecks – sein »Mauercharakter« – mutiert zu einem hochaufragenden Geschoßbau von prismatisch kristallinem Charakter. Für diesen Quantensprung bedurfte es einen äußeren Anstoßes, der den künstlerischen Gedanken – die »strenge stereometrische Durchdachtheit und die kristalline Einfachheit« – hervorbrachte, die vorgefundene Fünfeckform der alten Rocca allein ist dafür als Erklärung nicht ausreichend. Dies ist in der Tat richtig, und

wenn dies schon für Caprarola gelten muß, wo immerhin das Festungsfünfeck schon vorhanden war, als eine Generation später der Palast darüber auf der gleichen Grundrißfigur fortgeführt wurde, um wieviel zwingender und drängender muß der künstlerische Impetus gewesen sein, der das fünfeckige Kristall von Maulnes hervorgebracht hat – wo eben nichts dergleichen am Ort vorhanden war, wo allein die symbolische Konnotationen dieser geometrischen Figur den Anstoß gegeben haben können. In dieser Richtung muß man forschen, wenn man die Frage nach dem »Warum?« beantworten will. Das dumpfe Absuchen des Denkmälerbestandes nach irgendwo schon einmal ähnlich ausgeführten Lösungen dagegen ist ein atavistisches Muster, auf das es die Kunstgeschichte als erstgeborene Tochter der Lennéschen Lehre von der Verwandtschaft der Arten in unbewußter Rückerinnerung immer wieder zurückverwirft. Bevor 1972 Catherine Chagneau ihre Pionierarbeit zur Baugeschichte des Château de Maulnes vorlegte, gab es noch vier kurze Episoden in der Rezeptions- und Forschungsgeschichte des Schlosses. 1943 erwähnte Louis Hautecœur das Château de Maulnes in der bedauernswerten Kürze einer einzigen Seite seiner kolossalen auf rund 1350 Seiten angelegten Renaissanceabteilung in der Histoire de l’Architecture Classique en France. Der Eintrag wiederholt rein deskriptiv den Text von Jacques Androuet Ducerceau, faßt in wenigen Zeilen die Zuschreibungsversuche von Du Colombier und d’Espezel zusammen und kommt dann abschließend zu der lapidaren Einschätzung: »Peut-être Maulne est-il l’œuvre d’un Français qui aurait accompli le voyage d’Italie«.34 1947 veröffentlichte Philippe de Cossé Brissac ein wunderbares Buch, Châteaux de France disparus, worin wie in einem Totenregister mit melancholischen Kupfertiefdrucken und alten Stichen der verschwundenen Schlösser Frankreichs gedacht wird. Maulnes erscheint darin mit den mahnenden Zeilen: »In einem Verfallszustand, der sein baldiges Ende ahnen läßt, zeigt uns das Château de Maulnes-en-Tonnerrois noch heute die bedrohten Reste seiner befremdlichen Architektur, über denen die Legende den Geist der Melusinenfee schweben läßt. Wenn es eines Tages untergehen wird, dann muß man dafür nicht Kriege, Revolutionen oder Plünderbanden verantwortlich machen, allein die Sorglosigkeit der Menschen hätte es verschwinden lassen«.35 1965 verfaßt Albert Larcher eine kurze Notiz über Maulnes. Le plus romantique des châteaux de la Renaissance36 und er erwähnt gleich zu Beginn den Anlass, der hinter seiner Publikation steht: die in eben diesem Jahr von Philippe Vallery-Radot begonnenen Restaurierungsarbeiten. Das Heft ist in blumiger Sprache geschrieben und evoziert in Andeutungen die im Untertitel angesprochene »romantische Atmosphäre« des Ortes. Gleichwohl ist das Wesentliche in der architektonischen Komposition des Bauwerks erkannt, die Bedeutung des Wassers und der Treppenhalle wird präzis erfaßt. Ein Versuch die Balkenlage der ursprünglichen Kassettendecke in der Grande Salle des Schlosses nach dem Text von Ducerceau zu rekonstruieren ist allerdings fehlgeschlagen, dessen ungeachtet geistert seither sein Diagramm einer rautenförmigen Anordnung der vier Hauptbalken durch die Literatur. Dagegen ist Larcher der erste, der den Stich von Silvestre richtig deutet, wenn er meint, aus dem dargestellten Verfall darauf schließen zu können, daß das Schloß um 1645 bereits verlassen war.

45 Kupfertiefdruck mit dem Vorkriegszustand des Château de Maulnes aus den Châteaux de France disparus von Philippe de Cossé Brissac, 1947. 46 Der Brunnenschacht der Treppe in einer Aufnahme von 1938, mit der Du Colombier und D’Espezel ihren Aufsatz Un château de Mélusine illustriert haben. Die Photographie ist die früheste Veröffentlichung, die die »protomoderne« Ästhetik der absoluten Schmuckverweigerung des Schlosses im Bild bekannt machte. 47 Albert Larchers Aquarell des Schlosses auf dem Umschlag seines 1965 erschienenen Aufsatzes Maulnes. Le plus romantique des châteaux de la Renaissance. 37


1968/69 schließlich – bringt Jean Fromageot im Pays de Bourgogne seinen dreiteiligen Artikel heraus: »Un curieux château pentagonal aux confins Bourgogne-Champagne: Maulnes, réalités et legendes«.37 Der Text fußt im Wesentlichen auf den Beobachtungen von Albert Larcher, enthält aber auch Neues, wie die Feststellung des Achsenknicks im Wasserbassin des Gartens als Folge landwirtschaftlicher Umnutzung des Anwesens. Außerdem liefert Fromageot einige Einzelheiten zum Betrieb der Glasbläserei für Weinflaschen, die seit dem 18. Jahrhundert in dem Gebäude un-

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tergebracht war. Im übrigen ist er der erste, der im Zusammenhang mit dem Château die lokale Fassung der Melusinensage wiedergibt, die tragische Geschichte der wunderschönen Fee, die sich in einem Brunnen in den weiten Wäldern von Maulnes ertränkte. Daraus erwuchs in der Verfallsphase des Schlosses der Glaube, daß es die Quelle im Château de Maulnes selber sei, in der die Fee sich ersäuft habe und nun darinnen hause, und manchmal, so heißt es, soll sie in den Neumondnächten an den Fenstern des Schlosses erscheinen und dabei seufzen: »Maulnes, Maulnes, solange Maulnes sein wird, solange werde ich unglücklich sein«.38 Im Oktober 1972 legte Catherine Chagneau an der Faculté des Lettres et Sciences Humaines de l’Université Paris X ihre Magisterarbeit Le Château de Maulnes vor.39 Es ist sehr bedauerlich, daß diese Arbeit nie im vollen Umfang publiziert worden ist, denn sie bedeutet einen Wendepunkt in der Rezeptionsgeschichte des Schlosses. Zum ersten Mal wurde hier eine detaillierte Beschreibung der Bausubstanz in ihrem aktuellen Zustand vorgelegt, die von Raum zu Raum und von Geschoß zu Geschoß fortschreitet. Zum ersten Mal ist damit das Schloß in all seinen architektonischen Einzelheiten bekannt gemacht worden. Dabei profitierte die Autorin von den Ende 60er Jahre von Philippe Vallery-Radot durchgeführten Restaurierungsarbeiten und Ausgrabungen, die unter anderem die Auflager der Zugbrücke, die Fundamente der Galerie und die unter Schutt und Gestrüpp begrabenen Gartenmauern und Bastionen zutage förderten. Damit stand endgültig fest, daß alle diese Elemente des Projektes, die schon längst verschwunden waren, die Ducerceau aber – sei es als Chronist eines wirklich existenten oder als Visionär eines nur angestrebten Zustandes – publiziert hatte, auch tatsächlich zur Ausführung gebracht worden sind. Der Architecte en Chef des Monuments Historiques, Robert Vassas, stellte ihr seine Dokumentationen und seine Bauaufnahmen des Schlosses zur Verfügung, und zum ersten Mal


lag damit brauchbares – wenngleich nicht sehr genaues – Planmaterial als Grundlage einer architekturhistorischen Analyse des Schlosses vor. Caterine Chagneau hat in ihrer Arbeit von diesen Materialien klugen Gebrauch zu machen gewußt. Sie hat die Architektur des Schlosses formal genau beschrieben und stilgeschichtlich zutreffend eingeordnet, sie hat aus dem Baubefund einige überzeugende Rekonstruktionen abgeleitet, und sie hat auch im Prinzip die funktionale Binnengliederung des Bauwerks richtig erfaßt. Die Fehler, die ihr dabei unterlaufen sind, wenn sie beispielsweise das Grottengeschoß als Vorratskeller deutet, auf Ebene 2 die Küchen vermutet, auf der Beletage das Gästeappartement unterbringt usw., sind verzeihlich, wenn man bedenkt, in wie kurzer Zeit eine Magisterarbeit entstehen muß und mit welch bescheidenen Arbeitsmitteln sie vor Ort zurecht kommen mußte. Und vor allem: sie hat in vollkommen unbekanntem Terrain operiert und dafür hat sie sich tapfer geschlagen. Mit Fug und Recht kann man ihre Schrift als die Pionierarbeit für alle spätere Maulnesforschung bezeichnen. Immerhin ist es ihr gelungen, auf Ebene 3 die Bäder zu lokalisieren, auch wenn sie nur den südlichen Mittelraum mit den beiden rückwärts beheizbaren Nischen als Wärmeräume erkannt hat, ihr das Prinzip des thermenartigen Badekreislaufes noch verschlossen blieb und sie deshalb auch die beiden nördlichen Säle (3.10 und 3.05) für Empfangsräume hielt. Die Ikonologie des Schlosses war ihr kein vordringliches Anliegen, was nicht weiter erstaunt, da dieser Blick auf Kunst und Architektur in Frankreich nie viele Anhänger gefunden hat, so daß man bei einer Schrift, die als Magisterarbeit natürlich die üblichen Methoden und Denkansätze des eben erst durchlaufenen akademischen Betriebes widerspiegelt, dergleichen auch gar nicht erwarten kann. Dennoch ist ihr der Zitatcharakter der Wehrelemente, der »Bastionen« und des »Donjon« aufgefallen, die Tatsache also, daß Maulnes eine Scheinfestung ist, auch wenn sie diesen Begriff nicht verwendet. Selbst die prozessionsartige Annäherung an das Schloß über die Achse von Basse Cour, Galerie und Vestibul hat sie richtig gesehen und damit den hochartifiziellen, ganz und gar nicht auf praktischen Gebrauch angelegten Charakter des Schlosses richtig erfaßt. Im letzten Teil schließlich geht sie den Fragen nach der Urheberschaft des Entwurfes nach, die bis dahin in der Literatur schon mehrfach aufgeworfen wurden, aber sie tut dies zum ersten Mal mit der nötigen methodischen und wissenschaftlichen Kompetenz. Bei der Zuschreibung bleibt sie letztlich unentschieden: »Der Plan von Maulnes kann ebenso gut von einem französischen wie italienischen Architekten herrühren.« Die wahrscheinlich richtige Antwort, die das von ihr konsultierte und in seinen wechselweisen Beziehungen diskutierte Material eigentlich hätte suggerieren müssen, daß sowohl italienische wie französische Hände am Werk waren, ist ihr versagt geblieben. Caterine Chagneau hat die wichtigsten Ergebnisse ihrer Arbeit 1974 unter dem Titel »Le château de Maulnes-en-Tonnerrois« im L’information d’histoire de l’art veröffentlichen können. Der Aufsatz enthält leider nicht die Fotos, die die archäologischen Grabungen und den Bauzustand der sechziger Jahre im Detail dokumentieren, die ihre Magisterarbeit neben den wissenschaftlichen Verdiensten zu einer wichtigen Faktensammlung gemacht haben, von der alle weiteren Arbeiten

zum Thema auszugehen gehabt hätten: Dennoch bleibt ihre wirkliche Pionierarbeit in Maulnes davon unberührt.40 Zwei Jahre später erschien ein Aufsatz, der wohl ohne Kenntnis der Arbeiten von Caterine Chagneau geschrieben wurde, der jedoch rein ikonologisch angelegt ist, und deshalb das Wissen in einer ganz anderen, bis dato ebenfalls desiderat gebliebenen Richtung erweitern konnte: Naomi Miller, Musings on Maulnes: Problems und Parallels, 1976.41 Die Autorin hatte sich zur Aufgabe gestellt, die schon häufiger geäußerte Vermutung, daß Serlio der Architekt des Schlosses sei, angesichts der Fakten und vorliegenden Planmaterialien auf ihre Plausibilität zu überprüfen. Zum zweiten wollte sie in einer ikonologischen Tour d’horizon den »Ursprung und die Eigenart der formalen Elemente« des Schlosses untersuchen. Der Aufsatz beginnt mit einer Beschreibung des Schlosses, die die gesamte gedruckt vorliegende Literatur auswertet, mit Ausnahme der Arbeitsergebnisse von Catherine Chagneau. Es ist erstaunlich und bedauerlich zugleich, daß Naomi Miller dieses Material nicht bekannt war, denn sie war selber zu dieser Zeit in Frankreich, stand in Kontakt mit Philippe ValleryRadot und Robert Vassas, der ihr ebenfalls sein Architekturaufmaß des Schlosses zur Verfügung stellte. Jedenfalls besaß sie aufgrund dieser Materialien und eigener Anschauung eine so genaue Kenntnis des Schlosses, daß es ihr möglich war, mit dem sicheren Blick der Außenstehenden eine stilkritische Einordnung des Bauwerkes vorzunehmen, die nicht durch zwanghafte Versuche einer nationalen Vereinnahmung oder lokalhistorische Borniertheit beschränkt war. Sie schreibt: »Es gibt zahllose Unregelmäßigkeiten, sowohl in der Grundrißbildung wie im Aufbau, so daß das Gebäude geradezu als ein Paradigma der Architektur des Manierismus begriffen werden muß, zu einer Zeit, in der italienische Bauten sich zunehmend durch Regelhaftigkeit und einen orthodoxeren Umgang mit dem klassischen Vokabular auszeichnen«42. Diese Einbindung des Château de Maulnes in die Jahrhundertbewegung des Manierismus, die in der Tat in Frankreich zu eben jener Zeit neue Kraft gewinnt, als Italien zu einer klassisch in sich ruhenden Baukunst zurückkehrt, war bis dahin noch niemandem aufgefallen. In dieser treffsicheren stilistischen Zuordnung des Schlosses, die auf scharfer Beobachtung vor Ort und souveräner Kenntnis der Epoche beruht, liegt die eine Bedeutung des Aufsatzes von Naomi Miller. Die andere, nicht weniger signifikant, ist darin zu sehen, daß sie das Schloß dem Glaubensgut der Esoteriker entzogen hat. Fünfeckssymbolik, Numerologie, Elementargeometrie und Wasserkult, alles das, was das Château de Maulnes zum Spukschloß der Melusine und zum Wallfahrtsort der Geheimnissucher gemacht hat, unterzieht sie einer scharfsichtigen ikonologischen Analyse. Im Ergebnis erscheint das Château de Maulnes als charakteristisches Zeugnis einer zeittypischen Weltanschauung, die im Platonismus ihre Wurzeln hat, also in einer durchaus rationalen, allerdings anschaulichen, in Zeichen und Symbolen verfaßten Form der Welterklärung. Naomi Miller ist auf dem Umweg über ein Konvolut mit Zeichnungen, die Jacques Androuet Ducerceau zugeschrieben werden, zum Château de Maulnes gekommen. In dieser Sammlung sind nämlich mehrere Grundrisse von Maulnes enthalten, die zwar erhebliche Abweichungen gegenüber dem ausgeführten Bau zeigen, dafür aber zu den Planwerken von Serlio und Peruzzi in Beziehung stehen. Diese Zusammenhänge werden

48 Mélusine, mère Lusigne, die schöne Fee mit dem doppelten Fischschwanz, deren unglückliches Schicksal die Lokaltradition in das Château de Maulnes und seinen Brunnen verlegt. Mittelalterliche Konsolfigur in Le Douhet. 49 Larchers schematische Rekonstruktion der Balkenlage in der Grande Salle, die, obwohl vom Baubefund widerlegt, seither durch die Literatur geistert. 50 Bauaufnahme und ergänzende – wenngleich fehlerhafte – Rekonstruktion aus dem Cabinet Vassas, aufgenommen Ende der 60er Jahre, die Catherine Chagneau 1972 in ihrer Magisterarbeit ausgewertet und 1974 erstmals publiziert hat. 51, 52 Zustandsphotos Anfang des 20. Jahrhunderts. 39


zwar von ihr nur gestreift, aber dieses Konvolut, das sie 1964 veröffentlicht hat, war es, die sie zum Château de Maulnes geführt hat – zum Glück für die Forschung, denn mit ihrer Erörterung der Ikonologie des Schlosses ist eine ganz neue Perspektive in der Maulnesliteratur eröffnet worden.43 Unbedingt zu erwähnen sind noch einige Seiten, die Henri Grandsart 1991 dem Schloß gewidmet hat.44 Der Artikel referiert die Thesen von Du Colombier, d’Espezel und Miller und insofern enthält er nichts Neues, wenngleich das Bekannte hier knapp, präzis und elegant wiedergegeben und deshalb durchaus lesenswert ist. Aber am Schluß bringt er Jean II. Chéreau aus Joigny als Architekten des Schlosses ins Gespräch und dies ist ein neuer Gedanke. Zur Begründung führt er neben einigen Stilmerkmalen und der guten Erreichbarkeit der Baustelle vom benachbarten Joigny aus (60 km), den in Danzig aufbewahrten Traktat Chéreaus an. Darin ist der einzige zeitgenössische Grundriß des Schlosses von Assier enthalten, das den Crussol gehörte, und diese Verbindung, so meint er, läßt Chéreaus Anwesenheit auf der Baustelle »fast zur Gewißheit werden«. Dies scheint mir nicht unbedingt zwingend, nachdem ich aber zwischenzeitlich die Danziger Handschrift gründlich studiert habe und sie mir weitere Hinweise auf eine Verbindung von Chéreau und Maulnes zu liefern scheint, glaube ich, daß Henri Grandsart auf der richtigen Spur war. Zwar bin ich davon überzeugt, daß Chéreau keineswegs »der Architekt« von Maulnes gewesen ist, und die Planungsgeschichte, von der noch ausführlich die Rede sein wird, dürfte dies, so hoffe ich zu Genüge belegen, aber als Kandidat für das Amt des leitenden Baumeisters vor Ort auf der Baustelle kommt er durchaus in Frage. Mit dieser Übersicht ist die Forschungslage zum Château de Maulnes im Wesentlichen dargestellt. Was seither wissenschaftlich publiziert wurde, ist entweder von uns selbst als Zwischenbericht über unsere Arbeiten vorgelegt, oder – in Form von Ausstellungen, Symposien, Dissertationen, Studienarbeiten und archäologischen Unternehmungen – unmittelbar davon angeregt worden. Die Ergebnisse dieser Forschungen, auch der selbständigen, außerhalb unseres eigenen Projek-

tes entstandenen, sind in die vorliegende Monographie eingearbeitet und werden bei der Gelegenheit zitiert, wo auf sie zurückgegriffen wird. Wir schließen also die Würdigung des Forschungsstandes, wie er sich aus den wissenschaftlichen Publikationen zum Château de Maulnes darstellt mit dem Tage, an dem unsere eigenen Arbeiten vor Ort begannen, mit dem 22. 8. 1988. Aus dieser Übersicht über die Forschungslage ergibt sich, daß bis dato keine detailliert monographische Arbeit vorgelegt wurde, weder ein Werk, daß das Schloß mit den »mikroskopischen« Methoden der modernen Bauforschung untersucht hätte, noch eine fundierte ikonologische Betrachtung, die vom entgegengesetzten »makroskopischen« Horizont ausgegangen wäre, von der Ikonologie und Stilkritik also. Die erwähnten Schriften von Caterine Chagneau und Naomi Miller haben zwar Mitte der siebziger Jahre die Tür aufgestoßen, aber aus unterschiedlichen Gründen konnten beide auf dem von ihnen aufgelassenen Weg nicht weiter fortfahren – es blieb ihnen gewissermaßen der Blick vom Berge Nebo.45 Nach allem, was zu den hier vorgestellten Arbeiten gesagt worden ist, läßt sich festhalten, daß das Château de Maulnes bis zum Beginn unserer eigenen Arbeiten nahezu unerforscht war. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber tatsächlich war eines der herausragenden Zeugnisse der französischen Renaissance, das schon während der Bauzeit an prominenter Stelle unter die dreißig Plus Excellents Bastiments de France Jacques Androuet Ducerceaus aufgenommen worden war, der Forschung bisher nicht mehr als acht kurze Einträge in Übersichtswerken, eine Handvoll kurzer Zeitschriftenbeiträge und eine Magisterarbeit wert. Dies ist umso unglaublicher, als von den dreißig Bauten in den Plus Excellents Bastiments de France die Hälfte völlig untergegangen ist, und von den übrigen nur eben sechs Bauten noch weitgehend original und mit einem nennenswerten Volumen der ursprünglichen Bausubstanz erhalten sind. Eines davon ist das Château de Maulnes. Ganz und gar unbegreiflich aber wird diese weit klaffende Forschungslücke dann, wenn man bedenkt, daß aus der Epoche Katharina Medicis

53, 54 Naomi Millers Gegenüberstellung der Nymphäumsfassade mit Serlios rustiziertem Segmentbogenportal im IV. Buch. 55, 56 Ihr Vergleich der Südfassade des Schlosses mit der manieristischen Fassade des Palazzo Bocchi, Bologna, von Vignola, die in den Fensterrahmungen und der zoomorphen Konsolzone des Hauptgesimses stilistische Verwandschaften aufweisen. 57 Der Grundriß des Schlosses Assier (1526/35) von Jean Chéreau aus Joigny, den Henri Grandsart 1991 als Architekten von Maulnes ins Gespräch gebracht hat. 58–60 Meine ersten Skizzen von Maulnes vom 22. und 23. 8. 1988, mit denen unser fast fünfzehn Jahre andauerndes Forschungsprojekt seinen Anfang nahm. 40


(1560–1589) nahezu kaum ein Neubau überlebt hat, und daß aus der Epoche Karls IX. (1560–1574) tatsächlich nur ein einziges Schloß die Zeiten überdauern konnte, eben das Château de Maulnes. Während aus den Epochen Franz’ I. (1515– 1547) und Heinrichs II. (1547–1559) zahlreiche Schlösser noch erhalten sind, viele in sehr gutem Zustand, sind alle bedeutenden Projekte der folgenden Jahrzehnte untergegangen. Von den Königsschlössern dieser Zeit sind Charleval und die Tuilerien spurlos verschwunden, das große Projekt von Chenonceaux wurde gar nicht erst in Angriff genommen. Auch von den großen Privatbauten wie Verneuil, St-Maur oder des Maison Blanche von Gaillon ist nichts mehr erhalten. Vieles ging schon in den Religionskriegen zugrunde, was die Wirren dieser Zeit überstand, wurde schon mit dem eleganten Zeitalter der späten Ludwige allzu oft ein Opfer des Geschmackswandels, so daß die meisten Bauten dieser zweiten, manieristischen Renaissance nicht einmal bis zur Französischen Revolution überlebten. Die wenigen noch erhaltenen Adelssitze der Epoche, die nicht gleich im Furor der ersten Revolutionsjahre zugrunde gingen, wurden später auf Abbruch verkauft, in einigen Fällen auch produktiv umgenutzt, so daß wenigstens die Grundsubstanz erhalten blieb. So erging es auch dem Château de Maulnes, das als Glasbläserei überlebte. Das Château de Maulnes ist also aufgrund glücklicher Zufälle das einzig erhaltene Zeugnis seiner Zeit geblieben, und wenn die teilweise Zuschreibung an Philibert De l’Orme zutrifft – wovon noch ausführlich die Rede sein wird – dann wäre es auch der einzige in seiner Hauptsubstanz noch erhaltene Schloßbau dieses Großmeisters der französischen Renaissance, und zugleich sein Spätwerk. Die beschriebene, äußerst lückenhafte Forschungslage zu einem so bedeutenden Baudenkmal wäre für sich schon Grund genug, dem Château de Maulnes augenblicklich eine ausführliche Monographie zu widmen, umso mehr, als das Schloß in reicher Kulturlandschaft auf halbem Wege zwischen den nahen Weinbergen von Chablis und Champagne gelegen ist, in weiteren Ringen dann von so klingenden Namen umgeben wie Chaource, Langres, Charolles usw. Das Schloß liegt also mitten im Herzen des alten Burgund, in einer kulturell wie kulinarisch gleichermaßen gesegneten Landschaft. Den Ausschlag aber, hier ein auf Jahre angelegtes Forschungsprojekt in Angriff zu nehmen, gab die Einsicht, daß dieses wie ein Rohbau dastehende Bauwerk geradezu ideale Forschungsmöglichkeiten für einen baugeschichtlichen Ansatz bot, der darauf abstellt, die Mikroskopie der Forschung am Gebäude selbst mit der Makroskopie der ikonologisch orientierten Architektur- und Bedeutungsgeschichte zu verbinden. Allerdings stand dieser Plan nicht von Anfang an fest, sondern er ist erst im Lauf von drei Jahren nach dem ersten Besuch in Maulnes allmählich entstanden. Am Anfang stand ein sehr persönliches Erlebnis. Ich besuchte das Schloß zum ersten Mal am 22. 8. 1988. Ein Aachener Kollege, Karl Schmitz, eine Generation älter als ich und ein hervorragender Kenner Burgunds, hatte mich auf das Schloß aufmerksam gemacht. Er nannte es wegen des fünfeckigen Grundrisses eine Art »Taschenausgabe von Caprarola«, und da ich damals mit Zitaten und Nachahmungen in der Architekturgeschichte beschäftigt war – von dem außerordentlichen Inneren, das er selber nie gesehen hatte und das auch in der Literatur kaum erwähnt wird, war nicht die Rede – war dies für mich Grund genug, nach Maulnes zu fahren. 41


Ich fand einen der einsamsten Orte vor, den man sich vorstellen kann. Weitab von jeder größeren Siedlung lag das Schloß vollkommen verlassen in einer Senke auf dem weiten Plateau, ganz von Gestrüpp überwuchert und von hohen Gebüschen umgeben. Es war ein heißer Sommertag, die Luft erfüllt vom Gesang der Feldlerchen, am Himmel türmten sich gewaltige Kumuluswolken und dagegen zeichneten sich, einmal hart im gleißenden Licht, dann wieder gedämpft unter den dahin ziehenden Wolkenschatten, die schräg aufeinanderstoßenden Fassaden des fünfeckigen Baukörpers ab. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, hin und wieder kamen Hasen aus den Gebüschen und blieben minutenlang auf den Hinterbeinen stehen, erstaunt, daß sich jemand in ihr heimliches Reich verirrt hatte. Im Becken des Nymphäums lagen Wasserschlangen regungslos zwischen Buschwerk und Teichrosen – über dem verwunschenen Schloß lag eine Stimmung wie aus einer anderen Zeit. Türen und Fenster des halb ruinösen Bauwerks waren vermauert und selbst die kleinen Öffnungen waren mit dicken Bohlen vernagelt, nirgends schien es einen Eingang zu geben. Auf dem Mittelrisalit warnte ein Schild der Monumentenverwaltung des Départements vor Lebensgefahr, und auf dem Dach klapperten lose Wellblechbahnen im Wind, die die Warnung glaubwürdig erscheinen ließen. Der Bau selbst machte einen verfallenen, vor allem aber einen unnahbaren Eindruck, düster, wenn der Wind in den leeren Fensterhöhlen seufzte, aber dann wieder schien er nur einsam und vergessen dazuliegen, manchmal, wenn ein Sonnenfleck über das Schloß hinwegzog, schien er mir sogar freundlich. Ich setzt mich auf ein paar Steine im Schatten eines Baumes und begann unter dem Eindruck dieser widersprüchlichen Eindrücke das spröde Äußere des Schlosses zu zeichnen, routinemäßig erst, dann aber immer weiter in die Details vertieft. Nach einer Weile wurde die Ruhe gestört. Ein Geländewagen mit einem halben Dutzend junger Leute holperte über den Feldweg heran, er hielt vor dem Schloß, die munter vor sich hinschnatternde Gruppe sprang ab und verschwand lärmend in den Gebüschen und dann auf zunächst unerklärliche Weise im Schloß. Wenige Augenblicke später erschien einer nach dem anderen oben auf dem Dach, wo einige auf die Kamine kletterten, um die anderen mit waghalsigen Balancekunststücken zu beeindrucken. Das ausgelassene Treiben dauerte ungefähr eine halbe Stunde, dann schien es alle zu langweilen, sie kamen wieder heraus und fuhren davon. Als es wieder still geworden war, die ersten Hasen wieder auf den Hinterbeinen aus den Büschen hervorspähten, ging ich selber dahin, wo die Gruppe zuvor verschwunden war. Hinter einem Strauch gab es ein kleines Loch in einem der vermauerten Fenster, nur dem Eingeweihten kenntlich, denn man mußte die Büsche beiseite schieben, um es zu finden. Ich blickte hinein, ein kühler Lufthauch kam mir entgegen, und als ich mich an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, sah ich, daß unterhalb des Fensters eine schwere Eisenstange von innen gegen die Wand gelehnt war. Ich kroch hinein und ließ mich an der Stange in die Tiefe gleiten, es war ziemlich tief – nach unserer späteren Bauaufnahme exakt 4,12 m – und als ich unten war, beschlichen mich leise Zweifel, ob ich es da wohl je wieder hinauf schaffen würde. (Damals war ich vierundvierzig, heute bräuchte ich nicht einmal mehr einen Augenblick lang zu zweifeln) Während ich unten dastand, hörte ich plötzlich ein merkwürdiges Geräusch, ein dumpfes Gur42

geln, das einmal lauter, dann wieder leiser zu sein schien, hinterlegt mit dem Rauschen des Windes. Beides kam aus der Mitte des Gebäudes und als ich den Geräuschen nachging, stand ich unvermittelt in der weiten und hohen Treppenhalle am Fuß des Brunnenschachtes. Das dunkle Gurgeln kam aus der Brunnenschale in der Mitte, oben durch die seitlichen Öffnungen des Gebäudes pfiff der Wind ungehindert durch die Treppenhalle, und von ganz oben aus dem Scheitel der Kuppelöffnung fiel etwas Licht herein, das sich tief unten im Wasser des Brunnens spiegelte. Der Eindruck dieser in der Architektur gefangenen Elemente war überwältigend, er hat mich nie wieder losgelassen und der Baugedanke stand mir augenblicklich klar vor Augen. Sofort drängte sich die Frage auf, wer dieses Schloß wohl gebaut haben möchte, wer der Bauherr, wer der Architekt gewesen sein könnte und welche besonderen Umstände zu dieser ganz auf die architektonische Fassung und Überhöhung der Naturelemente abzielenden Architektur führen konnten. Ich war mir sicher, daß die einschlägige Literatur zur französischen Renaissance hier schnell Klarheit schaffen würde, und daß Genaueres einer Reihe von monographischen Forschungen zu entnehmen wäre. Zu meiner großen Überraschung gab es nur zwei ohne weiteres greifbare Schriften zum Château de Maulnes – die Kurzfassung von Caterine Chagneaus’s Magisterarbeit zu den Realien von 1974 – 16 Seiten – und Naomi Millers Schrift zur Ikonologie von 1976 – 18 Seiten. So unwahrscheinlich es mir damals schien, konnte dies dennoch nur eines bedeuten: das Schloß war so gut wie nicht erforscht. Das Château de Maulnes, dessen architektonische Bedeutung mir prima vista offensichtlich war, über dessen Sonderrolle als einziges erhaltenes Bauwerk der Epoche Katharina Medicis und als Paradigma des französischen Manierismus ich aber damals noch nichts wußte, war bis dahin eigentlich unbekannt. Die Bedeutung, die das Schloß sowohl für die Baugeschichte der späteren Renaissance in Frankreich, wie auch für den schillernden Jahrhundertstil des Manierismus insgesamt besitzt, erschloß sich mir erst im intensiven Literaturstudium der folgenden drei Jahre, das auch nach vielen Mühen der entlegenen, marginalen und in Lokalgeschichten vergrabenen Beiträge habhaft werden konnte. Die vielen lokalgeschichtlichen Notizen über eine breit gestreute Spezialliteratur verteilt, die enthusiastischen Parteinahmen für das Schloß aus heimatkundlicher Sendung, vor allem aber die wenigen Schriften aus berufener Feder warfen allesamt mehr Fragen auf als sie beantworten konnten. Am Ende stand mein Entschluß fest, dem Château de Maulnes eine Monographie zu widmen, die einerseits in minuziöser Bauforschung und Baudokumentation vor Ort das Gelände in allen relevanten Aspekten seiner Substanz erfassen sollte, andererseits in einer ebenso sorgfältig wie breit angelegten ikonologischen Studie die verschiedenen Ebenen seiner Zeichenhaftigkeit beschreiben und deuten würde. Und schließlich galt es, dem Schloß seinen angestammten Platz in der Stilgeschichte der französischen Renaissance zurückzugeben, den ihm schon Ducerceau angewiesen hatte, also seine Rolle für die Formation des klassischen Ideals ebenso zu würdigen, wie bei der Artikulation der antiklassischen Haltungen im Stilgefüge des späteren 16. Jahrhundert. Von Anfang an war klar, was dies bedeuten würde. Da überhaupt kein zuverlässiges Planma-


terial des Schlosses verfügbar war, mußte erst einmal eine detaillierte Bauaufnahme – die unabdingbare Grundlage jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit Architektur – erstellt werden, vom Übersichtsplan im Maßstab 1 : 500 bis zu den alle Einzelheiten umfassenden Detailaufnahmen im Maßstab 1 : 1. Ferner galt es, ergänzend dazu eine komplette Bauforschung zur Erarbeitung einer Chronologie des Bauwerks durchzuführen, also über ein wandgenaues Raumbuch mit Eintragung aller Ergebnisse aus Dendrochronologie, Putzund Materialanalysen sowie der übrigen Befunde zu Konstruktion und Ausstattung des Bauwerks, seine Genese und spätere Geschichte zu erfassen. Schließlich waren parallel dazu alle greifbaren Archivalien zu sichten, die vorhandenen Bildquellen in Paris, London und New York zu studieren und nach Abschluß der Arbeiten vor Ort umfangrei-

che vergleichende Studien zur Ikonologie und Programmatik des Schlosses durchzuführen. Zu Beginn unserer Arbeiten befand sich das Schloß noch in Privatbesitz von Madame ValleryRadot, zugleich unterstand es als eingetragenes Monument der Aufsicht der regionalen Denkmalpflege in Auxerre. Wir brauchten somit zunächst die Einwilligung der Eigentümerin für unsere Bauaufnahmen, dann die Genehmigung und Unterstützung des Service Départemental de l’Architecture. Am 3. Mai 1991 traf ich mich mit dem Kulturrat der französischen Botschaft, Monsieur Gilbert Guillard, in der eben eingerichteten Außenstelle in Berlin, Unter den Linden 40. Monsieur Guillard stellte den Kontakt zu Madame Vallery-Radot her, einer Grande Dame aus einer anderen Welt, die auf meine telefonisch vorgetra-

61, 62 Skizzen des Nymphäums, der Rustikafassade und von einigen Details der Wasserführung vom 22. und 23. 8. 1988. 63–66 Fotos während der Arbeit an den Bauaufnahmen vor Ort zwischen 1991 und 2000. 43


gene Bitte, im Château de Maulnes Bauaufnahmen mit deutschen Studenten machen zu dürfen, abgeklärt mit Rabelais antwortete: « Fais ce que vouldras. ». Aufgrund dieser Generalbevollmächtigung gestattete mir auch der Architecte des Bâtiments de France in Auxerre, Monsieur Claustre, den Zutritt zum Château de Maulnes, und gab mir den Schlüssel zu einer kleinen Tür in einem Fenster auf der Ostseite des Schlosses, der einzigen, die nicht vermauert war. Die Tür lag in ca. 4 m Höhe über dem Erdboden, war nur über eine lange Leiter zu erreichen und jahrelang sind wir mit allem Material ausschließlich auf diesem Wege ins Schloß gelangt. Kurioserweise gehört diese Fensteröffnung zum Raum 3.13, in dem wir erst viele Jahre später das Herzstück der Bäder des Schlosses erkannten, und so sind wir all die Jahre mit Sack und Pack über das Tauchbad eingestiegen, das da unerkannt als ein wirkliches Juwel der herrschaftlichen Wohnkultur der Renaissance unter unseren Füßen und dem Schutt späterer Zeiten verborgen lag. In den ersten Jahren unserer Arbeit vor Ort haben wir das Schloß vollständig aufgemessen, noch ohne ein klares Ziel vor Augen, und erst allmählich mit der genaueren Kenntnis der Bausubstanz begannen sich erste Erkenntnisse zu Funktion und Binnengliederung, zu Stil und Ikonologie herauszukristallisieren. Für die Aufmaßarbeiten haben wir insgesamt achtzehn Bauaufnahmekampagnen zwischen 1991 und 2000 gebraucht, und über hundert Studenten aus Berlin und Aachen waren daran beteiligt, die meisten von ihnen sind drei oder vier Mal dabei gewesen. Hinter diesen nüchternen Zahlen verbirgt sich die ungeheure Arbeitsleistung von weit über 30.000 Stunden, die unentgeltlich in die Kampagnen eingebracht wurden. Wenn wir heute also wieder eine genaue Vorstellung davon haben, wie das Château de Maulnes aussieht oder aussehen sollte, dann vor allem wegen dieses begeisterten Einsatzes unserer studentischen Helfer.46 Erst im Laufe dieser langen Arbeit vor Ort, im Zeichnen, Messen, Fotografieren, im Abnehmen der Profile, im Studium der Putze, Baunähte und Planänderungen, die sich nach und nach zu erkennen gaben, konnte das immer präzisere Bild eines absoluten Meisterwerks der französischen Renaissance, der Architekturgeschichte überhaupt entstehen. Wir begannen im September 1992 damit, den Polygonzug außen rings um das Gebäude und innen spiralförmig durch alle Etagen zu legen. Außen mußten wir die Sichtverbindungen zwischen den Polygonpunkten noch mit der Machete freischlagen, so sehr war das Schloß über die Jahrzehnte eingewachsen. Innen gab es als besondere Schwierigkeit die vermauerten Fenster, so daß wir keinerlei Sichtverbindungen zu den äußeren Polygonpunkten hatten, außer vom Eingang und von der Dachterrasse aus. Als wir schließlich oben angekommen waren und der Polygonzug geschlossen wurde, Holger Wanzke, der Ideator unseres geodätischen Gerüstes alles nachgerechnet hatte und tatsächlich beim Schluß des Polygons alle Werte stimmten, war dies für uns alle ein Augenblick großer Freude: Früher hätte man in solchen Momenten die Flagge gehißt. 67 Das System der Raumnumerierung, das wir 1991 eingeführt haben: Die erste Ziffer bedeutet die Ebene, die Ziffern nach dem Punkt die Räume – beginnend mit dem Treppenpodest umlaufend im Uhrzeigersinn –, der Buchstabe die Wand. Die Südwand trägt immer den Buchstaben A, die übrigen folgen im Uhrzeigersinn in alphabetischer Reihenfolge. 44

In den folgenden Jahren haben wir uns ganz allmählich mit jeder Kampagne von Ebene zu Ebene vorangearbeitet. Gleich zu Anfang wurden skizzenhafte Grundrisse von jedem Geschoß angefertigt, und es wurde jeder Ebene und jedem Raum eine Nummer im System der Dezimalklassifikation gegeben. Die einzelnen Ebenen des Schlosses

wurden vom Keller mit der Nummer 1 bis zur Dachterrasse mit der Nummer 7 durchnumeriert, jeder Raum bekam auf jeder Ebene vom Treppenhaus ausgehend eine zweistellige Zahl zugeordnet, bei der die Ziffer vor dem Komma die Ebene, die beiden Stellen dahinter die einzelnen Räume bezeichnen. Die Reihenfolge beginnt immer im Treppenhaus, geht dann von dort in den nächstliegenden Raum auf der Westseite und dann im Urzeigersinn einmal durch alle Räume des Geschosses. Auch die Wände sind in dieses System einbezogen, die Südwand eines Raumes trägt immer den Buchstaben A, und dann geht es wiederum im Urzeigersinn durch die Wandfolge bis zum Ausgangspunkt. Die Buchstaben A, B, C, D entsprechen also im Prinzip den Himmelsrichtungen, nur bei den kleinen Polygonalräumen folgt die Benennung nicht mehr genau der astronomischen Orientierung. Die Systematik der Raumnumerierung, die man auf den ersten Blick für bürokratisch halten könnte, war unbedingt erforderlich, da die komplexe Fünfeckgeometrie des Schlosses nicht nur den Orientierungssinn verwirrt, sondern auch einfache Zuordnungen nach dem Körperschema rechts und links, vorn und hinten nicht ohne weiteres vornehmen läßt. Ein zusätzliches Handicap des Unternehmens war, daß das Gebäude in Inneren stockfinster war, und nur durch einzelne Spalten und Löcher scheinwerferartige Lichtstrahlen nach innen einfielen. Da es im Schloß keine Elektrizität gab, auch in der Nähe keine Anschlußmöglichkeiten vorhanden waren, mußten wir den Strom für die Innenausleuchtung der Räume selbst erzeugen. Zu Beginn einer jeden Kampagne haben wir deshalb auf der Dachterrasse zwei benzingetriebene Generatoren installiert und das Schloß komplett verkabelt. Unsere Bauaufnahmen fanden somit über Jahre hinweg begleitet von Motorengeräuschen statt, hin und wieder unterbrochen vom langsam flackernden Erlöschen der Lampen, wenn der Tank leer war und einer langen erlösenden Stille, wenn wir im Schatten des Schlosses an Tischen und Bänken unsere ausgedehnten Mittagspausen mit Jambon Persillé, Tête de veau, Fois Gras und Paté Campagnard einlegten und dazu den ausgezeichneten Bourgogne Blanc aus dem Tonnerrois goutierten. Nicht nur der Duc d’Uzès hat an diesem Ort gut zu leben gewußt, wir suchten es ihm gleichzutun, wie Gott in Frankreich.


Das Château de Maulnes ist in einem merkwürdigen Verfallszustand, einzelne Teile sind völlig zerstört, einige gewölbte Decken eingestürzt, das Sockelgeschoß durch langanhaltende Überschwemmungen verschlammt und damit teilweise in einen naturähnlichen, höhlenartigen Zustand zurückversetzt. Andere Bereiche des Schlosses dagegen sind so gut erhalten, daß sie eben erst verlassen scheinen, sie zeigen noch die Spuren ihres letzten Gebrauchs. Bei einem solchen halbruinösen Zustand des Gebäudes war es außerordentlich schwierig auszumachen, in welchen Bereichen die üblichen Funktionen untergebracht waren, wie die Räume ausgestattet waren, ob sie fertiggestellt wurden oder unvollendet liegen blieben. Am Anfang ließ sich nicht eine einzige dieser Fragen beantworten, weder für die Geschosse, geschweige denn für einzelne Räume. Erst im Zuge der Bauaufnahmen stellten sich nach und nach, nicht kontinuierlich, sondern schubweise Erkenntnisse ein, die Schritt für Schritt ein immer klareres Bild hervortreten ließen. Die wichtigsten Schritte dieses Erkenntnisprozesses seien hier kurz mitgeteilt. 1. Kampagne 05. 91. Zur Vorbereitung und Planung der Bauaufnahmen wurden vor Ort erste Grundrißskizzen angefertigt und eine erste Fotodokumentation durchgeführt. Zugleich wurden Arbeitshypothesen zu Funktion, Bautyp und Ikonologie des Schlosses entworfen, die im Zuge der folgenden Kampagnen überprüft werden sollten. Einige dieser Arbeitshypothesen, die mir ein hoher Maß von Wahrscheinlichkeit zu besitzen scheinen, habe ich vorab im Daidalos vom 15. 9. 1991 veröffentlicht: »Eine Festung der Sinne. Das Château de Maulnes im Burgund«.47 2. Kampagne 10. 92. Bei der Vermessung des Lageplanes und der Außenkontur ergab die Bestimmung der Gebäudeausrichtung mittels Theodolitmessung des Meridiandurchgangs der Sonne, daß die Nord-Südachse des Gebäudes nicht genau nach Norden weist, sondern exakt um 15 Grad – also um genau eine Stunde – nach Osten gedreht ist. 3. und 4. Kampagne 05. 93 und 10. 93. Beim Aufmaß der Ebene 1 zeigte sich, daß die Keller unvollendet blieben: Der Rohbauzustand der Gewölbe und die Hilfskonstruktionen des Lehrgerüstes sind noch zu erkennen. Beim Aufmaß der Communs wurden die Reste einer Dachkonstruktion nach Art Philibert De l’Ormes entdeckt (Bohlenbinder). 5. Kampagne 05. 94. Beim Aufmaß des Nord-Südschnittes der Ebene 2 zeigte sich, daß die Innenwand des Türgewändes im Raum 2.02 ca. 25 cm hinter der Außenflucht von Ebene 3 liegt. Unter dem erneuerten Gewölbe fanden sich einbetonierte Reste der ehemaligen Zugbrücke. Die Rekonstruktion vom 15. 8. 98 zeigt, daß sich hier eine Klappbrücke mit Gegengewicht befand. Beim Aufmaß von Ebene 3 wurde in den Räumen 3.13 und 3.14 ein Deckenaufbau von 1,38 m Höhe festgestellt. Dies stützte die schon aus der Raumtypologie – wie beispielsweise den vom Treppenhaus aus beheizten Sitznischen – sich ergebende Annahme, daß sich auf diesem Geschoß die von Ducerceau erwähnten Bäder befanden, die in Raum 3.14 eine Unterflurheizung (Hypokausten) besaßen. Die archäologische Grabung vom November 1998 durch das Centre d’Études Médiévales hat dies bestätigt. 45


Ferner wurde während dieser Messkampagne auf der gegenüberliegenden Seite in dem zur Treppe hin geöffneten Raum 3.01 an exponierter und von rückwärts belichteter Stelle eine ringförmige Ziegelstruktur entdeckt, unter der bei der archäologischen Grabung des Centre d’ Études Médiévales ein Unterflurofen freigelegt wurde. Wir halten dies für die Feuerung einer Warmwasser-Kesselanlage, wie sie Cesariano 1521 abbildet. Während der Bauaufnahme der Ebene 3 wurden darüber hinaus im Raum 3.17 Spuren einer eng gesetzten systematischen Holzverdübelung entdeckt, die auf eine besonders aufwendige Wandverkleidung schließen lassen. 6. Kampagne 09. 94. Bei der Untersuchung der Niveaus rings um den unteren Treppenantritt auf Ebene 1 wurde festgestellt, daß die Treppe ursprünglich in einem Zuge zum Wasserspiegel des Brunnens hinabgeführt haben muß. Es wurde in einer ersten Rekonstruktion vermutet, daß auch der verschüttete Lauf auf der Ostseite die Fünfeckgeometrie des Treppenkernes aufnahm, wie sie sich oben in den beiden Bögen des Gebäudes abbildet. Da der Restaurator in den 60er-Jahren jedoch die ersten drei Stufen des aufgehenden Laufes falsch erneuert hat – nämlich parallel zur Basis des Fünfecks und nicht verzogen – ist dies an der Treppe selbst nirgends mehr ablesbar. Die Rekonstruktion vom 23. 8. 1999 beruht auf der Binnengliederung der Fünfeckgeometrie des Schlosses und zeigt den ursprünglichen Zustand. Sie revidiert den Rekonstruktionsvorschlag von 1994 insoweit, als nun auch das Podest mit den verzogenen Antrittstufen ein Teil der dem gesamten Grundrißkonzept unterlegten Fünfeckteilung ist. Eine Untersuchung zur Lage des unterirdischen Rohrleitungssystems legte es zwingend nahe, daß die zentrale Brunnenschale von einer anderen als der bekannten Quelle im Nordwest-Turm gespeist wird. Die Quelle wurde durch die Endoskopuntersuchung des Instituts für Baumaschinen und Baubetrieb der RWTH Aachen im April 1999 geortet und durch die archäologische Grabung des Centre d’Études Médiévales freigelegt. Im Raum 1.07 wurde bei der Aufnahme des Gebäudeschnittes ein vertikaler Schlitz gefunden, der vom Raum 3.13 zu einer werksteingefaßten Öffnung in der Fassade führt. Der Schlitz wurde 05. 97 im M 1 : 2 aufgemessen. Er bietet Raum für die Wasserversorgung (Druckeinleitung) und für die Entsorgung der Bäder auf Ebene 3. 7. Kampagne 06. 95. Beim Grundrißaufmaß der Appartements 5.05 und 4.09 wurden die Auflager für die von Ducerceau beschriebene diagonale Anordnung der Deckenbalken gefunden. Damit konnte die ursprüngliche Balkenlage rekonstruiert werden. Im Saal 4.16 wurde nach dem Aufmaß der Balkenlöcher festgestellt, daß die ursprüngliche Kassettierung nach der dynamischen Viereckreihe proportioniert war (1 : √2, 1 : √5 und 1 : √9). Die Untersuchung der Holzständerwand (Zapflochuntersuchung, Reihenfolge der Dübel, Kalkfließspuren) zeigte, daß trotz der augenscheinlichen Unzugänglichkeit des Zwickelraumes 4.07 ursprünglich zwei Türen vorhanden waren. Damit bestätigte sich die Nutzung des Cabinets als Raum hinter dem Erscheinungsbalkon, die auch die Fassadenanalyse des Mittelrisalites nahelegte. 8. Kampagne 10. 96. Die Fassadenaufnahmen zeigten, daß die Lichtschächte, die in Ebene 4 und 5 das zentrale Treppenhaus belichten, anders ge46


staltet sind als die Fensteröffnungen: Sie sind nicht durch ein profiliertes Gewände gefaßt und folgen auch nicht der horizontalen Geschoßgliederung, am Innengewände weisen sie nicht die typischen Ritzspuren auf. Die Lichtschächte waren also ursprünglich nach außen geöffnet, das Treppenhaus war Wind und Wetter ausgesetzt, so daß es, obgleich im Zentrum des Gebäudes liegend, Teil des Außenraumes war. Die sich an diese Feststellung 07. 97 anschließende Untersuchung aller Tür- und Fensteröffnungen auf Spuren von Läden, Rahmen, Verankerungen zeigte, daß auf jeder Ebene ein wettergeschütztes internes Zirkulationssystem existierte, das es erlaubte, sich im Gebäude zu bewegen, ohne den »Außenraum« der Treppe zu betreten. Zum offenen Raumsystem der Treppe dagegen gehörte die über das Opaion geöffnete Dachterrasse und das ebenfalls allseitig geöffnete Nymphäum und seine Sala Terrena-artigen Seitenräume. Die Grundrisse und Schnitte der Bauaufnahme lagen zum Ende dieser Kampagne fertig vor. Die folgenden Kampagnen konzentrierten sich im Wesentlichen auf die Bauforschung. 1997 ging das Château de Maulnes in den Besitz des Conseil Géneral de l’Yonne über, war damit Eigentum des Staates und unterlag von nun an der Obhut und Fürsorge seiner Administration. Zur Vorbereitung einer späteren Instandsetzung des Schlosses wurde ein Comité de Pilotage unter Leitung von Jean-Pierre Halévy eingerichtet, dem wir unsere Bauaufnahmen zur Verfügung stellten. Im Gegenzug wurde uns freundlicherweise die Beendigung unserer Bauforschung vor Ort gestattet. Die Mitglieder des Comité de Pilotage, darunter JeanMarie Pérouse de Montclos, Jean Guillaume, Françoise Boudon und Monique Châtenet waren für uns wichtige Gesprächspartner bei der Diskussion und Präzisierung unserer Arbeitsergebnisse. Auf Veranlassung des Comité de Pilotage wurde im Winter 1997 ein Team von Archäologen um Christian Sapin, Centre d’Études Médiévales Saint-Germain, Auxerre, unter der örtlichen Leitung von Fabrice Henrion eingesetzt. Einige der Grabungskampagnen wurden zur Überprüfung unserer Arbeitshypothesen durchgeführt, wie die Freilegung der Bäder auf Ebene 3, die wir zuvor nach dem Baubefund lokalisiert hatten. Bei der Interpretation der Grabungsbefunde sind wir allerdings in wichtigen Fragen zu ganz anderen Ergebnissen gekommen.48 9. Kampagne 08. 97. Aufgrund des Fassadenaufmaßes von Juni 1995 zeigte sich, daß die Nordwest- und Nordostfassade eine symmetrische Einheit bilden. Die Fenster der Ebene 3 der Südostbzw.- Südwestfassade besaßen ursprünglich vorgesetzte schmiedeeiserne Gitterkörbe, die sich nach dem Befund der Befestigungen noch in situ befanden, als nach vorbedachtem Plan in Akzentuierung des Fassadenkonzeptes in Werkstein gearbeitete Verkleinerungen mit schrägen Laibungen eingesetzt wurden. Diese kunstvollen, möglicherweise in trompe-l’œil bemalten Verkleinerungen wurden bei der durch Wasserschaden verursachten Setzung des Gebäudes (verstopfte Nymphäumsentwässerung, Zerstörung des Rohrleitungssystems und damit unkontrollierter Wasserfluß im Gebäude) beschädigt, danach mehrfach notdürftig repariert, so daß sie heute als provisorische Ausmauerung erscheinen. Auf eine illusionistische Fassung der Fassaden deuten auch die an allen Gebäudeseiten nachweisbaren, in den Putz eingeritzten Scheinverquaderungen.

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Im Januar 1998 haben wir in der Pierpont-Morgan-Library, New York, das Jacques Androuet Ducerceau zugeschriebene Konvolut mit den Vorentwürfen zum Château de Maulnes eingesehen und nach Maßstäblichkeit und Zeichentechnik mit Serlios Manuskript der Avery Library und der Bayerischen Staatsbibliothek verglichen. Seither bin ich davon überzeugt, daß Ducerceau in einer frühen Planungsphase des Schlosses an der Konzeption beteiligt war. 10. Kampagne 05. 98. Lückenlose Erfassung aller datierten Graffiti von 1625 bis in die Gegenwart, mit denen alle Teile des Gebäudes förmlich übersät sind. Die Graffiti belegen, daß ab 1625 die Nebenräume und die Ebenen 5 und 6 nicht mehr herrschaftlichen Nutzungen dienten und daß auch das Treppenhaus ab 1722 seinen repräsentativen Charakter verloren hatte. 11. Kampagne 06. 98. Durchführung einer vollständigen Dendrochronologie des Dachtragwerks, durchgeführt von Burkhard Schmidt, Institut für Ur- und Frühgeschichte, Universität zu Köln. Die dendrochronologische Untersuchung ergab, daß der erhaltene Dachstuhl, die Hauptbalken der Appartements aller Ebenen und die Holzständerwand der Ebene 4 und 5 mit Fälldatum um 1560 original sind. Auch die Bohlenbinder im Obergeschoß der Communs gehören zur Originalsubstanz. 12. Kampagne 08. 98. Das Detailaufmaß der Nymphäumsfassade vom Juni 1997 erlaubte die Rekonstruktion der bei Ducerceau abgebildeten Stufen. Anzahl und Steigungsverhältnis belegen, daß es sich um Sitzstufen eines Theaters vor der »Scena Fissa« des Nymphäums handelt. 13. Kampagne 09. 98. Abschluß der Bauaufnahmen mit letzten Ergänzungen und Aufnahme der Fassaden einschließlich der dekorativen Details. 14. Kampagne 05. 99. Bauforschung zur Wasserhaltung im Kellergeschoß. Endoskopische Untersuchung der unter den Fundamenten verlegten Rohre. 15. Kampagne 09. 99. Detailuntersuchungen zur Ebene 1. Entwicklung der Hypothese, daß es sich bei dem Sockel des Schlosses um ein Grottengeschoß gehandelt hat. Nachweis der Vorbereitung der Wände für eine Grottenausstattung. 16. Kampagne 01. 00. Im November und Dezember hatten die Archäologen des Centre d’Études Médiévales Saint-Germain-Auxerre den Fuß der Treppe im Keller und den Brunnenzugang freigelegt. Die Rekonstruktion des ursprünglichen Zustandes49, den sie in ihrem Rapport 1999 veröffentlicht haben, schien uns so unwahrscheinlich, daß wir nach dem Befund der Grabung am 26. 1. 2000 eine eigene Rekonstruktion vorgelegt haben, die eine frühere, aus der Logik der Treppenführung und den Niveaus entwickelte Rekonstruktion vom 8. 9. 94 bestätigte. 17. Kampagne 03. 00. Systematische Aufnahme aller noch erhaltenen Spuren der Tür- und Fensterbefestigungen. Bauforschung der Putze und Farbfassungen auf Ebene 4 durch Klaus Endemann, Oberkustos der Bayerischen Schlösser und Gärten. 18. Kampagne 05. 00. Ergebnislose archäologische Grabung in den seitlichen Sälen des Kellergeschosses, um die Fundamente der bei Ducerceau dargestellten vier Pfeiler zu finden, die wir als 48


Elemente einer geplanten Ausstattung des Kellers mit Grottenwerk angesehen hatten. Die Bauforschung in den Appartements Ebene 5 wurde gleichzeitig zum Abschluß gebracht. Im September 2000 studierten wir die Zeichnungen Ducerceaus im Britischen Museum, London, die uns in Ergänzung der Bauaufnahmen wertvolle Aufschlüsse über den ursprünglichen Zustand von Dachlandschaft und Gärten gaben. Zum Abschluß unserer Feldforschung in Maulnes haben wir vom 17. bis 24. September 2000 ein Vermessungsexperiment auf dem abgeernteten Acker südlich des Schlosses durchgeführt. Mit nachgebauten Vermessungsinstrumenten der Epoche, die das Werkzeugtechnische Labor der RWTH Aachen für uns angefertigt hatte, wurde in der Achse des Schlosses die Fünfeckfigur und der gesamte Umriß der bastionierten Plattform abgesteckt. Die Konturen des Schlosses wurden danach mit dem Spaten ausgehoben und vom Heißluftballon aus der Luft fotografiert. Vom 3. bis 5. Mai 2001 führten wir an der RWTH Aachen ein Symposium zum Thema »Maulnes und der Manierismus in Frankreich« durch, auf dem wir unsere Forschungsergebnisse vorgestellt und mit namhaften Kennern der französischen Renaissance diskutiert haben. Mit dieser Veranstaltung ging unser Forschungsprojekt zu Ende, weitere Aufenthalte im Schloß waren nicht mehr erforderlich und die Arbeit am Manuskript des vorliegenden Buches konnte beginnen. Schon während der Niederschrift des Manuskriptes der monographischen Kapitel zum Château de Maulnes, die am 31. 12. 2000 abgeschlossen waren, wurde deutlich, daß eine wirklich umfassende Würdigung des Schlosses nur gelingen konnte, wenn es im Vergleich mit den übrigen Bauten seiner Epoche gesehen würde. Ich entschloß mich deshalb, dem monographischen Teil, der sich ganz auf das Château de Maulnes konzentriert, einen vergleichenden Teil entgegenzusetzen, der den ähnlich programmatischen Bauten der Epoche gewidmet ist. Beiden Teilen sind die Bauaufnahmen zugeordnet, die das Schloß in allen Einzelheiten zeichnerisch erfassen, von hier aus aber auch eine ganz eigene, sehr genau fokussierte Perspektive auf das übrige Geschehen im herrschaftlichen Bauwesen der Zeit eröffnen. Bei den Vergleichsbauten der Epoche ist die Regierungszeit Karls IX. (1560–1574) gemeint, zugleich der Beginn der Ära Katharina Medicis (1559–1589), in der sie als Regentin, Königin Mutter oder graue Eminenz die entscheidenden Weichenstellungen für die gesamte Dauer der Religionskriege (1562–1593) vornahm. In dieser Zeit wurden nur wenige Schloßbauten errichtet, so daß der Denkmälerbestand selbst bei nahezu vollständiger Erfassung gut zu bewältigen ist, und die Forschungslage ist hier ebenfalls ausgesprochen gut. Anders als im Fall von Maulnes, das als einziger Neubau der Epoche noch steht, sind alle anderen Bauten verschwunden und nur aus wenigen Bild- und Schriftquellen, in der Hauptsache aus dem Werk Ducerceaus, bekannt. Dennoch ist die Literatur zu diesem untergegangenen Denkmalbestand so umfangreich und ergiebig, daß ein sehr präzises bauhistorisches Bild der Schloßbaukunst dieser Jahre gezeichnet werden kann. Die wichtigsten Bauten der Zeit sind die drei Schlösser des Königshauses, die Tuilerien als Witwenpalast Katharina Medicis (1564), Charleval, das Schloß Karls IX. (1570) und Chenonceaux, wiederum eine visionäre Architektur der Königin

Mutter (1576). Sie wurden zu einer Zeit konzipiert, als Katharina noch ernsthaft auf den Religionsfrieden auf der Grundlage der Toleranzidee setzte, und deshalb sind alle drei Bauten dieser Politik verpflichtet. Verneuil (1560) wurde als Rückzugsort eines abgeklärten Aristokraten errichtet und ist darin Maulnes durchaus ähnlich, wenngleich weniger radikal in den architektonischen Konsequenzen. Das Maison Blanche (1566) von Gaillon ist das Werk eines Exponenten der katholischen Partei, des Kardinals Charles de Bourbon, und Montargis (1560) der Idealentwurf einer Protestantin, der großen Beschützerin der Hugenotten, Renée de France. Das Château-Neuf (1557/1567/1595) von St-Germain-en-Laye schließlich spiegelt in einer langen immer wieder unterbrochenen Bauzeit von Heinrich II. bis zu Heinrich IV. die verschiedenen Versuche der Monarchie, über eine regelrechte Programmarchitektur ihre mit der Zeit wechselnden Positionen zu demonstrieren. Die wenigen übrigen Bauten dieser Epoche (1560–74) werden aus unterschiedlichen Gründen nur sehr kurz gestreift: Fère-en-Tardenois (1562), weil es als bebaute Brücke über einer Schlucht einen wirklichen Sonderfall darstellt, La Tour d’Aigues (1555–75), von einem Italiener gebaut, weil es nur ein Import einer ganz und gar italienischen Architektur in die Provence ist, Saint-Maurdes-Fossés, weil es sich dabei nur um einen Umbau handelt. Ormesson (1578), das eigentlich mit in die Reihe der Vergleichsbauten hätte aufgenommen werden müssen, wurde fallengelassen, da sowohl Bildquellen- wie Literaturlage hier so schlecht sind, daß eigene Grundlagenarbeiten notwendig geworden wären. Dies hätte den Rahmen der Arbeit aber dann doch gesprengt. Ähnliches gilt für Ferrals (1564), andere Schlösser wurden wegen unklarer Datierungen weggelassen, wie Dampierre (»Ende der 50er Jahre?«) oder Noisyle-Roy (1577), das aber eigentlich auch nur ein Umbau ist, wo aber der Garten in die vergleichende Betrachtung hätte eingehen können. So bleibt die Auswahl begrenzt, aber dennoch typisch für die Epoche und auch zahlenmäßig ist das meiste, was in den schon sehr unruhigen Jahren am Vorabend der Religionskriege entstand, damit erfaßt. Bisher gab es über diese Zeit noch keine Gesamtdarstellung, die Forschung hat sich in ihren Übersichtswerken ausschließlich der an Denkmälern sehr viel reicheren »Première Renaissance« zugewandt. So wird also mit dem Vorliegenden ein bedauerliches Desiderat erledigt und eine erste Übersicht zum Französischen Schloß der »Seconde Renaissance« vorgelegt. Die meisten der hier aufzuführenden Schlösser sind in schmalen Monographien bearbeitet worden. Zu den Tuilerien hat Denis André Chevalley 1973 eine hervorragende Arbeit mit dem Titel Der Große Tuilerienentwurf in der Überlieferung Ducerceaus vorgelegt.50 Für Charleval sieht es weniger gut aus, außer dem alten Werk von Geymüller Les Ducerceau gibt es nur kurze Artikel, immerhin aber sind die Gärten ausführlich von Françoise Boudon bearbeitet worden, in der Topographie hervorragend rekonstruiert von D. Leconte.51 In Chenonceaux ist die Baugeschichte des Alten Schlosses und des Brückenflügels gut erforscht, das Erweiterungsprojekt jedoch, um das es hier geht, ist wenig untersucht. Einzelne scharfsichtige Beobachtungen finden sich in der Literatur zu Philibert De l’Orme, insbesondere in der Monographie von Jean-Marie Pérouse de Montclos.52 Das Schloß Verneuil hat eine ausführliche wissenschaftliche Würdigung erfahren, besonders zu erwähnen ist 49


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83 Aquarellierte Fassung unserer Bauaufnahme der Nymph채umsfassade. 51


der umfangreiche Aufsatz von Rosalys Coope von 1962, History and Architecture of the Château of Verneuil-sur-Oise.53 Die Gärten sind knapp aber präzis von Françoise Boudon behandelt, wieder mit einer exzellenten Analyse der topographischen Einbindung durch D. Leconte (1999). Geradezu katastrophal ist die Literaturlage zum Maison Blanche von Gaillon. Während das Schloß 1952 in einer großen Monographie von Elisabeth Chirol behandelt wurde, taucht das Maison Blanche nur en passant auf, meistens in den Arbeiten zu Brunnen und Grotten in Frankreich, etwa in Naomi Millers French Renaissance Fountains, 1977, oder der gründlichen Studie von

84 Aquarellierte Fassung des Querschnitts unserer Bauaufnahme.

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Gerold Weber über Brunnen und Wasserkünste in Frankreich, 1985.54 Dafür ist Ducerceau selber aber sehr ausführlich auf das Maison Blanche eingegangen, die Bildquellenlage hier also besser als bei den meisten der zu behandelnden Bauten. Auch im Fall von Montargis sind Ducerceaus Blätter so aussagekräftig, daß sich nahezu jede Einzelheit des Projektes aus den Bildquellen selbst entnehmen läßt. Auch hier ist die Literatur eher kärglich, das Manuskript einer Arbeit von Paul Gache über Renée de France à Montargis blieb mir unerreichbar.55 Für das Château-Neuf de St-Germain-en-Laye war wiederum auf die Literatur zu Philibert De l’Orme zurückzugreifen,


insbesondere auf die Werke von Anthony Blunt 1958 und Pérouse de Montclos, 1960. Hilfreich ist jedoch auch der alte Aufsatz von L. de la Tourasse Le Château-Neuf de St-Germain-en-Laye von 192456 und die ungedruckte Arbeit von M. Kitaeff von 1997.57 Im Zuge der Bearbeitung dieser Schlösser, die als Vergleichsbauten für das Château de Maulnes dienen können, wurde nach und nach deutlich, daß sie in ihrer Architektursprache in ein Idiom verfallen, das man ohne weiteres als »manieristisch« bezeichnen würde. Der Begriff taucht aber in der französischen Literatur nur ausnahmsweise

auf, und auch sonst wird er eher selten verwendet. Dafür gibt es natürlich Gründe, denen im einzelnen nachgegangen wurde, und unter der Arbeit ist daraus ein selbständiges Kapitel über den Stil geworden, über die klassische und die manieristische Renaissance in Frankreich. Das Buch schreitet also von der sehr detailreichen Untersuchung eines einzelnen exemplarischen Bauwerks zu einer kritischen Sichtung der wichtigsten Schloßbauten der Epoche fort. Am Ende steht die Diskussion um den Stil der Epoche Katharina Medicis, der Renaissance des Manierismus in Frankreich, für die das Château de Maulnes eines der bedeutendsten Zeugnisse ablegt.

85 Aquarellierte Fassung des Längsschnitts unserer Bauaufnahme.

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86–88 Abschrift der Verträge mit den Zimmerund Maurermeistern vom 7. 5. 1566, die im Original die eigenhändige Unterschrift Antoine de Crussols tragen. Darüber die Transkription des Textes nach Eugène Drot, der das Dokument 1901 in den Notariatsakten der Archives de l’Yonne aufgefunden hat.

Marché de charpenterie 7 mai 1566 Fut present en sa personne Jehan Buchotte, charpentier demourant a Tonnerre, lequel a recongnu et confessé avoir promis et par ces presentes promect faire et parfaire de son état de charpentier, a hault et puissant seigneur messire Anthoine de Crussol, duc d’Uzais, conte de Crussol et de Tonnerre present, toute la charpenterie du bastiment que led. seigneur entend faire construire et bastyr en sa forest de Maulne sur la fontaine dud. Maulne, suyvant les plans et pourtraict qui luy ont esté présentement communiquez, assçavoir tous les sintres necessaires et requis audict bastiment garnis de planches prestes a poser sur lesd. sintres, les engins necessaires a son estat de charpentier et de maçon, faire et parfaire les planchés a la mode françoise, acompagnez [et] garnys de solives et de planches en long par le dessus d'icelles solives, d’une salle, deux chambres et garderobbes dud. bastiment, les entredeux de pants et cloisons desd. chambres et

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gardes robbes, et daventaige la couverture et comble dud. bastiment avec double sableres, gembes arcillieres et gembes de force, acompaignans pour les chambres du galetas dud. bastiment de faulces gembettes et arcillieres en façon de pants pour parfaire en plancher les chambres dud. galetas sans y mectre aulcunes planches ou lembrissement, avec la champeterne du dosme du dessus du bastiment. Pourquoy faire, sera tenu et a promis led. seigneur fournyr tout le boys dud. bastiment, a le prandre, choisir coupper, escarrer et aultrement detailler par led. Buchotte et debiter comme led. bastiment le requerra, tant de sondict mestier de charpentier que de siage aux fraiz dud. Buchotte et sans que led. seigneur soit tenu luy fornyr aultres choses que le forestage, boys et charroy en la place ou doibt faire led. bastiment, avec cables et cordaige necessaire. Besongnera a lad. besongne de jour en jour sans intervalle de temps en luy fornyssant deniers [fol. 142 r°] et matieres pour ce faire comme dict est, moyennant le prix et somme de six cens cinquante livres tournoys qui luy seront payez en faisant la dicte besongne et prorata d'icelle par led. seigneur ou ses commis. Car ainsi etc. si comme etc., promectans etc., obligens hinc inde etc., lesd. partyes, assavoir led. seigneur conte au payement et fornissement des choses susd. et led. Buchotte corps et biens de faire et parfaire lad. besongne. Faict et passé aud. Tonnerre le septiesme jour de may l’an mil cinq cens soixante et six, presens honorables hommes Mes Jehan Jazu Jehan Coquinot, licenciés es

loix eleuz, Me Pierre Teurreau, lieutenant general au baillage dud. Tonnerre, et Me Edme Cerveau, procureur dud. seigneur conte, tesmoings. Et ont lesd. seigneur conte, Teurreau, Jazu, Coquinot, Cerveau et Buchotte signé la note de ces presentes avec led. Petitjehan tabellion soubzscript.

Marché de maçonnerie 7 mai 1566 Fut present en sa personne Jehan Verdot, maçon demourant a Tonnerre, lequel a recongnu avoir marchande a hault et puissant seigneur messire Anthoine de Crussol, duc d’Uzais conte dud. Crussol et de Tonnerre present, de faire et construire la maison que led. seigneur entend faire bastyr en la forest de Maulne sur la fontaine dud. lieu, suyvant les plants, portaicts et montees convenues et accordees entre lesd. seigneur et Verdot et a luy encores presentement exhibees et communiquees, contenant caves voltees offices voltés, salles, chambres, garderobbes et exsaulcement, visz et montees, le tout suyvant lesd. plants et pourtaict, garnys tout d'empiettement de pierre de taille, portes, arceaulx, huis, fenestres, cheminees et corniches modillonnees pour le pris et somme de deniers cy après declarez, assavoir la toise de menu muraille de quattre piedz d’epesseur es fond, revenant a la sommitté et corniche a deux piedz et demy d’epesseur, tant en son tour que entredeux et cloisons portant cheminees et montees d’epesseur requises et desinnees par lesd.


plans, que aussi toutes voltes que led. seigneur entend faire a lad. maison, mesurant tant plain que vuyde d’ouvertures et entrees pour le pris et somme de vingt solz tournoys la toise de six piedz de roy en carrey, en face seullement, faicte et construite de greve de fousse et chaune telle qu’il luy sera baillee et fornye par led. seigneur ou ses commis. Item, chacune porte et huis de hauteur de cinq a six piedz [fol. 142 v°] de largeur de troys a quattre piedz pour le pris de quattre livres, chacune toise d’empietement de taille en semblable carrurre pour le pris et somme de soixante solz tournoyz, chacune fenestre de troys a quattre piedz et demy de largeur sur leur haulteur de six, douze et treize piedz encongnees et revestues de pierre de taille pour la somme de douze livres chacune tant grande que petite de la haulteur et largeur dessusd. Item, chacune cheminee dud. bastiment, tant de cuisine, salle que chambre, revestues et garnyes de pierre de taille selon que le lieux et place le requerront et qu’elles sortiront hors meur, pour le prix et somme de dix livres chacune. Item, pour chacune toise des coings des retour dud. bastiment construict de pierre de taille, la somme de trente solz t. chacune toise, et pour chacune toise de corniche et entablement a modillon carrey et de moulure portee par led. portraict, la somme de quarente solz t., et aussi chacune marche de la visz et montee dud. bastiment mises et posees en leur place la somme de vingt solz t. Fornira led. seigneur ou ses commis aud. Verdot toutes pierres tant de taille menue, chaune, araine,

boys a chaufauder, faire toutes curees et decombres pour planter led. bastiment suyvant led. pland et pourtraict. Fornira aussi led. seigneur cables, cordes et engins, et besongnera led. Verdot a la besongne de jour en jour sans intervalle de temps en luy fornissant deniers et matieres en place comme dessus est dict. Car ainsi etc., si comme etc., promectans etc., obligens etc., inc inde, assavoir led. seigneur au payement des deniers cy dessus et led. Verdot corps et biens, de faire lad. besongne selon que cy dessus est dict, renoncant etc. Faict a Tonnerre le septisme jour de may l’an mil VC soixante et six es presence de honnorables hommes Mes Jehan Jazu, Jehan Coquinot, licencié es loix eleuz pour le roy a Tonnerre, Me Pierre Teurreau, lieutenant general au baillage de Tonnerre, Me Edme Cerveau, procureur dud. seigneur. Ont Jazu Coquinot Teurreau et Cerveau signé la notte de ces presentes et led. Verdot faict sa marque.

3. Der Plan Urheber, Anreger, Bauherren, Baumeister Lusignan, das Märchenschloß der Melusine, wurde ohne den Plan eines Baumeisters und ohne die Hand eines Künstlers errichtet, es entstand über Nacht nur durch die verdächtige Zauberkunst einer Wasserfee. So scheint es auch bei dem Schloß zu sein, auf das die Melusinensage überging, bei dem Château de Maulnes, denn über den Architekten wissen wir so gut wie nichts. Dabei liegt es auf der Hand, daß ein so genau durchdachtes Bauwerk wie das Château de Maulnes nur das Ergebnis einer ungewöhnlich engen Zusammenarbeit von Bauherrn und Architekten sein kann. Üblicherweise berichten darüber die historischen Dokumente der Rechtsgeschäfte, die mit einem Bauvorhaben verbunden sind, so daß die Baugeschichte aus den Akten zu rekonstruieren ist. Die aber bleiben diesmal gänzlich stumm. Während die Bauherrn dem Namen nach bekannt sind und auch Grundlegendes zu ihren Personen und den Rollen, die sie in Staat und Gesellschaft spielten, den einschlägigen biographischen Quellen zu entnehmen ist,58 gibt es über den oder die Architekten des Schlosses absolut keine Nachrichten. Allerdings kann man aus den überlieferten Planmaterialien, dem Wortlaut der Handwerkerverträge und vor allem aus der Überlieferungsgeschichte fünfeckiger Schloßbauten in Frankreich eine Reihe von Indizien erschließen, die zumindest das planungsgeschichtliche Umfeld der Urheberschaft des Château de Maulnes eingrenzen. Die Abhängigkeiten dieser Materialien in Typologie, Zeichenstil und Maßstäblichkeit sind so verblüffend, daß man den Kreis der Beteiligten – sogar in chronologischer Abfolge – sehr eng schließen kann. Zugleich entwickelt sich aus dieser Analyse der Planmaterialien eine Vor- und Frühgeschichte des Château-de-Maulnes ante litteram, die schließlich in die tatsächliche Planungs- und Baugeschichte übergeht. Es wurde deshalb darauf verzichtet, das Thema an anderer Stelle noch einmal aufzugreifen und ein eigenes Kapitel über die Baugeschichte des Schlosses zu schreiben, da alles Wesentliche bis zum Abschluß der Bauarbeiten schon im Zusammenhang mit der Suche nach den Architekten angesprochen werden muß. Über das Bauherrenpaar – Antoine de Crussol und Louise de Clermont – gibt es bis heute keine Biographie.59 Beide gehörten jedoch zu den engeren Kreisen des Hofes, kein geringerer als François Clouet hat sie porträtiert und immer wieder finden sie beiläufige Erwähnung im Umfeld der Granden des Königreiches, Louise als Hofdame Katharina Medicis und Antoine im Zuge der Ereignisse, die schließlich zu den Hugenottenkriegen führen mußten. Aus diesen gelegentlichen und schwer auffindbaren Hinweisen, die über eine umfangreiche Spezialliteratur verstreut sind, läßt sich immerhin soviel entnehmen, daß es möglich ist, die Personen und ihre Lebensgeschichte in den Umrissen nachzuzeichnen. Dieser mühsame Versuch wird hier unternommen, wohl wissend, daß Porträt und Geschichte der Bauherrschaft fragmentarisch bleiben. Er mußte dennoch gewagt werden, da ohne ein Bild dieser beiden Persönlichkeiten, und sei es noch so skizzenhaft, vollends rätselhaft bliebe, wie ein so einzigartiges Bauwerk wie das Château de Maulnes entstehen konnte.

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3.1 Die Bauherrschaft Antoine de Crussol und Louise de Clermont Ungewiß wie die Identität des Architekten bleiben muß, verrät die Architektur des Château de Maulnes dennoch die Hand eines Baumeisters, der mit den großen Bauten des Jahrhunderts wohlvertraut war, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Italien. Die Gesamtanlage ist eine virtuose Variante über einen klassischen Typus der französischen Schloßbaukunst, über das »Château sur plate-forme«. Der Kompaktbau auf bastionierter Plattform wird hier zu einer freien Komposition aus isoliertem Corps de Logis und davon abgelösten, stark in die Länge gezogenen Flügelbauten weiterentwickelt. Hier zeigt sich ein souveräner Umgang mit der französischen Typologie, aber auch eine Vertrautheit mit dem italienischen Palazzo in Fortezza, der in Maulnes kennerschaftlich verfremdet wird. Auf Italien verweisen auch einige typologische Besonderheiten des Schlosses, wie das Nymphäum, das Grottengeschoß, der Versunkene Garten oder die große Exedra der Basse Cour. Hier tun sich Beziehungen zu den großen Bauherrschaften des italienischen Manierismus auf, zu den Farnese, Gonzaga und della Rovere, nicht zuletzt auch zum päpstlichen Hof und den Villae Suburbanae bei Rom. Andere Aspekte des Château de Maulnes lassen darauf schließen, daß der Baumeister zugleich ein belesener Architekturtheoretiker gewesen sein muß. Die komplexe Geometrie der Gesamtfigur der Schloßanlage, insbesondere das kristalline Volumen des Corps de Logis, das aus dem Fünfeck entwickelt ist, zeigt ihn als einen profunden Kenner der Traktatliteratur der Epoche. Insofern kann man unumwunden sagen, daß hier ein wirklicher Meister der Profession am Werk war, ein wahrhaft bedeutender Architekt, dem mit dem Château de Maulnes einer der ganz großen Würfe des Jahrhunderts gelungen ist. Dennoch wird man ihm nicht allein allen Verdienst um diese Leistung zuerkennen können, denn das Schloß ist in vielem zu persönlich, zu sehr von offensichtlich biographischen Motiven geprägt und zudem mit geradezu bekenntnishaft anmutenden Botschaften aufgeladen, die kein Architekt allein von sich aus für einen Dritten dem Werk unterlegen würde. Hier muß der Bauherr Pate gestanden haben, nicht unbedingt bei der architektonischen Durchführung, wohl aber bei der vorab erfolgten gedanklichen Entwicklung und sprachlich klaren Benennung des Auftrags. Schon die besondere Wendung, die das Projekt mit der Fassung einer natürlichen Quelle im Mittelpunkt des Fünfecks nimmt, ist sicher nicht eine Erfindung des Architekten allein, sondern hier wird man eine Vorgabe der Bauherrschaft vermuten müssen. Und die einzigartige Inszenierung der Naturelemente Wasser, Licht und Luft im innersten Raum des Schlosses, die schrittweise Hinführung zu den Elementarformen der Natur und ihre im Grunde naturreligiöse Überhöhung in einer Architektur, die alle Qualitäten des Kultischen hat, kann nur das Ergebnis eines zuvor klar formulierten Auftrages sein. Der Bauherrschaft stand ohne Frage eine Vision vor Augen, eine klare Vorstellung davon, wie sie ihre Auffassung vom Göttlichen in der Natur in Bildern, Räumen und Formen umschreiben wollte, die dann allerdings ihre kongeniale architektonische Fassung und Verdeutlichung im Entwurf des Baumeisters gefunden hat. Wir müssen also beim Château de Maulnes von einer intensiven und

fruchtbaren Zusammenarbeit von Bauherrn und Architekten ausgehen, nur so konnte dieses so einzigartig programmatische Bauwerk entstehen. Der Bauherr, der die Handwerkerverträge am 7. 5. 1566 unterschrieben hat, war Antoine de Crussol. Nach allem, was wir über seine humanistische Bildung und Weltanschauung wissen, ist ihm auch ohne weiteres der Part des Spiritus Rector in der Zusammenarbeit mit dem Baumeister zuzutrauen. Seine Ehefrau Louise de Clermont, die zu den großen Damen am Hofe Katharina Medicis gehörte, wäre dazu aber ebenso fähig gewesen. Über ihre umfassende Bildung und auch über ihre weltanschaulichen Positionen sind wir weitaus besser informiert, als über die ihres Gatten. Kein Geringerer als Brantôme hat sie als den alles überstrahlenden intellektuellen Stern des Hofes geschildert. Man wird trotz der alleinigen Unterschrift Antoines unter die Bauakten deshalb auch nicht ihm allein die Bauherrschaft zusprechen können, selbst wenn er sie formal ausgeübt hat, wie die Dokumente belegen, sondern man muß davon ausgehen, daß beide gemeinsam die großen Linien des Projektes entwickelt haben. Das Château de de Maulnes kann nur aus einem über Jahre hinweg geführten Architekturgespräch dieses wahrhaft ungewöhnlichen Paares hervorgegangen sein, das zumindest zeitweilig aktiv in verschiedenen religiösen und politischen Lagern engagiert war und dennoch ein so konsensorientiertes Gemeinschaftswerk hervorbringen konnte. In gewisser Weise ist das Bauwerk ihr persönlicher Ausweg aus der Unversöhnlichkeit dieser Lager, eine Art »humanistischer Sicherheitsplatz« im Parteienstreit der Religionskriege. In dieser von fanatischen Glaubenskämpfen geprägten Zeit ist das Château de Maulnes, eine programmatische Stellungnahme der Bauherrn zu den Auseinandersetzungen der Epoche, ein Manifest humanistischer Freisinnigkeit, die ganz subjektive Antwort von zwei herausragenden Persönlichkeiten auf die großen Fragen und Konflikte ihres Zeitalters. Vor der Architektur ist deshalb in diesem Fall unbedingt die Lebensgeschichte des Bauherrenpaares zu betrachten. In der gemeinsamen Vita und in den unterschiedlichen Rollen, die diese beiden Figuren in den Auseinandersetzungen der Parteien, insbesondere in den dramatischen Regierungsjahren Karls IX. (1560– 1574) und der Regentschaft Katharina Medicis gespielt haben liegt einer der Schlüssel zum letztgültigen Verständnis der Programmarchitektur des Château de Maulnes. Antoine de Crussol stammt aus einem alten Adelsgeschlecht, das seit dem 12. Jahrhundert im Vivarais in der Provinz Languedoc aktenkundig ist. Der Stammsitz des Hauses, heute eine Ruine, liegt auf einem steil aufragenden Felsen über dem rechten Rhôneufer, auf der »Montagne de Crussol« gegenüber von Valence. Er wurde schon im 17. Jahrhundert aufgegeben, da die Crussol durch hohe Ämter im Staate, die Mobilität erforderten und durch vorteilhafte, den ganzen Südosten Frankreichs umspannende Eheverbindungen sich in anderen Teilen des Königreiches niederließen, wo sie meist bequemere Aufenthaltsorte vorfanden, als in der mittelalterlichen Burg der Ahnen. Die »petits sires de Crussol« verdanken ihren Aufstieg vor allem der Verwaltungsreform Ludwigs XI. (1461–1483), der die Spitzenpositionen des Königreiches nicht mehr ausschließlich aus

89 Ansicht des Mittelrisalits mit dem Bauherrnpaar auf dem Erscheinungsbalkon. Die Brüstung des Balkons ist analog zu den Fensterbrüstungen rekonstruiert. Unterhalb blickt man über die herabgelassene Wippbrücke und durch die dämmerige Torhalle in die von oben erleuchtete Wendeltreppe, auf der das Empfangszeremoniell fortgeführt wurde, bis es im Appartement de Parade zum Abschluß kam. 90 Das Wappen der Crussol d’Uzès, quadriert mit Mittelschild, darin drei Schrägrechtsbalken gold auf rotem Grund. Das erste und vierte Stück ist gespalten, sechs Balken gold auf rotem Grund, daneben drei Sparren schwarz auf goldenem Grund. Das zweite und dritte Stück ist quadriert, drei goldene Sterne auf blauem Grund, daneben Schrägrechtsbalken gold auf rotem Grund. Das Wappen wird von zwei Löwen gehalten und von einem Helm mit Jagdhund als Helmschmuck bekrönt. Die Devise lautet: »Ferro non auro«. 57


dem Hochadel und nur auf dem Wege der Erbfolge besetzte, sondern die Funktionsträger aus allen Teilen der »Noblesse d’épée« rekrutierte. Nach Leistung und Verdienst konnten so auch Angehörige des niederen Adels in hohe Positionen aufsteigen. Selbst Bürgerlichen stand diese Möglichkeit mit der von ihm eingerichteten »Noblesse de cloche« oder der »Noblesse de robe« offen, die besonders für solche Laufbahnen in Verwaltung und Rechtspflege, die ein Universitätsstudium voraussetzten, eine Art Verdienstadel vorsahen.60 Die Familie Crussol war eine der ersten, die schon im 15. Jahrhundert diese neuen Chancen des Aufstiegs nutzte. Noch während der Regierungszeit Ludwigs XI. brachte es einer der Ahnherren Antoine de Crussols zum »Chambellan du Roi«, zum Vorstand der königlichen Hofverwaltung. Sein Urgroßvater heiratete 1486 die Erbin der Vicomté d’Uzès und damit gelangte das Territorium, das wegen der Verdienste Antoines später zum Herzogtum erhoben werden sollte, in den Besitz der Crussol. Sein Großvater war wegen seiner Taten in den Italienfeldzügen Karls VIII. mit der Sénéchaussée von Beaucaire und Nîmes begabt worden, mit der erblichen Gerichtsbarkeit und Verwaltungshoheit über die südwestliche Provence. Sein Vater schließlich, Charles de Crussols, Vicomte d’Uzès, der wie nahezu alle französischen Adligen seiner Generation mit Franz I. in Italien Krieg geführt und die Katastrophe von Pavia (1525) miterlebt hatte, war schon in seiner bloßen Eigenschaft als Veteran und Gefährte der schwersten Stunden des Königs promotionswürdig. Er hatte das Amt eines »Grand pannetier de France« inne. Die Mutter Antoine de Crussols war Jeanne de Genouillac, genannt Jeanne Galotte d’Assier, die Tochter des Galiot de Genouillac (1465–1546), der als »Grand-maître de l’artillerie française« einer der wichtigsten Organisatoren der Italienkriege Franz I. war. Im zivilen Leben bekleidete er das Amt eines »Sénéchal du Quercy«, aber dies alles war nichts im Vergleich zu seinen logistischen Großtaten, die den Italienfeldzug überhaupt erst ermöglicht hatten. Seine überragende Leistung bestand darin, daß er die schweren Geschütze der französischen Feldartillerie, die bis dahin nur mit Rollen über kurze Distanzen bewegt werden konnten, auf massive hölzerne Lafetten mit großen Speichenrädern montieren ließ. So konnte diese äußerst effektive Waffengattung, die bis dahin quasi immobil gewesen war, weiträumig eingesetzt werden. Galiot ließ die schwere Feldartillerie auf kaum begehbaren Päs-

91 Galiot de Genouillac (1465–1546), der Großvater mütterlicherseits von Antoine de Crussol, der nach 1526 das Schloß von Assier erbauen ließ. 92 Die Reste des Schlosses von Assier (1526/35), Hoffassade. 58

sen über die Alpen ins Kriegsgebiet schaffen, und damit sicherte er für lange Zeit der französischen Macht die Imperative in diesem Konflikt. Schon zu Lebzeiten war er deshalb Legende. Dieser Galiot ließ nach seiner Rückkehr aus der Lombardei zwischen 1526 und 1535 an seinem Stammsitz Assier im Quercy eine große vierflügelige Schloßanlage errichteten, die zu den bedeutendsten Zeugnissen der Schloßbaukunst der französischen Renaissance zählt. Sie fiel 1544 auf dem Erbwege an Jeanne de Genouillac und im weiteren Erbgang an Crussol. Das Dekorationsprogramm der Hoffassaden dieses Schlosses ist ein Meisterwerk der humanistischen Emblemkunst, es verrät eine im Adel dieser Zeit seltene Vertrautheit mit den Themen und Bilderwelten der klassischen Mythologie, die der Bauherr so – in emblematischer Fassung – wohl auch nur in Italien hatte kennenlernen können. Auch die eigene Grablege, die Galiot wohl noch zu Lebzeiten um 1540 begonnen hat, belegt eindrucksvoll das hohe kulturelle Niveau dieser Seigneurie.61 Dieses humanistische Milieu war zudem offen für das freisinnige Gedankengut der Reformation. Galiot, dem die dogmatische Haarspaltereien der Theologen gleich welcher Provenienz wohl wenig Vergnügen bereitet haben, war gewiß kein Hugenotte, sondern eher ein gewohnheitsmäßiger Katholik. Aber seine Tochter, die Mutter Antoines, Jeanne de Genouillac war überzeugte Calvinistin und sie sollte es ihr Leben lang bleiben. In zweiter Ehe heiratete sie 1546 JohannPhilipp von Salm-Daun, den Pfalzgrafen bei Rhein, der eine der mächtigsten Stützen der Reformation in Deutschland war. Mit der Mutter hielt Antoine auch nach ihrem Weggang aus Frankreich Kontakt und die wiederholten Besuche in Deutschland, die für die 60er Jahre belegt sind, lassen vermuten, daß er dort nicht nur Familienbande pflegte, sondern sich auch mit den politischen Entwicklungen im Nachbarland nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555), der die dezentrale Struktur des deutschen Sprachraums endgültig befestigte, vertraut machte. Wir haben schon weit in der Lebensgeschichte vorgegriffen, da in den geschilderten biographischen Verflechtungen deutlich wird, daß Antoine von Jugend auf das Kind eines protestantisch vermittelten Humanismus war, und dies mit einem Teil seiner Persönlichkeit auch weiterhin blieb, als er unter dem Eindruck seiner persönlichen Erleb-


93 Die Grablege des Galiot de Genouillac in der Kirche von Assier (1540 beg.). Grundriß und Schnitt. Skizzenbuch 26. 8. 1988. 94 Über dem Sarkophag des Toten liegt der Gisant, die lebensgroße Totenfigur, im Epitaph dahinter sieht man ihn als Lebenden im Amt des Grandmaître de l’artillerie, wie er das Rohr einer Kanone umschmeichelt. Epitaph und Sarkophag sind aus der Achse der Kapelle gerückt, die Figur jedoch steht genau unter der Lichtquelle in Raummitte. 95 Die kunstvoll gewölbte Decke der Kapelle, die an ein Feldherrnzelt erinnert. 96 Relief vom Sockelfries, der rings um die gesamte Kirche geführt ist. Er zeigt nichts als feuerspeiende Kanonen, zusammenstürzende Mauern und Tore, sterbende Menschen und Tiere. Am Ort seiner Grabesruhe hat Galiot Szenen seines kriegerischen Lebens anbringen lassen, das vielen den Tod bringen mußte.

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nisse in den Glaubenskriegen längst jeder katechumenisch festgelegten Konfession abgeschworen hatte. Dessen ungeachtet gerierte er sich öffentlich und bei Hof als liberaler Anhänger der katholischen Partei. Antoine wurde am 21. 6. 1528 auf der Burg von Uzès geboren, am Tag der Sommersonnenwende und dem letzten im Sternzeichen des Zwillings. Er war der älteste von sechs Söhnen, seine Brüder hießen Jean, der schon 1562 starb, Jacques, der die Vizegrafschaft Assier erbte, Louis, der bei der Belagerung von Metz (1552) fiel, Charles, erst Abt von Feuillant, dann glühender Calvinist, der beim Sturm auf Orange 1562 sein Leben ließ, schließlich Galiot, dem als Seigneur de Beaudine der älteste Familienbesitz zufiel und der in der Bartholomäusnacht (1572) ermordet wurde. Wir wissen wenig über die Verbindung unter den Brüdern, gewiß ist nur, daß sie alle am Hof erzogen wurden und ihre Kindheit und frühe Jugend im Hôtel de Genouillac in Paris verbrachten. Für die humanistische Erziehung der Jungen war Raymond de Vieillecastel verantwortlich, ein Gelehrter, der zum Hof der Marguerite de Navarre gehörte. Für ihre ritterliche Ausbildung in Waffen- und Kriegshandwerk sorgten die adeligen Standesgenossen am königlichen Hof nach dem traditionellen System, das auf vertragsloser Gegenseitigkeit beruhte und naturgemäß liegen darüber keine Schriftzeugnisse vor. Die Söhne Crussol gehören in Frankreich zu den ersten Adligen ritterlichen Standes, die eine humanistische Bildung erhielten. Dies war bei der konservativen Noblesse d’épée nicht üblich und wurde vom ritterlichen Standpunkte her auch eher argwöhnisch gesehen, von der »Noblesse de robe« und »de cloche« dagegen wurde die mangelnde Bildung und das Haudegentum der Ritterschaft mit kritischen, oft sogar sarkastischen Kommentaren belegt. Montaigne, der selbst dem Verdienstadel angehörte – sein Vater war ein erfolgreicher Ökonom und Großhändler in Viktualien62 – beklagt sich nachdrücklich über den niedrigen Bildungsstand des Adels, insbesondere der adligen Funktionäre in Juristerei und Militär, die ihren gelehrten bürgerlichen Konkurrenten kaum noch Paroli bieten konnten.

97 Die Monas Hieroglyphica, ein Kryptogramm, das aus verschiedenen Planeten- und Sternzeichen zusammengezogen ist, eine Schlüsselfigur der christlichen Kabbala, der Louise de Clermont wie auch Katharina Medici angehangen haben sollen. Frontispiz der gleichnamigen Schrift von John Dee, Antwerpen 1564. 98 Katharina Medici im Witwenkleid, um 1560. 60

Die Söhne Crussol gehören also zu einer in dieser Zeit äußerst seltenen Spezies, die sowohl als »Ritter ohne Furcht und Tadel« mittelalterlichen Schlages im feudalen Aufbau des Staates ihre Rolle spielen konnte und die den Normen dieses Systems auch weiterhin verpflichtet blieb, im Grunde auch nicht anders lebte als ihre Väter, Großväter und Ahnen bis zurück in die Bewußtlosigkeit der Stammesgesellschaft, die gleichzeitig aber ein aus profunder humanistischer Bildung erwachsenes neues und auf die Zukunft verweisendes Weltbild vor Augen hatte. Diese neue adlige Klasse, die zwar immer noch dem ritterlichen Ehrenkodex und der Vasallentreue verpflichtet war, darüber hinaus aber ungeachtet ihrer traditionellen Formation eine fundierte humanistische Bildung besaß, trug die Brüche und Widersprüche des Jahrhunderts wahrhaftig in der eigenen Vita. Mit 16 Jahren erbte Antoine de Crussol von seinem Großvater mütterlicherseits, von Galiot de Genouillac, das Amt des Sénéchal du Quercy. Der Sénéchal – in Nord- und Mittelfrankreich »bailliff« genannt – vertrat den König in den Distrik-

ten der Städte und Provinzen zur Wahrnehmung aller administrativen und juristischen Funktionen; »sénechaussée« oder »bailli« entspricht in etwa der deutschen »Vogtei«. Im gesamten Königreich gab es um 1550 etwa 90 solcher Positionen, sie waren ausschließlich mit meist erblichen Vertretern der Noblesse d’épée besetzt, und die Einkünfte aus einem solchen Amt garantierten den Inhabern in aller Regel ein standesgemäßes Leben.63 Somit schien für Antoine ab 1544 die ruhige Laufbahn eines gehobenen Landadeligen vorgezeichnet, wie sie der »peuple gras« des Ancien Régime einzuschlagen pflegte, wenn er nicht von besonderen Ambitionen angetrieben wurde. Antoine wurde jedoch – wir wissen nicht, ob aus eigenem Antrieb oder einfach in Übereinstimmung mit der ritterlichen Familientradition – zwei Jahre nach seiner Amtsübernahme als Kadett einem großen Herrn übergeben, um sich bei dessen Unternehmungen im Kriegsdienst zu bewähren. Die Wahl der Familie fiel auf Leone Strozzi (1515– 1554), den Capitaine des Galères du Roi de France. Mit ihm ging er nach Schottland, wo er seine ersten Erfahrungen im Felde machte. Leone Strozzi war Florentiner und ein enger Verwandter Katharina Medicis64, der wie sein Bruder Roberto als Condottiere in den Diensten des französischen Königs stand. Beide galten als außergewöhnlich fähige Heerführer und darüber hinaus als weltgewandte und kultivierte Menschen, wie dies in ihrem Metier ja nicht unbedingt die Regel war. Von Frankreich aus unterhielten beide weiterhin enge Kontakte mit den Künstlern und Mäzenen ihrer Heimat, von Roberto wissen wir, daß er dem Connétable Montmorency um 1550 Michelangelos Sklaven für sein Schloß in Ecouen schickte.65 Im Stab Leone Strozzis nahm Antoine de Crussol 1548 an der Marineexpedition teil, die Heinrich II. nach Edinburgh in Marsch gesetzt hatte, um den von ihm betriebenen Heiratsplänen Maria Stuarts mit dem eben erst vierjährigen Dauphin Nachdruck zu verleihen.66 Zwei Jahre später sehen wir den jungen Crussol im Feldlager des Connétable Anne de Montmorency bei der Belagerung von Boulogne. Über die weiteren Etappen zu Beginn seiner militärischen Laufbahn ist wenig bekannt. Es heißt, daß er in den Diensten des Herzogs François de Guise stand und an dessen Feldzügen gegen Karl V. teilgenommen hat, also im August 1552 – dem »annus horribilis« des Kaisers – an der erfolgreichen Verteidigung der von Heinrich II. besetzten Reichsstadt Metz beteiligt war, ferner im August 1554 am Sieg über die kaiserlichen Truppen in der Schlacht von Renty.67 Es gibt keine Mitteilungen darüber, wie er sich im Militärdienst bewährt hat. Jedenfalls wurde er 1555 vom König zum Gentilhomme Ordinaire de la Chambre du Roi ernannt, kein besonders hohes Amt, aber durchaus eine Vertrauensposition, die Einblick in die täglichen Verwaltungsgeschäfte des Königreiches gewährte, außerdem gehörte er damit zum königlichen Hof. Diese Auszeichnung ist die erste in der Karriere Antoine de Crussols und sie könnte der Lohn für seine geleisteten Dienste in der Armee gewesen sein. Als der Höfling, der er nun war, muß er Louise de Clermont kennengelernt haben, die er am 10.04.1556 heiratete. In den Jahren zuvor war er zumeist im Feld und in den Lagern der königlichen Armeen, im ganzen Königreich und den Nachbarländern unterwegs, und wenn er sich von diesem ruhelosen Dasein erholte, dann wohl auf


den Gütern der Familie, in Uzès oder dem Château de Charmes im Vivarais. Seine Ernennung zum Gentilhomme de la Chambre du Roi setzte den Wanderjahren ein Ende, denn sie erforderte seine häufige Anwesenheit bei Hof.68 Louise de Clermont war Hofdame der Königin Katharina Medici, sie war ihre ständige Begleiterin und über die Jahre gar ihre enge Vertraute geworden. Auch sie war ständig am Hofe präsent, und so werden Louise und Antoine sich wohl sehr häufig begegnet sein, eben bei allen Anlässen, bei denen üblicherweise die komplette Entourage von König und Königin zugegen war. Über die Umstände und die Anfänge ihrer Verbindung wissen wir nichts. Louise wurde »um 1506« im Zeichen des Fisches geboren.69 Ihr Vater war Bernadin de Clermont (gestorben 1524), Vicomte de Tallard, Connétable héréditaire du Dauphiné und Grand échanson de France.70 Die Familie besetzte also in der Adelshierarchie etwa einen gleichen Rang wie die Crussol, aber über ihre Mutter, Jeanne de Husson (gestorben 1539), Comtesse de Tonnerre, stand sie von Geburt an dem Königshaus nahe. Mit dem Besitz der Grafschaft Tonnerre war in der Präzedenzliste der Titel des Premier Comte de France verbunden und insofern konnte Louise einen deutlich prominenteren Rang im Hochadel für sich geltend machen als Antoine.

handlungen (1538) zwischen dem Kaiser und Franz I., dem sie als viel jüngere Frau und ungleich niedriger Gestellte so geschickt Paroli bot, daß der Patriarch sich unwillig lächelnd in Schweigen hüllte. »Ich wundere mich nicht«, schreibt Brantôme, »daß sie Hugenottin wurde und sich über die Päpste lustig machte, denn sie fing ja schon früh damit an. Und dennoch hat ihr dies in all den Jahren niemand verübelt, denn sie blieb immer geistreich und dabei voller Anmut.«72 Auch andere literarische Größen der Zeit bezeugen ihren Charme, vor allem ihre Eloquenz, ihr Urteilsvermögen und ihre gesellschaftliche Brillanz, wie Clément Marot (1496–1544) oder ihr späterer Schwager Joachim Du Bellay (1522– 1560), dennoch wird sie als scharfzüngige Frau für ihre maskuline Umgebung nicht immer einfach zu ertragen gewesen sein. Katharina Medici aller-

Die Nähe zum Hof, schon in früher Kindheit, zeigte sich zunächst in ihrer privilegierten Erziehung. Sie wuchs zusammen mit den Töchtern Ludwigs XII., Claude und Renée, auf und damit wurde ihr die gleiche, umfassende Bildung zuteil, wie den Königstöchtern. Die Bildungsinhalte sind in den Hauptzügen bekannt: Latein und Griechisch, womit zugleich eine fundierte Unterweisung in den philosophischen Traditionen der Antike einherging, ferner Mathematik und einige Naturwissenschaften wie Physik, Chemie und Astronomie, die natürlich auch solche Wissensfelder mit einschlossen, die man bei genauerer Unterscheidung der Alchimie und der Astrologie zurechnen müsste. Über die Einzelheiten ihrer geistigen Formation, insbesondere ihrer philosophischen Bildung ist wenig bekannt. Aber die Kontakte, die Louise zeitlebens vor allem zu den herausragenden Frauengestalten im geistigen Leben ihrer Zeit hielt, geben Auskunft darüber, welchen Lagern sie sich zugehörig fühlte. Sie verkehrte mit Marguerite d’Angoulême, der Schwester Franz I., die als Neuplatonikerin galt, aber auch mit bekennenden Calvinistinnen, wie Jacqueline de Longwy, der Herzogin von Montpensier, oder Eléonore de Roye, Prinzessin von Condé, der Frau von Louis de Bourbon. Mit Recht hat man gesagt: »Diese Generation schöpfte aus ganz verschiedenen Quellen, aus dem Hermetismus der Florentiner Neuplatoniker ebenso wie aus dem Evangelium, das man bis zu seinen Grundlagen zurückverfolgte. Und in diesem Meinungsstreit der Frauen hat Louise ostentativ im Lager der Platonikerin Marguerite Stellung bezogen.«71 Louise eilte zeitlebens der Ruf einer außerordentlich gebildeten, ja gelehrten Frau voraus. Hinzu kam eine natürliche Begabung der Beredsamkeit, manchmal auch der Schlagfertigkeit, die allerdings nie verletzend wurde. Brantôme berichtet in den »Dames« eine Episode aus ihrer Begegnung mit dem Papst Paul III. Farnese (1468–1549) in Nizza am Rande der Friedensver61


dings scheint gerade dies an ihr geschätzt zu haben. In ihren Briefen redet sie sie regelmäßig mit »ma Commère« an, als ihr »Klatschweib«.73 Die Königinmutter schätzte an Louise nicht nur ihren Scharfsinn und ihre Beredsamkeit, sondern auch die geistigen Grenzüberschreitungen über die gesicherten Felder des Wissens hinaus in die Räume des Ahnens und Glaubens der esoterischen Praktiken. Louise sagte man übernatürliche Fähigkeiten nach und in den okkulten Künsten der Mantik und der Astrologie, denen auch Katharina unverhohlen anhing,74 trafen sich die Neigungen der beiden Frauen. Louise übte sich zudem in der Weissagekunst, offensichtlich mit staunenswertem Erfolg, wie man einen Brief Theodore de Bèze’s an Calvin entnehmen kann,75 und Katharinas Tochter, Marguerite de Valois, die spätere »Reine Margot«, spricht von ihr in all ihren Briefen als »ma sibille«,76 als sei sie eine der weissagenden Frauen des Altertums. Man unterstellte ihr auch die praktische Ausübung okkulter Techniken, denen Katharina Medici geradezu verfallen gewesen sein soll.77 Neben der rein analytischen Astrologie, die zu ihrer Zeit ohnehin noch nicht von der wissenschaftlichen Sternkunde getrennt wurde, ist auch von Techniken der Einflußnahme, von Magie und Alchimie die Rede. Darin mag ein richtiger Kern stecken, zumindest hat sie wohl praktisch mit mineralischen und pflanzlichen Substanzen im Labor experimentiert und daraus Heilsalben und –lösungen hergestellt. So jedenfalls kann man einen Brief von Marguerite de Valois auffassen, in dem Louise um das Rezept eines ihrer Heiltrunke gebeten wird.78 Schließlich heißt es sie habe »eine orientalische Sprache« gesprochen und sei in den Lehren der Kabbala bewandert gewesen, die ja in eben dieser Zeit in der Provence einen ungekannten Aufschwung erfuhren.79 Diese Nachrichten, sofern sie denn zutreffen, sollte man nicht überbewerten. Zum einen sind schon für das 15. Jahrhundert die Wechselwirkungen zwischen dem italienischen Neoplatonismus und der jüdischen Kabbala allbekannt und die einschlägigen Schriften etwa Pico della Mirandolas waren zumindest einer Person, die wie Louise in den italienischen Kreisen des französischen Hofes beheimatet war, unmittelbar zugänglich, ohne daß man daraus irgendeine Geheimbündelei konstruieren könnte. Und auch die dominanten architektonischen Figuren des Château de Maulnes – das Fünfeck, die Kristallstruktur, das Licht im Brunnen – muß man nicht unbedingt aus einer derart unterstellten sektiererischen Verbindung zu Alchemie oder Kabbala herleiten. Diese Bilder und Zeichen gebrauchten ja nicht nur Esoteriker, sondern sie gehören zum allgemein zugänglichen Bildvorrat, der den Grundstock der Kunst und Architektur überhaupt bildet. Ein Abtauchen in ein wie auch immer geartetes okkultes Milieu muß man deshalb hier keineswegs unterstellen.80 Gleichwohl sind die entsprechenden Konnotationen der einzelnen Elemente des Schlosses wie auch der Gesamtfigur des Grundrisses, die man im Sinne der Monas Hieroglyphica als Kontraktion der Planetensymbole und Tierkreiszeichen lesen kann, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen.81 Die okkulten Neigungen, die Louise nachgesagt werden und denen sie möglicherweise auch tatsächlich nachging sollte man vor allem als Zeugnisse eines offenen, bewegten und neugierigen Geistes sehen, der die klassischen Bildungsgrenzen nur zu gern überschritt. Fest steht jedenfalls, daß Loui62

se einen sehr persönlich gewendeten Humanismus kultivierte, den sie – wie viele andere originelle Köpfe ihrer Zeit auch – über die engen Grenzen der Schulen und Lehrmeinungen hinaus erweiterte. Und sie konnte sich dabei einer illustren Gesellschaft sicher sein: Schon die Heterdoxie der Alten hatte mit Orphik, Zahlensymbolik und hellenistischer Wortzahlenmystik Türen geöffnet, die seither weit offen standen und gerade auf die lebendigen und unkonventionellen Geister der Renaissance eine beinahe magische Anziehungskraft ausübten.82 Es muß außer Frage stehen, daß – ungeachtet aller okkulten Neigungen, die sie möglicherweise umtrieben – Louise vor allem ein ungewöhnlich luzider Kopf war, beherrscht von einer überragenden Rationalität, die in allen Formen des Mystizismus nur das Überwundene sehen konnte, das die Klarheit des Denkens hinter sich zurücklassen mußte, wenngleich als etwas Vermißtes.83 Kein geringerer als Ronsard hat in einem auf das Jahr 1565 datierten Gedicht, diesen hervorragenden Zug ihrer Persönlichkeit geschildert.84 In den vierzehn Zeilen, die in der strengen Form des Sonetts jedes überflüssige Wort vermeiden müssen, eben deshalb aber wohl das Wesentliche treffen, heißt es: Comme une Nymphe est l’honneur d’une prée Un Diamant est l’honneur d’un anneau, Un ieune Pin d’un bocage nouveau, Et d’un iardin une rose pourprée: Ainsi de tous vous estes estimée De ceste Cour l’ornement le plus beau: Vous luy seruez d’esprit et de tableau, Comme il vous plaist, la rendant animée. Sans vous la Cour fascheuse deuiendroit: Son bien son heur sa grace luy faudroit, Prenant de vous et vie et nourriture. Vous luy seruez d’un miracle nouveau, Comme ayant seule en la bouche un Mercure, Amour aux yeux, et Pallas au cerueau. Die drei Gottheiten der letzten beiden Zeilen, mit denen diese Laudatio ihren Höhepunkt erreicht, umschreiben in allegorischer Zuspitzung die hervorragendsten Qualitäten ihrer Person. Es sind Hermes/Merkur, der Ideengeber, der Ausleger und Erklärer und deshalb der Gott der Redner, der aus ihrem Munde spricht. Eros/Amor, der die Liebe entfacht, wohnt in ihrem Blick und Pallas Athene/Minerva, der Inbegriff der Rationalität und der staatsmännischen Klugheit beherrscht ihr Denken und Handeln. Merkur und Pallas sind Gottheiten des Verstandes, Amor des Herzens, und in diesem Verhältnis, so will es Ronsard wohl andeuten, war ihre Persönlichkeit von ratio und caritas geprägt.85 Aus den verfügbaren Quellen läßt sich kein genaueres Bild vom Charakter und Weltanschauung Louise de Clermonts zeichnen.86 Die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens jedoch lassen sich recht detailliert aufzeigen. Nach der gemeinsamen Erziehung mit den Königstöchtern am Hof Ludwigs XII. und Franz I. wurde sie 1527 mit 21 Jahren Demoiselle d’honneur von Louise de Savoie, der Mutter des Königs, mit der sie mütterlichseits verwandt war. Als die im September 1531 starb, blieb sie weiterhin am Hof, wo schon bald eine neue Aufgabe auf sie zukam. Am 24. 4. 1531 war der Heiratsvertrag zwischen der französischen Krone und dem Papst unter-


zeichnet worden, der Katharina Medici, eben zwölf Jahre alt, als Ehefrau für Franz’ I. jüngeren Sohn Heinrich vorsah. Wohl schon bald nach dem Tod der Königsmutter faßte man Louise als Hofdame der italienischen Prinzessin ins Auge und seit ihrer Ankunft in Frankreich am 12. 10. 1533 scheint sie diese Aufgabe wahrgenommen zu haben.87 Die Eheschließung zwischen Heinrich und Katharina fand in Gegenwart von Franz I. am 28. 10. 1533 in Marseille statt. Die Trauung vollzog der Papst Clemens VII., der Onkel Katharinas. Louise war 13 Jahr älter als Katharina und es liegt auf der Hand, daß sie schon bald einen nachhaltigen Einfluß auf das heranwachsende Mädchen ausübte. Tatsächlich wurde aus der ungleichen Beziehung eine wirkliche Freundschaft, die sich beide Frauen bis in ihr hohes Alter – Katharina starb 1589 mit 70, Louise 1596 mit 90 Jahren – bewahren sollten. 1536 ereilte den Dauphin François ein früher Tod und unerwartet wurde sein jüngerer Bruder Heinrich der Thronfolger, der 1547 als Heinrich II. zum König von Frankreich gekrönt wurde. Katharina, die nie für diese Rolle vorgesehen war, wurde Königin. Nach einer langen Zeit der Unfruchtbarkeit brachte sie 1544 ihr erstes Kind zur Welt. Es folgten neun weitere in zwölf Jahren, von denen sechs überlebten, davon vier Jungen, so daß die Zukunft der Dynastie gesichert schien. Als 1550 Karl geboren wurde, der spätere König Karl IX., bestimmte man Louise zu seiner Gouvernante. Zum Gouverneur des Dauphins, des späteren Franz’ II. wurde im gleichen Jahr Claude d’Urfé bestellt, der Erbauer der Bâtie d’Urfé, eines der bedeutendsten humanistisch geprägten Landsitze Frankreichs.88 Louise war für den jungen König Mutter und Lehrerin zugleich, sie hat ihn so sehr geprägt, daß er noch als Erwachsener bei ihr Rat suchte. Halb scherzhaft, aber letztlich doch ernst gemeint, nennt er sie noch in einem Brief aus dem Jahre 1561 »ma vieille lanterne«.89 Beim Tode ihrer Mutter Jeanne de Husson (1538)90 wurde das Erbe der Familien Clermont und Husson zwischen den Geschwistern aufgeteilt. Louises älterer Bruder Antoine bekam die Ländereien der Clermonts, in deren Mitte er einige Jahre später – 1546 – von Sebastino Serlio das Schloß Ancy-le-Franc errichten ließ. Sie selbst erhielt als Teil des Husson-Erbes die Grafschaft Tonnerre mit dem Grafentitel, die Baronie Cruzyle-Châtel und einige kleinere Liegenschaften mit einem Jahreseinkommen von 30.000 Livres. Damit war sie in der Lage zu heiraten, mit 32 Jahren zwar spät, aber aufgrund ihres Erbteiles durchaus standesgemäß. Noch im gleichen Jahr ehelichte sie François Du Bellay, der aus einer ruhmreichen Familie stammte, selbst aber wohl eine eher farblose Gestalt war.91

kommen ermöglichte. Zu den Künstlern, die er bei sich aufnahm, gehörte auch Philibert De l’Orme, dessen Studien der römischen Altertümer er nachhaltig förderte.92 Schließlich entstammt der gleichen Familie der Dichter Joachim Du Bellay (1522–1560), der neben Pierre de Ronsard einer der Begründer der französischen Renaissanceliteratur und Mitglied der »La Pléiade« genannten Schule von sieben herausragenden französischen Dichtern des 16. Jahrhunderts war.93

99 Die Zukunft, die von der Weisheit im Harnisch gehalten wird: Der junge Alessandro Farnese, umarmt von der reifen Minerva, Herrscherbild von Girolamo Mazzuola Bedoli, um 1550.

Louise hatte also in eine der großen Künstlerund Mäzenatenfamilien der Renaissance eingeheiratet und man darf vermuten, daß dies der eigentliche Grund dafür war, daß ihre Wahl auf François Du Bellay fiel, von dem wir sonst nichts weiter wissen.94 Wir hören nur noch einmal 1549 von ihm, als er sich mit seinem Schwager Antoine de Clermont um die Rechte an der Châtellainie de Cruzy stritt. Der Konflikt wurde am 15. 09. 1550 durch einen Verzicht Antoines zugunsten seiner

Die Familie Du Bellay hat bedeutende Persönlichkeiten der französischen Renaissance hervorgebracht. Guillaume Du Bellay (1491–1543) war ein genialer Diplomat in den Diensten Franz I., sein jüngerer Bruder Jean (1492–1562), ein Mann der Kirche, der bis zum Rang eines Kardinals aufstieg. Der unterhielt in seiner römischen Residenz ein gallisches Cenàcolo, das von den bedeutendsten Köpfen der französischen Kunst und Literatur aufgesucht wurde. In dieser frankophonen Enklave im Zentrum der Kunst der römischen Renaissance verkehrten François Rabelais, dem der Kardinal trotz seiner antiklerikalen Haltung Unterkunft gewährte und dem er schließlich durch die Anstellung als Sekretär sogar ein Aus63


Schwester beigelegt, mit der Pointe, daß Louise erst dadurch definitiv in den Besitz der Wälder gelangte, in denen sie später gemeinsam mit Antoine de Crussol das Château de Maulnes errichten sollte. Louise wurde 1553 Witwe, im Jahr darauf starb ihr einziger Sohn im Alter von 14 Jahren. Damit hatte das Schicksal unversehens die Figuren ihres Lebens ganz neu aufgestellt. Drei Jahre später heiratete sie Antoine de Crussol. Es gibt keinerlei Schriftquellen, die uns über die Hintergründe und die Umstände dieser Verbindung aufklären, es gibt nur Fragen, die sich angesichts dieser disparaten Beziehung stellen. Sie ist, von außen betrachtet, ein einziges Rätsel.95 Die erste, und für die Zeit absolut zentrale Frage, ergibt sich aus dem sehr großen Altersunterschied der beiden. Louise war bei der Eheschließung im April 1556 nicht nur 22 Jahre älter als Antoine, sie war mit 50 Jahren auch zu alt, um noch Kinder zu gebären. In einer Gesellschaft, in der Ehen vor allem geschlossen wurden, um den dynastischen Bestand zu erhalten, ist dies höchst befremdlich. Dies umso mehr, als Antoine der Erstgeborene in einer Reihe von sechs Brüdern war und ihm damit als erstem die Pflicht oblag, für den Fortbestand des Geschlechts zu sorgen. Wenn man den Nutzen betrachtet, den jeder der beiden Partner aus der Ehe ziehen konnte, so liegen die Vorteile für Antoine auf der Hand. Die Verbindung mit Louise de Clermont brachte ihm die Anhebung vom Vicomte zum Comte. Mehr noch, mit der Grafschaft Tonnerre war in der Rangliste der Etikette bei Hof der Titel des Ersten Grafen von Frankreich verbunden. Antoine stieg also auf der Leiter der Adelshierarchie nicht nur eine Stufe weiter empor, sondern ihm fiel damit zugleich die Führungsrolle im gesamten Grafenstand zu. Da Louise keine Erben hatte, ging diese Rolle von Antoine auf seine Brüder über und blieb damit für alle Zukunft bei den Stammhaltern der Familie Crussol. Da scheint es geradezu von langer Hand geplant, daß mit der zwölf Jahre später geschlossenen Ehe zwischen Antoines jüngerem Bruder Jacques und ihrer um 15 Jahre jüngeren Nichte Françoise de Clermont so etwas wie eine dynastische Aufgabenteilung vollzogen wurde: Antoine hatte mit seiner Ehe die Anhebung der Familie Crussol bewirkt, während sein Bruder Jacques die Erbin von Ancy-le-Franc und des Clermontbesitzes ehelichte. Damit hatte er nicht nur den materiellen Besitzstand erweitert, sondern es stand auch zu erwarten, daß aus dieser jugendlichen Verbindung mit reichem Nachwuchssegen die dynastische Zukunft gesichert sein würde.96 Schließlich war Louise mit dem reichen Einkommen von 30.000 Livres Jahresrente auch finanziell eine gute Partie, und noch schwerer mochte wiegen, daß ihre persönliche Vertrautheit mit der Königin Mutter wie auch ihr allbekannter Einfluß bei Hof die eine oder andere Promotion in den Reihen der Crussol bewirken konnte. Damit scheint die Antwort nach den Hintergründen der Verbindung von Antoine de Crussol und Louise de Clermont gegeben. Ihre Heirat, so scheint es, war eine reine Zweckehe, die darauf abzielte Antoine eine glänzende Karriere zu eröffnen, die für die Familie eine bedeutende Rangerhöhung und auch erhebliche wirtschaftliche Zuwächse mit sich brachte und die schließlich für den Clan der Crussols insgesamt den Zugang zum Hof und sei64


nen Ämtern erschließen sollte. Nur, dies ist die Perspektive Crussols, für Louise de Clermont dagegen hätte es nicht den geringsten Anlass gegeben, in diese Verbindung einzuwilligen. Sie war in jeder Beziehung unabhängig, sie war als lustige Witwe auch keineswegs zur Sittenstrenge verpflichtet und ihr sprichwörtlicher Charme ließ sie noch in ihren reiferen Jahren attraktiv genug erscheinen. Und natürlich mag man angesichts ihrer 50 Jahre auch nicht recht glauben, daß sie dem sehr viel Jüngeren so blind verfallen war, daß sie bedingungslos auf seine durchsichtigen Heiratsforderungen eingegangen wäre. Ihre Motivation für diese Verbindung ist wohl in ganz anderen Zusammenhängen zu suchen. Auch für Antoine wird die Verbindung mit Louise, die auf den ersten Blick so durch und durch kalkuliert zu sein scheint, keine reine Zweckehe gewesen sein. Dagegen spricht vor allem der zeitliche Ablauf der Geschehnisse. Antoine kann Louise erst als Höfling begegnet sein, also nach seiner Ernennung zum Conseiller du Roi 1555 und damit gerade einmal ein Jahr vor der Eheschließung. Damit ist eine Zweckehe eigentlich auszuschließen, denn gerade solche Verbindungen wurden ja von langer Hand vorbereitet und bis in die Einzelheiten zwischen den beteiligten Familien ausgehandelt. Dafür waren Jahre erforderlich, denn ein Ehevertrag begründete zu dieser Zeit eine Allianz, die feierlicher beschworen wurde und eben auch unauflösbarer war, als jede andere Vertragsform.97 Wenn zwischen der ersten Begegnung des Paares und ihrer Eheschließung nur ein einziges Jahr lag, dann ist diese Verbindung nach den Maßstäben der Epoche quasi als spontan anzusehen. Dies bedeutet, daß bei der Ehe zwischen Antoine und Louise ganz andere Faktoren eine entscheidende Rolle gespielt haben müssen, daß es sich nur um eine starke emotionale Bindung gleich welcher Art gehandelt haben kann, und daß der Nutzen, den beide daraus zogen, nicht materieller oder gesellschaftlicher Natur war, sondern daß sie beide rein menschlich als Person und Individuum davon profitierten.

100, 101 Doppelportrait von Antoine de Crussol und Louise de Clermont, von François Clouet, zwischen 1568 und 1572.

Worauf auch immer diese spontane Zuneigung beruht haben mag, fest steht, daß es zuerst die sprichwörtlichen Gegensätze waren, die sich hier anzogen. Schon ihre Physiognomien, die wir aus einigen wenigen Porträts kennen, vermitteln den Eindruck geradezu gegensätzlicher Charaktere. Vor allem ein Doppelporträt von Antoine und Louise, das heute in Chantilly aufbewahrt wird98, zeigt die beiden als ganz unterschiedliche Naturen. Antoine war eine stattliche Erscheinung, von kräftiger, untersetzter Statur mit rotblondem Haar und rotem Bart, Louise dagegen ausgesprochen zierlich, ein dunkler Typ mit braunen Augen und dunkelblonden Haaren. Ganz auffällig sind die prononcierten Unterschiede des Gesichtsausdruckes. Louise sieht man mit ihrem offenen Gesicht, verschmitzt, sogar verschlagen dreinblickend, dabei aber hintersinnig lächelnd. Man ahnt, diese Frau hat Witz und sie macht einen gewandten, höchst lebendigen Eindruck. Antoine dagegen wirkt unnahbar, seine Gesichtszüge sind fest und verschlossen, die blauen Augen blicken ruhig, die Lippen sind schmal. Dieser Mann scheint sehr ernst und introvertiert, ganz das Gegenteil von seiner sibyllisch dreinschauenden Frau. Es heißt, die beiden hätten die so offensichtlichen Charaktergegensätze, die schon in ihren Gesichtszügen klar hervortreten, in ihren Kleidungsgewohnheiten noch akzentuiert. Antoine trug immer schwarz und grau, gelegentlich mit ein 65


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paar blauen Tupfern. So ist es wohl richtig, ihm ein »protestantisches Temperament« zuzusprechen.99 Das Doppelporträt, das mit so großer Meisterschaft gezeichnet ist, daß man es mit guten Gründen François Clouet zugesprochen hat, gibt einige Rätsel auf, insbesondere hinsichtlich seiner Entstehungszeit und der Darstellungsabsichten.100 Dabei scheint es zunächst leicht datierbar zu sein, da Antoine in der Tracht und mit dem Band des Ordre du Roi dargestellt ist, in den er 1568 aufgenommen wurde. Der Orden selbst verschwindet zwar gerade am unteren Bildrand, und man sieht nur noch das angeschnittene Gehänge, aber das blaue Band mit den Knoten und Schleifen, an dem er getragen wurde, ist eindeutig zu erkennen. Demnach ist das Bild zwischen 1568 und 1573, dem Todesjahr Antoines, zu datieren.101 Es zeigt ihn somit im Alter von etwa 40 Jahren und dem entspricht auch die Physiognomie, die Falten um Mund und Augen und das schon spärliche Haar. Louise dagegen ist als junge Frau dargestellt, etwa in den Zwanzigern oder eben dreißig Jahre alt, während sie um 1568, als das Bild entstand, bereits 62 Jahre zählte. Es kann aber nicht den geringsten Zweifel geben, daß die beiden Blätter eben nicht im zeitlichen Abstand von etwa drei Jahrzehnten entstanden sind, sondern daß sie gleichzeitig, vom gleichen Meister und als aufeinander bezogenes Doppelporträt gezeichnet worden sind. Beide Blätter sind exakt gleich groß – h 345 cm x b 24 cm – und sie sind aus dem gleichen gerippten Papier gelblicher Tönung mit ein und derselben Stegweite des Schöpfsiebes von 29 mm geschnitten. Die Zeichentechnik beider Porträts ist identisch. Es sind Bleistiftzeichnungen, bei denen die Köpfe mit Rötel hinterlegt sind, bei Louise auch der Haarputz und die Bordüre des Mieders. Bei Antoine sind zudem die Pupillen blaugrau angelegt. Strichführung, Schraffur und einzelne gewischte Partien verraten die Hand ein und desselben Meisters. Schließlich sind die beiden Halbfiguren als Doppelporträt aufeinander bezogen. Louise blickt nach rechts, Antoine nach links und die Augenhöhe ist bei beiden gleich. Die Blätter sind einheitlich in einer Handschrift als »Madame« bzw. »Monsieur duzets« beschriftet, wenngleich in anderer Technik – Feder mit Tinte – und wohl erst einige Zeit nach Vollendung der Zeichnungen. Allerdings ist Louise etwas kleiner dargestellt, ihre Kopfhöhe mißt von Kinn bis Scheitel nur 8,8 cm, gegenüber 14,3 cm bei Antoine und dies ist nicht einfach als Geschlechts- oder Typenspezifikum zu lesen, dafür ist der Unterschied viel zu groß, wohl auch nicht als »Bedeutungsmaßstab«, wie er bei diesem Paar ganz unangemessen wäre, sondern man muß darin einen Maßstabssprung erkennen, wie er dem Maler unterläuft, wenn er unterschiedliche Vorlagen verwendet. Dies bedeutet, daß beide Porträts zwar von einer Hand und zum gleichen Zeitpunkt entstanden sind, daß Antoine jedoch nach der Natur, Louise dagegen nach einem schon vorliegenden Jugendbildnis gezeichnet wurde.102 So ist auch zu erkären, daß Antoine in seinem tatsächlichen Lebensalter, Louise dagegen als junge Frau dargestellt ist, obwohl die Beischrift sie als Herzogin von Uzès mit einem Titel bezeichnet, den sie erst nach 1565 führen durfte. Auf den ersten Blick mag dies befremden, aber es hat Methode: Beide werden in dem Lebensalter abkonterfeit, in dem sie den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht haben, Louise mit ihrem Eintritt bei Hofe als Demoiselle d’honneur Katharina Medicis, Antoine mit seiner Erhebung zum Er-

sten Herzog Frankreichs und seiner Berufung in den Ordre du Roi. So entsteht im Medium des Porträts, das ja eigentlich die Persönlichkeit in ihrer Einzigart und in einer bestimmten Lebensphase charakterisieren will, ein ambivalentes Doppelbild aus Rolle und Individuum, dessen Alterung dort erstarrt, wo es in die entscheidende Rolle seines Lebens eingetreten ist. In der prototypischen Verbindung von Persönlichkeit und Rolle, die das Doppelporträt für die Nachwelt festhalten will, sind Antoine und Louise alterslos. Die personelle und institutionelle Verbindung des Paares, die hier als eheliches Ideal vorgeführt wird, war von großen Gegensätzen geprägt, sogar von wirklichen Extremen, nicht nur in den Unterschieden der beiden Charaktere, sondern auch der Rollen, die sie im öffentlichen Leben spielten. Dies gilt vor allem für die gegensätzlichen Positionen, die sie im Religionskonflikt der Epoche innehatten. Louise, die sich durchaus zur Reform hingezogen – oder wohl eher von der etablierten Kirche abgestoßen fühlte – hat sich nie explizit zum Calvinismus bekannt. Antoine dagegen stand lange auf Seiten der Hugenotten, war gar für ein Jahr ihr Führer im Languedoc und hat sich in tiefem Ernst die Grundgedanken des Protestantismus zu eigen gemacht. Mit Calvin pflegte er eine Korrespondenz über theologische Fragen, jedoch hat ihn die starre Haltung des Reformators langsam aber stetig wieder dem katholischen Lager zugeführt, bis er über den Greueln der Religionskriege wohl keiner der Parteien mehr angehören mochte. Auf jeden Fall haben Antoine und Louise den fundamentalen religiösen Konflikt der Epoche in ihrer Ehe durchlebt und dies offensichtlich in einer Weise, die als ein Muster an praktischer Ziviltoleranz hätte verstanden werden können, wie sie die »Politiques« um den Kanzler Michel de l’Hôpital für den Staat insgesamt anstrebten. Ganz unterschiedlich auch war es um die Felder ihres öffentlichen Wirkens und Auftretens bestellt. Antoine war Militär und Administrator, ein kühler Taktiker und Realist, Louise dagegen agierte in der galanten Welt der höfischen Kultur, der Rhetorik und der Künste. Dennoch war sie weit mehr als eine bloße Hofdame der Regentin und Königin Mutter. Louise war zu ihrer Vertrauten und inoffiziellen Beraterin geworden und Katharina wollte sie bei so wichtigen Anlässen wie etwa dem Religionsgespräch von Poissy (1561) bei sich haben, wo sie mit den Führern der Parteien, mit Condé und den Kardinälen von Bourbon und Lothringen an einem Tisch saß.103 Gewiß der eklatanteste Gegensatz im Leben dieses ungleichen Paares, der jedermann sofort ins Auge fallen mußte, war der Altersunterschied zwischen beiden, denn er war so groß, daß sie eigentlich zwei verschiedenen Generationen angehörten. Der ernorme Altersunterschied von 22 Jahren, der auch heute noch auffällig wäre, muß den Augen der Zeitgenossen, die ja an sehr jung geschlossene Ehen gewöhnt waren, geradezu extrem erschienen sein. Zudem kannte man Verbindungen über die Generationen hinweg nur in umgekehrter Besetzung, als Ehen älterer Männer, meist von Witwern, mit sehr jungen Frauen. Die Verbindung zwischen einem jungen Mann und einer älteren Frau muß geradezu als ein Rollentausch erschienen sein, der in die Nähe des gesellschaftlich Skandalösen reichte.

102 Der Dianenbrunnen des Château d’Anet, um 1549, auf der zeitgenössischen Zeichnung eines unbekannten Künstlers. 103 Ausschnitt aus der Balustrade des Hängenden Gartens im Château d’Anet mit dem Doppelmonogramm Heinrichs II. und Diane de Poitiers. um 1549. 67


104 Zwei Münzen aus dem Werk von Guillaume Duchoul, die seine Herleitung der christlichen Embleme, der christlichen Ikonographie und der kultischen Formeln der Liturgie aus dem antiken Heidentum illustrieren. Oben die »Victoria Augusti« als engelartiges, geflügeltes Wesen auf einer Münze Domitians, unten die »Pax Augusti« mit dem segnend gesenkten Ölzweig auf einer Münze Vespasians. 105 Jean Calvin. Gemälde von Hans Holbein. 106 Doppelseite aus Guillaume Duchols Discours de la religion des anciens Romains, Lyon 1554, das die katholischen Riten und Traditionen als »Translation heidnischer Praktiken« darstellt,

Natürlich denkt man sofort an die Verbindung Heinrichs II. mit Diane de Poitiers, eine der großen galanten Affären der Epoche, aber hier lagen die Dinge doch entschieden anders. Als die Liaison zwischen dem Sohn des Königs und der noch jungen, verwitweten Hofdame begann, war Heinrich gerade 14 Jahre alt, Diane aber bereits 32. Der Altersunterschied ist mit 18 Jahren ähnlich groß wie der zwischen Antoine und Louise, nur fällt er in eine ganz andere Lebensphase. Er trifft eine erfahrene Frau, die schon ein ganzes Eheleben und zwölf Jahre ungebundener Witwenschaft am Hofe hinter sich hatte und einen sehr jungen Mann, der noch ein Heranwachsender ist. Es liegt auf der Hand, daß Diane den noch ganz unerfahrenen Adoleszenten in die Künste der Liebe eingeführt hat und über den ungeheuren Einfluß, den sie so auf den Thronfolger ausüben konnte, ist schon von den Zeitgenossen manches gesagt und geflüstert worden. Bei Antoine und Louise war die Verbindung gewiß ganz anderer Natur. Antoine war bei der Eheschließung immerhin bereits 28 Jahre alt, nicht mehr wirklich jung und dies schon gar nicht nach den Maßstäben der Zeit. Überdies hatte er seine gesamte Jugend vom Knabenalter an in der Männergesellschaft der Feldlager und ihrem notorischen Marketenderinnentroß zugebracht. Da ist nicht anzunehmen, daß er mit 28 Jahren in Liebesdingen noch viel zu lernen gehabt hätte. Aber auch im Falle von Diane de Poitiers und Heinrich sagt das einseitig negative Urteil, das die historische Literatur überwiegend gefällt hat, mehr über die erotische Phantasie und die moralischen Vorurteile der Kritiker aus, als über die Beziehung selbst. Die neuere Auffassung geht eher dahin, Dianes positiven Einfluß auf den jungen König hervorzuheben. Tatsache ist, daß Heinrich von Natur ein eher grober Klotz war, der sich vor allem für die Jagd und Waffen und Pferde begeisterte. Diane hingegen war eine überaus kluge, gebildete und kunstsinnige Frau, und Heinrich hat von ihr sehr vieles, vielleicht alles Wichtige gelernt. Und dies nicht nur in Liebesdingen, wie die Klatschgeschichte meint, sondern sie dürfte ihm auch so manches nahegebracht haben, was ihn als Staatsmann und Mäzen zu klugen und weitsichtigen Entscheidungen bewogen hat. Heinrich hat diese schöne Art zu lernen gewiß sehr zu schätzen gewußt. In der Ikonologie des Schlosses von Anet, das Philibert De l’Orme im Auftrag von Diane für das gemeinsame Leben des Paares errichtet hat, gibt es neben ausgeklügelten politischen und imperialen Ansprüchen auch eine sehr persönliche Darstellungsebene, die die Besonderheiten der Beziehung des Königs und seiner Mätresse zum Gegenstand hat. Gleich über dem Eingang des Torpavillons, den Benvenuto Cellinis zur Diane umgearbeitete Nymphe von Fontainebleau ziert, liest man die Inschrift: Phœbo sacrata est almae domus ampla Diane verum accepta cui cuncta Diana refert »Phœbus ist dieses weite Haus der holden Diana geweiht. Ihm aber gibt sie alles empfangene reichlich zurück.« Der Inschrift liegt ein Namensspiel zugrunde, in dem Diane zu Diana wird, zur scheuen und wunderschönen Göttin der Natur, der Herrin der

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Tiere, wild und schonungslos, die aus Freude tötet, grausam und kalt, so daß ihr der Mond, das lichtempfangende, erkaltete Gestirn geweiht ist. Heinrich schlüpft in die Maske des Apollon, der für die Kunst, die Kultur und die Verfeinerung des Lebens steht und ihm ist die Sonne, das lichtgebende, wärmende Gestirn heilig. Um das mythische Geschwisterpaar Apollon/Artemis kreist das gesamte ikonologische Programm des Schlosses soweit es die persönliche Beziehung Heinrichs und Dianes zum Gegenstand hat – von der politischen Ikonographie von Anet soll hier nicht die Rede sein. In den Gegensätzen, für die die beiden antiken Göttergestalten stehen, sehen Diane und Heinrich ihre eigene Beziehung quasi typologisch vorgeprägt, wobei ihre tatsächlichen Charaktereigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale jeweils in der Maske des anderen liegen. Dabei stellen sie im Bild des mythischen Geschwisterpaares, das in dieser Lesart ja eine inzestuöse Beziehung eingeht, auf die konventionelle »Abnorm« ihrer Verbindung ab, und sie bekräftigen dies in einer Reihe von Verkehrungen: Der junge Heinrich wird zum älteren Apollon, der Kriegsmann und Haudegen zum Gott der Künste, die reife Diane wird zur jungen wilden Diana, die zivilisierte kunstsinnige Frau zur allegorischen Verkörperung der unberührten Natur mit all ihren Gewalten, die Witwe wird zur Liebenden, die Liebende zur keuschen Artemis. Dies ist ein Bild- und Bedeutungsprogramm das als Gleichung mit zyklischer Vertauschung aller Glieder angelegt ist. Vor aller Augen kommentiert das königliche Paar seine Verbindung mit einem hintergründigen Seitenblick auf die Normen und Erwartungen der Zeit. In dieser Beziehung wiederum weist die Ehe von Antoine de Crussol und Louise de Clermont eine Reihe von Analogien auf und mir scheint, daß auch sie nach diesem Modell systematisch vorgenommene Bedeutungsverschiebungen verstanden werden will, diesmal zwischen den konventionell festliegenden Rollen im Ehebund, wo der Mann »hinaus muß ins feindliche Leben und drinnen waltet die Mutter die Kinder«. Zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung stand Antoine an der Schwelle einer Karriere, die bedeutende, aber auch schwierige Aufgaben für ihn bereit hielt. Er konnte sich dafür durchaus gerüstet fühlen, aber er war noch jung und unerfahren in der Politik und im gesellschaftlichen Umgang. Da brauchte er Rat und Hilfe von jemandem, der mit Machenschaften und Ränkespiel des Hofes vertraut war, der Lebenserfahrung und Menschenkenntnis besaß, der ihm weise und beratend zur Seite stehen konnte. In dieser Situation stieß er auf Louise, sie besaß all diese Fähigkeiten, die er benötigte, sie kannte den Hof, die große Diplomatie und ihre Rankünen und sie war darüber hinaus eine überaus kluge und gebildete Frau, von der Antoine auch in den Wissenschaften und Künsten noch manches lernen konnte. So kann man wohl sagen, daß sich hier die Gegensätze angezogen haben, die Gegensätze zwischen der reifen, kultivierten und lebenslustigen Hofdame, die ein ganzes Leben voller Erfahrungen in den Antichambres der Großen bei Hof weiterzugeben hatte, und des noch wenig weltgewandten aber vor großen Aufgaben stehenden jungen Mannes, der sich eben anschickte, dieses Parkett zu betreten, der bereit war zu lernen und anzunehmen.


Louise so scheint es, war Antoines »mater et magistra«, was nicht bedeuten will, daß diese Mütterlichkeit – die übrigens viele Frauengestalten der Ecole de Fontainebleau ausstrahlen – die erotische Faszination, die sie durchaus auf ihn ausgeübt haben mag, unter sich begraben mußte. Wenn man dem Porträt von Chantilly Glauben schenken will, muß auch sie um das Geheimnis der Diane de Poitiers gewußt haben, die einfach nicht alterte. Über die schreibt Brantôme bei ihrem Tod am 25. 04. 1566 mit 66 Jahren: »Sie war noch so schön, daß nur ein Herz aus Stein nicht von ihr bewegt wurde.«104 Vor allem aber muß Louise dem jungen Crussol in seinem bis dahin rastlosen, von spontanen Entscheidungen getriebenen Militärdasein als ein in sich ruhender »sedes sapientiae« erschienen sein, der Erfahrung, Wissen, Lebensklugheit und Kontinuität bedeutete. Hier dürfte der wirkliche Grund für den Zusammenhalt ihrer späten, ungleichen und – nach allem was wir wissen – dennoch sehr intensiven Beziehung zu finden sein. Für eine solche Beziehung im höfischen Milieu hat der Manierismus das Bild des jungen Kriegsmannes auf dem Schoß oder im Arm der Matrone Minerva gefunden. Es ist zu einem festen Topos im Herrscherbild des 16. Jahrhunderts geworden: Die Zukunft, die von der Weisheit im Harnisch gehalten wird, die von ihr Rat und Beistand erfährt. So hat es beispielsweise Girolamo Mazzuola Bedoli (ca. 1500–1569) im Bilde des jungen Alessandro Farnese gemalt, der von der reifen Minerva mit Schild und Rüstung umarmt wird.105 Antoine de Crussol und Louise de Clermont, so scheint es, haben dieses Bild in ihrer Ehe gelebt.106 Der wirkliche Aufstieg Antoine de Crussols begann mit dem Tode Heinrichs II. am 10. Juli 1559 und der damit einsetzenden Vormundschaft Katharina Medicis über ihre noch minderjährigen Kinder Franz und Karl. Von nun an war sein Weg unlösbar mit dieser Konstellation am Hof verbunden, die seine Gönnerin unversehens zur mächtigsten Frau des Königreiches hatte aufsteigen lassen. Gleichzeitig spitzte sich mit der Regentschaft Katharinas der Religionskonflikt im Lande dramatisch zu und Crussol hatte bei den mannigfachen Versuchen der Krone, diesen tiefen Riß in der französischen Gesellschaft zu überwinden, immer neue, schwierige und dabei ganz unterschiedliche Missionen zu übernehmen. Sowohl als Schlichter und Diplomat, als auch als Militär hat er sich dabei hervorragend bewährt und so gelang es ihm, in der Hierarchie des Reiches so hoch aufzusteigen, wie dies sein Adelsrang nur eben zuließ, und immer weiter drang er dabei bis in die innersten Machtzirkel vor. Der Religionskonflikt zwischen Protestanten und Katholiken spitzte sich in Frankreich früher zu und wurde auch viel schonungsloser ausgetragen, als in Deutschland, da dort die konfessionsgebundenen Fürstenstaaten den Glaubensflüchtigen aus den jeweils andersgläubigen Teilen des Reiches Zuflucht und relative Sicherheit gewähren konnten. So mußte es nicht zu dem gegenseitigen Ausrottungskrieg kommen, der auf dem einheitlich verfaßten, zentral regierten französischen Territorium tobte. In Deutschland führte erst viel später das Eingreifen auswärtiger Mächte in das konfessionelle Gleichgewicht der dezentralen Reichsorganisation zum dreißigjährigen Krieg, der in Frankreich schon ein halbes Jahrhundert früher ausgetragen wurde.

Seit 1519 waren protestantische Schriften nach Frankreich gelangt, zwischen 1525 und 1540 breitet sich die Reformation vor allem durch die Anhänger Calvins in allen Schichten rasch aus, um 1555 etwa existierte bereits ein Netz förmlich verfaßter Gemeinden mit organisierter Pastorenschaft, Konsistorien und calvinistischer Liturgie, das der Reformator von Genf aus aufmerksam überwachte.107 Die Zahl der reformierten Gemeinden lag 1561 nach Coligny’s eigenen Angaben bei 2150, den Anteil der bekennenden Hugenotten an der Gesamtbevölkerung schätzt man für die fünfziger Jahre auf etwa 8% von rund 15 Millionen.108 Der große Erfolg des Calvinismus beruhte darauf, daß er auf nur wenigen, unmittelbar aus den Evangelien abzuleitenden Glaubenssätzen basierte, und daß er gleichzeitig eine straff organisierte kirchliche Struktur aufbaute. Seine einfachen Glaubenssätze kontrastierten positiv mit dem komplexen theologischen Gefüge aus Tradition und Offenbarung, wie es sich in der katholischen Kirche über Jahrhunderte herausgebildet hatte, das aber für den gemeinen Mann längst undurchschaubar geworden war. In der religiösen Praxis wurde es ohnehin vom liturgischen Formalismus bedeckt und in der Alltagswahrnehmung war der eigentlich katholische Glaubensgrund längst hinter der Dekadenz, dem Pomp, und der Pfründen- und Ablasswirtschaft einer höchst reformbedürftigen Amtskirche zurückgetreten. Die wenigen Glaubenssätze dagegen und die klare Kirchenstruktur, die Calvin in der 1536 erschienenen Schrift Institutio religionis christianæ entworfen hatte, schienen zu den elementaren Auffassungen des Urchristentums zurückzuführen: Die heilige Schrift galt wieder als die alleinige Quelle der Wahrheit, deshalb sollten alle dort nicht ausdrücklich begründeten Zeremonien abgeschafft werden. Nur zwei Sakramente waren unmittelbar aus dem Wortlaut der Schrift herzuleiten, die Taufe und das Abendmahl, und beide sollten von den Mitgliedern der Kirche ausschließlich als symbolische Teilhabe am Leben Gottes verstanden werden. Aus dem Erwählungsgedanken der Bibel ergab sich die Prädestinationslehre, die Annahme einer absoluten Vorbestimmung der Gläubigen zur Seligkeit, der Ungläubigen zur Verdammnis. Folglich konnte auch der Abendmahlsgottesdienst nicht wie die katholische Messe als ein sühnend auf Gott einwirkendes Opfer gelten, sondern mußte als ein bloßes Zeichen der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verstanden werden. Allein die Gnade des Glaubens bestimmte die Zahl der Auserwählten, die vom Anbeginn der Welt an feststand und allein Gott bekannt war. Der Erfolg des Calvinismus beruhte nicht nur auf solch einfachen und klaren Glaubenssätzen, sondern auch auf seinen sozialen Komponenten, die für alle Schichten des ständischen Gesellschaftsaufbaus Projektionsflächen boten. Die Prädestinationslehre bestätigt den Adel ohne weiteren Begründungsbedarf in seinen gesellschaftlichen Privilegien, sie erklärte den Niedriggeborenen ihr Elend, gegen das sie nicht aufzumurren hatten, und insofern wohnte der Lehre ein konservatives, sozial stabilisierendes Element inne. Dies wird als einer der Gründe dafür angesehen, daß die neue Lehre in Frankreich gerade unter dem Adel so zahlreiche Anhänger gefunden hat. Das Bürgertum sah sich im Calvinismus aus der Sakramentsverwaltung des Klerus entlassen, da ein jeder ohne Weihe das Predigeramt ausüben konnte. Hier liegt einer der Gründe für den Erfolg der 69


neuen Lehre im städtischen Patriziat. Viele Städte gingen zur Reformation über, weil sie in der Übernahme der pastoralen Verwaltung der Gemeinde ein weiteres Mittel der städtischen Emanzipation von den feudalen Strukturen erkannten. Wie sehr der calvinistische Blickwinkel insgesamt die Wahrnehmung und das Denken der Epoche prägte und auch solche Köpfe einzunehmen begann, die offiziell der katholischen Lehre verbunden blieben, verrät eine einflußreiche Schrift, die Guillaume Duchoul 1554 in Lyon herausbrachte, den Discours de la religion des anciens Romains. Der Titel deutet an, daß es sich zunächst um eine rein historische Untersuchung über die Religion der Römer handelt, um ein antiquarisches, ganz und gar wissenschaftliches Werk also. Tatsächlich beginnt der Autor mit einem ausführlichen Inventar des römischen Pantheons, woran er eine Ikonographie der Götter und ihrer Attribute anschließt, die er aus den Quellen erschlossen hat, vornehmlich aus der antik-römischen Numismatik, der Münz- und Medaillonkunde. Er beschreibt die einzelnen Götterfiguren in dem Gestaltwandel, den sie bei ihrer Übernahme durch Rom aus Griechenland, zuvor aus Ägypten und dem alten Orient durchgemacht haben, bis sie sich schließlich als Personifikationen der allmächtigen Naturgewalten in der Prähistorie einer allumfassenden Naturreligiosität verlieren. So weit folgt Duchoul den feststehenden Topoi der klassischen Überlieferung, dann jedoch wendet er sich den vorrömischen Ursprüngen von Kult und Liturgie zu, auch den Wurzeln der Hierarchie und ihrer zunehmend bedeutenderen Rolle in Staat und Gesellschaft, um dann die Entwicklung im republikanischen und imperialen Rom zu verfolgen. An dieser Stelle wechselt der Blick, der bis dahin von rein antiquarischem Interesse geleitet wurde, zu einer Perspektive, die vom religiösen Disput des Tages und dabei ganz offensichtlich von der Position des Calvinismus geprägt ist. Denn Duchoul zieht ständig Vergleiche zu Kult und Liturgie der römischen Kirche seiner Tage, zur Gebärdensprache des christlichen Gottesdienstes, zu den Insignien der priesterlichen Würde, schließlich zum Aufbau der kirchlichen Hierarchie und ihrer ökonomischen Absicherung. Dies alles sieht er in Religion, Kult und priesterlicher Hierarchie der römischen Antike vorgeformt, er erklärt das kirchliche Zeremoniell und den katholischen Kult als »Translationen« antikrömischer, ägyptischer, auf jeden Fall ursächlich heidnischer Praktiken. Damit relativiert er die Tradition, eine der beiden Säulen also, auf die die Gegenreformation neben der Offenbarung ihre innerkirchliche Erneuerung zu stützen begann, als durch die Jahrhunderte mitgeschleppte Atavismen aus vorchristlicher Zeit, als im Kern unchristliches Beiwerk des katholischen Lehrgebäudes. Sein Buch endet mit den Sätzen: »Und wenn wir genau genug hinschauen bemerken wir, daß eine ganze Reihe Institutionen unserer Religion von den Zeremonien der Ägypter und anderen Heiden übernommen und übertragen wurden, wie die priesterlichen Gewänder, Tunika und Kasel, wie die Kopfbedeckungen, die den Priester ausmachen, die Verneigung vor dem Altar, den Opferkult, die sakrale Musik, die Verehrungsund Gebetsformeln, die Prostrationen, die Prozessionen und Litaneien, und vieles andere mehr. Unsere Priesterschaft hat dies alles auf unsere Glaubensgeheimnisse projiziert, und auf den alleinigen Gott Jesus Christus bezogen, während 70

die Unwissenheit der Heiden, ihre falsche Religion und der dumme Aberglaube dies alles auf ihre Götter und auf sterbliche Menschen richtete, die zuvor gesalbt worden waren«.109 Diese Zeilen kleiden die calvinistische Kritik an den Institutionen, am Kult und der Gebärdensprache der katholischen Kirche in die Sachlichkeit einer wissenschaftlichen Analyse der heidnischen Ursprünge von katholischer Liturgie und Hierarchie, sie erklären die Tradition zum unchristlichen Blendwerk, als wuchernde Spätform einer ursprünglich heidnischen Verirrung. Trotz dieses unverkennbar calvinistischen Geschmacks ist Duchouls Buch im offiziell katholischen Milieu des französischen Königshofes entstanden. Der Autor war Conseiller du Roi und Träger des Michaelsordens, außerdem als Präsident des Dauphiné Vertreter des Königs in dieser wichtigen Provinz. Er bekleidete dort das höchste zivile Amt, dessen militärisches Pendant Antoine de Crussol als Lieutenant Géneral du Roi innehatte.110 Die Schrift war keinem geringeren als Claude d’Urfé gewidmet, dem Gouverneur des Dauphin François und dem Erbauer der Bâtie d’Urfé, der als langjähriger Gesandter Frankreichs beim Konzil von Trient gewiß kein Hugenotte, sondern eher der katholischen Partei zuzurechnen war. Als Träger des Michaelsordens gehörte auch er zu den engsten Vertrauten des Königs. Dies alles zeigt, daß die protestantische Kritik an Zeremoniell und Hierarchie der Kirche, die Duchoul in eine wissenschaftliche Analyse eingekleidet hatte, die den Kult historisch aus den religiösen Praktiken der alten Völker herleitete und damit relativierte, auch in den katholischen Zirkeln bei Hofe auf erhebliche Sympathie stieß. Es waren also gewiß nicht die kritischen Positionen des Calvinismus gegenüber dem kirchlichen Flitterstaat, die das französische Königtum zunehmend zu Zwangsmaßnahmen gegen die Reformierten greifen ließ, und wohl auch nicht in erster Linie die fundamentalistischen Glaubensinhalte. Nicht einmal die kirchlichen Organisationsformen der »Religion Prétendue réformée«, wie die neue Lehre offiziell genannt wurde, wären Grund genug für die massiven Repressionen gewesen, die schon unter Franz I. einsetzten, wenn nicht ausgesprochen staatsbedrohende Elemente hinzugekommen wären, die an den Grundfesten des Ancien Régime rüttelten. Ein fundamentaler Konflikt ergab sich vor allem aus dem theokratischen Charakter des Calvinismus. Anders als die von den Calvinisten als »reformatorische Schwärmer« abqualifizierten Sekten, wie etwa die Täufer oder Illuminaten, war die Verbreitung der neuen Religion mit dem Aufbau einer kirchlichen Struktur verbunden, die auch Organe der Gesetzgebung und der Normenkontrolle mit umfaßte. Diese hatten das Recht und die Pflicht mit alttestamentarischer Strenge über die Glaubenstreue, die Rechtgäubigkeit und die Disziplin der Gemeinde zu wachen. Der geringste Normenverstoß sollte dann dem weltlichen Arm mitgeteilt und zur Bestrafung überlassen werden. Diese Ausdehnung der kirchlichen Organisation und Zuständigkeit auf die Bereiche der Normsetzung und zivilen Gesetzgebung, in denen jede Staatsform ihre ureigene Kompetenz sehen muß, konnte die Staatsgewalt nicht zulassen. Das Ancien Régime, auch wenn es weitgehend von der katholischen Kirche geprägt war, begriff sich nicht einfach als Exekutive religiös fundierter Normen, wie dies der Calvinismus in letzter Konsequenz verlangte.


Dabei konnte nicht der geringste Zweifel an der Entschlossenheit der religiösen Eiferer bestehen, die vorhandenen Strukturen des Staates in ihre Dienste zu nehmen, denn es gab ja bereits Beispiele der praktischen Umsetzung, und die anschaulichsten lagen auf französischsprachigem Gebiet. Mit welcher Rigidität die theokratische Verfassung durchgesetzt wurde, wenn die Calvinisten die Oberhand gewonnen hatten, zeigte das Beispiel der frankophonen Stadt Genf. Der Genfer Glaubensdespotismus dauerte von 1541 bis zum Tode des Reformators 1564, auf sein Konto gingen allein zwischen 1542 und 1546 insgesamt 58 Todesurteile und 76 Verbannungen. Strafgrund war insbesondere Dissens in Glaubensdingen, aber auch Sittenlosigkeit wurde streng bestraft, sogar Tanz oder Theater, und damit war auch das Tragen schweizerischer Trachten gemeint. Eine traurige Berühmtheit erlangte der Fall des Spaniers Servet. Calvin ließ ihn 1553 wegen abweichender Meinungen über die Trinität hinrichten. Die Staatsgewalt war hier nur noch der verlängerte Arm einer fundamentalistisch agierenden Reformation und dieses Modell in einer der großen Städte der Frankophonie stand den katholischen Parteigängern der Königsmacht abschreckend vor Augen. Unter solchen Prämissen war das Zusammenleben von Hugenotten und Katholiken in derselben Stadt kaum noch möglich. Dabei waren beide Seiten an der Zuspitzung des Konfliktes beteiligt. Der dogmatische Katholizismus erforderte die strenge Einhaltung des kirchlichen Festkalenders, die Teilnahme an den Fastenzeiten, aber auch an den öffentlichen Prozessionen und Kirchenfesten. Wenn dies dem calvinistischen Teil der Bevölkerung ein Greuel und ein Götzendienst war, wenn das Konsistorium die Pflicht hatte, ein derartiges Treiben zu ächten und bei entsprechender Majorität zu unterbinden, dann konnte ein ziviles Leben in einer konfessionell geteilten Stadt nicht mehr stattfinden. Schließlich dienten die religiösen Bewegungen als Vehikel für politische Machtverschiebungen, die die französische Krone mit dem größten Mißtrauen beobachten mußte, und dies war wohl der ausschlaggebende Grund für die zunehmende Repression des Protestantismus unter Heinrich II. Viele Granden des französischen Hochadels, insbesondere solche von königlichem Geblüt, wie Louis de Bourbon, Prince de Condé, aber auch die Brüder Châtillon erkannten die Chance, die Zentralgewalt der Krone dadurch zu schwächen, daß den protestantischen Landesteilen unter ihrer Führung weitgehende Sonderrechte gewährt wurden. Im Hintergrund stand dabei die Hoffnung, ein Stück weit auf dem Wege zu einem dezentralen Staat mit weitgehend selbständigen Fürstentümern zu kommen, wie dies im Deutschen Reich längst Wirklichkeit war. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde diese Gliederung des Reiches durch die religiöse Neuordnung nach der Formel »Cuius regio, eius religio« endgültig bekräftigt. Heinrich II. hatte diese Bedrohung für den französischen Zentralstaat und sein Königtum klar erkannt; schon 1547 richtete er deshalb die »chambre ardente« beim Pariser Parlament ein, eine Kammer, die eigens für Ketzerprozesse zuständig war und schon im Namen deutlich machte, was die für schuldig Befundenen zu erwarten hatten. Da die Repressionen neben den Kriegen, die er mit Karl V. um Oberitalien und mit den Engländern um die Kanalenklaven führte, nicht recht durchzuhalten waren, schloß er am 2.4.1559 unter

bedingungslosem Verzicht auf alle italienischen Territorien den Frieden von Cateau-Cambrésis, um sich nunmehr ganz der Protestantenverfolgung im Inneren zu widmen. Das Edikt von Ecouen (2. 6. 1559), das die Maßnahmen zur Unterdrückung der »Religion Prétendue Réformée« drastisch verschärfte zeigt deutlich, daß er mit seinen Absichten Ernst zu machen begann. Bevor es jedoch dazu kam verunglückte der König am 30. 6. 1559 im Turnier auf der Rue St-Antoine, am 10. Juli starb er an seinen Verletzungen. Die Stimmung im Lande war jedoch so sehr von allgemeinem Mißtrauen erfüllt, daß die Umgebung des Königs nicht recht an einen tragischen Umfall glauben mochte. Gabriel de Lorges, Comte de Montgomery und Chef der schottischen Garde des Königs, dem das Mißgeschick widerfahren war, mit Heinrich die Turnierlanzen gekreuzt und ihn dabei so schrecklich verletzt zu haben, wurde umgehend verdächtigt, von der protestantischen Partei gedungen zu sein. Er wurde deshalb verhaftet, dann aber wieder auf freien Fuß gesetzt, nachdem Heinrich, schon in Agonie, dies verlangt hatte. Tatsächlich wandte sich Montgomery später der Reform zu und spielte eine nicht unbedeutende Rolle in den Religionskriegen.111 Mit Heinrichs unerwartetem Tod war nunmehr die Stunde der Hugenotten gekommen. Im Untergrund hatten sie über Jahrzehnte hinweg ihre kirchlichen, administrativen und in Ansätzen auch

107 Die »hugenottische Trias« der Gebrüder Châtillon: Links der Kardinal und Erzbischof von Beauvais, Odet de Châtillon, in der Mitte der Admiral Gaspard de Coligny, rechts der Kommandant der Infanterie, François d’Andelot, Seigneur de Tanlay. 108 Katharina Medici, »la roine mere du roi«. Zeichnung von François Clouet. 109 Guillaume Postel, der Verfasser der De Orbis Terrae Concordantia, 1544. 110 Crussols Weg in die inneren Zirkel der Macht im französischen Königreich: 1544 Sénéchal du Quercy, 1555 Mitglied der Chambre du Roi, 1561 Conseiller d’Etat, 1565 Erhebung zum Ersten Herzog Frankreichs, 1568 Mitglied des Michaelsordens.

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schon die militärischen Strukturen aufgebaut, die nunmehr so weit gediehen waren, daß sie öffentlich als Partei auftreten und handeln konnten. An ihrer Spitze standen hervorragende Führer aus dem Hochadel, der geniale Organisator Admiral Gaspard de Coligny, Louis de Bourbon, der Prince de Condé und Antoine de Bourbon, König von Navarra und Vater des späteren französischen Königs, Heinrichs IV. Gleichzeitig war die Krone so schwach wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Der neue König Franz II. war zwar 15 Jahre alt und damit eben volljährig, aber für die Übernahme der Regierungsgeschäfte war er noch zu jung. Der Conseil du Roi übertrug die Regierungsgewalt deshalb François de Guise und dem Kardinal von Lothringen, die als Onkel der Königin Maria Stuart mit Franz II. verschwägert waren. François de Guise übernahm das Generalkommando über die Armee, sein Bruder wurde zum Chef der Verwaltung ernannt. Beide waren kompromißlose Führer der katholischen Partei und die Reformierten mußten um den Verlust alles bisher Erreichten fürchten. Sie suchten deshalb ihr Heil in der Gewalt. Condé setzte sich im März 1560 an die Spitze einer Verschwörung, mit dem Ziel, sich des in Amboise weilenden jugendlichen Königs und seines gesamten Hofes zu bemächtigen, um die Regierungsmacht an sich zu reißen. Die Verschwörung schlug fehl und wurde mit aller Härte niedergeschlagen. Die Situation am Hof spitze sich noch ein weiteres Mal dramatisch zu, als schon nach einem Jahr der junge König Franz II. starb (5. 12. 1560). Ihm folgte sein noch jüngerer Bruder Karl, der erst 1550 geboren war. Mit ihm saß nun ein zehnjähriges Kind auf dem Thron von Frankreich und damit stand dem Land ein langes Interregnum bevor, das die mit einander unversöhnlich verfeindeten Parteien geradezu dazu einladen mußte, ihren Einfluß auf den unmündigen König auszuweiten. Angesichts dieser düsteren Aussichten, zum Schutz ihres Kindes, aber auch aus Sorge um die Zukunft des Königreiches ergriff Katharina Medici die Initiative. Sie ließ die Türen des Louvre schließen, wohin sie den Staatsrat (Conseil privé) einberufen hatte, ließ ihn in aller Form erklären, daß Vollmachten, die von einem König verliehen sind – »der niemals stirbt« – auch über dessen Tod hinaus noch gelten, und schließlich ließ sie sich von diesem Gremium, ohne die Generalstände zu konsultieren, in ihrer Rolle als Regentin bestätigen. Gleichzeitig bot sie dem nächsten königlichen Verwandten ihres Sohnes, Antoine von Bourbon, dem protestantischen König von Navarra die formale Mitregentschaft an, und es gelang ihr, ihn zur Zustimmung zu bewegen. Sie selbst führte den Titel: »Royne de France, Mère du Roy.« Damit war Katharina faktisch die unumschränkte Herrscherin im Königreich.112 Mit diesem Schachzug hatte sie einmal mehr bewiesen, daß sie alle Fähigkeiten zur Regentschaft verkörperte, daß sie ein untrügliches Gespür für den Augenblick des Handelns besaß und daß sie gegebenenfalls auch über die machiavellistische Energie und Kaltblütigkeit verfügte, das Notwendige zu tun. Zugleich aber war sie nach Herkunft und Geschlecht denkbar schlecht für die Regentschaft gerüstet und alle äußeren Umstände waren so, daß die Krisen der nächsten Jahre schon in dieser Ausgangskonstellation angelegt waren. Katharina war Ausländerin, ihr Adel war zweifelhafter Herkunft und, gemessen an den hehren Stammbäu72

men des französischen Hochadels, ohne verpflichtende Tradition. Den noch jungen und obendrein plutokratischen Ursprüngen der Medici fehlte die Aura eines alten ritterlichen Stammes. Somit besaß sie keine hinreichende Legitimation für die höchste Macht im Königreiche, und sie galt dem Hochadel als Parvenue. In dieser Hinsicht war sie noch immer »la fille toute nue«, wie sie Franz I. abschätzig und auf ganz andere Zusammenhänge bezogen, genannt hatte. Aber erst jetzt in ihrer Legitimationskrise bekam dieses Bonmot seinen eigentlichen und für den Zusammenhalt des Staates durchaus gefährlichen Sinn.113 Schon für ihre frühere Rolle als Königin an der Seite Heinrichs II. hatte ihr die Legitimation aus Herkunft und Tradition gefehlt, nun aber war sie selbst in das höchste Amt im Staate geraten, für das sie niemals vorgesehen war. Bereits ihre Ehe mit Heinrich war in der Annahme geschlossen worden, daß dieser auf keinen Fall König werden würde. Daß sie selbst aber einmal als souveränes Oberhaupt alle Macht im Staate ausüben könnte, war absolut unvorstellbar gewesen. Das Problem konnte größer nicht sein: Katharina mußte eine Rolle ausüben, in der sie jeden Rückhalt gebraucht hätte. Stattdessen sah sie sich ohne hinreichende Legitimation, sie war eine Frau, eine Ausländerin, eine Königinmutter von zweifelhaftem Adel, Regentin und Vormund eines eben zehnjährigen königlichen Kindes. Eine ungünstigere Konstellation konnte es für den Zusammenhalt des Reiches angesichts der nicht enden wollenden Glaubenskämpfe gar nicht geben. Die Verschwörung von Amboise hatte Katharina eindringlich vor Augen geführt, wie gefährlich sich die Situation zugespitzt hatte und wie gewaltbereit die Führung der Hugenotten inzwischen war. Sie beschloß, unterstützt vom Conseil Privé, aber wohl gegen ihre katholischen Räte den harten Repressionskurs aufzugeben. Stattdessen sollte ein nationales Konzil abgehalten werden, das eine reformierte katholische, aber gallikanische Einheitskirche schaffen sollte, in der auch die Reformierten ihren Platz finden konnten. Zur Vorbereitung der Union wollte sie Religionskolloquien abhalten, auf denen man die Kompromißformeln entwickeln konnte, die Katholiken wie Protestanten gleichermaßen akzeptabel schienen. Bis zur Abhaltung des Nationalkonzils sollte der reformierte Kult im privaten Raum toleriert werden, öffentliche Versammlungen hingegen blieben weiterhin streng verboten. Der Plan scheiterte und er mußte scheitern, weil sich weder Katharina noch ihre der Ziviltoleranz geneigten Räte darüber im Klaren waren, daß dogmatisch verfaßte Offenbarungsreligionen keine Kompromisse schließen können. Die Natur des Dogmas selbst, das auf der göttlichen Offenbarung zu beruhen beansprucht, war ihr offensichtlich vollkommen fremd. Allerdings gab es auch unter den Religionswissenschaftlern, die es eigentlich besser hätten wissen müssen, Vertreter dieser Position und sie konnten gute theologische Gründe und eine lang zurückreichende Tradition dafür ins Feld führen. Insofern hatte Katharina mit ihrem Projekt eines Nationalkonzils nach vorangegangenen Religionskolloquien lediglich Ideen aufgegriffen, die als »Unionstheorie« längs in Umlauf waren und selbst als gedruckte Bücher schon an den Universitäten zirkulierten. Die große Schrift, die hier exemplarisch und an erster Stelle genannt werden muß, ist Guillaume

Postels (1505/10–1581) De Orbis terrae concordantia, 1544 in Basel erschienen. Hierin setzt sich der bedeutende Humanist, seit 1538 Professor für Griechisch, Hebräisch und Arabisch am »Collège des lecteurs royaux« – dem späteren »Collège de France« – mit den theoretischen Grundlagen und den praktischen Ansatzpunkten einer universellen Versöhnung der Religionen auseinander. Spätere, darauf aufbauende Schriften legen 1562 einen genau ausgearbeiteten Plan für die Verwirklichung eines Teilbereiches dieses globalen Projektes vor, für die Aussöhnung zwischen Calvinisten und Katholiken.114 Guillaume Postels Concordantia ist eine Fortführung des Religionsgespräches zwischen den Vertretern der Weltreligionen, das schon Nikolaus von Kues 1453 in De Pace fidei begonnen hatte. Hier wie dort geht es nicht allein um die Aussöhnung zwischen Schismatikern und christlichen Häretikern, sondern um eine viel weiter gefaßte Konkordanz, die auch die nichtchristlichen Buchreligionen, den Islam und das Judentum mit umfaßt. Auch der Ansatzpunkt, wie eine solche Aussöhnung zu bewerkstelligen sei, ist bei beiden Theoretikern der gleiche. Da die übrigen Buchreligionen in vielen Glaubenslehren mit dem Christentum übereinstimmen gilt es, ihren Anhängern darzutun, daß dies die Kernsätze auch der christlichen Anschauung sind, daß also die Übereinstimmung zwischen den Religionen größer ist, als das sie Trennende. Umgekehrt wird in den Religionsgesprächen von den Christen verlangt, daß sie ihre Lehre um die mit dem Evangelium in Einklang zu bringenden Anschauungen der anderen erweitern, die dadurch nicht verunklärt, sondern so vervollkommnet wird, daß sie nunmehr auch für Nichtchristen ohne weiteres zugänglich ist.115 Mit diesem Ansatz verläßt Postel den Rahmen der Religionsgespräche, wie ihn schon Cusanus vorgegeben hatte. Er forderte sehr viel vehementer eine Bewegung in beide Richtungen und zum ersten Mal wird hier neben aller christlichen Glaubensgewißheit ein eben einsetzendes Bewußtsein für die Relativität und kulturelle Bedingtheit historisch gewachsener Religionen spürbar. Guillaume Postel war ein hervorragender Kenner des Islams, er hatte mehrere Reisen in den Orient unternommen, und aufbauend auf dieser eigenen Anschauung geht er an einer entscheidenden Stelle über Nikolaus von Kues hinaus. Er hatte im osmanischen Reich die für seine Begriffe sehr weitgehende Toleranz gegenüber nichtislamischen Religionen kennengelernt, mit deren Grundlagen er sich ausführlich auseinandersetzt. Der Toleranzgedanke, der im Frankreich seiner Zeit ja große tagespolitische Aktualität besaß, nimmt in seinem Werk also breiten Raum ein. Dann aber sieht er in der unaufhaltsam fortschreitenden türkischen Expansion über weite Teile des südöstlichen Europa und vor allem des westlichen Asiens gewissermaßen die Christianisierung der Welt vorbereitet. Denn indem der Islam die Idolatrien in diesen Weltgegenden beseitigt, seine Buchreligion einführt, die in wesentlichen Lehren mit dem Christentum übereinstimmt, ist die Grundvoraussetzung zum Aufbau einer weltumspannenden christlichen Kirche geschaffen. Diesen Gedanken hat er später in seiner De la Republique des Turques, 1560, noch weiter ausgeführt. Wesentliche Anstöße zu diesen Arbeiten mag er durch die von den französischen Königen seit Franz I. immer wieder gesuchten Allianzen mit der Hohen Pforte erhalten haben, die im gesamten Abendland auf vehemente Ablehnung stießen. Offenkundig liegt in seinen Arbeiten ein


apologetisches Moment für diese Politik, das indes den Wert seiner Schriften und die Rolle, die sie bei der Entwicklung der Ziviltoleranz spielen, in keiner Weise schmälert. Mit der Union zwischen den Katholiken und Protestanten hat sich Postel noch ein zweites Mal auseinandergesetzt, wobei er den gleichen Gedanken des Aufeinanderzugehens der Religionen auf die Gegensätze zwischen Kirche und Calvinismus anwendet. Der Titel der – leider verschollenenen – Schrift lautet: L’unique moyen de l’accord des protestants, appelés en France Huguenots, et des catholiques, ou Romains et Papistes, avec raisons proposées. Aus den noch erhaltenen protestantischen Reaktionen läßt sich schließen, daß er im Einzelnen die doktrinären Kompromisse behandelt hat, auf die sich beide Parteien bei gutem Willen hätten verständigen können.116 In diesem humanistisch geprägten Milieu der Theoretiker einer universellen Versöhnung der Religionen sind die Wurzeln der pragmatischen politischen Maßnahmen zu suchen, die Katharina Anfang 1560 veranlaßte, um ein nationales Konzil zur Errichtung einer »Gallikanischen Einheitskirche« auf den Weg zu bringen. Am 21. 3. 1560 verkündete sie durch den Mund des jungen Königs ihre Absicht, anstelle des seit 1552 unterbrochenen Tridentinums nunmehr eine rein französische Kirchenversammlung abzuhalten. Gleichzeitig restrukturierte sie die Verwaltung an der Spitze des Reiches und berief Pragmatiker in leitende Positionen, die diese Neuorientierung der Religionspolitik durchsetzen sollten, allen voran den neuen Kanzler Michel de l’Hôpital, der am 20. 5. 1560 sein Amt antrat. Ein erster konkreter Schritt war die Einberufung der Generalstände, die im Dezember 1560 in Orléans zusammentreten sollten.117 Antoine de Crussol wurde beauftragt, unter seinem Vorsitz die Stände des Languedoc zusammenzurufen, wo die Delegierten für die Generalstände zu wählen waren und wo er die Tagesordnung von Orléans, insbesondere die neue Religionspolitik, zu erläutern hatte. Danach fiel ihm die ehrenvolle Aufgabe zu, den prominentesten Gast der Generalstände, Antoine, den protestantischen König von Navarra einzuladen. Diese Aufgabe war durchaus heikel, da das Arrangement, das der König von Navarra mit Katharina hinsichtlich der Regentschaft getroffen hatte, eigentlich nicht seinem Rang entsprach, sein Fernbleiben also als Groll oder mangelndes Einverständnis hätte gedeutet werden können. In der aufgeheizten Stimmung unter den religiösen Parteien hätte dies auf die Protestanten sehr ungünstig wirken müssen. Crussol zog im August nach Nerac, wo sich der König aufhielt und es gelang ihm, ihn zur Teilnahme zu bewegen. Damit war eine wichtige Voraussetzung für eine konstruktive Arbeit der Generalstände geschaffen. Gewiß muß man einen großen Vertrauensbeweis Katharinas darin erblicken, daß sie eine Mission, die erhebliches diplomatisches Geschick erforderte und von deren Ausgang eine Signalwirkung für den Erfolg ihrer eben erst beginnenden Regentschaft zu erwarten war, ausgerechnet Antoine de Crussol anvertraute. Der Lohn ließ nicht lange auf sich warten. Am 14. 2. 1561, unmittelbar nach Schluß der Generalständeversammlung wurde Crussol zum Conseiller d’Etat ernannt, zum Mitglied des dreißigköpfigen Gremiums, das den König in allen Regierungsangelegenheiten beriet.118 Er war damit in die innere Kammer der Macht im Königreich vorgedrungen, deren Einfluß nur noch von dem soge-

nannten »Conseil Restreint« übertroffen wurde, das der König in besonderen Krisensituationen zusammenrief. Darin wurden je nach der Natur der zu entscheidenden Dinge nur jene Mitglieder des Conseil du Roi zusammengerufen, von denen der König Unterstützung erwarten konnte. Katharina, die dem Conseil du Roi vorsaß, war zu eben dieser Zeit auch in Alltagsgeschäften auf loyale Räte angewiesen, denn vor allem von Seiten der katholischen Partei wurde der Druck auf ihre Amtsführung immer stärker. Im April entschlossen sich drei der mächtigsten katholischen Führer, die die Vorbereitungen zu Religionskolloquium und Nationalkonzil äußerst mißtrauisch betrachteten, da sie befürchteten, dies alles könnte zum trojanischen Pferd der Protestanten werden, zu einem bedrohlichen Schritt. Der Herzog von Guise, der Connétable Anne de Montmorency und der Marschall St.-André bildeten das sogenannte »Triumvirat«, das sich anheischig machte darüber zu wachen, daß den Protestanten keine zu weitgehenden Rechte eingeräumt wurden. Schon der Name war ein Affront, waren doch die Triumvirate im letzten Jahrhundert der römischen Republik ausschließlich zu dem Zweck begründet worden, alle Macht im Staate an sich zu reißen.119 Man mußte also damit rechnen, daß sie den ersten Vorwand nutzen würden, um loszuschlagen. Inmitten dieser Spannungen wurde Crussol ein militärisches Kommando im stehenden Heer übertragen. Der König ernannte ihn auf Betreiben Katharinas zum Capitaine de la Gendarmerie, zum Kommandanten einer Kompanie Schwerer Reiter. Dies war der Truppenteil der königlichen Armee, der auch im Frieden ständig unter Waffen stand und dabei zyklisch die Garnisonen in den Provinzen wechselte, also den wichtigsten Ordnungsfaktor im Lande darstellte. Er bestand aus 66 Kompanien von 30 bis 60 schwerbewaffneten Reitern (»Lances«) und seine Mitglieder waren nahezu ausschließlich Adlige.120 Die Gendarmerie war die zuverlässigste Stütze der königlichen Macht in Krisenzeiten und Kommandos in diesem Truppenteil wurden nur den absolut loyalen Gefolgsleuten des Königs übertragen. Auch militärisch spielten die Capitaines de la Gendarmerie eine besondere Rolle, da sie im königlichen Heer keinen weiteren Vorgesetzten hatten, sondern direkt dem Oberbefehlshaber unterstellt waren. Dies sollte verhindern, daß sie über die militärische Rangordnung und Befehlshierarchie in einen Loyalitätskonflikt gerieten, wie er denkbar gewesen wäre, wenn ranghöhere Militärs sie zu Aufgaben hätten abkommandieren können, die nicht im Interesse des Königs lagen. So hatten sie lediglich dem Oberkommandierenden Gehorsam zu leisten, der natürlich sein Amt aufgrund bedingungsloser Königstreue innehatte, wenn er nicht gar direkt der königlichen Familie angehörte.121 Im September 1561 begann das Religionsgespräch von Poissy, zu dem die Regentin führende Theologen beider Seiten eingeladen hatte, um die Kompromißformeln zu entwerfen und auszuhandeln, auf deren Grundlage ein nationales Konzil eine ökumenische Einheitskirche mit gemeinsamem Credo für das gesamte Königreich etablieren konnte. Den Vorsitz bei den Versammlungen im Refektorium des Dominikanerklosters von Poissy führte Katharina persönlich, begleitet von ihren Kindern, dem kleinen Karl IX. und der Prinzessin Marguerite. Neben ihr saß Antoine von Navarra und hinter ihr wichtige Persönlichkeiten des kö-

111 Der Kanzler Michel de l’Hôpital, Vordenker der Politik der Ziviltoleranz in den Jahren der Regentschaft Katharina Medicis. 73


niglichen Hofes, darunter auch Louise de Clermont.122 Calvin hatte seinen prominentesten Mitkämpfer geschickt, den Theologen Theodor Beza in Begleitung von Petrus Martyr und zehn Geistlichen. Von katholischer Seite waren der päpstliche Legat in Frankreich, Kardinal Ippolito d’Este, anwesend, unterstützt von dem Jesuitengeneral P. Lainez und dem Kardinal von Lothringen. Schon nach kurzer Diskussion hatten sich die Wortführer der Parteien, Lainez und Beza, in der Darlegung ihrer dogmatischen Positionen hinsichtlich der beiden Kernfragen – der Realpräsenz und des kirchlichen Lehramtes – heillos zerstritten. Ein Scheitern des Religionsgespräches war vom ersten Tage an absehbar, weil keiner der Parteien an einer konfessionellen Einigung gelegen war, sondern weil beide stattdessen eigentlich außerreligiöse, im Kern politische Ziele verfolgten. Den Calvinisten war vor allem an politischer Aufwertung und Anerkennung der protestantischen Partei gelegen und dieses Ziel hatten sie schon durch ihre bloße Teilnahme an einem Kolloquium erreicht, zu dem von allerhöchster Stelle eingeladen worden war. So verlieh Beza in einem Geheimschreiben an Calvin der Hoffnung Ausdruck, der kleine König Karl IX. könne »ein neuer Josias« werden.123 Mit diesem biblischen Vergleich war der Sohn Amons gemeint, König von Juda 639–608 v. Chr., der als achtjähriger Knabe die Regierung angetreten hatte und im 18. Jahr die Restaurierung des Tempels befahl. Dabei wurde das Gesetzbuch des Moses aufgefunden, nach dessen Wortlaut er das Judentum von Grund auf und unter der Abschaffung aller Kultbilder und Devotionalien reformierte. Josias galt wegen dieser bilderfeindlichen und schriftorientierten Politik als das typologische Urbild des fürstlichen Reformators schlechthin. Die katholische Partei nutzte das Kolloquium vor allem, um jeder staatlichen Einmischung in Kirchen- und Glaubensfragen, wie sie mit der Vorbereitung eines Nationalkonzils durch die Krone ja eben begonnen hatte, von vorneherein einen Riegel vorzuschieben. Der Jesuitengeneral Lainez wurde gleich bei seinem ersten Auftritt ausfällig, als er die Regentin coram publico und in schnoddrigem Ton darauf hinwies, daß alle auf dem Kolloquium anstehenden Fragen »causae majores« der Kirche seien. »Eure Majestät müssen zugeben, daß es Euch nicht zukommt, weder Euch noch den zeitlichen Mächten, Glaubensdinge zu behandeln […]. Wie man zu sagen pflegt: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Dies sind die Angelegenheiten der Priester.«124 Katharina war schockiert, als sie erkannte, daß auf diese Weise in aller Öffentlichkeit ihre Autorität demontiert werden würde und sie wenig dagegen ausrichten konnte. Außerdem wurde ihr augenblicklich klar, daß es ein Fehler gewesen war, Theologen, die sich auf beiden Seiten im Besitz geoffenbarter Wahrheiten wähnten, zu einem gemeinsamen Glaubensgespräch einzuladen, da es nur die Unversöhnlichkeit der Positionen noch schärfer hervortreten lassen würde. Sie war vor allem schockiert, daß angesichts der heraufziehenden Katastrophe des religiös motivierten Massenmordens, die jedem klarsichtigen politischen Kopf im Königreich drohend vor Augen stehen mußte, beide Parteien zynisch genug waren, sich nur um ihre jeweiligen Besitzstände zu sorgen. Und sie sah vom ersten Tag an klar, daß das Kolloquium scheitern mußte. In der Tat wurde es trotz größter Bemühungen von ihrer Seite und von Seiten des Kanzlers am 14. 10. 1561 ergebnislos geschlossen. 74

Politisch war das Scheitern für Katharina eine schwere Niederlage. Sie hatte ihre ganze Autorität in die Waagschale geworfen, um die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen, damit ein Minimalkonsens zur Vorbereitung eines Nationalkonzils hergestellt werden konnte. Diesem Ziel war sie nicht einen Schritt nähergekommen, und obendrein war ihre schon in mancherlei Hinsicht angeschlagene Autorität weiter beschädigt worden. Stattdessen hatte sie die Protestanten, die für die Mehrheit im Volk Aufrührer waren, durch die Einladung zum Religionsgespräch aufgewertet, sie hatte aus ihnen eine anerkannte Partei im Staate gemacht. »Heute beginnt für die Kirche die Freiheit«, soll Calvin bei Erhalt der Einladung ausgerufen haben. Die katholische Partei, immer noch ihre wichtigste Stütze, hatte sie zutiefst verärgert. Am 19. 10., wenige Tage nach dem Scheitern des Kolloquiums verließ der Herzog von Guise gemeinsam mit seinen Brüdern und dem Herzog von Nemours, gefolgt von mehr als 700 katholischen Adeligen in einem spektakulären Auszug den königlichen Hof. Für die Vermittler im Reich, für die »Politiques« um den Kanzler Michel de l’Hôpital die nicht am religiösen Disput als solchem interessiert waren, sondern die vor allem aus Gründen der Staatsraison die Aussöhnung der Konfessionen herbeiführen wollten stand nun greifbar die Möglichkeit im Raum, daß ihre Politik angesichts der starren Haltung auf beiden Seiten keine Zukunft haben würde. Und für jeden denkenden Menschen im Reich war das Scheitern der Religionsgespräche von Poissy ein Fanal, der mit Schaudern erfüllen mußte, weil von nun an auch das große Morden eines furchtbaren Bürgerkrieges nicht mehr undenkbar schien. Trotz dieser Schreckensvision, die nunmehr jedermann konkret vor Augen stehen mußte, blieb die Regentin bei ihrer Politik der Duldung der Calvinisten. Am 17. 1. 1562 erließ sie das »Januaredikt«, das die pragmatische Haltung der »politiques« noch einmal bekräftigte: Toleranz der Protestanten aus Gründen der Staatsraison, die »Religion Prétendue Réformée« durfte unter Einhaltung strenger Bestimmungen privat und an dafür festgelegten Orten ausgeübt werden, gleichzeitig sollte gegen »Eiferer«, Aufrührer und Ikonoklasten mit äußerster Härte vorgegangen werden. Die Ziviltoleranz für die Hugenotten war damit öffentlich proklamiert, aber von dem Interim, das diese Lösung bis zu einem Nationalkonzil ja lediglich darstellen sollte, war Katharina damit in aller Form abgerückt. Die Politik der Ziviltoleranz brachte keineswegs den Frieden, den sie sich erhofft hatte. Schon kurz nach dem Ende es Religionskolloquium war es zu religiösen Unruhen gekommen, die zu blutigen Übergriffen auf beiden Seiten führten. Besonders heftig waren die Gewaltausbrüche im Süden Frankreichs. Im November waren im Guyenne katholische Adelige von ihren hugenottischen Bauern ermordet worden.125 In Carcassonne kam es im Dezember zu Gemetzeln unter den Reformierten, in Nîmes hatten sich die Protestanten bereits die ersten Kirchen angeeignet. Das ganze Languedoc war von einer Welle der Gewalt erfaßt, in der die Ereignisse des Ersten Hugenottenkrieges (1. 3. 1562–19. 3. 1563) schon ihre Schatten vorauswarfen. Am 10. 12. 1561 ernannte Katharina Antoine de Crussol zum Lieutenant General du Roi en Dau-

phiné, Languedoc et Provence und schickte ihn mit 200 Mann Schwerer Reiterei, begleitet von Artillerie und Leichtbewaffneten, in den Süden, um die Ruhe wiederherzustellen. In den Instruktionen, die ihm die Regentin mit auf den Weg gab, heißt es: »In solchen Zeiten wie den gegenwärtigen ist es wichtig, die Menschen nicht durch zu große Neugier und Nachforschungen nach ihrer Lebensführung und ihrer Meinung in die Verzweiflung zu treiben, sondern sie auf Gehorsam zu verpflichten, sie sonst aber in Ruhe leben zu lassen, vorausgesetzt sie verursachen kein Ärgernis und keinen bewaffneten Aufruhr.«126 Crussol traf am 8. 1. 1562 mit seiner beachtlichen Streitmacht von beinahe 1000 Mann in Donzère an der Rhône ein, wo ihn die calvinistischen Abgeordneten der Stadt Nîmes erwarteten. Er verhandelte nicht, sondern bestellte sie für den 10. Januar nach Villeneuves-les-Avignon, wo er ihnen unter Berufung auf das noch nicht registrierte Januaredikt (17. 1.) befahl, die Kirchen von Nîmes den Katholiken zurückzugeben, sich zu entwaffnen und die Waffen im Rathaus der Stadt zu deponieren. Außerdem erließ er eine Ordonnance, die nach den Festlegungen des Januarediktes den protestantischen Kult in der Stadt erlaubte und nahm einige katholische Eiferer fest, die dagegen protestierten. Wie es scheint hat die Delegation der Stadt Nîmes nolens volens seine Anordnungen befolgt. Danach zog er nach Aix-en-Provence, wo ihm die Tore der Stadt ohne Widerstand geöffnet wurden. An einigen Straßenkreuzungen ließ er Galgen errichten und drohte, jeden hängen zu lassen, gleichgültig ob Protestant oder Katholik, der sich über das Januaredikt hinwegsetzte. Er rief die Parteigänger des katholischen Eiferers Durand des Pontevès, Seigneur de Flassans zur Ordnung und verbot ihm, in Aix-en-Provence weiter Jagd auf die Häretiker zu machen. Flassans selbst verwies er der Stadt, eine zu große Milde, wie sich bald herausstellte, denn der Vertriebene versammelte draußen im Lande seine Anhänger aufs neue und warb auch neue Truppen an, die nach den Italienkriegen allenthalben ohne Sold und Engagement die Provinz verunsicherten. Von dieser Soldateska ließ Flassans sich dann zum »Chevalier de la Foi« ausrufen. Kurz darauf baute er die Stadt Barjols im Osten der Provence zu seiner Operationsbasis aus. Sie sollte ihm als Stützpunkt für einen Guerillakrieg dienen, mit dem er den gesamten Süden des Landes überziehen und zum Katholizismus zurückführen wollte. Von Barjols aus unternahm er nach allen Seiten terroristische Kriegszüge gegen die hugenottische Bevölkerung des Landes und der kleinen Städte, die wegen der Grausamkeiten, die dabei verübt wurden schon bald in ganz Frankreich traurige Berühmtheit erlangten. Crussol sah diese Entwicklung mit Unbehagen. Er mußte gegen Flassans vorgehen und ihn in seiner Operationsbasis Barjols angreifen, aber für eine Belagerung der festen Stadt war sein Expeditionscorps zu schwach. Er warb deshalb nun seinerseits gemeinsam mit dem Gouverneur der Provence, Claude de Savoie, Comte de Tende Söldner an. Da aber die königlichen Kassen notorisch leer waren und auch auf diesem Wege die nötige Angriffsstärke von etwa 5000 Mann nicht zu erreichen war, faßte er den verhängnisvollen Beschluß, sich mit den calvinistischen Milizen des Guerillero Mauvans zu verbünden. Während das königliche Expeditionscorps Crussols gemeinsam mit den protestantischen Mi-


112 François de Lorraine, Duc de Guise, um 1560. Gemälde von François Clouet (Werkstatt). 113 Karte mit den Truppenbewegungen des Ersten Hugenottenkrieges 1562/63.

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lizen Mauvans auf Barjols zumarschierte ereignete sich am 1. 3. 1562 das Massaker von Vassy, bei dem in Gegenwart des Führers der Katholiken, François de Guise, seiner Frau und des Kardinals de Guise eine unbewaffnet zum Gebet versammelte protestantische Gemeinde niedergemetzelt worden war. Die Nachricht, die sich wie ein Lauffeuer verbreitete und die den Ausbruch des Ersten Hugenottenkrieges zur Folge hatte, muß die Stimmung unter den protestantischen Milizionären Mauvans bis aufs äußerste angeheizt haben. Nach einwöchiger Belagerung und dauerndem Beschuß durch seine Artillerie befahl Crussol am 6. 3. 1562 den Sturm auf Barjols, um Flassans, der sich in die Burg des Ortes zurückgezogen hatte, habhaft zu werden. Die ersten in der Bresche waren die Milizen Mauvans. Auf dem Weg zur Burg, die am Ende es Ortes liegt, metzelten sie die gesamte katholische Bevölkerung nieder. Als die Reiterei Crussols in die brennende Stadt einrückte sahen sie vor sich ein gespenstisches Schauspiel. Inmitten der Berge von Leichen wahllos niedergemachter Zivilisten, Frauen und Kinder fanden sie Mauvans Hugenotten mit entblößtem Haupt im Gebet niederknien, um Gott für den Sieg über die Papisten zu danken. In dieser bizarren Szene muß Crussol den ganzen Wahnsinn der heraufziehenden Religionskriege vor Augen gehabt haben. Die Leidtragenden von Intoleranz und Verfolgung waren ja im ganzen Land vor allem die Protestanten. Zum Schutz dieses Bevölkerungsteils war das Januaredikt erlassen worden, das Crussol durchzusetzen hatte. Und ausgerechnet diese verfolgte Minderheit schreckte nicht davor zurück bei erster Gelegenheit selbst zum Verfolger zu werden und gna-

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denlos alles was anders dachte oder betete mit Stumpf und Stiel auszurotten. Das Erlebnis scheint auf Crussol eine traumatische Wirkung ausgeübt zu haben, um so mehr, als er dafür ein gutes Stück Verantwortung mittrug, auch wenn Mauvans Milizen auf eigene Faust und gegen seine Befehle gehandelt haben mögen, aber ohne die fragwürdige Allianz, die er mit dem Fanatiker eingegangen war, wäre es dazu auch nicht gekommen.127 Crussol beendete seine Missionen im Süden mit der Wiederherstellung des Religionsfriedens in Montpellier. Auch hier gelang es ihm, die Bürgerschaft mit einer wohlkalkulierten Mischung aus glaubwürdiger Gewaltandrohung und vermittelnder Diplomatie zur bedingungslosen Akzeptanz des Januarediktes anzuhalten. Trotz des Unglücks von Barjols besaß er auch bei den Katholiken noch so viel Kredit, daß man ihn immer noch als gerechten und ausgleichenden Vermittler annehmen konnte. Crussol erscheint als »Podestà« im klassischen Sinne, als Schlichter, der seine Gewalt letztlich im Interesse aller Parteien anwendet. Nach dem Ende der Mission in der Provence kehrte er nach Paris zurück um bei Hof Bericht zu erstatten. Das Echo der Regentin scheint verhalten gewesen zu sein, denn das Massaker von Barjols hatte nicht dazu beigetragen, die Wogen im Lande zu glätten.128 Dennoch war sie wohl im Wesentlichen mit seinen Diensten zufrieden. Von Paris kehrte Crussol im Herbst über die Pfalz, wo er seine in zweiter Ehe mit dem Rheingrafen verheiratete Mutter besuchte, und über Genf und das Dauphiné auf sein Château de Charmes im Vivarais zurück. Die Ereignisse von Barjols bedeuteten eine Wende im politischen Denken Crussols. Bis zu den schrecklichen Ausbrüchen des Fanatismus,


114 Der Pont du Gard mit den unterhalb gelegenen Felsklippen, in denen am 12. 12. 1562 Crussol das »antikische Buffet« zu Ehren des jungen Königs ausrichten ließ. 115 Die Route der »Tour de France royale« 1564 bis 1566. Die Größe der Punkte gibt die Aufenthaltsdauer an einzelnen Orten an.

die er als Militär und Friedenstifter in der Provence aus nächster Nähe miterleben mußte, für die er gar wie in Barjols mitverantwortlich war, muß er bis 1562 noch immer an die Möglichkeiten eines Ausgleichs zwischen den Konfessionen geglaubt haben. Das Scheitern des Religionskolloquiums von Poissy hatte zwar in aller Deutlichkeit vorgeführt, daß an eine gemeinsame französische Kirche unter dem Dach eines reformierten Katholizismus wohl nicht mehr zu denken war. Aber die Ziviltoleranz der Religionsgemeinschaften schien noch immer möglich. Angesichts des Abgrundes von Hass und Gewalt müssen ihm nunmehr auch an dieser Option fundamentale Zweifel gekommen sein. In der Politik scheint Crussol Ende 1562 mit einem Modell zu sympathisieren, das langfristig auf eine Segregation der religiösen Parteien nach dem Prinzip der konfessionell gebundenen Fürstenstaaten in Deutschland hinausgelaufen wäre. In der Provinz Languedoc, deren Ständen Antoine de Crussol vorstand, war eine »Assemblée généralle des états dudict païs de Languedoc« zusammengetreten, die das Bas-Languedoc, das überwiegend protestantisch bevölkert war, zu einem reformierten Land innerhalb einer konfessionell aufgeteilten Konföderation unter dem Dach der Krone machen wollte. Die »Assemblée« verstand sich ausdrücklich als ein Übergangsmodell bis zur Volljährigkeit Karls IX., die nach französischer Königstradition mit 15 Jahren – also am 27. 06. 1565 – erreicht worden wäre, tatsächlich aber schon zum 17. 08. 1563 proklamiert wurde. Dessen ungeachtet hatte sich die »Assemblée« eine genau ausgearbeitete Verfas-

sung gegeben, die eine sehr weitgehende und auf Dauer angelegte Autonomie des Languedoc vorsah. An der Spitze der Verwaltung stand ein »Conseil du pays« aus zwölf Mitgliedern, das von einem mit großer Vollmacht ausgestatteten »Chef militaire et Protecteur« geleitet wurde. Während Crussol sich auf seinem Château de Charmes im Vivarais aufhielt, suchte ihn eine Delegation der »Assemblée« auf, die ihn bat, das Amt des »Chef militaire et Protecteur« zu übernehmen. Crussol war als Familienoberhaupt eines der ältesten und einflußreichsten Geschlechter des Languedocs für diese Rolle gewissermaßen »von Haus aus« prädestiniert, deshalb bedeutet das Ansinnen der Assemblée nicht, daß man ihn für einen besonders glühenden Verfechter der hugenottischen Sache hielt. Aber immerhin muß man in ihm einen prominenten Parteigänger gesehen haben. Nach einigem Zögern sagte er zu, legte aber großen Wert auf die Feststellung, daß es sich um eine Interimslösung bis zur Volljährigkeit des Königs handelte. Außerdem machte er es zur Bedingung, daß die Assemblée sich nicht gegen Edikte oder die Autorität des Königs stellte und alle »politischen Gesetze des Königreiches« respektieren würde. Ferner stellte er klar, daß er keine Vollmachten der Geistlichkeit nach dem Modell von Calvins Genfer Glaubensdespotismus akzeptieren würde. Unter diesem Vorraussetzungen wählte ihn die Assemblée in ihrer Sitzung vom 2. bis 11. 11. 1562 zum »Protecteur des Calvinistes du Midi«.129 In einem auf den 14. 11. 1562 datierten Schreiben erstattete er der Regentin einen ausführlichen Bericht über die Vorgänge, um nicht den geringsten Zweifel an seiner Königstreue und seiner 77


Loyalität ihr gegenüber aufkommen zu lassen. Anschließend machte er sich daran, in Nîmes eine rein calvinistische Verwaltung aufzubauen, die allerdings alle Exzesse des Genfer Modells vermied. Dennoch wurde das gesamte Virement von der Krone mit Mißtrauen betrachtet. Katharina, so heißt es, machte ihm am 23. 12. 62 heftige Vorwürfe, daß er sich so weit ins Lager der Hugenotten hineinbegeben hatte. Im Grunde genommen hatte Crussol keine andere Wahl, als dem Ansinnen der Assemblée stattzugeben, da er zum Hochadel der Region gehörte und schon aus Patronatspflichten zum Sprachrohr seiner Stände, gleichwelcher konfessionellen Couleur bestimmt war. Wohl deshalb hat ihm die Regentin nicht die Freundschaft entzogen, war sie doch von seiner Loyalität überzeugt, und dies mit Recht, wie die späteren Ereignisse belegen.

Crussol führt noch einige Monate lang im Auftrage der Krone im Süden weitere militärische Missionen durch, um die Eiferer beider Seiten von Übergriffen zurückzuhalten. Am 9. 1. 1563 verhaftete er kurz vor dem Ende des Ersten Hugenottenkrieges den Baron d’Arets, den Kommandanten der Hugenottenarmee in der Provence und dem Dauphiné, der sich in den vorausgegangenen Kriegshandlungen durch unsägliche Grausamkeiten schändlichst hervorgetan hatte. Danach eroberte er für den König Sérignan und Orange, das der Condottiere Serbelloni im Jahr zuvor mit seinen päpstlichen Truppen den Protestanten entrissen hatte. Crussols eigener Bruder Charles war dabei umgekommen, zusammen mit einem Großteil der protestantischen Bevölkerung. Aber auch die Katholiken, die Serbelloni in Abwesenheit des Stadtkommandanten Perinet Parpaille heimlich herbeigerufen hatten, waren von der päpstlichen Soldateska gnadenlos niedergemacht worden, als sie sich in sonntäglicher Kleidung auf dem Hauptplatz von Orange versammelt hatten, um ihre »Befreier« zu begrüßen.130 Nach Orange und Sérignan lieferte sich Crussol einen zermürbenden Kleinkrieg mit den Truppen des Herzogs von Nemours, der die Entführung von Katharinas jüngstem Sohn Heinrich angezettelt hatte, um im Falle ihres Umschwunges ins Lager der Protestanten eine königliche Geisel in der Hand zu haben. Am 29. 8. 1563 übergab er dem Gouverneur des Limousin, dem Grafen Lévis-Ventadour alle festen Plätze, die die Hugenotten im Languedoc widerrechtlich besetzt hielten. Danach wurde er an den Hof zurückbeordert, wo er Bericht erstattete und Katharina ihn diesmal hocherfreut über seine Erfolge mit königlichem Wohlwollen empfing. Etwa um diese Zeit begann Crussol damit, seine öffentliche Abkehr vom Calvinismus vorzubereiten. Seine religiösen Überzeugungen waren zu dieser Zeit wohl schon längst die des abgeklärten Humanisten, der sich in einen neuplatonisch geprägten Deismus zurückgezogen hatte. Das Château de Maulnes, dessen Ausführungsplanung – wie wir noch sehen werden – in etwa diese Zeit einzuordnen ist, dokumentiert diese Haltung in aller Klarheit. Aber öffentlich war er noch immer der Führer der Protestanten des Midi, auch dies nicht aus eigentlich religiösen Gründen sondern aus den schon erwähnten Patronatspflichten und aus der Position eines politischen Pragmatikers, der, nach dem Scheitern der Ziviltoleranz, in der konfessionellen Segregation nach territorialen Gliederungen die einzige langfristige Friedensperspektive erkannt hatte. Nachdem nunmehr die Proklamation der Volljährigkeit des Königs bevorstand mußte er nach einem Weg suchen, der ihn aus einem möglicherweise heraufziehenden Konflikt seines Amtes als Protecteur des Calvinistes du Midi mit seinen Treuepflichten gegenüber der Krone herausführen konnte. Im Sommer 1563 hatte er sich mit der Frage an Calvin gewandt, ob es ihm als Protestanten erlaubt sei, öffentlich an katholischen Zeremonien und Prozessionen teilzunehmen, wozu er als Chevalier d’honneur de la Reine-Mère ja von Amts wegen verpflichtet war. Sein Brief verrät keine großen Seelennot, war er doch weniger aus theologischen Erwägungen oder aus Glaubensüberzeugungen Protestant geworden, als aus Verachtung für die Dekadenz der katholischen Amtskirche. Vielmehr mußte er sich um die Vereinbarkeit seiner Rolle

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als Führer der Protestanten im Languedoc mit seinen Amtspflichten als Conseiller du Roi sorgen. Die Antwort des Reformators war brüsk und engstirnig: »Wir können nicht am Abendmahl Jesu Christi teilnehmen,« lautete der Bescheid,131 »und gleichzeitig uns beim Götzendienst zeigen.« Diese Stellungnahme Calvins hatte Crussol erwarten können, kannte er doch den Reformator persönlich und den gleichgeschalteten Genfer Gottesstaat aus eigener Anschauung. Man muß deshalb wohl annehmen, daß er sich mit seiner Anfrage die schriftliche Begründung für den Verzicht auf den Vorsitz der protestantischen »Assemblée« des Languedoc liefern lassen wollte, der ihn nach der Proklamation der Volljährigkeit des Königs in erhebliche Loyalitätsprobleme stürzen mußte, wenn dieser eine weniger hugenottenfreundliche Politik betreiben sollte. Die beiden folgenden Jahre 1564 und 1565 brachten eine Zeit relativen Friedens. Die Regentin nutzte dies um ihren nunmehr für volljährig erklärten dreizehnjährigen Sohn als Karl IX. im ganzen Reich vorzuführen. Am 24. 1. 1564 begann die Grand Voyage du Royaume, die den gesamten Hof im Laufe eines Jahres durch alle Provinzen bis in die entlegensten Winkel Frankreichs führte.132 Auch Antoine de Crussol und Louise de Clermont nahmen an dieser rituellen Umschreitung des Königreiches teil und als prominente Persönlichkeiten bei Hof hatten sie auch eine Station für den Empfang des Königs herzurichten. Am 12. 12. 1562 speiste der Hof auf dem Schloß StPrivat der Familie Crussol, nicht weit vom Pont du Gard entfernt. Nach dem Essen hielten die Gastgeber eine Überraschung bereit. Die Gesellschaft begab sich zu Fuß zum Pont du Gard, wo angesichts der großartigen römischen Kulisse der Nachtisch gedeckt war. Aus einer Höhle in den Klippen am Fuß des Aquäduktes, die Antoine seit seiner Kindheit kannte, kamen als Nymphen gekleidete Mädchen hervor und trugen in Körben eingelegte Früchte und Süßigkeiten herbei, zu denen Dessertweine gereicht wurden.133 Die amüsante Episode verrät – bei aller Plaisanterie – ein waches Gespür für den Genius loci und eine ungebrochene Präsenz der Antike im Selbstverständnis Crussols, eines Südfranzosen aus altem Languedoc’schen Adel. Anfang 1565, als er noch mit dem Hof auf der Grand Voyage du Royaume unterwegs war, wurde Crussol eine außergewöhnlich hohe Auszeichnung für die Dienste zuteil, die er nunmehr seit vielen Jahren loyal im Dienst der Krone geleistet hatte. Im April, in Mont-de-Marsan erhob der König die Vizegrafschaft Uzès zum Herzogtum. Zugleich verlieh er Crussol den erblichen Titel des Premier Duc de France, damit war er der ranghöchste Herzog des Königreiches. Die Grand Tour du Royaume endete am 1. 5. 1566, wenige Tage später – am 7. 5. 1566 – unterzeichnete Crussol persönlich in Tonnerre die Verträge mit den Maurer- und Zimmerleuten, die das Château de Maulnes errichten sollten. Dies ist die einzige Schriftquelle, die einen gesicherten Terminus für den Schloßbau liefert. Der Baubeginn der Gesamtanlage, mit Erdund Gründungsarbeiten und der Wasserhaltung der Quelle ist jedoch wohl schon ein Jahr früher anzusetzen, da in den Baumeisterverträgen nur vom Corps de Logis die Rede ist, an dem »unverzüglich und ohne Unterbrechungen« gearbeitet werden sollte. Im Mai 1566 müssen die dafür not-

wendigen Vorarbeiten also bereits abgeschlossen gewesen sein. Der erste Spatenstich wird demnach noch etwa ein Jahr früher erfolgt sein, wohl schon kurz nach der Erhebung Crussols zum Ersten Herzog Frankreichs (April 1565), als es für ihn aus Standesgründen dringend geboten war, das Projekt in Angriff zu nehmen. Bei Baubeginn haben die fertigen Entwürfe bereits vorgelegen, von denen auch in den Verträgen die Rede ist, und wenn man für die Entwurfs- und Planungsarbeit etwa ein Jahr annimmt fällt die Konzeption des Projektes – bzw. seiner endgültigen Bearbeitung – in die letzten Monate des Jahres 1563. Zwischen dem 29. 8. 1563 und dem Beginn der Grand Voyage du Royaume am 24. 1. 1564 haben sich Antoine de Crussol und Louise de Clermont in Paris aufgehalten. Hier also, und gemeinsam mit einem Architekten, der ebenfalls in Paris ansässig war, muß das Projekt konkrete Gestalt angenommen haben. Am 25. 9. 1567 wurde das Königreich aufs Neue von einer ungeheuerlichen Gewalttat erschüttert. Condé hatte versucht, sich in der »Surprise de Meaux« des jungen Königs zu bemächtigen und ihn samt seiner Mutter zu entführen. Der Überfall schlug fehl, aber mit ihm begann der Zweite Hugenottenkrieg. Ein erster trauriger Höhepunkt der Ausschreitungen, die ihn begleiten, ist die Michelade von Nîmes am 30. 9. 1567. In der Stadt, in der Crussol in seiner Eigenschaft als »Chef, Deffenseur et Conservateur du pays« wenige Jahre zuvor die hugenottische Verwaltung installiert hatte, wurde die gesamte katholische Bevölkerung niedergemetzelt. Es ist dies die zweite Katastrophe, die Crussol durch eine schon Jahre zuvor getroffene Maßnahme mitverursacht hatte, die eigentlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und damit auch dem Schutz der Minderheit dienen sollte. Dennoch wurden keine Vorwürfe gegen ihn erhoben, man machte die Zeitumstände und den immer stärker werdenden Hass der Konfessionsgemeinden dafür verantwortlich. Und angesichts der täglichen Greuel und des allgemeinen Mordens stumpfte ohnehin jede Wahrnehmung ab, die noch imstande gewesen wäre, eine einzelne Schreckenstat aufzunehmen. Ungeachtet aller Greuel dieser Zeit stand Crussol nunmehr im Zenit seiner Laufbahn, er hatte die Erntezeit des Lebens erreicht und es folgten weitere Ehrungen für längst geschlagene Schlachten und lang zurückliegende diplomatische Missionen im Dienst der Krone. Im Oktober 1568 berief ihn der König in den Michaelsorden, Crussol wurde zum Chevalier de l’Ordre du Roi ernannt. Dies war der höchste Verdienstorden des Königreiches, den schon Ludwig XI. 1469 eingerichtet hatte. Bis 1560 war die Zahl seiner Mitglieder auf höchstens 36 begrenzt, danach wurde sie auf 54 Mitglieder erhöht. Trotz dieser hohen Ehrungen begann Crussol nunmehr zu privatisieren. Wie der Kanzler Michel de l’Hôpital, der im Juni 1568 zurücktrat, zog er sich schrittweise aus dem öffentlichen Leben und dem sich ständig verhärtenden Parteienzwist am Hofe zurück. Die Jahre 1569 und 1570 verbrachte er – von kurzen Unterbrechungen abgesehen – fast ausschließlich in Maulnes. Er wohnte auf der Baustelle, so scheint es, und gemeinsam mit Louise blieb er sogar im Winter 1569/1570 dort. Es muß dies eine Zeit gewesen sein, in der sich das Bauherrenpaar sehr engagiert in den Bau des Schloßes mit eingebracht hat, wo eben mit der Arbeit an den Ausbaudetails des Corps de Logis begonnen worden war.

116 Louis de Bourbon, Prince de Condé, der Verschwörer der »Surprise de Meaux«, die den Zweiten Hugenottenkrieg auslöste. 117 Die Renaissancefassade des Schlosses von Uzès, mit der Crussol die Hoffront des mittelalterlichen Baus verkleiden ließ. Sie wird Philibert De l’Orme zugeschrieben. 118 Karte mit den Truppenbewegungen des Zweiten Hugenottenkrieges 1567/68. 119 Karte mit den Truppenbewegungen des Dritten Hugenottenkrieges 1568–1570. 79


120 Marguerite de Valois, die spätere Reine Margot, um 1568. 121 Heinrich von Navarra, der spätere Heinrich IV. von Frankreich. 122 Die Ermordung Colignys am 24.8. – dem Bartholomäustag – 1572. 123 Gaspard de Coligny, der Führer der Hugenotten, um 1570 124 Karte mit den Truppenbewegungen des Vierten Hugenottenkrieges 1572/73. Auf dem Rückzug von La Rochelle nach Aufhebung der Belagerung kam Antoine de Crussol am 15. 8. 1573 ums Leben.

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Etwa um diese Zeit muß auch die klassische dreigeschossige Fassade mit rhythmischen Traveen errichtet worden sein, mit der Crussol die Hoffront seines Schlosses in Uzès verkleiden ließ und die Philibert De l’Orme zugeschrieben wird.134 Die Fassade ist zwischen einer spätgotischen Kapelle auf der einen und einem mittelalterlichen Turm auf der anderen Seite förmlich eingeklemmt. Die klassischen Gesimse schneiden auf beiden Seiten in die vorhandene Architektur ein, die rings um die Triglyphen des dorischen Gebälks ausgetieft ist und wie weggebrochen aussieht, so daß es scheint, als sprenge die Kraft des Neuen das mittelalterliche Gemäuer auseinander. Am Dritten Hugenottenkrieg, der im August 1568 begann, hat sich Crussol praktisch nicht beteiligt. Der Krieg endete am 8. 8. 1570 mit dem Frieden von St-Germain wo den Hugenotten zum ersten Mal vier »Sicherheitsplätze« zugestanden wurden, feste Städte, die von einem protestantischen Gouverneur regiert wurden und auch in Friedenszeiten eine starke protestantische Garnison unterhielten. Die vier Sicherheitsplätze, in die sich die Protestanten in Zeiten der Bedrängnis zurückziehen konnten waren La Rochelle, Montauban, Cognac und La Charité. Im Prinzip bedeutete diese Einräumung der Sicherheitsplätze, daß eine konfessionelle Segregation der Bevölkerung nach Städten und Landschaften möglich wurde, wie sie auch die protestantische Assemblée des Languedoc mit Crussol an der Spitze 1562 ins Auge gefaßt hatte, wenngleich ohne den nunmehr drohenden Separatismus und damals noch getragen von einer bedingungslosen Loyalität zur Krone. Dem Ansehen der Regierung Katharina Medicis und Karls IX. hat die in St-Germain ausgehandelte Lösung sehr geschadet, denn das unantastbare Prinzip der Einheit des Königreiches wurde erstmals und nachhaltig untergraben. Während des Dritten Hugenottenkrieges war Crussol als Conseiller du Roi ab 1571 an den Vorbereitungen beteiligt, die zur Verheiratung von Katharinas jüngster Tochter, Marguerite de Va-

lois, mit Heinrich von Navarra führen sollten. So hoffte man dem Religionskonflikt durch die Verbindung der katholischen Prinzessin von Frankreich – der späteren Reine Margot – mit dem protestantischen Prinzen von Navarra – dem späteren Heinrich IV. – auf lange Sicht doch noch die Schärfe zu nehmen. Crussol trat zu dieser Zeit am Hofe wieder als Katholik auf, jedoch ohne sich im Streit der Religionsparteien sonderlich zu profilieren. Für ihn selbst bedeutete dieses Bekenntnis offensichtlich nichts mehr, da er sich längst in eine humanistische, über die konfessionellen Dogmen erhabene Position zurückgezogen hatte. Die Teilnahme an den kirchlichen Zeremonien des Hofes sah er wohl nur noch als Ausweis seiner Loyalität gegenüber dem katholischen Königshause und Calvins Aufforderung, nicht an feierlichen Prozessionen oder der Messe teilzunehmen ignorierte er in aller Öffentlichkeit. Am 18. 8. 1572 führte Crussol als Chevalier d’honneur die Königin-Mutter bei der Eheschließung von Heinrich und Marguerite zum Altar von Notre Dame. In Paris war wegen der Hochzeitsfeierlichkeiten nahezu der gesamte Hochadel des Königreiches versammelt, auch die hugenottische Führung, die sich mit Coligny im Faubourg St-Germain einquartiert hatte. Coligny hatte Katharina wiederholt gedrängt, auf Seiten der aufständischen Niederlande in den Spanisch-Niederländischen Konflikt einzugreifen. Er vertrat die Ansicht, daß ein solcher auswärtiger Krieg gegen einen gemeinsamen Feind das Volk einigen würde und dazu beitragen könnte, die religiösen Gegensätze im Inneren auf Dauer zu überwinden. Katharina aber argwöhnte, daß er dieses Argument nur vorschob, in Wirklichkeit aber mit den calvinistischen Niederlanden eine breite Operationsbasis für den entscheidenden militärischen Schlag gegen die katholische Partei in Frankreich gewinnen wollte. Sie hatte deshalb alle seine Vorstöße in dieser Richtung brüsk abgelehnt, was den Admiral so

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sehr verärgerte, daß er der Königin-Mutter schließlich mit Bürgerkrieg drohte.

125 Die Greuel der Bartholomäusnacht in Paris, die auf dem Pont Neuf nach dem Mord an Coligny begannen. Gemälde von François Dubois.

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Katharina war aufs äußerste alarmiert und nahm die Drohung sehr ernst. Ohne den König zu informieren war sie in einem geheimen Gespräch mit dem Herzog von Guise übereingekommen, Coligny durch Mord aus dem Weg räumen zu lassen. Das Attentat wurde am 22. 8. 1572 verübt, aber es schlug fehl, Coligny war nur leicht verletzt. Der ahnungslose junge König, der den Admiral sehr verehrte, eilte an sein Krankenlager und schwur, umgehend eine Untersuchungskommission zur Auffindung der Schuldigen einzusetzen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Wahrheit ans Licht kommen würde. Katharina beschloß nach hektischen Beratungen mit den Führern der katholischen Partei im kleinen Rat, dem Conseil Restreint, dem diesmal der Herzog von Anjou, der Herzog von Nevers, Tavannes und Gondi angehörten, diesen Enthüllungen und allen Racheakten der Hugenotten zuvorzukommen, indem man die gesamte hugenottische Führung in einer Polizeiaktion liquidieren ließe. Sie rief den jungen König zu sich und unterrichtete ihn von ihren Absichten. Karl war außer sich, aber die Mutter setzte ihm unaufhörlich zu, malte ihm die Folgen eines hugenottischen Aufstandes und auch ihr eigenes Schicksal und das seinige in so düsteren Farben, daß er schließlich ihrem Plan zustimmte. Henri de Guise begleitet von Henri d’Angoulême hatte die Aufgabe übernommen, den verwundeten Coligny und seine engsten Gefolgsleute umzubringen. Dazu benötigte man nur wenige Soldaten, die dem Herzog bedingungslos ergeben waren und Guise machte sich unverzüglich an die Vorbereitung der Bluttat.

Zur Vernichtung der hugenottischen Führung jedoch, die zwar aus nur etwa 20 bis 30 Personen bestand, die aber im Faubourg St-Germain in der Nähe eines großen Hugenottenlagers logierte, bedurfte es einer größeren Polizeitruppe. Diese stand mit den städtischen Bürgermilizen von Paris zur Verfügung. Katharina beorderte deshalb den Prévôt des Marchands, Le Charron, der zugleich Kommandeur der katholischen Bürgermiliz von Paris war, zu sich, und erteilte ihm den Befehl mit seiner Truppe in den Faubourg St-Germain einzurücken und dort gezielt die hugenottische Führung zu ermorden. Sie übergab ihm eine Liste mit den Namen und den Erkundigungen darüber wo sie logierten. Sollte es zu größeren Auseinandersetzungen kommen hatte ein gewisser Marcel, der Vorgänger Le Charrons im Amt des Prévôt, den Befehl, ihn mit einer zusätzlich mobilisierten Hilfstruppe zu unterstützen. Auch er wurde von Katharina persönlich instruiert. Am 24. 8., dem Bartholomäustag, wurde der Plan zeitgleich umgesetzt. Coligny und seine Gefolgsleute wurden wie geplant ermordet, ein böhmischer Söldner in den Diensten des Herzogs von Guise führte die Bluttat aus, während dieser draußen auf der Straße wartete, um die Leiche zu identifizieren. Auch die übrigen hugenottischen Führer die auf der Liste standen wurden einer nach dem anderen umgebracht. Damit sollte die Aktion beendet sein, aber es kam ganz anders. Als Marcel mit seiner Hilfstruppe den Pont Notre Dame überquerte, um zum Faubourg St-Germain zu gelangen, und der blutrünstige Mob zahlreiche hugenottische Häuser und Geschäfte passieren mußte, kam es zu spontanen Plünderungen, dann zum Mord an den Besitzern. Es breitete sich eine allgemeine Pogromstimmung aus, die in kurzer Zeit große Teile der katho-


lischen Bevölkerung erfaßte und überall in der Stadt begann ein fürchterliches Morden. Als Katharina und der König davon hörten erteilten sie augenblicklich den Befehl, alle Gewaltakte sofort zu beenden, aber die Greuel waren nicht mehr aufzuhalten. Die Milizen Le Charrons, die sich bemühten, dem Treiben Einhalt zu gebieten und die königlichen Befehle auszuführen, waren nicht mehr Herr der Lage. Für drei Tage herrschten in Paris apokalyptische Zustände, dann endlich kehrte Ruhe ein, nachdem etwa 2.000 Hugenotten ihr Leben gelassen hatten.135 Mit der Bartholomäusnacht, die wegen der gleichzeitigen stattfindenden Eheschließung Heinrichs von Navarra mit der Reine Margot auch als die »Pariser Bluthochzeit« in die Geschichte eingegangen ist, beginnt der Vierte Hugenottenkrieg. Die Überlebenden der Pariser Greuel und des Mordens, das anschließend das ganze Land ergriffen hatte, zogen sich in ihren Sicherheitsplatz La Rochelle zurück. Es gelang ihnen, die Stadt, die über See von England mit Nachschub versorgt werden konnte, so zu befestigen, daß sie uneinnehmbar schien. Karl IX. setzt eine gewaltige Streitmacht unter dem Befehl des Herzogs von Anjou gegen die Festung in Marsch. Im November 1572 begann die Belagerung der Stadt. Auch Antoine de Crussol beteiligte sich als Capitaine de la Gendarmerie in der königlichen Armee an dem Feldzug und dies sollte ihm zum Verhängnis werden. Die Belagerung von La Rochelle war eine der größten militärischen Unternehmungen des Jahrhunderts die den Aufbau einer bisher ungekannten Logistik erfordert hätte. Das Versorgungsnetz des Königreiches reichte jedoch nicht aus, eine so große Armee konstant mit Nahrung und Nachschub zu versorgen. In den Feldlagern rings um die Stadt herrschten katastrophale Zustände, Seuchen grassierten unter den Soldaten, hinzu kam ein ausnehmend strenger Winter. Die Belagerer versuchten zwischen Februar und Juni 1573 in acht Sturmattacken die Stadt einzunehmen, aber sie konnten nichts ausrichten. Ihre Verluste waren gewaltig, Brantôme spricht von 22.000 Gefallenen, was übertrieben sein mag, aber nach den erhaltenen Armeelisten sind allein von den 155 Feldkommandanten 66 gefallen und 47 wurden verletzt.136 Die Belagerung wurde am 6. Juni 1573 ergebnislos abgebrochen. Es war deutlich geworden, das keine der Parteien mehr die Kraft und die militärische Fähigkeit besaß, die andere zu vernichten. Mit dem Edikt von Boulogne endeten die Kriegshandlungen am 30. 6. 1573 und die Artikel des Friedenvertrages zeigen, daß keine der beiden Seiten eine Gewinn erzielt hatte. Für die Protestanten blieb es bei den vier Sicherheitsplätzen, an denen ihnen die Ausübung des reformierten Kultes zugestanden wurde. Darüber hinaus enthält das Edikt eine Klausel, die jedermann im Königreich Gewissensfreiheit garantierte. Antoine de Crussol hatte sich im Feldlager vor La Rochelle eine Krankheit zugezogen, über die wir weiter nichts wissen. Er starb am 15. 8. 1573 auf dem Rückweg nach Burgund, die genaueren Umstände sind nicht bekannt. Mit Crussols Tod wurden in Maulnes die Bauarbeiten eingestellt und das Schloß blieb für Jahrzehnte unvollendet und unbewohnt liegen. Insbesondere zum inneren Ausbau ist es nicht mehr gekommen. Alles Wesentliche war zu diesem Zeit-

punkt jedoch bereits fertiggestellt, so daß Bauidee und Programm klar ablesbar vor uns stehen. Zu den Besonderheiten des Château de Maulnes gehört, daß das Schloß keine Kapelle besitzt, weder eine Kirche, die man nach der liturgischen Ausstattung als katholisch bezeichnen könnte, noch einen Tempel, wie ihn die Hugenotten zu eben dieser Zeit als einen neuen, ganz auf die Predigt hin ausgerichteten Versammlungsraum mit zentraler Kanzel auszubilden begannen. Stattdessen gibt es ein kleines Privatoratorium, das die religiöse Haltung der Bauherren erkennen läßt. Oratorien erlauben zwar in der Regel keine konfessionelle Zuordnung, da sie dem privaten Gebet und nicht dem öffentlichen Kult dienen und deshalb auch nicht wie Kirchen geweiht und mit Altar oder Kanzel ausgestattet sind. Dieses Oratorium jedoch ist auf eine bemerkenswerte Lichtregie hin orientiert ist. Das Licht tritt hoch oben durch ein einziges außen in der Fassade liegendes Okulus ein, fällt dann aber durch zwei quadratische Fensterschächte in zwei Strahlenbündeln geteilt ins Innere. Man kann dies als Metapher für die eine göttliche Wahrheit sehen, in die sich zwei Konfessionen gleichermaßen teilen. Das Fehlen einer Kirche – oder eines Tempels – ist frappierend, vor allem wenn man sich ins Gedächtnis ruft, wie überlegt die Schloßkapelle in aller Regel in die Ikonologie der Schlösser einbezogen ist. In Chambord liegt sie symmetrisch zum Wohnturm des Königs, diesem genau gegenüber und äußerlich von gleicher Gestalt, so daß Kirche und König den zentralen Donjon wie ein Bild der Zwei-Gewalten-Lehre flankieren. In Chenonceaux ist die gotische Kapelle dem Studiolo entgegengestellt und beide ragen als komplementäre Annexbauten aus dem kubischen Corps de Logis hervor. In der Bâtie d’Urfé liegt die Kirche am Ende eines Weges durch Grotten und Sala Terrena, wiederum kontrapunktisch zu Studiolo und Bibliothek, und so erscheint sie einerseits als der Glaubensgegensatz zur Rationalität des Wissens, andererseits als die Summe der Religiosität nach dem Gang durch die unterweltlichen Stätten der vorchristlichen Verehrung des Numinosen. In Nantouillet ist die Kapelle wie ein gläsernes Reliquiar auf extrem schlanken Pfeilern hoch über den Treppenabsatz auf dem Weg zum Erscheinungsbalkon gestellt, von hier aus tritt der Seigneur vor seine Untertanen, sie liefert gewissermaßen die Legitimation für die Parusie des Amtsträgers. Es ließen sich viele weitere Beispiele aus der Schloßbaukunst der Renaissance aufführen, die alle nur eines zeigen: Die vollkommene Abwesenheit der Kirche im Château de Maulnes ist ein Fanal, eine wohlbedachte und angesichts der Prominenz der Kapelle im Schlossbau der Zeit auch wohlverstandene Demonstration. Statt dem Kultischen einen bestimmten Raum zuzuweisen ist das Corps de Logis insgesamt als ein quasi sakrales Ensemble angelegt, das allerdings nicht mehr auf Altar oder Predigtstuhl oder ein anderes Emblem christlicher Religiosität ausgerichtet ist, sondern das die Naturelemente Licht, Feuer, Erde, Luft und Wasser inszeniert und mit den Mitteln der Sakralarchitektur kultisch überhöht. Eingebettet in ein Gehäuse, das aus den Grundfiguren der Geometrie, aus Kreis, Quadrat und Fünfeck zusammengesetzt ist, entsteht so ein Ganzes, in welchem das Elementare als das Höchste verehrt wird. Die programmatische Abwesenheit von Kirche oder Tempel bezeichnet die manifeste Abwen-

Königliche Wohnung

Kapelle

Das Château de Maulnes hat keine Kirche oder Kapelle, die im Bauprogramm eines französischen Schlosses dieser Zeit sonst niemals fehlen und in aller Regel sehr wohlüberlegt in Gesamtdisposition und Ikonologie der Architektur einbezogen sind. 126, 127 In Chambord (oben) beispielsweise ist die Kapelle symmetrisch zum Wohnturm des Königs angeordnet, in Nantouillet (unten) wie ein gläsernes Reliquiar auf extrem schlanken Pfeilern über dem Treppenpodest aufgestellt. 83


dung von jedweder konfessionellen Bindung, gleichzeitig jedoch bedeutet die kultische Überhöhung der Naturelemente und der platonischen Geometrie die Hinwendung zu einer vorkonfessionellen Religiosität des Elementaren, die sich auf die neoplatonischen Traditionen des Humanismus berufen kann – und will: Angesichts des unversöhnlichen Dogmenstreits der Epoche demonstriert die Architektur des Château de Maulnes eine Haltung, die die ohnehin nicht mehr erreichbare Versöhnung der religiösen Eiferer schlicht für überflüssig erklärt und stattdessen die Gelassenheit einer überkonfessionellen Position naturreligiöser, neuplatonischer Prägung demonstriert. Diese Haltung, die die Schöpfer des Château de Maulnes inmitten des religiösen Wahns der Epoche eingenommen haben ist selten in so großer Klarheit formuliert worden, wie in der Architektur dieses Schlosses. Zwar gibt es eine offensichtliche Verwandschaft zum Denken der Politiques um Michel de l’Hôpital, zwar kann man die schon erwähnte Concordia des Guillaume Postel als einen Schritt in die Richtung begreifen, der auch Antoine de Crussol und Louise de Clermont gefolgt sind, aber nie ist in gleicher Konsequenz jedwede dogmatisch verfaßte Konfession dabei zurückgelassen worden, wie dies der neuplatonische Kosmos des Château de Maulnes postuliert. Im Denken der Epoche gibt es dazu nur eine einzige direkte Parallele, die Religionsphilosophie von Jean Bodin (1529/30–1596).137 Jean Bodin gehörte zu den originellsten Denkern des Jahrhunderts. In seiner Jugend hatte er die Rechte studiert, sich aber schon früh und in wechselnden Rollen mit den unterschiedlichen Religionen und ihren Glaubenssätzen befaßt. Zunächst trat er als Mönch in den Orden der Karmeliter ein, wurde alsbald der Häresie beschuldigt und mußte vor der Chambre Ardente erscheinen, der er nur durch Protektion entkam. Er trat aus dem Orden aus, dann 1552, aufs neue verdächtigt, floh er nach Genf, wo er den totalitären Gottesstaat Calvins kennen lernte. Als er sich wieder sicher fühlen konnte, kehrte er nach Frankreich zurück, wo er ab 1557 römisches Recht an der Universität Toulouse lehrte. Nach 1561 ließ er sich schließlich als Advokat des Parlamentes von Paris in der Hauptstadt nieder. Im gleichen Jahr wurde Antoine du Crussol Mitglied im Conseil d’État, in dem Gremium also, das die königlichen Erlasse vorbereitete, die wiederum das Parlament zu registrieren hatte, bevor sie rechtskräftig wurden. Insofern kann es als sehr wahrscheinlich gelten, daß die beiden sich allein schon aufgrund gemeinsamer Dienstgeschäfte persönlich kannten.138 Ab 1571 gehörte Jean Bodin zum Haushalt von Franz von Anjou, dem jüngeren Bruder des Königs. 1584 zog er sich nach Laon zurück, dessen Baillage ihm zugefallen war und dort blieb er bis zu seinem Tode 1596. Jean Bodin hat neben einer Reihe juristischer und ökonomischer Schriften eine bedeutende Staatstheorie verfaßt, die Six livres de la Republique, die 1576 erschienen. Zeit seines Lebens befaßte er sich mit der Frage der religiösen Toleranz, die wie ein roter Faden sein gesamtes Lebenswerk durchzieht. Er selbst war offensichtlich ein Freidenker und vertrat schon früh einen Deismus, der der Schule von Padua nahe steht, wie aus seinem Briefwechsel mit Jean Bautru des Matras, einem Anwaltskollegen beim Parlament von Paris, 1562 oder 1563, hervorgeht.139 Die Summe seines Denkens hat Jean Bodin in einem erstaunlichen Spätwerk niedergelegt, das erst 84

Fenster 5.07

Statt einer Kapelle besitzt das Château de Maulnes ein Oratorium (5.07) im Privatappartement des herzoglichen Paares in der Nordspitze des Fünfecks zwischen den Kabinetten. Bemerkenswert ist die Beleuchtung: Das Licht fällt von außen durch ein hochliegendes Okulusfenster ein, teilt sich dann aber in zwei quadratische Innenfenster. Man kann dies als Metapher für die eine göttliche Wahrheit sehen, in die sich die zwei Konfessionen gleichermaßen teilen. 128 Das Okulusfenster außen. 129 Isometrie von Okulus und verdoppeltem Innenfenster. 130 Die zwei quadratischen Fenster innen. 131 Isometrie des Oratoriums mit Rekonstruktion einer möglichen Ausstattung mit fest eingebautem Betgestühl.


lange nach seinem Rückzug aus dem öffentlichen Leben um 1593 in Laon abgeschlossen wurde, das Colloquium Heptaplomeres. Gedruckt wurde die Schrift erst 1841 in Berlin, allerdings zirkulierten zahlreiche zeitgenössische Abschriften und neben der lateinischen Fassung war auch eine handschriftliche französische Übersetzung in Umlauf.140 Das Colloquium Heptaplomeres ist ein Religionsgespräch, zu dem sich sieben Vertreter der Weltreligionen und der Religionsphilosophien im Hause des Venezianer Coronaeus versammelt haben. Es sind dies der Lutheraner Fridericus, der Calvinist Curtius, der Jude Salomo, der Muslim Octavius, der Religionswissenschaftler Senamus und der Vertreter der Naturreligionen, Toralba. Der Hausherr selber, Coronaeus ist Katholik. Das Gespräch steht in der Tradition der De Pace Fidei (1453) des Nikolaus von Kues und des Religionskolloquiums von Guillaume Postel (1544). Hier wie dort geht es zunächst darum nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten und gegenseitigen Anknüpfungspunkte der verschiedenen Religionen herauszuarbeiten. Im Verlauf des Gespräches treten jedoch die Gegensätze immer schärfer hervor, es wird deutlich, daß im Beharren auf kontroversen Punkten keine Annäherung möglich sein wird. An dieser Stelle verläßt das Heptaplomeres die gewohnten Bahnen der Religionsgespräche, es geht ihm gar nicht mehr darum, die unterschiedlichen Positionen einander anzunähern, um sie schließlich zu vereinen, sondern es will sie in ihrer Unvereinbarkeit nebeneinander stehen lassen. Dies ist nur möglich, weil die klassischen Ansprüche der Religionen von den Sieben längst aufgegeben worden sind. In ihnen ist das Bewußtsein der Ausschließlichkeit ihres Glaubens längst gebrochen. Jeder ist zwar Vertreter seiner Religion, aber er kennt auch die anderen Religionen bis in die Einzelheiten und deshalb kann er aus einer Position der Abgeklärtheit heraus über ihre Voraussetzungen und historischen Ausformungen diskutieren. Keiner von ihnen muß mehr auf Wahrheitsanspruch, Ausschließlichkeit oder geschichtlicher Einzigartigkeit beharren, sondern jeder weiß, daß die wahre Gottesordnung im Konkreten immer nur verzerrt widergespiegelt werden kann. Religion ist nichts mehr als nur eine Fülle von historisch geformten Symbolen, in ihrer Gesamtheit nichts mehr als ein einziges großartiges Zeichen für eine ferne geistige Wirklichkeit, die sich im Konkreten der Welt nur höchst unvollkommen abbilden kann. Wenn es einen Grad der Vervollkommnung einer Religion gibt, dann dahingehend daß ihre Sätze und Zeichen so allgemein gefaßt, so unmittelbar einleuchtend und allgemeingültig sind, daß sie universale Akzeptanz finden. Aus dieser Perspektive ist die naturreligiöse Position des Toralba und die kontextualistische des Senamus vielleicht diejenige, die im Heptaplomeres die Palme davonträgt. Insofern ist es denkbar, daß sich in diesen Gesprächshaltungen Bodins eigene Auffassung artikuliert. Die Quintessenz des Colloquium Heptaplomeres besteht darin, daß die Religion ein hohes Bildungs- und Kulturgut ist, letztlich aber Privatsache des Einzelnen bleiben muß. Eine normative Kraft für das gesellschaftliche Leben oder gar für die Gestaltung der Strukturen des Staates wird ihr nicht mehr zugebilligt. Stattdessen muß die positive Ordnung des Staates so beschaffen sein, daß alle Weltanschauungen unter den Prämissen

der öffentlichen Ordnung, der Quies publica, darin einen Platz haben können. Vor dem Hintergrund der Religionskriege, die das Colloquium Heptaplomeres ja implizit reflektiert, wird die tagespolitische Brisanz, aber auch die zukunftsweisende Tragweite der fundamentalen Rückbesinnung deutlich, die hier gefordert wird: »Der eigentümliche geschichtliche Anspruch und die eigentümliche Lebensform der einzelnen Religionen ist preisgegeben und hat praktisch dem humanistischen Kulturbegriff und der neuen, politischen Ethik Platz gemacht. Die Sieben sind nur mehr Theoretiker ihrer Religion, aber Praktiker der bürgerlichen Ethik ihres Säkulums, und brave Stützen der tranquillitas publica. Damit ist der positiven religiösen Ethik ihr Stachel genommen.«141 Das Heptaplomeres endet damit, daß alle Beteiligten beschließen, nie wieder Religionsgespräche zu führen – mit einer Einschränkung, die noch einmal die humanistische Bildungsidee hervorhebt: »Unter Gelehrten allein (!) die göttlichen Dinge zu untersuchen und zu entwickeln ist jederzeit fruchtbar.«142 Die Folie des Denkens, der das Heptaplomeres aufmoduliert ist, scheint die Gleiche, wie die, die den architektonischen Formen und Gestaltungen des Château de Maulnes hinterlegt ist. Eine ganz unmittelbare Verbindung besteht zu den beiden konfessionell nicht gebundenen Teilnehmern des Gespräches, Toralba und Senamus. Beide sehen in den historischen Religionen lediglich Entwicklungsformen einer verschütteten göttlichen Naturreligion, die Senamus als symbolische Verweise, Toralba als Verhüllungen der Ursprünge begreift. Die Architektur des Château de Maulnes, die auf eine raumbildliche Inszenierung und Überhöhung von Licht, Feuer, Erde, Luft und Wasser in ihrem innersten Kern hin angelegt ist, muß man als einen steingewordenen Versuch begreifen, die Ursprünge selbst in der architektonischen Darstellung des Elementaren zu fassen, aus dem die Präsenz und die Schönheit des Numinosen noch ganz unmittelbar zu uns spricht. Es ist möglich, daß das Gedankengebäude Jean Bodins eine erste Anregung zu diesem architektonischen Konzept gegeben haben mag, nicht die endgültige Fassung des erst viel später erschienenen Heptaplomeres, wohl aber seine Grundlegung in den früheren Arbeiten zur Staatstheorie der Toleranz und zur deistischen Religionsphilosophie. Geistesverwandt waren Bodin und Crussol allemal, und auch die Möglichkeit eines persönlichen Gedankenaustausches über Jahre hinweg ist aufgrund der institutionellen Beziehungen durchaus gegeben, da beide wegen ihrer gleichzeitigen Tätigkeit im Parlament und Conseil einander mit großer Wahrscheinlichkeit gekannt haben. Der in Frage kommende Zeitraum umgreift genau die frühen 1560er-Jahre, insbesondere auch die Jahre 1563 und 1564, in denen die Entwurfsideen zum Château de Maulnes ganz allmählich eine immer konkretere Gestalt angenommen haben müssen. Trotz dieser biographischen Verknüpfungen müssen wir gar nicht so weit gehen, eine direkte Abhängigkeit zu konstruieren, wie plausibel sie auch immer sein mag. Es genügt darzutun, daß das Château de Maulnes in der architektonischen Prägnanz, mit der hier eine abgeklärte naturreligiöse Position am Vorabend der Religionskriege behauptet wird, als architektonisches Manifest vielleicht einzig dasteht, daß das Gedankengebäu85


de dahinter aber von vielen aufgeklärten Geistern der Epoche bevölkert wird. Nach Antoine de Crussols Tod wurde die Baustelle für lange Zeit geschlossen. Louise de Clermont hat, soweit wir wissen, das Schloß nie wieder betreten – so sehr muß der Bau ihr gemeinsames, mit dem Tod ihres Mannes obsolet gewordenes Projekt gewesen sein. Stattdessen nahm sie bald darauf ein anderes Vorhaben in Angriff, das noch einmal den Esprit dieses ungewöhnlichen Paares schlaglichtartig beleuchtet. Sie bemühte sich, das Maison Carrée in Nîmes zu erwerben und zu einer gemeinsamen Grablege für sich und Antoine de Crussol umzugestalten. Das Maison Carrée ist ein römischer Podiumstempel aus augustäischer Zeit, der ursprünglich am Forum der antiken Colonia Augusta Nemausus lag. Er wurde im Jahr 20/19 v.Chr. errichtet, war zunächst dem Agrippa geweiht, dann aber im Jahr 16 v.Chr. seinen Enkeln, den jung verstorbenen Adoptivsöhnen des Augustus, Caius und Lucius. Seitdem nannte man ihn den Tempel der »Principes Iuventutis«. Vom Typus her handelt es sich um einen Pseudoperipteros mit sechssäuligem Prostylos korinthischer Ordnung. An der Längsseite sind 8 der 11 Säulen als Wandsäulen ausgebildet, die Fronttreppe des Podiums ist 15 Stufen hoch. Dieser Tempel diente in der Spätzeit des römischen Reiches der Stadt als Capitol und seine kontinuierliche Nutzung, die auch unter westgotischer und vandalischer Herrschaft erhalten blieb, sicherte ihm den baulichen Fortbestand auch über die Antike hinaus. Im Mittelalter hatten die Grafen von Toulouse hier ihre Konsularbehörde untergebracht, danach jedoch ging der Bau in Privatbesitz über. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts gehörte er zwei Schwestern, den Erbinnen eines gewissen Pierre Boys und er diente jedenfalls teilweise als Wohnhaus. Deshalb war er mit Einbauten verstellt, eine Treppe war angebaut und auf einer der Seiten lehnte sich noch ein weiteres Haus gegen die antiken Säulen. Am 25. 11. 1576 reichte Louise de Clermont eine Eingabe beim Rat der Stadt Nîmes ein, mit der Bitte, daß die Ratsherren alles in ihrer Macht stehende tun möchten, um ihr den Kauf des Maison Carrée zu ermöglichen. Sie bot an, zu ihren Lasten eine Schätzung der Kosten für den Erwerb durchführen zu lassen, da sie das antike Bauwerk dann – einen vernünftigen Kaufpreis vorausgesetzt - »in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen wolle, um darin eine Grablege für den verstorbenen Herzog von Uzès, ihren Mann, und sich selbst einzurichten. Daneben wolle sie zwei Spitäler von Grund auf neu errichten, eines für Männer, das andere für Frauen, und für deren Unterhalt wolle sie eine Summe von 2.000 Livres Jahresrente zur Verfügung stellen.« Der Rat stimmte ihrem Vorschlag einstimmig zu, bedankte sich bei Louise für den Großmut, den sie der Stadt erweisen wollte und setzte eine Kommission von städtischen Notablen ein, die auf die Eigentümerinnen einwirken sollten, damit sie dem Verkauf des Maison Carrée zustimmten. Wie es scheint blieben ihre Bemühungen ergebnislos, denn wir hören im folgenden Jahr noch ein weiteres Mal in den Ratsprotokollen von dem Vorhaben, als Louise ihr Angebot mit der stattlichen Summe von 4.000 Livres konkretisierte. Auch dies hat offensichtlich die beiden Schwestern nicht zum Verkauf bewegen können.143 86

Das Vorhaben zur Wiederherstellung des Maison Carrée zusammen mit der Stiftung eines Doppelspitals und der Einrichtung der eigenen Grablege läßt noch einmal in aller Konsequenz deutlich werden, welch weit schweifender humanistischer Geist das Bauherrenpaar des Château de Maulnes beflügelte. Mit der Einrichtung einer wohltätigen Stiftung bei dem Maison Carrée stellt Louise sich in die Tradition der guten Fürstin, die aus humanitärer Verantwortung heraus Barmherzigkeit und Nächstenliebe übt, denn neben der sepulkralen Widmung des Tempels war dies der erklärte Zweck des Vorhabens. Zugleich jedoch geht damit ein konservatorisches Interesse einher, ein Bemühen um den Erhalt eines der bedeutendsten Denkmäler der Antike in der Provence, denn Louise stellt ausdrücklich klar, daß sie das antike Bauwerk zu restaurieren beabsichtigt. Dies ist ein großartiges Zeugnis für ihre antiquarischen Neigungen, und damit reiht sie sich ohne weiteres in die illustre Gesellschaft der Connaisseurs und Mäzenaten bei Hof und in ihrem eigenen familiären Umfeld ein, etwa ihres Schwagers, des Kardinals Du Bellay. Die Antikenzitate in Maulnes stehen so noch einmal in einem ganz anderen Lichte da, sie sind nicht einfach als architektonische Mode oder Ausweis humanistischer Bildung zu verstehen, sondern sie müssen als Ausdruck eines genuinen Interesses an der antiken Baukunst begriffen werden. Und schließlich beleuchtet das ganze Vorhaben noch einmal schlaglichtartig ihre Position in den unversöhnlichen religiösen Auseinandersetzungen der Epoche. Im Mittelpunkt des Projektes steht ja die Einrichtung einer Grablege, zwar nicht in dynastischer Perspektive, da ihre Ehe kinderlos blieb, sondern ausschließlich für sich selbst und Antoine.144 Grablegen der Adelsgeschlechter werden für gewöhnlich in Kirchen oder Kapellen untergebracht, aber davon ist hier nicht die Rede. Louise erwähnt in ihrer Eingabe an den Stadtrat von Nîmes mit keinem Wort, daß sie das Maison Carrée als Kirche umzuwidmen gedächte und dies wäre auch mit der gesamten Zielrichtung ihres Projektes nicht zu vereinbaren gewesen. Sie wollte etwas ganz anderes: Ihr Plan war es, die letzte Ruhestätte für sich selbst und Antoine zwar an einem geweihten Ort zu finden, der allerdings seine Weihe nicht aus einem christlichen Ritual empfangen hatte, sondern dessen Heiligung aus viel älteren Traditionen schöpfte, aus der ungebrochen bis in die Antike zurückreichende Verehrung des Numinosen.

132 Zum frommen Gedenken an die Bartholomäusnacht ließ Papst Gregor XIII. ein Gedächtnismedaillon mit der Umschrift VGONOTTORVM STRAGES 1572 prägen, das die Greuel als göttliches Strafgericht preist. Ein alttestamentarischer Würgeengel mit Herz und Schwert vernichtet die Ungläubigen.


133 Das Maison Carrée in Nimes, ein römischer Podiumstempel augustaeischer Zeit, worin Louise die Grablege für sich und Antoine de Crussol einrichten wollte. Das Gemälde von Hubert Robert, 1787, stellt den Tempel in die romantische Sehnsuchtslandschaft einer »Paysage Romain«, das Bauwerk selbst jedoch ist archäologisch korrekt wiedergegeben. Man sieht einen Zustand vor den puristischen Restaurierungen der Neuzeit, etwa so, wie Louise de Clermont den Bau gekannt haben mag, allerdings ohne die parasitären Anbauten des 16. Jahrhunderts. Zugleich thematisiert das Bild das Faszinosum des Heidentempels als Ort vorchristlicher Religiosität.

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134 Das Château de Maulnes ist räumlich außergewöhnlich komplex, wie die Computerdarstellung der miteinander verzahnten Ebenen zeigt. Zudem mußte es in schwierigem Baugrund mitten zwischen mehreren Quellverbrüchen abgegraben und gegründet werden.

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3.2 Die anonymen Architekten Sebastiano Serlio, Jacques Androuet Ducerceau, Philibert De l’Orme, Jean Chéreau

So deutlich die Bauherren als individuelle Persönlichkeiten in der Geschichte vor uns stehen, so präzise wir auch ihre Bauabsichten vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Rollen und ihrer weltanschaulichen Positionen benennen können, so schemenhaft dunkel und ohne klare Profile bleiben uns doch die leitenden Köpfe des eigentlichen Baugeschehens. Der Architekt des Château de Maulnes ist unbekannt. Nicht, daß man einfach nur seinen Namen nicht wüsste, ihm aber sonst mit anonymen Hinweisen in den Quellen begegnete, nein, er ist offensichtlich abwesend und dies von Anfang an. In einem der wenigen Schriftdokumente, die wir über die Baugeschichte des Schlosses besitzen, im Vertrag mit den Bauunternehmern vom 7. 5. 1566, werden alle Beteiligten namentlich aufgeführt. Die beiden Handwerkermeister, der Zimmermann Jehan Buchotte und der Maurer Jehan Verdot sind anwesend, vier rechtskundige Zeugen, darunter der herzogliche Verwalter, und ein Schreiber werden erwähnt, selbst der Bauherr Antoine de Crussol, eben von einer mehr als einjährigen »Grand tour du Royaume« im Gefolge des Hofes zurückgekehrt, der gewiß gute Gründe gehabt hätte, sich vertreten zu lassen, ist persönlich erschienen, nur der Architekt ist nicht dabei.145 Wir hören von Grundrissen, Ansichten, Perspektiven und Detailzeichnungen für Kamine und Gesimse, von einem sehr detaillierten Planwerk also, auf das die beiden Meister ihr Versprechen abgeben müssen, nachdem es ihnen »heute noch einmal gezeigt und erklärt worden ist«. Diese Erklärungen gab nicht der Architekt, denn der konnte nicht oder nicht mehr zur Stelle sein, sondern allem Anschein nach Antoine de Crussol selbst. Man hat das Gefühl, die Pläne seien das Vermächtnis eines Toten, Verfolgten oder Verschollenen, der selbst nicht mehr dabei sein kann und Crussol habe es sich persönlich zum Anliegen gemacht, das nachgelassene Werk zu vollenden. Deshalb erschien er auch in persona vor dem Notar, obwohl die Unterschrift seines Verwalters, der ebenfalls anwesend war, für den Rechtsakt allein ausgereicht hätte. Man nimmt verwundert zur Kenntnis, daß Antoine de Crussol offensichtlich nicht nur Bauherr, sondern auch Kenner genug war, ein räumlich und technisch so anspruchsvolles Projekt wie das Château de Maulnes gerichtsfest zu erläutern – und nur er allein kommt dafür nach dem Notariatsprotokoll in Frage. Von den Anwesenden dürften weder die Juristen, noch der Verwalter des Herzogs, noch der Landvogt von Cruzy etwas von Architektur verstanden haben, geschweige denn daß sie im Stande gewesen wären, die beiden Bauunternehmer in aller Klarheit und Vollständigkeit auf die technische und räumliche Komplexität des Bauvorhabens hinzuweisen. Dies ist jedoch nach dem Wortlaut des Protokolls geschehen und zwar so gründlich, daß sich die beiden Handwerksmeister mit der Unterschrift rechtsverbindlich und zu Festpreisen für die einzelnen Gewerke auf das Vertragswerk einlassen konnten. Kein anderer als Crussol kann die dafür notwendigen detaillierten Erläuterungen bei dem Notarstermin abgegeben haben. Wenn Crussol dazu die fachliche Kompetenz besaß, dann muß er ein gutes Stück von einem »Gentleman Architect« in sich gehabt haben. Dies

wäre an sich nichts ungewöhnliches, wissen wir doch von vielen adeligen Bauherren dieser Zeit, nicht zuletzt von Franz I. selbst, daß sie in der Theorie und Praxis der Baukunst sehr wohl bewandert waren. Aber bei einem Militär wie Crussol würde man dies nicht unbedingt erwarten. Der Vertrag vom 7. 5. 1566 belegt nicht nur, daß der Urheber des Schloßprojektes nicht anwesend sein konnte. Wir sehen auch, daß der Bauherr diesen Architekten so schätzte, daß er es sich nicht nehmen ließ, ihn persönlich den Bauleuten gegenüber zu vertreten. Ferner können wir daraus schließen, daß der Bauherr »Gentleman Architect« genug war, sehr detaillierte Erklärungen zu den Plänen abgeben zu können, bis in die Einzelheiten der Profile und Werksteindetails der Fassade sowie der Türgewände und Kamineinfassungen des Innenausbaus, die das Protokoll ausdrücklich als Gegenstand der Erläuterungen erwähnt. Und schließlich erfahren wir ganz beiläufig, daß die Baustelle zu diesem Zeitpunkt bereits in vollem Gange war. Denn Gegenstand des Vertrages sind ausschließlich das Corps de Logis und die Offices und es heißt ausdrücklich, daß sofort und für beide Seiten bindend, mit der Arbeit zu beginnen sei. Dies aber bedeutet, daß alle Vorarbeiten, die gewaltigen Erdbewegungen, die Wasserhaltung, die Stützmauern des Kryptoportikus schon abgeschlossen gewesen sein müssen, sonst hätte man ja nicht »sofort« mit dem Corps de Logis und den Communs beginnen können, wo sich die im Vertrag erwähnten Küchen und Offices befunden haben. Und dies heißt wohl auch, daß große Teile der Gesamtanlage, vor allem die bastionierte Plattform, schon fertig oder zumindest im Bau waren. Damit ist der Baubeginn also nicht mit dem Datum des zufällig erhaltenen Vertrages anzusetzen, sondern etwa ein Jahr früher, wahrscheinlich gleich nach der Erhebung Antoine de Crussols zum Duc d’Uzès im April 1565,146 als es für ihn dringend geboten war, standesgemäß zu bauen. Das Projekt lag zu dieser Zeit schon in allen Einzelheiten fertig geplant vor, es gab sogar einen Satz von Detailzeichnungen, die selbst die Kamine und die Innenausstattung betrafen, wie wir dem

135 Schnittperspektive des Palazzo Farnese, Caprarola, nach Jacques Lemercier, 1608.

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Vertrag entnehmen können, und gewiß gab es einen Vermessungsplan, aus dem im Einzelnen zu ersehen war, wie die komplizierte Fünfeckgeometrie des Corps de Logis in Verbindung mit den Kreisen, Rechtecken und Quadraten der Gesamtanlage auf dem Gelände einzumessen war. Im Mai 1565147 ist damit also nach Rodung und Planierung des Geländes begonnen worden. Die Vermessung der komplexen Figur erforderte einen sehr erfahrenen Landmesser, der zudem mathematisch ganz auf der Höhe seiner Zeit sein mußte, denn die Fünfeckgeometrie – insbesondere in den Teilungsverhältnissen und den Strecken- und Winkelbeziehungen, die in Maulnes angewendet worden sind – wird um die Mitte des 16. Jahrhunderts eben erst erforscht. Dann war die mehrfache Stufung der Anlage mit Außenwerken, Kryptoportikus, Nymphäum und versunkenem Garten im geneigten Gelände abzugraben, dies allein schon eine Herausforderung selbst für erfahrene Bauleiter, aber wirklich kompliziert wurde die Lösung dieser Aufgabe durch die Probleme der Wasserhaltung im Quellvorbruch, die gleichzeitig zu bewältigen waren und die das ganz spezielle Wissen des Hydrologen und Wasserbauingenieurs erforderten. Über all diesen technischen Einzelproblemen, die jedes für sich genommen schon Schwierigkeit genug bedeuteten, durfte aber vor allem der Blick auf das Ganze nicht verloren gehen, auf die architektonischen Harmonien und Proportionen der Gesamtfigur ebenso wenig wie auf die mehr oder minder prominente Rolle einzelner architektonischer Elemente im Gesamten. Dies alles war mit technischem Sachverstand im Einzelnen und dem architektonischen Verständnis für das Ganze zu koordinieren, von Anfang an und kontinuierlich weiter im Verlauf des Baufortschritts. Denn Maulnes blieb auch in den oberen Geschossen ein kompliziertes Projekt, in der Grundrißgeometrie ebenso wie im räumlichen Aufbau der Split-Level-Geschosse, und auf jeder Ebene gab es neue, jeweils besondere Probleme, von den Grotten über die Bäder bis hin zur begehbaren Dachterrasse, die nur mit einer immensen architektonischen Erfahrung und einem profunden Wissen um die neuesten technischen Entwicklungen der Zeit zu lösen waren. Es muß also von Anfang an einen kompetenten Bauleiter auf der Baustelle gegeben haben, der ständig oder mindestens regelmäßig vor Ort sein konnte. Keiner der bei Vertragsabschluß Anwesenden kommt dafür in Frage. Der brave Maurermeister, der den Vertrag »mit seiner Marke« besiegelt, da er weder lesen noch schreiben konnte, war dem sicher nicht gewachsen, die Spezialisten der Vermessung oder des Wasserbaues, die gewiß ihren Teil zu Maulnes beigetragen haben, konnten nur das eine Problem sehen, zu dessen Lösung sie herbeigerufen wurden. Und so sehr auch Antoine de Crussol »Gentleman Architect« gewesen sein mag, wie dies seine Rolle als Interpret der Pläne bei Vertragsabschluß nahelegt und womit er sich ausdrücklich als Vertreter und Sachwalter des Architekten zu erkennen gibt, die Bauleitung ist ihm dennoch nicht zuzutrauen. Denn die erforderte den Erfahrungsschatz eines ganzen Architektenlebens. Ganz abgesehen davon verlangt eine so komplexe Baustelle wie Maulnes die ständige Präsenz des Bauleiters, der seine ganze Kraft in den Dienst des Schloßbaues zu stellen hatte. Dies aber konnte und durfte nicht die Aufgabe des Bauherren sein, den dringendere Pflichten oft für lange Wochen und Monate außer Landes führten. Wir werden wohl nie erfahren, wer das komplizierte Bauvorhaben in Maulnes geleitet und koor90

diniert hat. Jedenfalls können wir nicht annehmen, daß Architekt und Chef du Chantier ein und dieselbe Person waren. Die Baustelle war ja bei Vertragsabschluß am 7. 5. 1566 schon seit einem Jahr in vollem Gange und ohne Bauleiter war sie unmöglich zu betreiben. Wäre der Bauleiter gleichzeitig der Architekt gewesen, wie dies bei großen Baustellen die Regel war, und auch bei kleineren durchweg angestrebt wurde, dann hätte er sicher persönlich seine Pläne erläutert. Dem Chef du Chantier jedoch kam diese Rolle nicht zu, sondern der Bauherr selbst übernahm diesen Part. Deshalb war der Bauleiter bei Vertragsabschluß nicht anwesend, sein Name taucht auch in der Liste der Unterzeichneten nicht auf und seine Identität muß so im Dunklen bleiben. Nur Mutmaßungen, gleich wie gut begründet, lassen sich hierzu anstellen.148 Besser ist es jedoch um die Identität des abwesenden Architekten bestellt, der das eigenwillige Projekt ersonnen und konsequent in all seiner Komplexität bis in die Einzelheiten durchgearbeitet hat, bis das Meisterwerk entstehen konnte, das wir heute vor uns sehen. Das Projekt und seine Details sind so prägnant, daß sie eine ganz bestimmte architektonische Handschrift verraten, die Konzeption insgesamt steht in einer nach Verfassern, sowie nach Ort und Zeit eng umrissenen Tradition der Fünfecktypologie in Palastarchitektur und in Schloßbau, und schließlich verraten auch die wenigen erhaltenen Pläne von Maulnes zahlreiche Einzelheiten über ihre Entstehungsumstände. Der Kreis der möglichen Autoren des Projekts ist damit sehr eng zu schließen. Das Fünfeck, die dominante Grundrißfigur des Château de Maulnes, ist im französischen Schloßbau ganz ungewöhnlich. Überhaupt ist dieses Schema in der Grundrißdisposition von Profanbauten in der Renaissancearchitektur sehr selten verwirklicht worden. Das bekannteste Beispiel, der Palazzo Farnese in Caprarola, nach 1521 von Peruzzi und Sangallo als Festung begonnen und zwischen 1559 und 1573 von Vignola als Palast vollendet, stellt eine absolute Ausnahme dar, die zudem aus der ungewöhnlichen Planungsgeschichte weitgehend zu erklären ist. Im Profanbau des 16. Jahrhunderts spielen die regelmäßigen Vielecke eine ganz unbedeutende, das Fünfeck praktisch gar keine Rolle. Ausgenommen davon ist allerdings das gesamte Militärbauwesen, das sowohl beim Bau freistehender Festungen als auch bei der Fortifikation ganzer Städte dem Fünfecktyp eine besondere Aufmerksamkeit widmet.149 Die Inkunabeln der sehr umfangreichen, im 16. Jahrhundert rasch anwachsenden Traktatliteratur zum Befestigungswesen sind die beiden Traktate von Francesco di Giorgio,150 die 1486 und 1492 abgeschlossen und wohl schon in den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts begonnen wurden. Darin spielt der Autor die Festungsgrundrisse auf regelmäßigen und unregelmäßigen Vielecken durch, geht insbesondere auch auf das Fünfeck ein und erörtert ausgiebig die festungstechnischen Vorund Nachteile in Abhängigkeit von der Geländeformation. Gleich zu Anfang des ersten Traktates liefert er eine theoretische Begründung für die besondere Rolle des langgestreckten, aus Rechteck und Dreieck zusammengesetzten Fünfecks, indem er die Lage, die Größe und Funktion der Rocca in der Dreieckspitze und ihre Beziehung zur rechteckigen Stadt aus der hervorragenden Position des menschlichen Kopfes über dem Rumpf des Körpers herleitet. Wegen dieser anthropomorphen Entsprechung gebührt also dem

136 Die regelmäßigen und unregelmäßigen Vielecke als Grundrißfiguren für Festungen, bei Francesco di Giorgio. 137 Die anthropomorphe Begründung des Festungsfünfecks von Francesco di Giorgio. 138 Festungsfünfeck von Pietro Cataneo, 1554. 139 Das bastionierte Festungsfünfeck rings um die Engelsburg. Stich von 1571. 140 Francesco Paciottos Fünfeckfestung Antwerpen. Stich von 1571. 141 Schloß Krzyztopór in Polen, 1621/27.


Fünfeck eine besondere Stellung innerhalb der Reihe der möglichen Grundrißfiguren. Francesco di Giorgio pflegt mit dieser Ableitung eine architekturtheoretische Tradition, die den menschlichen Körper als einen von Gott selbst der Schöpfung einbeschriebenen geschaffenen Kanon begreift und insofern darin das ideale Urbild allen harmonischen Schaffens sieht. Nichtsdestotrotz versteht er sich zugleich auf die praktischen Vorteile, die dieser und den ihr benachbarten geometrischen Figuren für die Kunst der militärischen Befestigung innewohnen. Gebaut wurden solche Systeme zuerst im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. Ruinös zwar, aber in wesentlichen Teilen noch erhalten, ist die nach Francescos Schema angelegte Festung von Poggio Imperiale bei Poggibonsi, errichtet um 1480 für Lorenzo il Magnifico und gegen 1511 unfertig verlassen. Die Entwicklung, deren Anfänge Francesco di Giorgio theoretisch durchdacht hat und für die Poggio Imperiale ein erstes, in großem Stil ausgeführtes Beispiel darstellt, führte schon zu Anfang des 16. Jahrhunderts zur Ausbildung ganz regelmäßiger fünfeckiger Stadtanlagen. Meilensteine auf diesem Weg sind die fünfeckigen Idealstadtentwürfe von Francesco de Marchi (1544–1577), die allerdings erst 1599 gedruckt werden konnten, und von Pietro Cataneo, dessen Werk 1554 erschien, während gleichzeitig im Städtebau zunehmend regelmäßige Fünfeckplanungen realisiert wurden: Pesaro 1520 bis 1550, Guastalla 1549, Livorno 1576. Einen frühen Höhepunkt erreichen diese Tendenzen in Frankreich mit der Anlage mehrerer ganz regelmäßiger Stadtanlagen zur Sicherung der Nordgrenze gegen die Spanischen Niederlande. Heinrich II. holte italienische Festungsbaumeister ins Land, denen wir mit Rocroi (1555) die perfekte Übertragung der fünfeckigen Idealstadt in die Wirklichkeit verdanken. Auf der anderen Seite der Grenze bauten die Habsburger in gleicher Absicht, im gleichen Jahr und nach gleichem Schema das fünfeckige Philippeville.151 Einzelne Festungen und kleinere Zitadellen wurden ohnehin seit den dreißiger Jahren des Jahrhunderts meist als regelmäßige Fünfecke ange-

legt. Schulbildend für Italien wurde das fünfeckige bastionäre System, das Giuliano da Sangallo (1455–1516) für die Befestigung der Engelsburg entwarf, das aber erst unter Pius IV. von Lamberini 1516 verwirklicht wurde. Im Norden baute ein Mitarbeiter Vignolas, Francesco Paciotto, 1546 die ganz regelmäßige Fünfeckzitadelle von Antwerpen, die zum Vorbild der meisten Festungsbauten in den Niederlanden und im benachbarten Deutschland wurde. Einen Sonderfall unter diesen Festungen stellt der schon erwähnte Palazzo Farnese in Caprarola dar. Er wurde nach 1521 als Zwingburg im Herzen der farnesischen Landgüter begonnen, um die schwelenden Unruhen unter der Landbevölkerung besser niederhalten zu können. Der Bau war von Peruzzi und Sangallo bis zur Höhe der fünfeckigen Bastionen aufgeführt, als sich die Situation dauerhaft beruhigte und die Festung nicht mehr benötigt wurde. Sie blieb über zwei Jahrzehnte lang unfertig liegen. Auf dem vorhandenen Fünfecksockel der Festung erbaute Vignola nach 1558 für den Kardinal Alessandro Farnese die ebenfalls fünfeckige Villa mit kreisrundem Innenhof, die als Sommersitz der Famiglia dienen sollte. Vignola gelang es, die architektonische Festungssprache des Fünfecks spielerisch zu konterkarieren, die wehrhaften Bastionen durch darübergestellte, zur Landschaft hin offene Loggien zu verfremden und so den martialischen Koloß bei aller Massigkeit in sein Gegenteil, in ein sommerliches Lustschloß, zu verkehren. Mit Recht gilt Caprarola deshalb als ein Musterbau des Manierismus. Das kunstvolle Spiel mit dem Fünfeck des Mars hat bei vielen zeitgenössischen Besuchern die höchste Bewunderung hervorgerufen, bei dem kühlen Montaigne, der es 1580 sah und als das schönste Schloß Italiens pries, vor allem aber bei den Reisenden, die das Bizarre und Gesuchte der manieristischen Architektur studierten. Unter ihnen gab es auch einige wenige Nachahmer der Entwurfsidee von Caprarola, wie den polnischen Grafen Krzystof Ossolinski (1587– 1645), Wojwode von Sandomierz, der 1621 oder 1627 auf seinen Ländereien ein fünfeckiges Schloß mit ovalem Innenhof errichten ließ, vielleicht von einem italienischen Architekten des Vignolakreises.152 Insgesamt kann man jedoch sagen, daß die regelmäßigen Vielecke, die den Städtebau und das Festungswesen der Epoche so nachhaltig geprägt haben, für die Grundrißbildung im Profanbau von Villa oder Palast keine nennenswerte Bedeutung besitzen, weder in der Praxis, noch in den Idealentwürfen der Traktate. Diese generell zutreffende Aussage ist jedoch in einem Fall zurückzunehmen: Sebastiano Serlio hat um 1547 in Lyon sein VI. Buch über die Architektur der Paläste und Wohnhäuser abgeschlossen, mit dem er eine systematische Erörterung von Grundrißfiguren aus regelmäßigen Vielecken für Profanbauten vorlegte. Das Buch teilt sich in neun Kategorien von Entwürfen für Bauten auf dem Lande und elf Kategorien für Bauten in der Stadt. Naturgemäß sind es die Palastbauten in der freien Landschaft, die größere Freiheit bei der Grundrißgestaltung erlauben, und deshalb finden wir in diesem Teil auch die zahlreichsten Versuche, Gebäude als Ganzes oder in ihrer inneren Gliederung in den Formen der regelmäßigen Vielecke zu entwerfen. Zwar gibt es auch hier nur drei Entwürfe, die in ihrer äußeren Umrißfigur als Oval, Sechseck oder Fünfeck angelegt sind, aber in der Binnengliederung auch der übrigen Projek91


te werden alle Möglichkeiten der regelmäßigen Vielecke vom Dreieck bis zum Achteck durchgespielt. Selbst bei den Stadtpalästen, wo sich ein polygonaler Umriß für das Ganze von vornherein verbietet, bleibt Serlio dabei, im Inneren systematisch diese Geometrie durchzudeklinieren. Serlios VI. Buch existiert in zwei Fassungen, in einer Vorzeichnungsversion auf Papier, die in der Avery Library, New York, aufbewahrt wird, und in einer Präsentationsfassung auf Pergament im Besitz der Bayrischen Staatsbibliothek, München. Die Blätter der Vorzeichnungen schwanken stark in den Abmessungen, die meisten von ihnen sind mit ca. 52 x 40 cm erheblich größer als die Münchener Pergamente von 44,3 x 31,2 cm. Sie waren als Loseblattsammlung konzipiert, während die Pergamentblätter von Anfang an als Buch gebunden werden sollten. Maßstäblichkeit und Detailierungsgrad sind in beiden Fassungen ähnlich, bei Unterschieden besteht eine einfache geometrische Beziehung zwischen beiden Versionen, so daß von einer direkten Abhängigkeit des Münchener Codex vom Avery-Manuskript auszugehen ist, auf das sich auch die folgenden Angaben beziehen. Der erste der drei erwähnten Entwürfe betrifft einen ovalen Palast im Maßstab von 1” = 20 p; (M 1 : 240) nach Art eines Amphitheaters, der in der Mitte einen elliptischen Theaterhof »per ogni sorte di feste et tronphi« umschließt (Projekt 31, fol. XLV) und ringsum mit Loggien für Zuschauer ausgestattet ist. In der Binnengliederung des elliptischen Umrisses kommt es zu einem wahren Delirium geometrischer und halbgeometrischer Formen. Selbst Räume »in Form eines natürlichen Eies« kommen vor, und Serlio zeigt sich als ein großer Virtuose im Umgang mit den kompliziertesten Grundrißgeometrien. Es gelingt ihm scheinbar mühelos, der vorgegebenen Gesamtform harmonische, wohlproportionierte und sehr gut nutzbare Räume einzubeschreiben, die zudem ausgesprochen ökonomisch mit dem verfügbaren Platz umgehen. Das zweite Projekt ist ein sechseckiger Palast im Maßstab von 1” = 12 p; (M 1 : 144) für einen »Prinzen außerhalb der Stadt, zu seiner Freude und

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für eine kleine Famiglia« (Projekt S.18, fol. XX), der in einer manieristischen Laune das Sechseck des antiken Hafenbeckens von Ostia variiert. Auch hier durchläuft die Grundrißgliederung mit einem »Uovo Naturale«, unregelmäßigen Fünf- und Sechsecken, selbst Dreiecken und trapezförmigen Räumen die seltsamsten Typologien, ohne daß man auch nur einen Augenblick an der räumlichen Brauchbarkeit oder Funktionalität zweifeln würde. Das dritte große Projekt dieser Reihe ist eine fünfeckige »Casa del Principe Tiranno circondata da fortezza ... fuori della citta« (Proj. Et. 24 fol. XXXI), im Maßstab von 1” = 32 p; M 1 : 384), wobei mit »casa« ein veritabler »palazzo in fortezza« von rund 136 p (44,17 m) äußerer und rund 58 p (18,83 m) innerer Seitenlänge gemeint ist. Die Binnengliederung beschränkt sich hier überwiegend auf quadratische und rechteckige Räume, aber im Äußeren ist das Fünfeck scharfkantig und dominant herausgearbeitet, sowohl im Baukörper als auch im loggienumschlossenen Innenhof mit dem fünfeckigen Brunnen im Zentrum. Diese großen Entwürfe sind zunächst meisterhafte manieristische Verfremdungen vorgefundener Typologien, die aus ganz anderen Kontexten stammen, aus dem Milieu des antiken Amphitheaters, des antiken Hafens, wie er aus Ostia bekannt war, und des Festungsfünfecks der zeitgenössischen Militärarchitektur. Vor allem aber sind sie virtuose Variationen über das spannungsreiche Spiel der inneren und äußeren Gebäudeformen, und dabei loten sie systematisch die Gliederungsmöglichkeiten aus, die die Geometrien der Elementarfiguren vom Dreieck bis zum Achteck bereithalten. Auch die übrigen Projekte zeigen ein geradezu obsessives Verlangen, die vorgegebenen Formen und Umrisse der Baukörper im Inneren in allen Möglichkeiten polygonaler Vielecke zu unterteilen.153 Diese Beobachtungen bleiben nun nicht ohne Konsequenz für den Stellenwert, den das Buch VI in Serlios Gesamtwerk einnimmt. Serlio hat seine Architekturlehre nach einem genau durchdachten Plan systematisch aufgebaut und es kann keinen Zweifel daran geben, daß er in diesem Buch ver-

142 Zusammenstellung der idealtypischen Entwürfe nach dem Zentralbauschema für Sakralbauten aus Serlios Buch V, Über die Tempel, (1547), 1584, S. 202–210. 143 Serlios Amphitheaterpalast, VI. Buch, fol. XLV, Projekt 31. 144 Serlios Sechseckpalast, VI.Buch, fol. XX, Projekt S 18. 145 Sebastiano Serlio, Entwurf für eine »Casa del Principe Tiranno« im ungedruckten VI. Buch des Architekturtraktates, als Manuskript um 1547 fertiggestellt. Avery Library, Columbia University, New York, fol. XXXI, Feder und Tusche auf Papier, Blattgröße 51,7 x 38,8 cm. Maßstab: 1 pouce = 32 pieds de Roi (M 1 : 384). Maßstab der Abbildung 1 : 768.


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146 Der Hafen von Ostia, nach Serlio, III. Buch, S. 88. 147 Skizzenhafte Vorentwürfe für Caprarola von Antonio da Sangallo d. J, um 1520. 148 Giacomo Barozzi da Vignola, Caprarola. Größenvergleich mit dem Château de Maulnes. Die Seitenlänge des Fünfecks der ausgeführten Version beträgt 175 palmi Romani = 120 pieds de Roi, Maßstab der Abbildung: M 1 : 720. Das Corps de Logis von Maulnes läßt sich exakt dem äußeren Kreis des Arkadenhofes einbeschreiben. 149 Sebastiano Serlio, Entwurf für eine »Casa del Principe Tiranno« im ungedruckten VI. Buch des Architekturtraktates, als Manuskript um 1547 fertiggestellt. Avery Library, Columbia University, New York, fol. XXXI, Feder und Tusche auf Papier, Blattgröße 51,7 x 38,8 cm. Maßstab: 1 pouce = 32 pieds de Roi (M 1 : 384), Maßstab der Abbildung M 1 : 1200. Serlios Projekt beruht auf einer Variante von Peruzzis Vorentwurf, den er mit dessen Nachlaß erworben haben dürfte. Die Gliederung des Grundrisses und alle wichtigen Abmessungen sind übernommen. Der Maßstabssprung zwischen den Plänen beträgt 1 : 13/5 (5 : 8). 150, 151 Der Eingang zum Château de Maulnes ist durch ähnliche Schießkammern gesichert, wie Serlios »Casa del Principe Tiranno«.

sucht, für den Profanbau die geometrischen Möglichkeiten zurückzugewinnen, die im festungstechnisch dominierten Städtebau der Zeit schon seit Beginn des 16. Jahrhunderts ein Leitmotiv abgaben die vor allem aber im Sakralbau das architektonische Denken der Epoche beherrschten. Denn was Serlio mit diesen Entwürfen gelingt, ist ja nichts geringeres, als die Zentralbautypologie der Renaissance, die den Diskussionen um den Kirchenraum die generelle Richtung vorgab, für die Architektur des herrschaftlichen Wohnens und der profanen Repräsentation nutzbar zu machen.154 Wie groß die Nähe zu diesem Thema der Sakralarchitektur ist, zeigt augenblicklich der Vergleich mit seinem gleichzeitig entstandenen, 1547 in Paris gedruckten V. Buch des Traktates über den Kirchenbau, bei dem es ganz überwiegend um Zentralbauten geht. Darin werden ebenso systematisch wie in den Entwurfsreihen der Paläste des VI. Buches die Geometrien von Kreis, Oval, Fünfeck, Sechseck und Achteck durchgespielt, einschließlich der Varianten, bei denen diese Formen anderen Umrißfiguren einbeschrieben werden. Serlios VI. Buch ist nichts anderes als ein früher Versuch, die Möglichkeiten der Zentralbautypologie, die bis dato dem Sakralbau vorbehalten waren, im Kontext des Profanbaus durchzuspielen. Die Geometrie der regelmäßigen Vielecke, unter denen das Fünfeck für die Architektur von besonderer Wichtigkeit ist, da in ihm die Verhältnisse des Goldenen Schnittes beschlossen liegen, wird zum ersten Mal für die Typologie des Palastbaus nutzbar gemacht. Die Bedeutung, die diese Erweiterung des räumlichen und geometrischen Repertoires durch Serlio für den weiteren Gang der Architekturgeschichte hatte, ist kaum zu überschätzen. Ohne Frage ist der große Fünfeckentwurf einer »Casa del Principe Tiranno«, in dem Serlio das ty-

pologische Ansinnen seiner Traktate besonders prägnant zur Darstellung bringt, ein Schlüsselprojekt des gesamten Buches. Wenn nun genau diese geometrische Figur, die im Schloß- und Palastbau der Zeit bis dahin praktisch keine Rolle gespielt hatte, mit der Serlio aber ein ganz zentrales Anliegen seiner Architekturtheorie verband – eben die Projektion der eigentlich sakralen Würdeform des Zentralraumes auf den herrschaftlichen Profanbau – wenn also exakt dieses Muster ohne Präzedenz im Château de Maulnes wieder auftaucht, dann liegt es nahe zu vermuten, daß der Theoretiker, der den Vorstoß in dieses architektonische Neuland gewagt hat, auch der Architekt dieses Schlosses sein muß. Immer wieder ist deshalb Sebastiano Serlio als Architekt von Maulnes ins Gespräch gebracht worden, zumeist allerdings ohne triftige Gründe. Aber diese triftigen Gründe gibt es und sie sind in der Tat stichhaltiger, als die Argumente, die bisher in der Literatur dafür vorgetragen wurden. Die früheste Zuschreibung, die explizit Sebastiano Serlio als Architekten von Maulnes benennt, findet sich in dem 1938 erschienenen Aufsatz Un Château de Mélusine, Maulne-en-Tonnerrois von Pierre Du Colombier und Pierre d’Espezel. Die Autoren stellen fest, daß die Fünfeckfigur des Corps de Logis im französischen Denkmalbestand einzigartig sei und daß man deshalb nach Italien schauen müsse, wo es im Palazzo Farnese von Caprarola ein zeitgenössisches Parallelbauwerk »von verblüffender Ähnlichkeit« gebe.155 Die Ähnlichkeiten zwischen Caprarola und Maulnes waren auch früheren Autoren schon aufgefallen, etwa Albrecht Haupt, der schon 1923 die »merkwürdige Kaprize des Schlosses Maune« das »fünfeckige Gegenstück zu Caprarola« genannt hatte,156 oder

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