mikSes - 2|2007

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Ausgabe 2|2007 4,- €

Die Edelmigranten Die japanische Community in Deutschland - Zwischen Trend, Parallelkultur und großer Unbekannten ::::: Integrationspolitik erwacht aus dem Dornröschenschlaf ::::: Die Medienwelt wird bunter ::::: Wenn Deutschland keinen Spaß mehr macht


„Sind sie zu fremd, bist du zu deutsch.“ Ilja Trojanow

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Verschüttetes Wasser kehrt nicht in die Schale zurück M

ikSes hat nach der Startausgabe eine kurze Pause eingelegt, die für viele eine etwas zu lange war. Das verrät die positive Resonanz auf das erste Heft: „mikSes ist eines der ersten Medien eines neuen Deutschlands.“ Wir, die mikSesRedaktion, bedanken uns für die zustimmenden, ermunternden und kritischen Worte der Leserinnen und Leser! Ihre Meinung und Kritik hat einen wesentlichen Beitrag zur zweiten Ausgabe geleistet. Der bereits im aktuellen Titel zu erkennen ist! In der Titelgeschichte gewähren wir uns einen Einblick in die Welt einer „Migrantengruppe“, die – wenn es um die Themen Integration, Parallelkulturen, Nationaler Integrationsplan, Zuwanderungsgesetz, mangelnde Deutschkenntnisse der Migranten geht – keinen Platz in der öffentlichen Debatte findet: Die japanische Community in Deutschland. Warum? In der Diskussion um die Frage der Integration stellt sich diese Gruppe nicht als ein Problem dar. Wer von uns hat denn schon von Zwangsehen in japanischen Familien gehört? Oder davon, dass japanische Frauen der Kimono aufgezwungen wird? Wahrscheinlich niemand. Aber wie gut kennen wir die Japaner bzw. Deutschjapaner, die zweifellos in dieser Gesellschaft existieren und scheinbar weniger oder keine Probleme haben sich zu integrieren? Waren sie schon immer da? Und wo sind sie? In Deutschland leben rund 34.000 Japaner. Etwa ein Viertel von ihnen hat in NordheinWestfalen ihr zu Hause. Verglichen mit anderen „Migrantengruppen“ bilden sie offensichtlich keine ausschlaggebende Zahl, wenn es um das Thema Integration geht. Und deshalb kann man sich die Freiheit nehmen, sie nicht zu erwähnen. Seit den 1950ern ist die japanische Community für die NRW-Landeshauptstadt zu einem festen Bestandteil ihrer Identität geworden. Viele Japaner haben sich in Düsseldorf niedergelassen oder sind nur vorübergehend dort. Zur jener Zeit reisten auch die ersten traditionellen Gastarbeiter, die in der ersten Phase der Arbeitsmigration mehrheitlich aus

Italienern, später aus Spaniern, Griechen und Türken bestand. Diese kamen mit dem Ziel zu arbeiten und zurückzukehren, doch blieben viele von ihnen in Deutschland – mit dem Wunsch doch eines Tages heimzureisen. Dagegen begrenzt die Mehrheit der Japaner ihren Deutschlandaufenthalt auf etwa fünf Jahre, allein jeder sechste entscheide sich für einen festen Wohnsitz in Deutschland. Zudem gehören die in Deutschland lebenden Japaner im Vergleich zu den so genannten traditionellen Gastarbeitern einem höheren sozialen Status an und bekleiden wichtige Führungspositionen in der Unternehmerbrache. Es gibt viele deutliche Differenzen zwischen den Japanern und den anderen „Migrantengruppen“: Während die einen als Touristen wahrgenommen werden und eine positive Assoziation zum Fremden und Exotischen wecken (Sushi, Zen-Buddhismus, Bonsai, Aikido, Pokemons, Manga), fallen andere wiederum mit defizitären Deutschkenntnissen sowie unzureichender Bekenntnis zu den gemeinsamen gesellschaftlichen Werten auf. Doch eines hat sich auch bei dieser kleinen Gruppe durchgesetzt: Es haben sich in vielen Städten Deutschlands viele ethnische Enklaven gebildet, wo man beispielsweise ausgezeichnet ohne die deutsche Sprache auskommt, weil man alles Notwenige bei den eigenen Landsleuten erledigen kann. So hat sich nicht nur Berlin-Kreuzberg als KleinIstanbul einen Namen gemacht, Düsseldorf gilt derweil als Klein-Tokio am Rhein. Auf der einen Seite stehen die Gastarbeiter und ihr Nachwuchs wegen mangelnder Integrationsbereitschaft im Kreuzfeuer der Kritik, auf der anderen Seite schauen wir über die Edelmigranten hinweg, die einen wichtigen wirtschaftlichen Nutzen für die Stadt Düsseldorf bedeuten und letztlich ohnehin nicht lange hier bleiben werden – auch wenn ein berühmtes japanisches Sprichwort das Gegenteil besagt: „Verschüttetes Wasser kehrt nicht in die Schale zurück.“ Ikbal Kiliç Chefredakteurin

Titelseite fotografiert von Robert Churchill/istockphoto.com 2|2007

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Die Edelmigranten 8 ::::: Einblicke in japanische Parallelkultur _mitten in deutschland

Itreitkültür

Leitkültür

22 ::::: Ein Pass - Viele Kulturen _der jugendintegrationsgipfel traut sich was

36 ::::: Was glaubt die Welt? _6 Fragen an die Weltreligionen

24 ::::: Ein Vermächtnis und seine Zukunft _eine einzigartige simulation des internationalen strafgerichtshofs

38 ::::: Die Medienwelt wird bunter _immer mehr migranten werden zu medienmachern

27 ::::: Schon was gemerkt? _was wurde aus dem jahr der chancengleichheit?

41 ::::: Türkisch für Anfänger _der mikSes kulturredakteur setzt den selbstversuch fort

28 ::::: Nach Jahrzehnten im Dornröschenschlaf wird Integrationspolitik als Topthema begriffen _bertelsmann-stiftung und ihr kompetenzzentrum integration und demokratie

42 ::::: Muttersprache - Vaterland _textauszüge von Ute-Christine Krupp

31 ::::: Lachen braucht ein Echo _heute schon einen clown gefrühstückt? 32 ::::: Wer gibt den Ton an in der Integrationspolitik? _medienwirksam setzte die kanzlerin die integrationsgipfel ein 4

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44 ::::: Buch- und CD-Besprechungen _arslan über den islam _naidoo und thomas d singen selmas texte _dickens: ein klassiker zum schluss


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Lebenskültür

Campuskültür

50 ::::: Pferde für Mädchen und Dinosaurier für Jungs _interview mit der besitzerin eines japanischen in-restaurants

68 ::::: Rettet die Orchideen _vom aussterben bedrohte studienfächer diesmal: osteuropastudien

52 ::::: Tollkühne Männer in fliegenden Kisten _ein taxifahrer ist viel: seelsorger, psychologe, philosoph, hebamme, arzt und reiseführer 56 ::::: Vom Militär in den Kurort Gemünd _beim türkischen militär wurden seine massagekünste entdeckt, heute hat er einen eigenen massagesalon mitten in der eifel 58 ::::: Ein Inder in Deutschland _“john“ aus indien schildert seine eindrücke von einem jahr in deutschland

70 ::::: Zur Kasse bitte, Eintritt frei ist vorbei _oder was 300 euro in münster auslösten 72 ::::: Wie beszahle ich mein Studium? _möglichkeiten zur studienfinanzierung 74 ::::: Das Märchen vom Zentralabitur _wirksamkeit nicht nachgewiesen, höchstens was für märchenerzähler der bildungspolitik 76 ::::: Reichlich Akademisches _diesmal: diplomarbeit zum heimatbegriff in der migrantenliteratur

3 ::::: Editorial 6 ::::: Leserbriefe 7 ::::: Nachmachen! 7 ::::: Impressum 78 ::::: Wenn Deutschland keinen Spaß mehr macht _kolumne von seran sargur 79 ::::: Der Integrationsgipfel und die türkischen Verbände _kolumne von erkan arıkan

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Leserbriefe :::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Sehr geehrte Damen und Herren, ich abboniere mikSes, … weil ich mal was anderes lesen kann; nicht nur das was überall steht, … weil neue, unabhängige Medienprojekte einfach gefördert gehören, … weil mikSes eines der ersten Medien eines „neuen“ Deutschland ist. Andreas Trottnow, Hanau

Silvia Rozsa, Köln

:::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Liebe mikSes Redaktion, ich spazierte gestern am Kiosk am Chlodwigplatz vorbei, da sprang mir Euer Magazin in der Auslage ins Gesicht. Schönes ansprechendes Cover, die Leute kennst du doch, dachte ich, und in dem Zusammenhang (Interkulturelles) habe ich mir die Zeitschrift gegönnt. Erstmal finde ich die Idee super - ein Magazin von/über Menschen mit Migrationshintergrund. Wer hat diesen Begriff eigentlich geprägt? Da kommt man ja nicht mehr drum herum. Auch die Artikel fand ich gut gewählt und sehr gut geschrieben. Besonders gut gefallen hat mir, trotz wichtigen und ernsten Themen, dass der Humor nicht ausbleibt so wie bei dem Artikel von A. Fuhrich „Hilfe, ich habe einen Migrationshintergrund!“. Mehr davon, bitte. Ein breites Spektrum deckt Ihr ab, auch die Titel der Sparten „...kültür“ fand ich passend gewählt und brachten mich zum Lächeln. Das einzige was fehlte war ein „normaler“ nicht berühmter Mensch mit M*. 6

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Das ist zwar schön und wichtig, berühmte Vorbilder zu haben und wahrscheinlich auch interessanter. Aber ein kurzes Porträt über einen 0815-Ausländer und wie er/sie das Leben meistert wäre ebenfalls interessant. Insgesamt haben mir Eure Artikel so gut gefallen, dass ich mir bestimmt wieder das nächste Magazin kaufen werde und Euch meinen Freunden und Bekannten mit oder ohne M* weiter empfehlen werde. Ein sehr freundlicher Gruß.

:::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Als bikulturell und bilingual aufgewachsene Migrantin freue ich mich riesig auf Mikses... eine große Marktlücke bzw. eine Antwort auf einen großen Bedarf! Danke, dass es euch gibt und hoffentlich noch weiter geben wird. Sibel Atasayi :::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Wow, find ich super gut, dass es ein Magazin für uns gibt. Viel Erfolg euch und freu mich schon auf die interessanten Beiträge.... Herzliche Grüße. Arzu Begen :::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Das Magazin macht durch die Auswahl der Themen einen sehr spannenden Eindruck. Auch in Zukunft dürften Ihnen die Fragen rund um das Interkulturelle, die Streitkkültür und Leitkültür kaum ausgehen. Wir werden gerne rein-

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schauen! Wir wünschen Ihnen und Ihrem Team alles Gute und viel Erfolg. Mit besten Grüßen, Veysel Özcan, Berlin :::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Auf solch eine Publikation hat Deutschland nun lang genug gewartet - Bravo! Ali Fathollah-Nejad :::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Ich bin wirklich begeistert! Es ist schön zu sehen, dass eine Plattform für interkulturelles geschaffen wurde. Sie ist wirklich gelungen. Esra Arslan, Lollar

les Pflaster, leider sowohl in der Realität als auch in den Köpfen so mancher Zeitgenossen im Politik- oder Wirtschaftsbereich, wenn ich von sattsam bekannten Sonntagsreden einmal absehe. Ihre Titelgeschichte „Die jungen neuen Deutschen“ hat mich sehr angesprochen, weil ich auf diese Weise (als jemand ohne „Migrationshintergund“, wenn ich einmal von meinen polnischen und russischen Vorfahren absehe) in Wort und Bild in aller Kürze etwas mehr über meine türkischen Mitbürger erfahren habe, die ich nur teilweise kannte. Bravo. Bernd-Dieter Fridrich, Berlin ::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::

G. Arslan

Hallo liebes Mikses Team, erst mal Gratulation zu dieser durchaus gelungenen Erstausgabe eures Magazins. Es ist schön ein neues Format zu sehen, welches sich mit den „Migranten“ dieses Landes befasst.... Unter diesem so viel und doch so wenig aussagendem Wort wimmelt es ja nur vor lauter interessanter Themen. Im Prinzip gibt es an eurer allerersten Ausgabe nichts auszusetzen, total professionelle Aufmachung und lesenswerte Beiträge. Das ganze war mir nur etwas zu Türkei-lastig, wenn man bedenkt wie Vielfältig unsere Gesellschaft geworden ist... na, bin auf jeden Fall schon auf die nächste Ausgabe gespannt.

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Sedat Hepgüler, Bremen

:::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Aloha, habe die Zeitschrift durch Zufall entdeckt, als ein Mitarbeiter der Bahnhofsbuchhandlung es auf einen Tisch legte, bevor es in einer Regalwand mit 50 anderen Titeln zum Thema Kultur verschwand. Finde es gut, dass gleich in der ersten Ausgabe die Leser im Rahmen eines kleinen Essay-Wettbewerbs zum Mitmachen motiviert werden, das macht Kräfte frei. Finde es weniger gut, dass im ersten Heft so viele Interviews verbraten werden.

Mit großem Interesse habe ich die Startausgabe gelesen. Gerade Berlin ist zuweilen ein heik-

Leserbriefe an: redaktion@mikses-magazin.de


nachmachen! | Foto: luxuz/photocase.de

Nachmachen! ::::: die lebenden bücher_triff dein vorurteil „Rede nicht über dein Vorurteil, sondern triff es - und werde es dadurch los“, lautet der Slogan einer Aktion der Stadtbibliothek Malmö, deren Mitarbeiter so gegen Diskriminierung von Minderheiten kämpfen wollen. Einmal im Jahr verleiht die Bibliothek „lebende Bücher“, Menschen, die einer Minderheit angehören. Eine Dreiviertelstunde ist die Ausleihfrist dieser „lebenden Bücher“, so lange treffen sich Menschen, die sich im normalen Leben sonst nie begegnen würden. Für die begehrtesten „Bücher“ gibt es bereits Wartelisten. Besonders hoch im Kurs stehen der Imam und die muslimische Frau. „Ausgeliehen“ werden können aber auch eine Lesbe, ein Transvestit, ein Behinderter, eine Obdachlose, eine Tierrechtsaktivistin, eine Feministin, ein Farbiger, ein Rom, ein Sinto, ein Exstrafgefangener. Einer immer größeren Beliebtheit soll sich aber neuerdings auch der Däne erfreuen. Jan Krawitz

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Little Tokio ::::: einblicke in japanische parallelkultur_mitten in deutschland

Foto: Alija / www.istockphoto.com

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Die Edelmigranten ::::: rund 9.000 japaner im raum düsseldorf bilden die drittgrößte japanische community in europa_mit zahlreichen japanischen restaurants, lebensmittelgeschäfte, buchhandlungen, reisebüros, friseuren, ärzten, karaoke-bars, hotels, aber auch mit einer japanischen schule, japanischen kindergärten und sogar europas ersten und einzigen von japanern erbauten buddhistischen tempel gehören sie ganz selbstverständlich zum stadtbild: die nrw-landeshauptstadt gilt schon lange als „klein-tokio am rhein“, wo die kinder nippons ihre kleine, eigene welt erschaffen haben… Text: Anj a H e r b e r s , I k b a l K i l iç , E l v in T ü r k Die Immer-Japaner-Straße

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esäumt von hohen modernen Gebäuden, Wohnhäusern und kleineren Geschäften, hippen Bars und eleganten Restaurants, bunten Supermärkten und viel Verkehr unterscheidet sich die Immermannstraße in Düsseldorf auf den ersten Blick nicht von einer Hauptstraße irgendeiner anderen deutschen Stadt: Die große vierspurige Straße mit breitem Grünstreifen und den Schienen für die Straßenbahn in der Mitte

die immermannstraße in düsseldorf unterscheidet sich auf den ersten blick nicht von einer hauptstraße irgendeiner anderen deutschen stadt. liegt direkt am Hauptbahnhof, dem Tor zur Landeshauptstadt. Großkronige Bäume zieren die Straßenmitte. Die Cafés mit ihren Tischen draußen am Straßenrand sind zur Mittagszeit gut besucht. Doch sobald man einen ersten Schritt macht und an den Häusern vorbeiläuft, entdeckt man unbekannte Aneinanderreihungen von Buchstaben auf den Schildern der sonst so gewöhnlichen Klingeltafeln fünf- oder sechsstöckiger Mietshäuser in Stadtzentren. 10

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Die Bewohner hier heißen nicht Müller oder Schmitz, sondern Shimizu oder Ono. Der Grund dafür: Heute leben in Düsseldorf rund 9.000 Japaner. Viele von ihnen haben ihren Lebensmittelpunkt in der Immermannstraße. Wenn man sich weiter in der Straße umschauen möchte, muss man bald ein großes Schild auf dem Bürgersteig umgehen, auf dem japanische Schriftzeichen etwas zu erklären versuchen. Es gehört zu einem japanischen Buchladen, der im Schaufenster Poster mit durchgestylten, lässig posierenden japanischen Boybands die Passanten in den Laden zu locken versucht und in dessen Auslage die neueste Ausgabe des japanischen Pendants zur deutschen Bravo den ersten Sonnenstrahlen standhalten muss. Im Geschäft selbst stehen ausschließlich japanische Bücher und Zeitschriften. Insbesondere Comicfreaks kommen hier auf ihre Kosten dank der Vielfalt an japanischen Manga-Heften. Ein paar Karten in spezieller japanischer Machart und einige Souvenirs, wie ein Kugelschreiber in Deutschlandfarben mit kleinem Fußball obendrauf, gibt es ebenfalls zu kaufen. Die drei Angestellten unterhalten sich auf Japanisch. Deutschsprachige Kunden bedienen kann von ihnen nur eine. Aber deutsche Kunden verirren sich wohl ohnehin eher selten hier hin. In ziemlich direkter Nachbarschaft hat das Herzstück der Immermannstraße seinen Hauptsitz: Das Deutsch-Japanische Center ragt hervor. Dieses moderne Hochhaus beherbergt dutzende japanischer Unternehmen, darunter eine Filiale der berühmten japanischen


Foto: jkitan / www.istockphoto.com

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::::: an was glauben japaner?_shintĹ?ismus, buddhismus

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Warenhauskette „Mitsukoshi“, die hochwertige Handtaschen und Tücher im großzügigen Schaufenster aufwendig dekoriert hat. Aber auch eine japanische Unternehmensberatung oder ein Investmentbüro machen mit modernen Glasschildern auf sich aufmerksam. Den meisten Platz in diesem Center wird aber wohl das „Hotel Nikko“ einnehmen. Vor dem Portal befindet sich ein ankommender oder abfahrender Bus mit japanischen Touristen

poster mit durchgestylten, lässig posierenden japanischen boybands versuchen die passanten in den laden zu locken.

Foto: 4x6 / www.istockphoto.com

::::: wohin reisen japaner?_nordamerika, lateinamerika, karibik, frankreich, italien, deutschland ::::: wie viel geld geben japaner durchschnittlich für eine Reise aus?_1.891 euro ::::: wie viele japaner reisen ins ausland?_jeder 13. 12

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und Familien. Die Menschentraube ist hier üblich. Will man durch den Haupteingang das Hotel betreten, läuft man zunächst an verschiedenen kleinen Geschäften vorbei. Während in dem Geschäft mit den Taschen eine junge, adrette japanische Frau Belege sortiert, legt gegenüber der japanische Friseur bei seinem Landsmann die Schere an. In der edlen, modernen Lobby des Hotels begrüßt ein japanischer Mitarbeiter an der Information mit seiner ganzen Freundlichkeit Männer und Frauen der internationalen Geschäftswelt. Das First-Class-Hotel im Zentrum Düsseldorfs gehört zu einer ganzen Kette japanischer Airlinehotels in Südostasien. Die Niederlassung in Düsseldorf wurde 1978 gemeinsam mit dem Deutsch-Japanischen Zentrum eröffnet und ist nach der in London und Paris die dritte in Europa. Im Hotel logieren fast ausschließlich japanische Touristen und Geschäftsreisende. Für viele japanische Geschäftsleute und ihre Familien ist hier die erste Anlaufstelle nach der beruflichen Versetzung nach Deutschland. Dies erklärt auch die vielen Kinder, die vor dem Hotel den großzügigen Bürgersteig nutzen um herumzutoben und zu spielen. Gegenüber des „Hotel Nikko“ haben sich einige Bars und Restaurants angesiedelt, die mit dem ersten Sonnenschein schon ihre Stühle rausgestellt haben und um die Mittagszeit gut besetzt sind. Eines der Restaurants mit dem lässigen Namen „Relax“ bietet auf einer großen Tafel in japanischen Zeichen das Mittagsangebot an, dessen englische Übersetzung unten in der Ecke der Tafel sehr improvisiert


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Japanische Begegnungen Frau Yoshimatsu, 46

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leich vor dem „Hotel Nikko“ befindet sich ein Dekorationsgeschäft. Hier gibt es Kerzen in Sushiform, Tatami-Matten, asiatisches Porzellan und viele andere Kleinigkeiten, mit denen deutsche Unternehmer ihren japani-

schen Geschäftspartnern eine Freude machen können. Frau Yoshimatsu, die Inhaberin des Geschäftes, ist seit 18 Jahren in Deutschland. Sie kam mit ihrem Mann, den seine Arbeit hierhin verschlug. Während sie erzählt, muss sie manchmal kurz innehalten, um nach dem deutschen Wort zu suchen. Schließlich brauche sie ja kaum Deutsch hier, muss sie gestehen. Es gibt in und um die Immermannstraße herum alles auf Japanisch: Japanische Ärzte, japanische Friseure, japanische Supermärkte. Fast entschuldigend für ihre schlechten Deutschkenntnisse erklärt sie: „Ich habe einen Deutschkurs an der Volkshochschule besucht, als ich nach Deutschland kam. Aber in meinem Umfeld sind nur Japaner.“ Darum spreche sie nicht so gut Deutsch. Nicht-Japanische Freunde habe sie nie gehabt. Lediglich unter ihrer Kundschaft befinden sich hin und wieder Deutsche. Aber ihre Kinder auf eine japanische Schule schicken, das möchte die zierliche Frau trotzdem nicht. Ihre beiden 15 und 17 Jahre alten Kinder gehen auf eine deutsche Schule. Und doch haben sie kaum deutsche Freunde. Die Interessen sind zu verschieden, die Kulturen zu unterschiedlich, vermutet Frau Yoshimatsu und zuckt mit den Achseln. Die Kinder auf eine deutsche Schule zu schicken, sei in Düsseldorf unter den Japanern nicht üblich, erzählt sie. Gewöhnlich schi-

cken japanische Eltern ihre Kinder auf die Japanische Internationale Schule im Niederkasseler Kirchweg, die seit 1971 existiert. Die Schule wurde gegründet um den Familien eine Erleichterung im Alltag in der Fremde anzubieten. Familien, deren Vorhaben es ist,

frau yoshimatsu sagt: „wir sind ja nur für eine kurze Zeit hier.“ sie selbst lebt nun seit über 18 jahren in düsseldorf.

ihren Aufenthalt in Deutschland nur auf wenige Jahre zu beschränken, ziehen diese vor, um im Falle einer Rückkehr ins Heimatland den Kindern die Eingliederung in das japanische Schulsystem nicht zu erschweren. Dass diese Zeit in Düsseldorf häufig länger als fünf Jahre ist, und dass die Kinder so einen Großteil ihrer Jugend ausschließlich unter Landsleuten in einem fremden Land verbringen, scheint für alle mehr Vorteile als Nachteile zu haben. Denn die meisten japanischen Eltern betrachten die Zeit in Deutschland als vorübergehend. So schicken sie ihre Kinder erst in

Foto: Elvin Türk

klingt. Die Mitarbeiter sind alle junge, stylische Japaner, ebenso die Gäste. Eine deutsche Speisekarte gibt es hier nicht. Nur eine japanische mit englischer Übersetzung, und eine deutschsprachige Bestellung aufzunehmen, das bereitet dem japanischen Kellner mit dem dicken, abstehenden schwarzen Haar Schwierigkeiten. Die Mitarbeiter stehen hinter der gläsernen Theke, die mit japanischen Süßspeisen die Gäste anlockt. Bei Nudelsuppe und Tee sitzen fast ausschließlich Japaner in dem Restaurant mit seinen farbenfrohen Wänden, die mit den mit bunter Kreide bemalten Tafeln noch bunter wirkt. Besonders an den Wochenendtagen erscheint ein Spaziergang durch die Immermannstraße wie ein kurzer Eintritt in eine parallele Welt. Für eine kurze Zeit, so könnte man denken, ist man in Japan unterwegs.

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::::: wie alt werden japaner im schnitt?_82 jahre

Foto: Kevin Russ / www.istockphoto.com

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den japanischen Kindergarten und anschließend auf die japanische Schule. Für die kurze Zeit lohne es sich nicht, den Kindern mit einer neuen Sprache, einer neuen Kultur, einer neuen Umgebung schwer zu machen. „Hier in Düsseldorf sind wir unter uns“, sagt Frau Yoshimatsu, „wir sind ja nur für eine kurze Zeit hier.“ Sie selbst lebt nun seit über 18 Jahren in Düsseldorf. „Die japanische Mentalität ist anders. Die Zeit, die wir hier verbringen, nutzen wir nicht um uns unter die Menschen zu mischen.“ Aber auch die Deutschen seien anders, sagt sie. Beispielsweise die deutschen Lehrer. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler sei hier nicht so, wie sie es kennt: „In Japan gibt es zwischen Lehrer und Schüler eine engere Beziehung. Sie ist freundschaftlicher als hier. Hier hingegen bleiben die Lehrer einem fremd.“ Das belastet Frau Yoshimatsu doch sehr. Die schulischen Probleme ihrer Kinder kann sie nur begrenzt mit den Lehrern besprechen, auch weil sie Schwierigkeiten habe, sich auszudrücken und fügt hinzu: „Eigentlich habe ich viel zu sagen.“ Takumi, 16 Die Japaner hier in Düsseldorf bleiben also lieber unter sich. Wohl auch, weil viele Familien wegen der Arbeit der Väter nach Deutschland kommen. Stets mit dem Gedanken im Hinterkopf in vier oder fünf Jahren vielleicht schon weiter nach Frankreich oder Kalifornien ziehen müssen. So lernt manch mitgeschleppter Nachwuchs erst gar kein Deutsch. So wie der junge Mann, der mit seiner Freundin aus einem Café herausspaziert. Seit drei Jahren lebt Takumi nun in Düsseldorf und macht hier an der japanischen Schule seinen Abschluss. Deutsch kann er kaum, nur Englisch. Und hier in der Immermannstraße und überhaupt in Düsseldorf kommt man ja auch mit Japanisch sehr bequem durchs Leben. Deshalb fühle er sich eigentlich ganz wohl und sehe keine Hindernisse im Alltag, sagt er. Und nächstes Jahr gehe es ja eh wieder woanders hin. Frau Toshiro, 78 Auf der Straße schlendert gemütlich eine ältere Dame an den Schaufenstern vorbei. Ihre Haare sind hochgesteckt und ein Lächeln strahlt über ihr Gesicht. Auf Englisch erzählt sie: „Damals kam ich mit meinem Mann aus New York hierher.“ An der Columbia University in New York war sie jahrelang als Professorin tätig. „Ich bin schon um die ganze Welt gereist“, sagt sie verzückt. Nun ist sie seit 20 Jahren in Deutschland, in Düsseldorf. Sie sei fast täglich auf der Immermannstraße,

aber Japaner kenne sie trotzdem kaum. Ihr Bekanntenkreis sei bunt gemischt: „Ich habe Freunde aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Die Welt ist bunt. Mein Freundkreis auch.“ Ihr Mann sei vor einigen Jahren verstorben, so scheint es, dass das Rheinland nun die letzte Haltestelle auf ihrer Reise ist. Die deutsche Sprache brauche sie nicht, sagt sie. Und so treibt es sie fast täglich zum Erledigen ihrer

stets im hinterkopf in vier oder fünf jahren vielleicht schon weiter nach frankreich oder kalifornien ziehen zu müssen, lernt der nachwuchs erst gar kein deutsch. Geschäfte auf die Immermannstraße, wohl auch, um sich hier dann doch ein stückweit heimisch zu fühlen. Herr Nagoya, 36 Im „Hotel Nikko“ an der Information steht ein freundlicher Herr im feinen Anzug und begrüßt die Gäste aus aller Welt. Herr Nagoya lebt seit vier Jahren alleine in Deutschland und erzählt mit einem Lächeln auf den Lippen und in gutem Deutsch von seinen Verständigungsproblemen mit den deutschen Kollegen. „Hier in unserem Hotel habe ich weniger Probleme mit der Sprache, denn die Gäste sind hauptsächlich Geschäftsleute und die meisten von ihnen Japaner.“ Für die aus dem Ausland angereisten Japaner übernehme er seit eineinhalb Jahren die Sightseeingtouren durch die Stadt. Um seine sprachliche Kompetenz zu verbessern, besucht er weiterhin eine deutsche Sprachschule, „weil ich mich besser ausdrücken und alles verstehen möchte.“ Auf die Frage, ob er in Düsseldorf bleiben wird, zögert er etwas. Seine Familie fehle ihm. Wenn sie nicht in Japan wäre, sondern hier in seiner Nähe, würde er Deutschland vielleicht zu seiner Heimat machen. Frau Maria, 58 Die Immermannstraße wäre nicht dieselbe, ohne den alteingesessenen Kiosk an der Ecke. Frau Maria steht hier nun seit 24 Jahren hinter der Theke. Die gesprächige Griechin mit den kurzen, lockigen Haaren und den ausdrucksstarken Augen redet gerne mit ihren Kunden über Gott und die Welt. Zu ihren beständigen

Kunden gehören vor allem Geschäftsleute und eben sehr viele Japaner, die auf dem Weg zur Arbeit für Zigaretten und Schokoriegel vorbeischauen. Einige Kunden begrüßt sie direkt mit Namen. Mit ihrem südländischen Temperament und ihrem griechischen Akzent erzählt sie impulsiv über das Leben auf der Immermannstraße. Und wahrscheinlich weil die Kunden die lebhaften Unterhaltungen so sehr schätzen, kaufen sie nicht nur ihre Zeitung, um dann wieder ihren Weg weiter zu gehen, sondern bleiben gerne für einen netten Plausch etwas länger. So gerät Frau Maria ins Erzählen ihrer ganz eigenen Migrationsgeschichte: Mit ihrem Mann sei sie damals aus Griechenland der Arbeit wegen nach Deutschland gekommen. Fremd habe sie sich hier nie gefühlt. Manches sei anders gewesen, aber „wenn man die richtige Mischung aus beiden Kulturen hat, ist es nicht wirklich schwer sich an das Land zu gewöhnen. Von beiden Kulturen muss man was haben! Meine Tochter habe ich so erzogen: Sie ist deutsch und griechisch.“ Aber die Japaner, die verärgern sie manchmal ein bisschen. Mit einem betont grimmigen Blick fragt sie: „Warum sagen die nie ‚Hallo’ und nie ‚Tschüss’?! Also, sie kommen rein, werden bedient und sind dann wieder weg. Ohne was zu sagen.“ Die Verstummtheit verstehe sie gar nicht, denn man habe sich doch so viel zu erzählen.

Takumi lebt seit drei Jahren in Düsseldorf. 2|2007

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„Iwanuga hana / Nicht-Sagen ist die Blume“*

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er Ort für das Nicht-Sagen, für Ruhe und Stille befindet sich mitten im Düsseldorfer Ortsteil Niederkassel, der für einen kleinen beschaulichen Vorort einer großen deutschen Stadt typischer nicht sein könnte. Doch genau hier wurde 1988 der Grundstein für das japanische Kulturzentrum von Yahan Numata, einem shin-buddhistischen Priester gelegt. Fünf Jahre danach konnte der in Europa einzigartige japanische Tempel in traditioneller Architektur eröffnet werden. Das EKO-Haus bietet zahlreiche kulturelle Veranstaltungen an, organisiert werden

1988 wurde der grundstein für den in europa einzigartigen shin-buddhistischen tempel in traditioneller architektur gelegt.

Ausstellungen, Konzerte, Filmtage, wissenschaftliche Vorträge, Teezeremonien und

Foto: Elvin Türk

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Kalligraphie- sowie Tuschemalereikurse. Hier soll die japanische Kultur nicht nur gelebt und gepflegt, sondern für alle zugänglich werden. Hier kann man sich im Archiv oder im Leseraum informieren, an buddhistischen Festen teilnehmen. An das EKO-Haus angeschlossen ist seit 1999 sogar ein internationaler Kindergarten, der zu einer Hälfte von japanischen und zur anderen Hälfte von deutschen Kindern besucht wird. Will man zu dem eigentlichen Kulturzentrum gelangen, wird man zunächst an dem sorgfältig angelegten japanischen Garten vorbeigeführt. Dieser kleine Spaziergang wirkt regelrecht beruhigend auf den Besucher. Man hat das Gefühl, man müsse plötzlich ein bisschen langsamer laufen, tief durchatmen, die eigenen Worte werden leiser und man schaut über den Garten auf den höher gelegenen buddhistischen Tempel, der über die Gartenanlage auf die Besucher schaut. So hat man genügend Zeit, in diese fremde Umgebung einzutauchen und sich ein stückweit den Geheimnissen der japanischen Kultur zu nähern. Im Eingangsbereich der Veranstaltungsräume angekommen, hat man das hektische Stadtleben fast hinter sich gelassen. Bestaunen kann man hier als erstes das traditionelle japanische Gästehaus, das mit höchster Sorgfalt aus Tokio nach Düsseldorf gebracht wurde, um es im Stadtteil Niederkassel für Interessierte aus ganz Deutschland

detailgetreu wieder aufzubauen und in voller Pracht präsentieren zu können. Im Eingangsbereich müssen Besucher ihre Schuhe ausziehen. Über eine Stufe betritt man dann, etwas

in dem mit tatami-matten ausgelegten raum fällt der blick auf den farbenfrohen altar, auf dem buddhastatuen und bunte blumen stehen. vor dem altar kann man auf klappstühlen platz nehmen. ungewohnt, auf Socken die kleinen Räume. Auffallend ist, dass es keine Möbel gibt. Die Böden sind mit Tatami-Matten ausgelegt. Die traditionellen japanischen Matten dienen als Sitzplatz und Bett zugleich. Sie entsprechen genau der Größe eines Menschen, nämlich un-

* japanisches Sprichwort. Deutsche Entsprechung: Schweigen ist Gold.


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Foto: Sylvia Boratti / www.istockphoto.com

::::: wie hoch ist die selbstmordrate?_19,5 selbstmorde pro jahr auf 100.000 einwohner

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gefähr 90 mal 180 cm. Auch die Wände sind ungewöhnlich: Sie tragen nicht. Sie sind nur ineinander geschoben. So kann dieses Haus einem Erdbeben ohne Probleme standhalten, die Wände würden sich einfach zusammenschieben. Eine besondere, helle Atmosphäre schaffen vor allem die breiten Fensterfronten, die sich auf den beiden Längsseiten des Hauses befinden und durch die man in den Garten schauen kann. So ist das Innere des Hauses ins Licht getaucht und man hat freien Blick auf einen kleinen See, indem Kois ihre Runden drehen. Die Blumen blühen und hinter der massiven weißen Mauer, die das Gelände des EKO-Hauses von der Außenwelt abschirmt, Foto: Pathathai Chungyam / www.istockphoto.com

::::: wie viele kinder bekommen japaner?_9,37 geburten/1.000 einwohner, bevölkerungswachstum: 0,02% 18

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lässt sich der Alltag nur erahnen. Die weiße Mauer ist eines der drei Grundelemente der japanischen Architektur, erklärt Herr Prof. Röllicke, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Publikationen des EKO-Hauses mitwirkt. Die weiße Mauer ist das, aus dem alle Farbe entsteht, das Nichtvorhandene, das einen Platz haben muss. Das zweite Element kann gleich selbst entdeckt werden, wenn man den Blick weiter über den Garten schweifen lässt: Es soll in der japanischen Architektur keine rechten Winkel geben, das menschliche Maß steht der Landschaft gegenüber. „Und der Betrachtungsgang, der hin und zurückführen soll“,

ergänzt Herr Prof. Röllicke, „stellt das dritte Element dar.“ Während er spricht, zieht und schiebt er die bodenlangen Fenster der Fensterfront hin und her und wieder zurück, bis die komplette Seite zum Garten hin offen ist. „Es gibt hier keine künstlichen Farben“, erklärt er bei einem Blick nach draußen. „Dieser japanische Garten soll tiefe Ruhe geben“, erläutert er weiter, „eine absolute Stille.“ Diese Stille stellt den Mittelpunkt der Form des Buddhismus dar, der hier im EKO-Haus praktiziert wird: Der Shin-Buddhismus. Der hauseigene Tempel, der einige Meter vom Gästehaus entfernt liegt, will genau die-


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se so wichtige Stille in einem angemessenen Rahmen bieten, um sich den shin-buddhistischen Übungen zu widmen. Die Zeit für den buddhistischen Tempel nehmen, der nur wenige Meter entfernt liegt, sollte man sich nehmen. In dem großen ebenfalls mit Tatami-Matten ausgelegten Raum mit breiter Fensterfront fällt der Blick gleich auf den farbenfrohen Altar, auf dem Buddhastatuen und bunte Blumen stehen. Vor dem Altar kann man auf Klappstühlen Platz nehmen. Über dem Altar befindet sich eine große Glocke, ein zentrales Element des Shin-Buddhismus. Herr Prof. Röllicke bittet um absolute Ruhe und schlägt anschließend so vorsichtig wie möglich, so fest wie nötig den Gong. Der Nachklang und Widerhall sind sehr lange zu hören. In dieser Übung soll dem Ausklingen gelauscht werden, in die Stille hinein, um so hellhörig zu werden. Hellhörig für einen Zustand, für eine Ursprungsstille, in der alles erlischt, indem alle Unterschiede erlöschen sollen. Im Shin-Buddhismus wird ein tiefes Grundgefühl der Dankbarkeit durch das Erbringen von kleinen Opfern ausgedrückt. So kann auf dem Altar in einer Schale ein Müsliriegel entdeckt werden. Man ist der Überzeugung, dass das Wichtigste zum Essen eingeladen werden sollte, damit es an den Freuden teilhaben kann. So bringt man von allem etwas. Die Müsliriegel allerdings, gibt Herr Prof. Röllicke mit einem verschmitzen Lächeln zu, die werden später unter den Mitarbeitern verteilt. Zum Ende eines Besuches sollte man sich auch einige Minuten für den japanischen Garten nehmen. So schlendert man durch die gepflegte Anlage und stellt rückblickend fest, dass das EKO-Haus zum einen als Ort

düsseldorf mausert sich zum umsatzstärksten standort japanischer investoren und unternehmen in ganz kontinentaleuropa. der Ruhe und Stille konzipiert ist, aber durch seine vielen Besucher, seine vielen interessierten Kursteilnehmer und seine engagierten Mitarbeiter zum anderen auch ein Ort des Austausches, des gegenseitigen Lernens, des Sich-Informierens über eine so fremde Kultur ist. Eine fremde, unbekannte Kultur, die in Düsseldorf so nah ist.

„Wenn man in ein Dorf kommt, soll man sich an das Dorf anpassen“ *

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u Beginn des 20. Jahrhunderts sind es die Städte Hamburg und Berlin, die die Japaner nach Deutschland ziehen. Doch bald werfen die Japaner einen interessierten Blick auf das Ruhrgebiet. Der erste Japaner in Düsseldorf wird 1905 registriert. Weitere kommen an den Rhein, nachdem sie vom Zweiten Weltkrieg gebeutelt das Know-how aus der deutschen Schwerindustrie zum Wiederaufbau benötigen. Zu dieser Zeit gilt Düsseldorf als die Wirtschaftszentrale des Ruhrgebiets. Der perfekte Ort also, für Wirtschaftler, sich einmal umzuschauen und sich um neues Fachwissen zu bemühen.

über 30 milliarden euro werden in „nippons stadt am rhein“ jährlich umgesetzt. Dadurch finden weitere Japaner ab 1952 den Weg nach Düsseldorf. Als das Herz des Ruhrgebiets entdeckt Japan in Düsseldorf aber auch einen günstigen Vertriebsstandort für die eigenen Produkte. So folgen schon kurze Zeit später die ersten japanischen Unternehmen und siedeln sich hier an. Getreu dem Sprichwort „Gô ni ireba gô ni shitagae / Wenn man in ein Dorf kommt, soll man sich an das Dorf anpassen“ fällt den Japanern die Integration in das wirtschaftliche Leben nicht schwer. Heute zählt man in und um Düsseldorf herum bereits knapp 450 japanische Unternehmen, kleinere Einzelhändler und Restaurants werden in dieser Statistik nicht berücksichtigt. So mausert sich Düsseldorf zum umsatzstärksten Standort japanischer Investoren und Unternehmen in ganz Kontinentaleuropa. Über 30 Milliarden Euro werden in „Nippons Stadt am Rhein“ jährlich umgesetzt. Mit den Unternehmen kommen auch die Menschen. Rund 9.000 der etwa 34.000 in Deutschland lebenden Japaner haben heute in Düsseldorf ihr zu Hause. Nur Paris und London können diese Zahl übertreffen.

* japanisches Sprichwort. 2|2007

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Foto: Pali Rao / www.istockphoto.com


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Itreitkültür ::::: Ein Pass - Viele Kulturen_der jugendintegrationsgipfel traut sich was ::::: Ein Vermächtnis und seine Zukunft _eine einzigartige simulation des internationalen strafgerichtshofs ::::: Schon was gemerkt?_was wurde aus dem jahr der chancengleichheit? ::::: Nach Jahrzehnten im Dornröschenschlaf wird Integrationspolitik als Topthema begriffen_ bertelsmann-stiftung und ihr kompetenzzentrum integration und demokratie ::::: Lachen braucht ein Echo_heute schon einen clown gefrühstückt? ::::: Wer gibt den Ton an in der Integrationspolitik?_medienwirksam setzte die kanzlerin die integrationsgipfel ein :::::

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Ein Pass – viele Kulturen ::::: „wenn ich mich nicht erwünscht fühle, werde ich mich bestimmt nicht mit deutschland identifizieren.“_die teilnehmer des jugendintegrationsgipfels im bundeskanzleramt legten schonungslos integrationsschwächen offen. eine teilnehmerin berichtet

Text: Hav va Av c ı- P lü m

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Foto: M.Darchinger

Havva Avcı-Plüm (l.) ist Gastautorin für mikSes. Sie studiert Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und beschäftigte sich jahrelang mit dem Themenfeld Migrationsforschung. Hier im Gespräch mit der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Prof. Dr. Maria Böhmer (r.) 22

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m vergangenen Jahr fand der Integrationsgipfel statt, um Politiker, Wissenschaftler und Zuwanderer an einen Tisch zu bringen. Die Teilnehmer einigten sich darauf, einen Nationalen Integrationsplan zu entwerfen, der am 12. Juli der Bundeskanzlerin vorgestellt wurde. Um auch die Stimmen der Jugendlichen zu hören, lud die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, rund 80 Schüler, Auszubildende und Studenten zum Jugendintegrationsgipfel am 7. und 8. Mai nach Berlin ein. Und eine von Ihnen war ich. Wir durften in drei Workshops Ideenpapiere entwickeln, die dem Nationalen Integrationsplan beigefügt werden sollen. In den Workshops wurden die Themen „Sprache und Bildung“, „Integration vor Ort“ und „Kulturelle Vielfalt“ diskutiert und Ergebnisse festgehalten, die schließlich der Bundeskanzlerin vorgestellt und übergeben wurden. Nach einem ersten Brainstorming der Workshop-Teilnehmer wurden thematische Schwerpunkte gesetzt, die in mehreren Sitzungen am ersten Tag vertieft wurden. Aufgrund des jungen Alters der Teilnehmer, nahm ich zunächst an, dass die Diskussionen sehr harmonisch und vorsichtig verlaufen würden; aber weit gefehlt. Es kamen sehr viele ehrliche und emotionale Beiträge zusammen, die wesentlich erfrischender waren als so einige Politikerreden. Schonungslos wurden auf die Schwachstellen der Integration hingewiesen, die sowohl in der Aufnahmegesellschaft als auch bei den Zuwanderern und deren Nachkommen bestehen. Brisante Themen, wie Sprachdefizite, Gettoisierung, politisches Desinteresse und Leitkultur wurden aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Auch die Lösungsvorschläge der

Jugendlichen und Heranwachsenden waren viel pragmatischer, als wir es von etablierten Politikern gewohnt sind. Trotz Uneinigkeiten bei diversen Themen waren sich alle Jugendlichen bei dem Punkt „Sprache“ einig: Sie muss von allen be-

es kamen sehr viele ehrliche und emotionale beiträge zusammen, die wesentlich erfrischender waren als so einige politikerreden. herrscht werden, damit eine Teilhabe an dem gesellschaftlichen Leben möglich ist. Jedoch verlangen sie, dass die Bilingualität mehr geschätzt und gefördert werden soll. Dies soll durch muttersprachlichen Förderunterricht ab der ersten Klasse gelingen. Die Bilingualität sei ein noch nicht ausreichend ausgeschöpftes Potenzial für Deutschland, wodurch dem Fachkräftemangel in der Zukunft entgegengewirkt werden könne. Weitere klare Forderungen, die bedauerlicherweise selten aus dem Kreise der Politiker gestellt werden, betreffen die Abschaffung der Hauptschulen und die KiTa-Pflicht. Das dreigliedrige Schulsystem sei, wie so oft belegt, ein Hindernis für die Chancengleichheit und benachteilige vor allem Schüler mit Migrationshintergrund. Des Weiteren solle die KiTa-Pflicht durch die kostenlose Teilnahme von Kindern eine frühere Vorbereitung auf die Schule gewährleistet werden.


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werden muss, wobei auf Einbürgerungstests verzichtet werden soll, weil sie die Integration behindern würden. „Wenn ich mich nicht erwünscht fühle, werde ich mich bestimmt

der die kulturelle Vielfalt nicht als Problem, sondern als Reichtum betrachtet wird, sei eine Gesellschaft, mit der man sich gerne und ehrlich identifizieren kann. Die Formel lautet: „Ein Pass – viele Kulturen“.

„deutschland soll stolz auf seine kulturelle vielfalt sein!“

Die Ideen sind sowohl von der Staatsministerin Maria Böhmer, als auch von der Bundeskanzlerin Angela Merkel mit hohem Interesse angehört worden. Dies ist ein positives Signal. Endlich wird nicht mehr über Migranten gesprochen, sondern mit ihnen. Auf dem Jugendintegrationsgipfel kamen nun erstmals die Stimmen derjenigen zu Wort, an die sich so viele der auf dem „großen Integrationsgipfel“ formulierten Maßnahmen richten. Als Teilnehmerin des Jugendintegrationsgipfels hoffe ich, dass weitere positive Signale gesetzt werden. Denn nur ein kontinuierlicher Prozess wird nachhaltige Erfolge für die zukünftige deutsche Gesellschaft mit sich bringen.

nicht mit Deutschland identifizieren!“ klagte ein Schüler. Daher wurden positive Signale gewünscht, die auf die Potenziale hinweisen sollen, die Migranten in Deutschland darstellen. „Deutschland soll stolz auf seine kulturelle Vielfalt sein!“, sagte eine Schülerin. Denn nur eine Gesellschaft, in der jeder Platz und Raum für freie Entfaltung findet, die auf der Basis des Grundgesetzes aufbaut und in

Foto: deborre/www.photocase.de

Nicht nur die Politik, sondern auch Lehrer und Eltern wurden zur Übernahme von mehr Verantwortung aufgefordert. Die Lehrer sollen, so die Forderungen, in ihrer Ausbildung für interkulturelle Fragen sensibilisiert werden, um möglichen Konflikten vorzubeugen und nicht vor lauter Hilflosigkeit zu resignieren. An die Eltern wurde appelliert, mehr Eigeninitiative zu ergreifen um ihren Kindern eine hochwertige Ausbildung zu ermöglichen. Als Voraussetzung dafür wurde erneut die Beherrschung der deutschen Sprache betont. Damit die Zusammenarbeit von Schule und Eltern besser gelingen kann, wurde die Forderung nach so genannten Elternlotsen aufgestellt. In einem solchen Modell sollen engagierte Väter und Mütter zwischen Zuwandererfamilien und Lehrern als Mediatoren den Weg für eine Kommunikation ohne Berührungsängste ebnen. Die Jugendlichen stellten fest, dass die Einbürgerung für Zugewanderte erleichtert

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Ein Vermächtnis und seine Zukunft ::::: eine europaweit einzigartige simulation_des internationalen strafgerichtshofs in den haag ist ein erbe des großen deutschen widerständlers helmuth james von moltke

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Foto: Familie von Moltke

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Am 11. März 2007 wäre Helmuth James von Moltke 100 Jahre alt geworden. Zu seinem Andenken fand an diesem Datum im Berliner Konzerthaus ein Festakt statt. Bundeskanzlerin Merkel ehrte ihn in einer Ansprache als einen großen europäischen Visionär.

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© Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung

Der nächste MICC für SchülerInnen wird vom 4.-9. Dezember 2007 stattfinden. Für Studierende findet das nächste Projekt vom 7.-11. November 2007 statt. Informationen zu Anmeldemodalitäten etc.: www.model-icc.org

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Foto: doc_lopez/www.photocase.de

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Mehr Infos und Hinweise zu Veranstaltungen: http://ec.europa.eu/employment_social/eyeq/index.cfm

Schon was gemerkt? ::::: „gleiches recht für alle“ forderte die europäische kommission im juni 2005 und erklärte das jahr 2007 zum jahr der chancengleichheit_insbesondere sollte so die anwendung der europäischen antidiskriminierungsgesetzte gestärkt werden, die nur allzu oft behindert und verschleppt wurden. Te xt: Markolf Naujoks

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eicht hat es die Chancengleichheit nie gehabt. Der ihr von der EU zugebilligte Etat von 13,6 Mio. Euro lässt Werbestrategen nur müde lächeln – besonders wenn es darum geht, Produkte wie Anerkennung, Respekt und Toleranz an den Mann zu bringen. Handlungsbedarf besteht allerdings, und die Verurteilung von gleich vier Mitgliedstaaten (Deutschland, Finnland, Österreich und Luxemburg) vor einiger Zeit wegen mangelhafter Umsetzung der Antidiskriminierungsgesetzte war ein erster Warnschuss der Kommission, der wenig Medienecho fand und dessen Wirksamkeit man zumindest bezweifeln kann. Gleichstellung der Geschlechter, Würdigung und Berücksichtigung von Vielfalt, sowie stärkerer Zusammenhalt in der Gesellschaft sind die Kernziele des „Jahres der Chancengleichheit“, wie Frau von der Leyen und der EU-Sozialkommisar Vladimír Špidla zum feierlichen Lunch im Januar betonten. Im Jahr der deutschen Ratspräsidentschaft hörte man seitdem eher wenig von diesen Zielen. Obwohl doch Dezentralisierung im Zuge der Kampagne großgeschrieben wird, um auf die nationalen Unterschiede und Eigenheiten der 27 Mitglieder (sowie Lichtenstein, Norwegen und

Island) einzugehen. Studien und Umfragen sind geplant, Arbeitsgruppen entstanden, die Zielsetzungen und konkrete Arbeitswege aufzeigen sollen. Zahlreiche Wettbewerbe wurden ins Leben gerufen wie „Faces of the Year“, bei der Menschen aus ganz Europa porträtiert werden, die um ihr Recht auf gleiche Chancen kämpfen und nicht müde werden, sich gegen Vorurteile über Herkunft, Geschlecht, Religion, sexuelle Orientierung oder Hautfarbe zur Wehr zu setzten. Impulse sollen gesetzt in diesem Jahr, dem schwerfälligen Prozess auf die Beine geholfen werden. Jedoch können die zahlreichen Veranstaltungen und Konferenzen, seien sie europäisch, national oder lokal, nicht darüber hinwegtäuschen: Das „Jahr der Chancengleichheit“ ist nur schwerfällig angerollt. Mag es die zunehmend wachsende Europamüdigkeit vieler, scheinbar drängendere Probleme oder die wenig erfolgreiche Lancierung durch die Medien sein – Luft nach oben hat die Kampagne noch reichlich. Chancengleichheit beginnt in den Köpfen, und mit den Köpfen ihrer Bürger hat sich die EU bisher noch immer schwer getan. Die nächsten Monate werden zeigen, ob das „Jahr der Chancengleichheit“ seine Chance noch wahrnehmen kann. 2|2007

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Bertelsmann Stiftung Die Bertelsmann Stiftung engagiert sich seit 1977 in der Tradition ihres Gründers Reinhard Mohn für das Gemeinwohl und versteht sich als Förderin des gesellschaftlichen Wandels und unterstützt das Ziel einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Sie finanziert ihre gemeinnützige Arbeit überwiegend aus den Erträgen ihrer Beteiligung an der Bertelsmann AG. Im Geschäftsjahr 2006 verfügte die Stiftung über ein Volumen in Höhe von 106 Mio. Euro und ist damit mit ihren 330 Mitarbeitern die größte operativ tätige Stiftung in Deutschland.

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Foto: Bertelsmann Stiftung

www.bertelsmann-stiftung.de


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„Nach Jahrzehnten im Dornröschenschlaf wird Integrationspolitik als Topthema begriffen“ ::::: interview mit ulrich kober_leiter des „kompetenzzentrums demokratie und integration“ der bertelsmann stiftung mikSes: Welche waren die wichtigsten Projekte der Bertelsmann Stiftung in den vergangenen Jahren im Bereich Integration? Ulrich Kober: Die Bertelsmann Stiftung verleiht jedes Jahr einen Preis für besonders innovative Lösungen in gesellschaftlichen Problemfeldern. 1993 wurde dieser Carl-Bertelsmann-Preis an Schweden verliehen, für seine damals vorbildliche Integrations- und Einwanderungspolitik. Seitdem ist das Thema Integration sehr prominent in der Stiftung geworden. 1994 hat die Stiftung einen Entwurf für ein europäisches Einwanderungsgesetz vorgelegt. Anfang der neunziger Jahre war es ein absolutes Tabu, Deutschland als Einwanderungsland zu bezeichnen. Wir haben das Thema damals schon auf die Agenda gesetzt; und es gleichsam auch auf die europäische Ebene zu heben war sehr innovativ. Ein weiteres Highlight waren zwei große Integrationswettbewerbe in Deutschland, die wir durchgeführt haben. 2001/2002 mit dem damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, dem dies ein großes Anliegen war. Das war ein Wettbewerb für gesellschaftliche Integrationsinitiativen mit über 1.300 Bewerbern. Allein an dieser Zahl sieht man wie vital diese Landschaft ist, die keiner richtig wahrgenommen hat. Im Anschluss daran haben wir 2004/2005 mit dem Innenministerium und Otto Schily einen Wettbewerb zur kommunalen Integrationspolitik gemacht. Parallel haben wir in der Stiftung aber auch, als in Deutschland die großen Übergriffe auf Ausländer und Asylbewerber stattfanden – Stichwort Rostock, Hoyerswerda, Solingen – ein Programm zur Erziehung zu Demokratie und Toleranz aufgelegt. Dort haben wir innovative Bildungsprogramme aus Israel, aus den USA adaptiert und selbst, mit dem Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) in München als Partner, ein Bildungspro-

gramm entwickelt. Diese Programme laufen seit Ende der 90er Jahre sehr erfolgreich. Weil wir dieses Thema auch in einem größeren Rahmen sehen, haben wir nun Anfang des Jahres das „Kompetenzzentrum für Demokratie und Integration“ gegründet. Was unter Intergration verstanden wird, ist abhängig vom demokratischen Selbstverständnis einer Gesellschaft. Integration vollzieht sich durch Partizipation in dieser Gesellschaft. Auf dem Feld der Partizipationsförderung und Bürgerbeteiligung ist die Stiftung ja schon sehr lange aktiv. mikSes: Was sind zurzeit die aktuellen Projekte? Ulrich Kober: Aktuell haben wir zusammen mit einem amerikanischen Partner, dem Migration Policy Institute, eine „Transatlantic Task Force on Immigration and Migration“ ins Leben gerufen. Hierzu konnten wir politische Größen wie Rita Süssmuth, Aleksander

„anfang der neunziger jahre war es ein absolutes tabu, deutschland als einwanderungsland zu bezeichnen.“ Kwaśniewski, den ehemaligen polnischen Präsidenten, oder auch António Vitorino, ehemaliger EU-Kommissar, der erstmals auf EU-Ebene mit dem Thema befasst war und andere Experten und Prominente aus der politischen Szene gewinnen können. Hier versuchen wir Strategien zu entwickeln, wie das Management von Migration und Integration auf der europäischen Ebene verbessert wer-

den kann. Auf der kommunalen Ebene haben wir auf der Grundlage unseres kommunalen Integrationswettbewerbs erfolgreiche Handlungsstrategien für Integration identifiziert, die wir jetzt in den politischen Beratungsprozess einbringen. Daneben haben wir Projekte, die mehr auf der Akteursebene ansetzen. Wir erproben gerade ein Integrationstraining für kommunale Entscheider. Außerdem legen wir jetzt ein Leadership-Programm auf, für junge Führungskräfte aus Migrantenorganisationen. Darüber gibt es eine neue Initiative zur Bekämpfung des Rechtsextremismus, in der wir versuchen zusammen mit europäischen Experten herauszufinden, wo europaweit erfolgreich Initiativen gegen Rechtsextremismus durchgeführt werden. Und schließlich suchen wir nach neuen Konzepten zur Vitalisierung der Demokratie. mikSes: Wie prominent ist das Thema Integration auf europäischer Ebene heute? Ulrich Kober: Man versucht diesen Politikbereich immer stärker auf europäischer Ebene zu koordinieren, obwohl er noch keine Gemeinschaftsaufgabe ist, sondern nur Gegenstand der intergouvernementalen Zusammenarbeit. 2004 hat man gemeinsame Prinzipien für die Integration abgestimmt. Seitdem gibt es auch einen jährlichen Bericht über die Integrationspolitiken der Mitgliedsstaaten und es wurden „National Contact Points“ eingerichtet, die sich regelmäßig treffen, mit denen auch wir in Austausch stehen. Die Stiftung hat jetzt auch die deutsche Ratspräsidentschaft auf diesem Feld etwas beraten. mikSes: Wie beurteilen Sie die bisherige Arbeit des Integrationsgipfels? Ulrich Kober: Erstmal muss man sagen, 2|2007

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dass es absolut zu begrüßen ist, dass das Thema „Chefsache“ wird. Das ist auch eine Erkenntnis aus unserem kommunalen Integrationswettbewerb gewesen. Die Kommunen, in denen sich die kommunale Spitze des Themas angenommen hat, kommen besonders gut voran. Insofern ist es ein wichtiges Signal, dass sich Frau Merkel des Themas angenommen hat. Dass der Integrationsgipfel natürlich auch einen gewissen Aktionismus entfaltet, ist ebenso klar. Parallel dazu gibt es ja ein Integrationsprogramm, das angestoßen durch das neue Zuwanderungsgesetz 2005, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Auftrag des Bundesinnenministeriums erarbeitet wird. mikSes: Existiert zwischen diesen beiden Initiativen, dem „Nationalen Integrationsplan“ und dem „bundesweiten Integrationsprogramm“ ein Konkurrenzverhältnis? Ulrich Kober: Es gibt viele Arbeitsgruppen, die dort an sehr ähnlichen Fragestellungen arbeiten. Es treffen sich immer wieder die gleichen Experten. Das zeigt aber nur, dass das Thema lange verschlafen wurde und jetzt aufbricht. Nicht zuletzt durch die Ereignisse an der Rütli-Schule wurde klar, wie dringend dort etwas getan werden muss und wie eng das ganze auch mit der Bildung zusammenhängt. Diese Entwicklungen, dass Kinder von Migranten besonders benachteiligt sind, stellt natürlich das Selbstverständnis unseres Bildungssystems fundamental in Frage. Man muss schauen, was nun bei den Arbeitsgruppen herauskommt. Wir haben als Bertelsmann Stiftung auch in Arbeitsgruppen mitgearbeitet. Insgesamt ist es aber ein ganz wichtiges Signal, das hier nun so viel getan wird. mikSes: In der Integrationsdebatte wird vor allem religiösen Gruppen ein großes Gehör gegeben. Sind diese Gruppen wichtiger und besser organisiert als die nicht-religiösen Migrantengruppen? Ulrich Kober: Es ist durchaus eine Streitfrage, ob es sinnvoll ist, in Gesprächen zwischen dem Staat und Vertretern des Islams Fragen zu behandeln, die über engere Fragen der Religionsausübung hinausgehen. Soll man zum Beispiel über Werte diskutieren? Ich stell mir da immer die Frage, ob irgendjemand staatlicherseits mit der katholischen Kirche über ihr Frauenbild diskutieren will. Auf die Idee käme niemand, aber mit Vertretern des Islams wird darüber debattiert. Es gibt viele Stimmen in der Wissenschaft, die fordern, die Gespräche auf Topebene zwischen Staat und Re30

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ligionsgruppen auf pragmatische Fragen der Religionsausübung zu reduzieren. Die „Deutsche Islam Konferenz“ ist aber so angelegt, dass sie auch Wertefragen diskutieren will und dann auch Kritiker des Islams einlädt, die in den Medien für ihr „Islam-Bashing“ bekannt sind. Würde man dies mit Vertretern der Kirchen tun? Nein. Es bestreitet niemand, dass sich auch der Islam im Rahmen der hiesigen Rechtsordnung bewegen muss, aber nicht jede Definition des Frauenbilds darf zu einem Angriff auf die Verfassung hochgepusht werden. Das Problem hatte ja auch der berüchtigte so genannte „Integrationstest“, den wohl auch so manch konservativ gesinnte Deutsche nicht bestanden hätte. Da muss man auch gegenüber den Muslimen fair bleiben. Religion ist zweifelsohne ein neuralgisches Thema bei der Integration – aber da darf der Staat nicht mit zweierlei Maß messen! Jedenfalls ist es positiv zu sehen, dass die deutsche Politik wahrnimmt, dass der Islam seit mittlerweile gut 40 Jahren ein Teil Deutschlands ist. Sehr wichtig ist es aber auch, dass Mus-

„es bestreitet niemand, dass sich auch der islam im rahmen der hiesigen rechtsordnung bewegen muss, aber nicht jede definition des frauenbilds darf zu einem angriff auf die verfassung hochgepusht werden.“ lime in Deutschland sich nicht ständig in der „Opferrolle“ sehen, sondern selbstbewusst Verantwortung für dieses Land und diesen Staat übernehmen. mikSes: Teilen Sie die Kritik an den von der Bundesregierung geplanten Verschärfungen des Zuwanderungsgesetz, z.B. im Bereich des Nachzugsalters oder den Bestimmungen zur Arbeitsaufnahme von Geduldeten? Konterkarieren diese Maßnahmen Integrationsbemühungen oder bleiben sie davon unberührt? Ulrich Kober: Das ist schwer mit Ja oder Nein zu beantworten. Die Dänen beispielsweise haben unter großem Protest das Nachzugsalter drastisch erhöht, sie sagen, es habe sich für die Integration bewährt. Dass man nun in Deutschland den Geduldeten ein Bleiberecht eingeräumt hat, halte ich für positiv.

Es ist aber fraglich, ob die enge Anknüpfung an die Arbeitsaufnahme und die zeitliche Bindung wirklich durchzuhalten ist. Was macht man denn dann mit Geduldeten, die nach der abgelaufenen Frist keine Arbeit haben? Man kann diese Menschen dann nicht einfach aus Deutschland deportieren. Auf der symbolpolitischen Ebene ist es sicherlich wichtig, dass man für das Bleiberecht im Gegenzug dann auch eine Arbeitsaufnahme verlangt. Es ist aber fraglich, ob das wirklich praktisch relevant wird. mikSes: Was könnten die großen Zukunftsthemen im Bereich der Integration werden? Ulrich Kober: Das Oberthema wird die Teilhabe und Beteiligung sein. Ganz virulent wird dies im Bildungsbereich, der in Deutschland immer noch ideologisch vermint ist. Teilhabe natürlich auch im politischen Bereich. Wir haben ein großes Problem mit der politischen Partizipation von Zuwanderern, die keine deutschen Staatsbürger sind. Das neue Staatsbürgerschaftsrecht hat hier zwar schon einiges an Druck weggenommen, aber hier bleibt noch viel zu tun. Wie kann man die Menschen stärker in den politischen Prozess hineinholen, die keinen deutschen Pass haben, aber auf absehbare Zeit hier in Deutschland leben werden. Gleichsam müssen aber auch in der Administration, Polizei, Schulen, in den öffentlichen Räumen etc. Menschen mit Migrationshintergrund viel präsenter werden. Man muss überlegen, ob „affirmative action“, also die Einführung von Quoten, sinnvoll ist oder nicht. Das ist umstritten, aber darüber muss eine Gesellschaft diskutieren. Man muss sich zudem im kulturellen Bereich von impliziten Assimilationsmodellen verabschieden, die immer noch stark vorhanden sind. Man erwartet von Migranten eine Anpassung, die man von Deutschen in diesem pluralistischen Land nicht erwartet. Also muss man es in Zukunft schaffen, diese Vielfalt der Gesellschaft zu managen, so dass sie nicht auseinanderknallt. Ich bin da sehr zuversichtlich, nach Jahrzehnten des Dornröschenschlafs hat man begriffen, dass Integration ein Topthema ist. Der nächste Schritt nach der Integration, das sieht man an Ländern wie Dänemark und den Niederland, die dort schon weiter sind, wird die Frage nach sozialer Kohäsion sein. Also was hält diese vielfältigen Gesellschaften zusammen? mikSes: Herr Kober, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Jan Krawitz.


Lachen braucht ein Echo

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::::: der linke widerstand hat ein neues gesicht_ein weiß geschminktes mit knollennase. seit heiligendamm kennt man die „clowns army” nun auch in deutschland, an vorderster front für eine bessere welt ulkend. Te x t : M a r k o l f N a u j o k s

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an könnte meinen, die extreme Linke hätte sich einen Imageberater gesucht – und ihn gefunden. Beinahe auf jeder größeren Demo sind die Clownsbataillone bereits zu finden. Dort skandieren sie aufreizend fröhlich Unsinn, sind straff, beinahe paramilitärisch organisiert und brechen mit fast jeder Tradition zwischen Ordnungshütern und Weltverbesserern. Lärmend, mit Pantomime, Wasserpistolen und sinnfreien Schlachtgesängen bewaffnet gibt die Clownsarmee die ihnen gegenüberstehende Gleichförmigkeit der Helme, Schilde und Stöcke der landesweit übertragenen Lächerlichkeit preis. Mancher Beamte wird sich wohl heimlich wenigstens ein paar steineschmeißende Punks herbeisehnen, denn zähneknirschendes Stillstehen im Angesicht eines solchen Feindes, das würde sich wohl niemand wünschen. Das einzig Beruhigende für den Beamten bei solch einem Spektakel wird wohl sein, dass man in punkto Wasserpistole deutlich besser ausgestattet ist. Ähnlich naserümpfend und verwirrt reagierten hierzulande auch Medien, und sogar das Feuilleton war gar nicht amüsiert – teilweise auch deswegen, weil die Spaßguerillia sich zwar gerne filmen und fotografieren lässt, sich ansonsten aber wenig kooperativ zeigt. Für die linke Bewegung war es höchste Zeit sich etwas Neues einfallen zu lassen. Denn schon lange sind die Parolen, die Rhetorik der 68er, die marxistisch-leninistischen, trotzkistischen, maoistischen Schlagwörter abgelutscht, wirkungslos und leer. Und doch wurden sie immer wieder hervorgezogen, wie eine liebgewonnene schlechte Eigenschaft. Die Clowns sind nun mit ihren anti-rhetorischen, an Straßentheater erinnernden Aktionen global im Einsatz. Ihr Codex und die Beweggründe sind überall dieselben.

Die bestorganisierte und wahrscheinlich älteste Clownarmee ist die CIRCA (Clandestine Insurgent Rebels Clowns Army), die erstmals 2003 in Großbritannien auf den Plan trat und sich von dort aus über ganz Westeuropa verbreitete. Drei Tage Trainingslager sind vonnöten um den inneren Clown zu finden und sich den Reihen der Kombattanten anzuschließen. Schwarzhumorig zieht sich die Militäranalogie konsequent durch das Clownsleben. Es gibt Taktikbesprechungen, Einsatzpläne und Konferenzen. „Wir sind Clowns, denn was sonst kann man in dieser idiotischen Welt sein.” Die Gründe der linken Verclownung reichen vom kreativen Umgehen des Vermummungsverbots über das Infragestellen jeglicher Autorität bis hin zum Topos des Narren, der als einziger die Wahrheit über die Welt sagt. Ob die Spaßmacher sich bewusst sind, dass ein Clown auch immer etwas Ohnmächtiges und Verzweifeltes hat? Das würde nicht schlecht ins Bild passen. Vielleicht ist die Rebellenarmee auch der Abgesang einer Bewegung, ein letztes trotziges Aufbäumen einer Art zu denken, die dem Untergang geweiht scheint. Ein tief sitzendes Unwohlsein am und im System ist nicht mehr in Mode. „Flieh aus dem Zirkus und schließ dich den Streitkräften an”, schreiben sie grinsend und meinen es bitterernst.

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Wer gibt den Ton an in der Integrationspolitik? ::::: medienwirksam setzte die kanzlerin die integrationsgipfel ein_wird der dort entwickelte „nationale integrationsplan“ die künftige strategie für integration in deutschland sein, oder doch eher das „bundesweite integrationsprogramm“ des innenministers? kompetenzgerangel scheint vorprogrammiert Text: Jan K raw i t z

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nter dem Eindruck der Unruhen in den Vororten von Paris Ende des Jahres 2005 und den Vorkommnissen an der Berliner Rütli-Schule 2006 erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Integrationspolitik zur „Chefinnen-Sache“. Sie beauftragte Maria Böhmer (CDU), Staatsministerin beim Bundeskanzleramt und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, den ersten nationalen Integrationsgipfel auszurichten. Dieser fand dann auch mit heißer Nadel gestrickt am 14. Juli 2006 im Bundeskanzleramt statt. Noch wenige Tage vor dem Gipfel waren Böhmers Mitarbeiter nicht in der Lage Näheres über Teilnehmerkreis, Ablauf oder Ziel der Veranstaltung zu sagen. Entsprechend erzürnt waren dann auch einige islamische Religionsvereinigungen als sie erfuhren, dass sie nicht zum Integrationsgipfel geladen waren, schließlich würden sie einen großen Teil der Menschen, über die beim Gipfel gesprochen werde, vertreten. Zwei Imame nahmen schließlich doch teil, die Übrigen wurden auf den wenige Monate später stattfindenden „Islamgipfel“, ausgerichtet vom Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), vertröstet. In der Außendarstellung legte das Kanzleramt Wert darauf, dass es sich um den ersten Gipfel dieser Art handelte. Zum ersten Mal habe man dem Integrationsthema eine solch hohe politische Priorität verliehen, zum ersten Mal habe man „mit Migranten gesprochen“ und „nicht über sie“, wie in der Vergangenheit.

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In der Tat waren unter den 87 Teilnehmern neben den Politikern aus den verantwortlichen Ministerien auch Vertreter von Arbeitgebern, Gewerkschaften, Kirchen, Religionsgemeinschaften, Wohlfahrtsverbänden, Stiftungen und Medien sowie Kulturschaffende, Sportverbände und ausgewählte Migranten. Was man genau besprechen wollte, war reichlich unklar, es blieben auch nur wenige Stunden zum Austausch, die meisten Teilnehmer fanden sich in der passiven Zuhörerrolle wieder. Am Ende einigte man sich darauf, einen „Nationalen Integrationsplan“ (NIP) im Laufe eines Jahres zu erarbeiten. Hierzu wurden sechs Arbeitsgruppen mit Unterarbeitsgruppen, überwiegend aus Teilnehmern des Gipfels bestehend, eingerichtet und ihnen zehn Schwerpunktthemen zugeordnet. Der NIP soll „Ziele und konkrete Selbstverpflichtungen von Bund, Ländern, Kommunen und der gesellschaftlichen Akteure enthalten“ so Regierungssprecher Ulrich Wilhelm im März dieses Jahres, nachdem die Beratungen in den Arbeitskreisen beendet wurden. Die Abschlussberichte der Arbeitsgruppen ergänzt um Erklärungen des Bundes, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände bildeten dann den „Nationalen Integrationsplan“, der auf dem 2. Integrationsgipfel am 12. Juli 2007 vorgelegt wurde. Bei jenem zweiten Gipfel waren jedoch bekanntermaßen nicht mehr alle Verbände dabei, beleidigt hatten einige türkische Verbände den Gipfel boykottiert, weil sie die Änderungen der Bundesregierung an den Zuwanderungsgesetzen nicht gut heißen konnten. Ihre Arbeit fand dennoch


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Kommunen sowie des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen geschehen. Einbezogen werden sollen außerdem Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, die Träger der freien Wohlfahrtspflege sowie sonstige gesellschaftliche Interessenverbände. Die Worte klingen ganz

wer wird die integrationspolitischen lorbeeren ernten? so, wie die des Integrationsgipfels. Das BAMF, das als Bundesbehörde dem Innenministerium von Wolfgang Schäuble unterstellt ist, versteht sich als „Kompetenzzentrum für Integration“ und hat sich zum Ziel gesetzt „erstmalig ein umfassendes, strategisches Konzept zur Integrationsförderung unter Einbeziehung der zentralen Akteure“ zu entwickeln. Haben wir das nicht schon irgendwo einmal gehört? Derzeit sind im BAMF die Phasen 1 und 2 mit Definition des Schwerpunkthandlungsfeldes sowie Recherche- und Feststellung der Angebote beendet. Es folgen nun die Phasen 3 bis 6 mit Zieldefinition / Priorisierung von

Themenbereichen, Analyse, Lösungs- und Strategieentwicklung sowie Umsetzung und Wirkungskontrolle. Zwar sitzt in der Steuerungsgruppe zur Erarbeitung des „bundesweiten Integrationsprogramms“ im BAMF auch der Büroleiter der Integrationsbeauftragten Böhmer und in den Arbeitsgruppen des Integrationsgipfels, die von Frau Böhmer koordiniert wurden, findet sich hier und da auch mal ein Mitarbeiter des BAMF, doch es bleibt völlig im Unklaren ob zwischen „bundesweitem Integrationsprogramms“ und „Nationalem Integrationsplan“ irgendeine Form der Abstimmung stattfindet. Dies mag nicht zuletzt an einer gewissen Rivalität zwischen Bundeskanzleramt und Bundesinnenministerium liegen bzw. an der Frage wer die künftigen integrationspolitischen Lorbeeren ernten wird, die Kanzlerin oder der Innenminister. Kommt es nicht zu einer Abstimmung zwischen den beiden nebeneinander stehenden Integrationspapieren, darf man gespannt sein, welche formulierten integrationspolitischen Vorhaben tatsächlich in reale Politik umgesetzt werden, denn Papier kann ja bekanntermaßen sehr geduldig sein. Aber zumindest wird einmal über Integrationspolitik auf verschiedensten Ebenen intensiv diskutiert. Ein Anfang ist also gemacht.

Spielt hier im Bundeskanzleramt die integrationspolitische Musik? Oder doch im BAMF? Oder im Innenministerium? Oder, oder, oder…

Foto: Jan Krawitz

Eingang in den Nationalen Integrationsplan. Die Fortschritte bei seiner Umsetzung sollen laut Böhmer im Herbst 2008 überprüft werden. Doch welche Verbindlichkeit werden die formulierten Ergebnisse haben? Ob die finale Strategie dann nur noch das „politisch Machbare“ oder doch mehr enthält, wird die Zeit zeigen. Es ist allerdings noch nicht einmal sicher, ob der „Nationale Integrationsplan“ die entscheidende Grundlage für die künftige nationale Integrationspolitik bilden wird. So hat mit Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes („Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet“, kurz Aufenthaltsgesetz) am 1. Januar 2005 das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), vormals nur für die Abwicklung von Asylverfahren u. ä. zuständig, den Auftrag erhalten ein „bundesweites Integrationsprogramm“ zu erarbeiten. In diesem sollen „die bestehenden Integrationsangebote von Bund, Ländern, Kommunen und privaten Trägern für Ausländer und Spätaussiedler festgestellt und Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Integrationsangebote vorgelegt werden“. Dies soll unter Beteiligung von Ländern, Kommunen und der Ausländerbeauftragten von Bund, Ländern und

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Foto: zettberlin/www.photocase.de, Kollage: J.Krawitz


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Leitkültür ::::: Was glaubt die Welt?_6 Fragen an die Weltreligionen ::::: Die Medienwelt wird bunter_immer mehr migranten werden zu medienmachern ::::: Türkisch für Anfänger_der mikSes kulturredakteur setzt den selbstversuch fort ::::: Muttersprache - Vaterland_textauszüge von ute-christine krupp ::::: Buch- und CD-Besprechungen_arslan über den islam; naidoo und thomas d singen selmas texte; dickens: ein klassiker zum schluss :::::

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Was glaubt die Welt? ::::: mikSes stellt 6 essenzielle glaubensfragen an vertreter der 5 weltreligionen

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er mediale Staub, den Schlagzeilen wie „Krieg der Religionen“ und „Clash der Kulturen“ aufwirbelten, hat sich mittlerweile wieder ein wenig gelegt. Wahr bleibt, dass auf der ganzen Welt eine Rückkehr zur Religiosität stattfindet. In vielen Länder verschmelzen Staat und Kirche wieder, Kirchentage werden zu ausgelasse-

nen Jugendfeiern, Macht strömt zurück in die Hände der Kirchenoberhäupter. Ein gefährlicher Nährboden für Fanatiker? Haben die Ideen und Ideologien des 20. Jahrhunderts ausgedient? Bietet Glauben die Anworten auf eine sich stetig und immer schneller verändernde Welt? Erwachende Spiritualität in den Zeiten der Globalisierung? Ein Schritt zurück

in Richtung finsterstes Mittelalter? Wo sind die Gemeinsamkeiten der Religionen, wo die Unterschiede? Wer mitdiskutieren will, dem fehlt oft einfachstes Grundwissen. Um zumindest ein wenig Klarheit in die Sache zu bringen, stellt mikSes Gelehrten und Vertretern der 5 Weltreligionen 6 essenzielle Glaubensfragen.

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Gebet?

für seine Mitmenschen tut. Dies ist weltweit als nützlich anzusehen um Böses und Schlechtes zu bekämpfen und den Weltfrieden zu erhalten. Auch für den Dialog unter den Religionen ist dies sehr bedeutend. Der Islam ruft jeden zu Wohltaten auf.

::::: christentum_ etwa 2,1 mrd. anhänger

Teil 1: Der Islam

Sünde?

etwa 1,3 mrd. anhänger ::::: hinduismus_ etwa 850 mio. anhänger ::::: buddhismus_ etwa 375 mio. anhänger ::::: judentum_ etwa 15 mio. anhänger

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Ali Bardakoĝlu: Das Gebet ist eine Grundform des Islams und Verbindung zu Gott – so wie bei allen Religionen. Das Gebet ist eine sehr private Angelegenheit, sehr intim, zwischen der Person, die betet und dem Schöpfer. Dabei ist der Betende mit dem Schöpfer allein und wünscht und erbittet für sich, die Menschheit und die Welt das Positive.

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Ali Bardakoĝlu: Nach dem Islam wird die Sünde als das Begehen von individuellen Fehlern ausgelegt. Dies bedeutet, wenn man betet und den Sünden abschwört, diese dadurch vergeben werden können. Im Islam gibt es keine Erbsünde. Die Sünde kann nicht von einem Menschen – wie vom Vater auf den Sohn – auf einen anderen übertragen werden. Sie ist individuell und wird vom Individuum selbst begangen. Also gibt es keine Erbsünde wie im Christentum. Sünden können vergeben werden. Der Begriff Sünde ist im Islam das Vergehen am Recht des Einzelnen. Dies ist sehr wichtig. Und zwar bedeutet dies, unabhängig von der Religionszugehörigkeit, wenn man sich an jemandem vergangen hat, kann vom Schöpfer nur vergeben werden, wenn das Opfer einem vergibt. Daher ist es wichtig, dass man seine Seele rein hält und niemandem etwas Schlechtes wünscht und ein Unrecht begeht. Diesem muss man abschwören. Über dies hinaus kann man die Vergebung erlangen, indem man viel Gutes

Erlösung? Ali Bardakoĝlu: Im Islam gibt es die Möglichkeit des Abschwörens, seiner Sünden. Dies erlangt der Mensch durch Beten und durch vollbrachte Wohltaten. Hiermit können Sünden vom Schöpfer vergeben werden. Insofern hat Gott als Schöpfer der Menschheit denjenigen, seinem Propheten, dem Verkünder des Islam entsandt, damit der Gläubige selbst für seine Fehler einstehen kann und selbst um Vergebung bitten und beten kann, aus seiner Religiosität heraus. Daher bedarf es keines Vermittlers zwischen dem Schöpfer und seinen Gläubigen. Es ist dem eigenen religiösen Wissen und Gewissen überlassen, um Vergeltung und Vergebung zu beten. Exegese? Ali Bardakoĝlu: Nach dem Islam ist jede Auslegung individuell. Dies bedeutet, dass jede Interpretation nur auf die Initiative der einzelnen Person zurückgehen kann. Es ist immer eine individuelle und subjektive Auslegung. Nach dem Islam kann es keine Auslegung einer Institution wie die der Kirche geben. Ob nun mehrere einer Auslegung folgen oder nur eine Person, da gibt es von


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der theoretischen Vorgehensweise keinerlei Prioritäten zu setzten, sondern nur in der Umsetzung der Religion. Hier ist es sehr wichtig, dass man von den religiösen Texten ausgeht, und entsprechend der Rahmensetzung durch die Texte der Rahmen der Auslegung festgelegt wurde. Denn man geht vom Ursprung aus, um die Interpretation und die Auslegung vorzunehmen. Man kann hier natürlich seine Freiheiten nutzen innerhalb des Rahmens, aber auch wenn Sie eine sehr freie Auslegung vornehmen, werden die Gelehrten in bestimmten Zügen übereinstimmen, und zwar dort, wo die Urschriften eine Festlegung vornehmen, wie zum Beispiel beim Thema Alkoholverbot oder Ehebruch oder Mord.

Prof. Dr. Ali Bardakoğlu, Präsident des Direktoriums für religiöse Angelegenheiten (Türkei) Geboren 1952 in Kastamonu/Tosya, 1970 Abschluss der Imam-Schule. Anschließend Studium der Islamwissenschaften und Jurastudium an der Universität İstanbul. Es folgte eine steile akademische Karriere an den Universitäten Istanbul, Erciyes und Marmara. 1994 habilitierte er zum Professor im Fachgebiet Islamrecht. Längere Auslandsaufenthalte führten Bardakoğlu in den 90er Jahren nach Großbritannien und in die USA. Seine Veröffentlichungen auf dem Gebiet des islamischen Rechts umfassen mehr als 60 wissenschaftliche Titel. 2003 wurde Bardakoğlu zum Präsidenten des Direktoriums für religiöse Angelegenheiten ernannt und ist damit einer der höchsten Würdenträger in der islamischen Welt. Er ist verheiratet und hat 3 Kinder.

Jenseits? Ali Bardakoĝlu: Hierbei ist es nicht von Bedeutung dies zu erklären, sondern an das Jenseits zu glauben. Es ist eine Glaubensfrage. Genauso wie wir dran glauben, dass es nicht nur ein Diesseits gibt, glauben wir auch an das Jenseits. Wir werden im Jenseits Rechenschaft ablegen müssen, für das, was wir im Diesseits begangen und gemacht haben, für die Wohltaten und für die Sünden. Da wir an den Schöpfer glauben, glauben wir auch an das Jenseits. Der Glaube an den Schöpfer ist unsere eigentliche Essenz, insofern ist das die wahrhaftige Religiosität, die in dem Menschen ist. Es ist der Glaube an das Jenseits, welches den Glauben bereichert, welches auch das Diesseits bereichert und diesem einen Sinn verleiht. Gemeinde/Gemeinschaft? Ali Bardakoĝlu: Die Gemeinschaft im Islam ist genauso notwendig wie die anderen Faktoren in unserer Religion. Nach dem Islam spielt die Gemeinschaft oder Gemeinde eine große Rolle in der Praxis oder Ausübung der Religion. Die Gemeinde ist eine soziale Zusammenkunft. Gemeinde bedeutet, dass sich Gläubige gemeinsam solidarisieren, zum Beispiel in Bezug auf gemeinsames Fastenbrechen oder gemeinschaftlich den Moscheenbau zu fördern und zu unterstützten. Eine Gemeinde unterstützt sich gegenseitig und leistet Hilfestellung bei Problemen jeglicher Art. Wenn man es aus der Sicht betrachtet, dass es im Islam verschiedene Gemeinden und Gemeinschaften gibt, dann ist es eine soziale oder kulturelle Vereinigung und nicht als zwingend anzusehen. Das Interview führte Kadriye Avcu Foto: Cüneyt Karadag

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Die Medienwelt wird bunter ::::: lange jahre war das bild von migranten in den deutschen medien von klischees geprägt_obwohl immer mehr von ihnen selbst zu medienmachern werden, scheint noch kein weg an einer gezielten förderung vorbeizugehen. Te x t : J a n K r a w i t z

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rst kürzlich erhielten bei der Grimme-Preisverleihung drei Produktionen, die sich dem Thema Integration widmen, eine Auszeichnung: Der Film „Wut“ (ARD), der vor seiner TV-Ausstrahlung so umstritten war, dass er von der ursprünglich geplanten Platzierung in der Primetime in den späten Abend verschoben werden musste; außerdem der ProSieben-Spielfilm „Meine verrückte türkische Hochzeit“

sowie die ARD-Vorabendserie „Türkisch für Anfänger“. Während „Wut“ polarisiert und ein beängstigendes wie zugleich realistisches Bild jugendlicher Gewalt zeichnet, parodieren die anderen beiden Produktionen lockerleicht und gekonnt die gängigen Klischees über Deutsche und Türken. Gerade in ihrer Unterschiedlichkeit demonstrieren diese TVProduktionen eine wohltuende Normalität in der Behandlung des Themas Integration. Foto: NDR/Marcus Krüger

Ingo Zamperoni Seit kurzem ist er DAS Gesicht des Nachtmagazins. Zur „Primetime“ um 20:00 Uhr muss es bei den ARD-Nachrichten aber vorerst noch „deutsch“ zugehen; nur langsam präsentiert das Erste seinen Zuschauern seine „Migrantengesichter“.

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Unaufgeregt reproduzieren sie weder die Klischees, die man in den vergangenen Jahren zur Genüge sehen musste (der Türke war stets Dönerverkäufer, der Deutsche der Akademiker), noch reihen sie sich in diejenigen Medienbeiträge ein, die moralinsauer und übervorsichtig das Thema Integration mit der Kneifzange anfassen, in der Befürchtung man würde ansonsten die herrschenden Probleme verharmlosen. Nun könnte man meinen, Integrationsthemen seien endlich im TV-Mainstream angekommen und somit zumindest in diesem Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit erfolgreich umgesetzt. Wenn man allerdings mehr Produktionen dieser Art sucht, wird man schnell feststellen, dass dieses Urteil vorschnell ist. Quasi konkurrenzlos wurden diese drei Exemplare vom Grimme-Komitee ausgezeichnet, so dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass sie für ihre Bedeutung im deutschen Fernsehen ausgezeichnet wurden und nicht allein für ihren künstlerischen Wert, wie es ansonsten bei diesem Fernsehpreis üblich ist. Doch wenn die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Maria Böhmer (CDU) mahnt, „Menschen mit Migrationshintergrund müssen öfter und mehr im Fernsehen auftauchen“, dann gilt dies nicht nur für den Unterhaltungssektor, in dem über die betroffene Gruppe erzählt wird, sondern ebenso für Köpfe, die selbst erzählen, sei es als Nach-

zu einer gelungenen integration gehört eben nicht nur ein angemessenes bild von menschen mit migrationshintergrund in den medien, sondern auch ein abbild gesellschaftlicher realitäten aufseiten der programmmacher. richtensprecher/in prominent platziert oder als leitende/r Redakteur/in oder Programmchef/in im Hintergrund. Zu einer gelungenen Integration gehört eben nicht nur ein angemessenes Bild von Menschen mit Migrationshintergrund in den Medien, sondern auch ein Abbild gesellschaftlicher Realitäten aufseiten der Programmmacher. Zur Eröffnung der diesjährigen Tutzinger Medientage schlägt selbst Bundesinnenminister Wolf-

gang Schäuble (CDU) ungewohnte Töne an. „Wir müssen in den Alltagsmedien stärker die Vielfalt des Lebens darstellen“, forderte der Innenminister.

Foto: Radio Bremen

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doch lange wird es sicherlich nicht mehr dauern, bis auch sie auf die sendeplätze mit renommee und einschaltquote gelassen werden. Die meisten Medienunternehmen machen speziell für die redaktionelle Arbeit die Erfahrung, dass ausgebildetes journalistisches Personal mit Migrationshintergrund nur eingeschränkt zur Verfügung steht. Wie die Erfahrungen in anderen Ländern, etwa den Vereinigten Staaten, zeigen, ist es aber für die Behandlung von Migrations- und Integrationsthemen unabdingbar, Journalisten zur Verfügung zu haben, die eigene Erfahrungen in ihre Aufarbeitungen einbringen können. Entsprechende Gesichter jenseits des „Showbiz“ findet man im deutschen Fernsehen nur schwer. Doch es gibt sie, und sie werden immer mehr. Zu einem der einflussreichsten Medienmacher mit Migrationshintergrund zählt eindeutig der ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, der auch regelmäßig für den öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Radio Bremen die Talkshow „3 nach 9“ moderiert. Seit kurzem präsentiert Ingo Zamperoni als Anchorman, das ARD-Nachtmagazin. Seine Kollegen Michail Paweletz, Tarek Youzbachi, Laura Di Salvo und Tarik El-Kabbani präsentieren die Nachrichtenblöcke und Wetterberichte noch nicht zu Tagesschau-Zeiten um 20:15 Uhr, sondern ebenfalls tief in der Nacht. Doch lange wird es sicherlich nicht mehr dauern, bis auch sie auf die Sendeplätze mit Renommee und Einschaltquote gelassen werden. Ranga Yogeshwar ist hingegen seit Jahren ungefochtene Nummer eins in der Wissenschaftssparte und schafft es mit seinen Magazinen „Quarks & Co“ (WDR) und „W wie Wissen“ (ARD), jedem Laien die komplizierte Welt der Naturwissenschaften näher zu bringen. Im gleichen Genre, nur bei den Privaten, bewegt sich seit Jahren erfolgreich Aiman Abdallah mit dem ProSieben Wissensmagazin „Galileo“. EinsLive-Radiomoderatorin Miriam Pielhau zeigte lange Jahre ihr

Giovanni Di Lorenzo Chefredakteur der ZEIT und einer der einflussreichsten Journalisten in Deutschland

Gesicht in Promimagazinen beim Münchener Privatfernsehsender. Zu den prominentesten Moderatoren mit Migrationshintergrund in den Reihen der Privaten gehören außerdem Charlotte Engelhardt, Gülcan Karahanci, Arabella Kiesbauer, Tooske Ragas, Daniel Aminati, Nazan Eckes und Bedo. Eine spezielle Förderung dieser Gruppe gibt es bei den privaten Rundfunkanbietern oder Journalistenschulen nicht. Die privaten Sender gehen in ihrem Selbstverständnis davon aus, dass alle Bewerber unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund die gleichen Chancen genießen und daher auch keiner speziellen Förderung bedürfen.

der öffentlich-rechtliche rundfunk will junge talentierte journalisten mit einwanderungshintergrund gezielt fördern. Etwas anders sieht es da schon bei den Öffentlich-Rechtlichen aus. Mittlerweile gibt es dort eine Reihe von Initiativen, die gezielt junge Nachwuchskräfte mit Migrationshintergrund fördern wollen – so etwa „WDR 2|2007

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Foto: WDR/Herby Sachs

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Ranga Yogeshwar Er ist die Personifizierung des TV-Wissenschaftsjournalisten. Kaum ein Anderer erklärt dem Laien die Welt der Naturwissenschaft und Technik so anschaulich wie er; viele Jahre vor kleinerem Publikum im WDR, mittlerweile auch zur besten Sendezeit in ARD-Abendprogramm.

grenzenlos“, eine Talentwerkstatt in deren Rahmen elf junge Journalistinnen und Journalisten ausländischer Herkunft vor WDRProgrammverantwortlichen aus Hörfunk, Fernsehen und Internet die Ergebnisse ihres sechswöchigen Medientrainings in verschiedenen WDR-Redaktionen und an der Deutschen Hörfunkakademie in Oberhausen präsentieren können. Viele der Hörfunk-, Fernseh- und Internetbeiträge wurden bereits im WDR gesendet bzw. veröffentlicht. „Mit ,WDR grenzenlos’ hat sich der WDR zum Ziel gesetzt, junge talentierte Journalistinnen und Journalisten mit einem Einwanderungshintergrund nachhaltig zu fördern und für die WDR-Programme zu gewinnen“, sagte die neue Intendantin Monika Piel. Dass dies bereits gelungen ist, bestätigt Rainer Assion, Leiter der Aus- und Fortbildungsredaktion des WDR: „Von den 20 Absolventinnen und Absolventen der ersten beiden Jahre haben vier den Einstieg ins WDR-Programmvolontariat geschafft. Viele andere sind als Moderatoren oder Autoren weiterhin für den WDR tätig“, 40

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so Assion. Gualtiero Zambonini, WDR-Integrationsbeauftragter und Initiator des Projektes stellt in Aussicht, dass die Talentwerkstatt künftig auch für junge Mediengestalter oder angehende Kameraleute ausländischer Herkunft geöffnet wird. „Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen“,

zdf-intendant schächter will den anteil der menschen mit migrationshintergrund unter seinen tv-gesichtern auf 20 prozent steigern. stellt auch ZDF-Intendant Markus Schächter selbstkritisch fest, „dass sich der Anteil von knapp 20 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung

bislang nicht ausreichend im Bildschirmpersonal widerspiegelt.“ Daher hat sich das Zweite Deutsche Fernsehen zum langfristigen Ziel gesetzt, sich über eine gezielte Personalpolitik einer bevölkerungsrepräsentativen Zusammensetzung des Redaktionspersonals sowie der Hospitanten und Praktikanten auch unter dem Gesichtspunkt Migration anzunähern. So ist auch beim Mainzer Sender im ersten Halbjahr 2007 ein entsprechendes Trainee-Programm eingerichtet worden. Doch bis tatsächlich 20 Prozent der Medienschaffenden in Deutschland Journalisten, Moderatoren oder Redakteure mit einer Zuwanderungsbiographie sein werden, ist es noch ein langer Weg. Es wird sich zeigen, welche Strategie hierbei auf lange Sicht erfolgreicher sein wird: die der Privaten, die auf den diskriminierungsfreien Zugang zum Beruf setzen, oder die der öffentlich-rechtlichen Sender, die gezielte Förderung betreiben, sich aber nicht immer dem Vorwurf einer Positivdiskriminierung erwehren können.


Türkisch für Anfänger ::::: kann man sich die zunge brechen? unser kulturredakteur meint: ja_und klagt nach seinen ersten sprachübungen über taubheit und lähmungserscheinungen im mundraum. aller anfang ist schwer... türkisch aber auch!

Die letzte Ausgabe von mikSes verpasst?

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Te x t : M a r k o l f N a u j o k s

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s ist wie mit allem anderen im Leben: Zuerst braucht man einen Plan. Schließlich muss man ja so einen erst einmal haben, bevor man ihn verwerfen kann. Mein Plan mit der türkischen Sprache war denkbar einfach: heranpirschen, langsam, Schritt für Schritt, um dann mit einem Satz die hilflosen Vokabeln mitsamt Syntax und Grammatik zu überrumpeln. „Langsam“ klappt schon mal. Das ist wegen des Arbeitsablaufoptimierungsprozesses. Ja, ehrlich. Dafür läuft´s dann am Ende umso schneller. Man muss einfach erst einmal herausfinden, was sich überhaupt lohnt, zu lernen. Zum Beispiel Wörter mit mehreren Bedeutungen finden. Spart eine Menge Zeit. „Efendim“ ist ein solches Wort. Kann man eigentman muss einfach erst lich immer benutzen. Ein einmal herausfinden, Multifunktionswort sozusagen und deshalb äußerst was sich überhaupt lernenswert. Kann eigentlohnt, zu lernen. lich alles heißen, glaube ich. Allerdings wird eine Unterhaltung, die nur aus „efendims“ besteht, schnell eintönig. Außerdem könnte man dann zu mir sagen „herşeye evet efendim olur efendim demek“. Da käme ich mir dann vor, als ob ich dama demek würde. Und das will ja auch keiner, oder? Sowieso muss ich die Sprache erst ästhetisch meistern. Ein Deutscher, der auf Türkisch „Ich liebe dich“ sagt, sieht einfach mal dämlich aus, um nur ein Beispiel zu nennen. Also üben, üben, üben! „Seni beĝeniyorum“, „seni beĝeniyorum“, bis es halbwegs lässig über die Lippen gleitet. Allerdings sollte man das gedankenlose Dahinmurmeln lassen und beim Üben für sich bleiben. Erspart eine Menge Peinlichkeiten. In meinen Lieblingsmarkt kann ich nämlich jetzt erst mal nicht mehr. Nur gut, dass ich „seni beĝeniyorum“ gemurmelt habe und nicht „seni seviyourum“. Oder ... vielleicht auch nicht.

Einfach nachbestellen! Zum halben Preis von 2,- € plus Porto. Bestellung der gewünschten Ausgabe an: info@mikses.de

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Muttersprache - Vaterland Te x t a u s z u g v o n U t e - C h r i s t i n e K r u p p

(Am Flughafen)

Identität ist unveränderlich. Wird ein Leben lang so bleiben.

Ivelina: Die leicht flackernden Bildschirme. Abflug. Ankunft. Und Hinweise auf gelber und grüner Fläche. Noch schnell eine SMS schreiben; Handy abschalten, einstecken. Zum Schalter, einchecken. Es warten schon so viele, stehen an. Pullis werden zurechtgezupft. Noch einmal den Koffer aufmachen. Noch schnell ein Namensschild anbringen. Türen, Ansagen, Tickets. Ich blättere in meinem Pass. Das mache ich gerne, wenn ich in einer Warteschleife bin: Geboren 1984 in Russe. Größe: 160. Augenfarbe: Braun. Ich klappe den Pass auf und zu. Egal, ob ich in Deutschland oder in Bulgarien lebe, ein Teil meiner

Das dachte ich mir schon bei der Ankunft. Vor drei Monaten. Hier angekommen. In Berlin-Tegel. Ich kam an einem kalten Frühlingsabend an. Ich stand neben meinem Koffer und fragte mich: Was würde passieren, wenn ich nicht abgeholt werde. Ich träumte davon. Einen Tag vor Abflug. Ein Passagier beruhigte mich beim Verlassen des Flugzeugs. Er sprach über einen bulgarischen Fußballspieler. Sonst wusste er nichts über Bulgarien. Wir waren ein weißer Fleck auf der Landkarte, habe ich am selben Tag noch Milena nach Sofia gemailt. Dabei ist Bulgarien eigentlich nicht so weit von Deutschland

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Foto: dragon30/www.photocase.de

„schleppen, ziehen, tragen, schieben, sitzen, warten. ich sitze gerne an flughäfen, sehe den menschen zu.“


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noch dort, weder dies noch das. Fast unsere ganze Klasse studiert im Westen. Nur Milena ist in Sofia geblieben. Bildung ist wichtig, meint sie, damit man später nicht mit den Händen arbeiten muss. Sie hängt diesem Ideal nach. Sie mag dieses Bild und ihren lila Nagellack. Weil viele Straßen so traurig aussehen, meint sie, damit alles ein bisschen mehr Farbe bekommt. Aber jeder Mensch arbeitet doch mit dem Kopf und den Händen, habe ich ihr gemailt, man kann das nicht trennen. Aber sie will es nicht einsehen. Mein Zimmer im Wedding hat eine Dachschräge. Ich kann den Himmel sehen. Und wenn ich den Himmel sehe, denke ich an die Berge. Auch auf dem Weg zur Uni im vollen Bus denke ich oft an meine Wanderungen im Gebirge, an die Wolken und an die Witze, die wir zu Hause manchmal machen. Ich telefoniere mindestens eine Stunde am Tag mit Freunden. Ich sehe jeden Abend aus dem Fenster meines Zimmers, beobachte die Wolken. Denke an unser Haus in den Bergen. Schutt, Strudel, Felsüberhang, bizarre Gipfel, moosbewachsen, schrundig, hebt sich ab von, streckt sich bis, beginnt, endet. Wörter, die mir durch den Kopf gehen. Ich habe ein kleines Bergabenteuer geplant in den nächsten zwei Wochen. Jedes Jahr plane ich ein Bergabenteuer. Meistens werden dann Gewitter oder sintflutartige Regen vorausgesagt. Klimakatastrophen. Meine Mutter beschäftigt sich damit, es ist ihr Hobby. Wettervorhersagen. Ihre Prognosen entsprechen der Wahrheit, treten allerdings meistens zu einem anderen Zeitpunkt ein. Ich freue mich auf den endlos scheinenden Himmel, auf den schnellen Wechsel von Wolken. Nebel. Sonne. Schleppen, ziehen, tragen, schieben, sitzen, warten. Ich sitze gerne an Flughäfen, sehe den Menschen zu. Mir gefällt diese Unruhe. Manchmal möchte ich etwas beschreiben, aber mir fehlen die Wörter. Und wenn ich Deutsch rede, verliere ich gelegentlich den Faden. Nach Bulgarien. Es ist keine wirkliche Entfernung und doch so weit weg. Vielleicht lebe ich nach dem Studium in Bulgarien, vielleicht in Deutschland. In der Muttersprache zu sprechen, das ist eine wesentliche Erleichterung. In Deutschland fühle ich mich freier. Und ich würde Deutschland vermissen, wenn ich nur in Bulgarien leben könnte. Ich werde immer das jeweils andere vermissen. Ich blättere in meinem Pass. Das mache ich gerne. Und es beruhigt mich, dass vieles so bleiben wird: Geboren 1984 in Russe. Größe: 160. Augenfarbe: Braun. Ich klappe den Pass auf und zu. Egal, ob ich in Deutschland oder in Bulgarien lebe, ein Teil meiner Identität verändert sich nicht. Und das ist gut. Letzter Aufruf für die Passagiere nach Sofia.

Ute-Christine Krupp ist 1962 in Börsborn/Pfalz geboren und lebt als freie Autorin in Berlin und Köln. Sie studierte Betriebswirtschaft, Philosophie und Psychologie. Ihre literarische Arbeit begann sie mit Hörspielen. Inzwischen schreibt sie auch Prosa. Bisher erschienene Bücher sind „Greenwichprosa“ (1997) und „Alle reden davon“ (2001).

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Foto: Renate von Mangoldt

entfernt. Fast um die Ecke. Die meisten Westköpfe haben uns nicht wahrgenommen. Wir kannten die Länder im Westen, wussten die Hauptstädte. Aber egal. Ich wurde abgeholt und mitgenommen in die Weddinger WG. So weit von zu Hause weg, sagte meine Mutter, als sie mich gleich am ersten Tag anrief. Ich wollte unbedingt Deutsch lernen, schon als Kind. Und irgendwann nach Deutschland fahren. Ich setzte alles auf diese Karte. Wieso unbedingt die deutsche Sprache, haben meine Eltern mich schon damals gefragt, als ich noch Schülerin war. Und ich wusste eigentlich nicht, was ich darauf antworten sollte. Wieso muss man immer alles begründen? Ich suchte verzweifelt nach einem Argument. Ich will die Sprache von Goethe lernen, habe ich dann geantwortet. Ich wusste keinen besseren Satz. Manchmal ist ein Satz eine Art Erlösung. Ich war mir sicher, alles richtig zu machen. Und als ich nach dem Abitur sagte, ich will in Deutschland studieren, waren meine Eltern erneut nicht sehr glücklich über mein Vorhaben. Aber es war mein Wunsch. Meine Mutter hat dann, als sie mich das erste Mal in Berlin anrief, gesagt: Wir freuen uns, wenn du dich freust. Die ersten Tage im Wedding waren sehr sonnig. Amsterdamer Straße, Turiner Straße, Brüsseler Straße, ich dachte, das ist eine internationale Gegend. Und auf dem Klingelschild kaum deutsche Namen. Ich war in einer enthusiastischen Stimmung. Was ich Jahre lang gehofft hatte. Plötzlich Realität. Ich konnte es kaum fassen, dass alles so eingetreten ist, wie ich mir das gewünscht hatte. Alles war so neu. Jahrelang von etwas geträumt. Manchmal dachte ich, ich bin in einem Film. Ich hatte es mir ja gewünscht, in Deutschland längere Zeit zu leben. Aber ich habe die ersten Tage in Berlin oft gedacht: Das kann doch nicht wahr sein. Die ersten Wochen an der Uni waren anstrengend, weil man kein fertiges Programm bekommt. Man muss sich alles alleine organisieren. Sich eine Orientierung schaffen. Die Freiheit ist auch ein bisschen kompliziert, habe ich gedacht. Kein Dozent spricht hier im Unterricht Sätze vor, keiner gibt einen Plan, was wann zu tun ist. Man lernt, seine Zeit einzuteilen. In Sofia kannte ich die meisten der Studenten, hier nicht. Und ich habe viele Fragen beantwortet am Anfang. Manche Fragen waren etwas seltsam, aber ich habe sie trotzdem beantwortet: Ob bulgarische Frauen Unmengen von Wodka trinken? Nein, nein, die Osteuropäerin an sich trinkt vielleicht gar nicht so viel Alkohol. Wir hatten immer einen Kühlschrank und ein Fernsehgerät. Wir wussten auch, worauf es bei einer Fernbedienung ankommt. Wenn man in unserem Land kommunizieren möchte, springt man nicht von Baum zu Baum. Es gibt Autos und öffentliche Verkehrsmittel. Manche greifen auch zum Telefon. Oft ist es sehr nett in Berlin. Die letzten Tage in Deutschland habe ich nur Kurzgeschichten gelesen, keine Romane mehr, mir fehlte die Zeit dazu. Der Flug von Sofia nach Berlin dauert zwei Stunden und zwanzig Minuten. Manchmal dauert eine Fahrt innerhalb Berlins so lange. Nur in den Köpfen ist alles sehr weit weg. Ich telefoniere einmal die Woche mit meiner Mutter: Sie fragt mich, ob die Deutschen überhaupt feiern können. Ob die Leute in Deutschland eher zurückhaltend seien. Aber das bin ich doch auch, sage ich dann. Sie fragt, ob ich damit angefangen habe, mein Zimmer aufzuräumen. Die Deutschen sind so ordentlich, denkt sie - und sie hofft, dass ich endlich auch ordentlich geworden bin nach diesen drei Monaten. Ich diskutiere mit Milena. Per Mail. Wir sind dazwischen, sagt sie. Zwischen einer Epoche, die zu Ende ist und einer Epoche, die noch nicht klar definiert ist. Eine Generation zwischen der sozialistischen Zeit und etwas Neuem. Dazwischen. Das Ende von etwas und ein Anfang von etwas anderem. Ein Davor und ein Danach. Weder hier

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Das Dämmern der Reformation

Selma – In Sehnsucht eingehüllt

::::: reza aslan_kein gott außer gott

::::: selma meerbaum-eisinger_blütenlese

Gleich mit seinem ersten Buch ist Reza Aslan ein großer Wurf gelungen. Den meisten Amerikanern als Nahost-Experte bei CBS news bekannt, wurde sein Sachbuch Kein Gott außer Gott sowohl für den Guardian First Book Award, als auch für den PEN USA Award (non-fiction)

57 Gedichte sind alles, was von Selma Meerbaum-Eisingers Leben, Fühlen und Sehnen übrig geblieben ist. Der Rest von ihr liegt verscharrt und zum Schweigen gebracht, dort wo einmal das deutsche Arbeitslager Michailowska stand. 57 Gedichte können jedoch viel sein, sehr viel, und in Selmas Fall sind sie das auch. Vielleicht hätte sonst der Gedichtband Blütenlese seine abenteuerliche Flucht durch halb Europa nicht überlebt. Kindliche Sehnsucht, Lyrik, leicht und von natürlicher Musikalität durchdrungen, die jede echte Begabung kennzeichnet, perlt uns aus jeder Zeile leise entgegen. Nicht älter als 18 hat man sie werden lassen, trotzdem ist ihr Talent unbestreitbar, und vielleicht hätte ihre zitternde Empfindsamkeit sie in die Höhen eines Heine heben können. 2005 fanden ihre Gedichte, die bereits 1968, aus Bukarest kommend, in Ostberlin aufgeblitzt waren, schließlich eine breitere Öffentlichkeit. Der Komponist David Klein und sein World Quintett haben zwölf dieser Gedichte jetzt vertont. Klein konnte für sein Projekt hochkarätige Interpreten gewinnen, die je ein Gedicht übernahmen. „Die außergewöhnliche Reife und Emotionalität, (...) ihrer Gedichte, haben mich sofort fasziniert und berührt. Für mich sind ihre Gedanken heute genau so aktuell, wie zur Zeit ihres kurzen Lebens“, sagt Klein, dessen Tonsprache oft berührt, hin und wieder aber auch enttäuscht. Das mag am tönenden Pathos liegen, der beispielsweise nun

Leser das Vergnügen einer klassischen, farbenfrohen Sage. Angenehm ist auch das Fehlen jeglicher Verteidigungsrhetorik, keine ethnische oder nationale Agenda ist erkennbar. Trotzdem ist Kein Gott außer Gott kein unpolitisches Buch. Aslan ist ein engagierter Verfech-

:::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Reza Aslan: Kein Gott außer Gott

Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart Aus dem Englischen von Rita Seuß Verlag C.H. Beck, München 2006 335 Seiten, 24,90 €

:::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: nominiert und in über sechs Sprachen übersetzt. Dankenswerterweise liefert Aslan mehr als einen bloßen Abriss der Geschichte des Islams, vielleicht gerade deshalb rollt mehr als ein Jahrtausend Geschichte spannend und im CinemascopeFormat am Leser vorbei. Der Religionswissenschaftler schafft es, unprätentiös und ohne je seinen erzählerischen Faden zu verlieren, Epik und Poesie, die jeder Religionsgeschichte innewohnt, Raum zu geben. Der Untergang Husains, das Leben des Propheten Mohammed, die Zerschlagung der Götzen der Kaaba, die Rivalitäten zwischen Sunniten und Schiiten, der ersten muslimischen Gemeinden in Medina, all dem haucht Aslan Leben ein und bereitet gerade dem westlichen 44

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ter eines aufgeklärten Islam und überzeugt, dass der Reformationsprozess bereits begonnen hat und auch nicht mehr aufzuhalten ist. Aus den Tiefen der Historie heraus erklärt der Harvard-Absolvent und gläubige Moslem, die heutige Spaltung des Islams in Traditionalisten und Neuerer. Reza Aslan, der während der iranischen Revolution kaum siebenjährig in die USA übersiedelte – ist im positivsten Sinn – ein Meister der amerikanischen „School of Writing“ und schafft es so, Wissenschaft, erzählerische Finesse und umfassende Information zu vereinen. 2008 wird Aslans zweites Buch erscheinen: How to Win a Cosmic War: Why We‘re Losing the War on Terror. Man darf gespannt sein. M.N. 2|2007

einmal in den Musicalstimmen von Yvonne Catterfeld und Sarah Connor liegt. Andererseits beweist Xavier Naidoo einmal mehr, dass er einer der besten Sänger ist, die Deutschland in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, wenn man ihm denn ein anständiges Lied gibt. Reinhard Mey rührt mit Abend I und fängt das schwebende Weh des Textes scheinbar mit Leichtigkeit. Die lyrikgeschulten Ute Lemper und Jasmin Tabatabai verleihen ihren Liedern Tiefe und Volumen. Wer Rilke, Hofmannsthal und Heine mag, kann mit Selma nicht viel verkehrt machen. Wer den feinen Textgeweben selber ihre Töne abhorchen möchte, sollte auf die Neuauflage des Gedichtbandes Ich bin in Sehnsucht eingehüllt des Hoffmann und Campe Verlags zurückgreifen. M.N.

:::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Selma In Sehnsucht eingehüllt

von Selma Meerbaum-Eisinger, David Klein, Xavier Naidoo, Sarah Connor, Thomas D, et al. Label: Ariola (Sony BMG) Erschienen: März 2007

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Der Klassiker

Illustration: Jan Krawitz

::::: charles dickens_die pickwickier

Man kann Charles Dickens kaum milden Weisheit, die jedes einzel- Fäden gutmütigen Humors ei- der Tradition des Schelmenroals Geheimtipp bezeichnen. Ob ne seiner Werke durchfließt. nes wahren, ursprünglichen Ge- mans, entfalten sich in einer loRoman Polanskis letzte Oliver- Immer wieder gab es Strömun- schichtenerzählers. sen Szenenabfolge, die Dickens Twist-Verfilmung, die sich all- gen in der Literaturwissenschaft, Die Pickwickier ist vielleicht Gelegenheit geben, eine Kaskade jährlich erneuernde Variante von die Dickens des Sozalkitschs nicht Dickens bedeutendstes an Einfällen, seltsamen Figuren und Wortwitz abA Christmas Carol zufeuern, die ihresoder Disneys Dagobert gleichen sucht. Duck (Uncle Scrooge Die schrulligen im engl.) – um CharHelden des Roles Dickens muss man mans, Mr. Pickwick sich, im Gegensatz zu und Sam Weller, manch anderen Autostolpern wie Don ren, keine Sorgen maQuixote und Sanchen. Längst ist sein Werk in der Populärcho Pansa von eikultur angekommen, nem Abenteuer ins und er ist das geblienächste, ohne dass ben, was er auch zu sie oder der Leser auch nur im Entseinen Lebzeiten war ... populär eben. ferntesten ahnen, Im Gegensatz zu dawie diese Burleske eigentlich enden mals jedoch, muss man sich heute fragen, soll. Und irgendob er denn auch ein oft wann fällt einem gelesener, populärer dann auf, das man Autor ist. Ich möchte dieses Sammelsurium an schrägen es bezweifeln. Eher Charles John Huffam Dickens (1812-1870) gilt als einer der größten englischen Schriftsteller. ein „gesehener“ Autor, Sein bis heute wohl bekanntestes Werk ist „Oliver Twist“. Vögeln so lieb gedenn die Verfilmunwonnen hat, wie gen – sei es David Copperfield, bezichtigten, ihm eine literari- Werk, aber mit Sicherheit sein man eben nur Dickens-Charakder schon erwähnte Oliver Twist sche Bedeutung ersten Ranges komischstes und der Grundstein tere lieb gewinnen kann. Die auoder Große Erwartungen – sind absprachen und seine Schilderun- seines literarischen Erfolges. The genzwinkernde Herzlichkeit, mit gen der Unmenschlichkeiten des Posthumous Papers of the Pick- der Dickens trotz seines scharfen zahllos. Dabei droht der eigentliche Bei- viktorianischen Englands gar als wick Club erschien als Fortset- Auges die Welt aufs Korn nimmt, trag Dickens zur Weltliteratur zu Feigheit bezeichneten. Er sei kein zungsroman monatlich zwischen lässt den Leser mit dem Gefühl Revolutionär, nie würde er an der März 1836 und Oktober 1837, zurück, seine Mitmenschen und verschwimmen. Denn erst beim Lesen entfaltet Wurzel des englischen Klassen- und nur Doyles Sherlock Holmes die Welt im Allgemeinen wieder sich, was ihn auf eine Höhe mit systems reißen, dessen soziale hat die englische Öffentlichkeit ein Stückchen freundlicher beFielding, Thackeray, Sterne, Swift Auswirkungen er doch so oft be- vielleicht je wieder derartig ge- trachten zu können. Ein herzliund den anderen Bewohnern des schrieben habe. Ein Revolutionär spannt auf eine Zeitungsfortset- ches Lachen ist ein abgestandener Olymps der englischen Literatur war er nie – zugegeben. Charles zung warten lassen. Ursprünglich und ein wenig peinlicher Begriff. hob: Sein fast unbegrenztes Pan- Dickens beobachtete, und das tat nur als Text zu den Zeichnungen Nach den Pickwick Papers weiß optikum an unsterblichen Figuren er so gut, dass jede einzelne Sei- eines berühmten Karikaturisten man wieder, was das ist. Man und Charakteren, die Dickens mit te Zeugnis ablegt für das Wunder geplant, gewann Dickens schnell muss ja nicht drüber reden. wenigen Handgriffen überlebens- Literatur. Jedes Buch ist ein Mi- die Herzen einer immer breigroß vor den Augen des Lesers krokosmos, eine Welt neben der ter werdenden Leserschaft. Die Markolf Naujoks entstehen lässt, und das mit jener Welt, durchzogen mit den feinen Pickwick Papers, noch ganz in 2|2007

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Foto: Kateryna Govorushchenko / www.istockphoto.com

::::: Pferde für Mädchen und Dinosaurier für Jungs_interview mit der besitzerin eines japanischen in-restaurants ::::: Tollkühne Männer in fliegenden Kisten_ein taxifahrer ist viel: seelsorger, psychologe, philosoph, hebamme, arzt und reiseführer ::::: Vom Militär in den Kurort Gemünd_beim türkischen militär wurden seine massagekünste entdeckt, heute hat er einen eigenen massagesalon mitten in der eifel ::::: Ein Inder in Deutschland_“john“ aus indien schildert seine eindrücke von einem jahr in deutschland :::::

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Natascha Tessmann: Geboren in Deutschland, aufgewachsen in Afrika und den USA, Abi in Deutschland, Studium in Japan.

Foto: Ebru Coban

„Pferde für Mädchen und Dinosaurier für Jungs“ ::::: natascha tessmann ist inhaberin eines japanischen in-restaurants in köln_und erzählt von heimatsuche, gänsehaut in münchen und kaugummi-tattoos auf dem arm mikSes: Seit fünf Jahren gibt es jetzt die Bento Box in Köln. Wie fühlt sich das an?

mikSes: Auf der Seite bentobox.de habe ich gelesen, dass ihr auch Franchising anbietet.

Natascha Tessmann: Das ist alles sehr, sehr schnell gegangen. Die ersten 3 Jahre waren wirklich hart, aber die letzten Jahre sind sehr schnell vergangen.

Natascha Tessmann: Wir möchten das auf jeden Fall, weil das Konzept so erfolgreich ist. Die Idee ist ein sehr modernes Japan und sein Design rüberzubringen, mit relativ günstigen Speisen für japanische Verhältnisse. Wir haben kein bestimmtes Publikum: Familien, Pärchen, Designer, aber auch viele Leute, die einfach nur so gerne Sushi essen. Wegen der vielen Anfragen möchten wir gerne weiter expandieren. Hier in Köln werden wir demnächst auf der rechten Rheinseite noch ein Restaurant eröffnen, nächstes Jahr auch in anderen Städten.

mikSes: Und wie laufen die Geschäfte? Natascha Tessmann: Die laufen sehr gut, es gibt jetzt 3 Restaurants mit 90 Mitarbeitern - Und 2 Kinder bekommen zwischendurch. (lacht) Die Gastronomie lebt von zwischenmenschlichen Beziehungen und das ist manchmal anstrengend. Hier lebt man mit den Menschen. 50

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mikSes: In Köln haben in den letzten Jahren sehr viele japanische Restaurants eröffnet. Macht sich die Konkurrenz bemerkbar? Natascha Tessmann: Nein, wir haben ein ganz anderes Konzept. Diese Restaurants sind vor allem reine Sushi-Läden. Als ich nach meinem Studium in Japan und den USA zurückkam war ich erstaunt, dass es recht viele japanische Restaurants gibt, aber nichts Modernes. Japaner legen viel Wert auf hoch modernes, filigranes Design. Also sind nicht unbedingt Samurais und Schwerter auf Schiebetüren und auf den Bambusmatten. Hier wollten wir zeigen, dass der normale Japaner nicht nur Sushi isst, z.B. auch Karaage (frittierte Hähnchenstücke) oder Lachs Teriyaki (gegrilltes Lachsfilet in Teriyakisauce). Sushi kann man dort vergleichen mit Kaviar für Europäer. Meine Familie isst nur Sushi, wenn es einen besonderen Anlass gibt. mikSes: Japan ist nicht gleich Sushi? Natascha Tessmann: Nein, mein Mann z.B. hat vorher nie Sushi gegessen. Erst als er immer bei meiner Arbeit dabei war und mich unterstützt hat, hat er sich langsam „reingegessen“. mikSes: Hast du eine gastronomische Ausbildung gemacht oder irgendetwas in diese Richtung studiert? Natascha Tessmann: Ich habe eigentlich Management studiert. Ich habe ein MBA in Airline-Management und auch einen Pilotenschein gemacht in Florida. mikSes: Ehrlich? Natascha Tessmann: Ja, das Fliegen hat mir Spaß gemacht. War aber nur ein Hobby. Nach meiner Ausbildung habe ich bei der viertgrößten Fluggesellschaft gearbeitet. Dort habe ich recht schnell viele Projekte übertragen bekommen und in Operations gearbeitet, das heißt am Flughafen. Mein Hintergrund ist Projektmanagement und Personal- und Budgetverantwortung. Ich bin dadurch viel gereist und es hat mir gut gefallen. Bis August 2000 war ich bei dieser Fluggesellschaft, aber Amerika ist nicht mein Land. Die Arbeit war zwar super, aber wohl gefühlt hab mich da nicht. mikSes: Wurdest du hier in Deutschland geboren oder in Amerika? Wo hast du deine Kindheit verbracht?

Natascha Tessmann: Ich bin in Deutschland geboren, dann in Afrika und den USA aufgewachsen. Zur 8. Klasse bin ich nach Deutschland zurückgekommen, weil unter anderem mein Deutsch sehr schlecht wurde. Bis zu meinem Abitur war ich in Deutschland, danach zum Studieren in Japan, kam wieder zurück nach Deutschland und lebte dann in Amerika. Es ist schon ein Unterschied, ob man in Deutschland oder in Amerika aufgewachsen ist. Als Erwachsene wollte ich wissen, wo ich eigentlich hingehöre. Mit 18 hatte ich eine enorme Identitätskrise, ich denke auch wegen meiner Mutter, weil sie Japanerin ist und uns kein Japanisch beigebracht hat. Wir wohnten damals in Bayern und wurden

„ich hatte konflikte mit der kultur, gehörte weder nach deutschland, wo man mich vom optischen nicht annahm, noch nach japan.“ von den anderen Kindern geärgert. Wir waren die „Chinesen-Kinder“. Mein Bruder hat sich irgendwann geweigert japanisch zu sprechen, er wurde richtig diskriminiert. Meine Mutter wollte auch ein bisschen Abstand zu den Zwängen der japanischen Gesellschaft, für Frauen ist diese Kultur sehr hart. Sie sollte einen ausgesuchten Mann heiraten, das wollte sie nicht und darum glaube ich auch, ist sie davor geflüchtet. mikSes: Bringst du deinen Kindern Japanisch bei oder lehnst du das wie deine Mutter auch ab? Natascha Tessmann: Ich lehne es nicht ab. Ich kann es nicht. Japanisch ist nicht meine Muttersprache, meine Muttersprache ist halt Deutsch. In Amerika habe ich das auch gemerkt, deshalb bin ich vor 7 Jahren zurückgekommen. Ich dachte mir, ich hab zwar einen super Job, aber glücklich werde ich dort niemals. Zurück in Deutschland habe ich oft für meine Freunde japanisch gekocht. Ein Freund aus München, Alexander Remes, hat mich dann gefragt, ob ich nicht ein Restaurant eröffnen möchte. So ist die Bento Box entstanden. mikSes: Du hast ein schickes Aufklebe-Tattoo auf deinem Arm.

Natascha Tessmann: Ach so, ja, meine Kinder (lacht). Nee (lacht). Die japanische Sprache kann ich den Kindern nicht beibringen, aber meine Mutter macht das so ein bisschen und ich kaufe japanische Bücher und Musikkassetten. mikSes: Aber das Tattoo macht dich sehr sympathisch! Natascha Tessmann: (lacht) Das war mal ein Pferd von meiner Tochter. Pferde für Mädchen und Dinosaurier für Jungs. mikSes: Wünschst du dir, dass deine Kinder einmal die Bento Box übernehmen? Oder ist dir das nicht so wichtig? Natascha Tessmann: Weiß ich nicht. Es ist zwar System-Gastronomie, aber auch ein Familienbetrieb. Natürlich ist auch Business in den Entscheidungen, die ich treffe, aber es geht nur mit den Leuten, die hier arbeiten. Was eigentlich jeden Tag Spaß macht sind die Leute. Das ist wie eine große Familie und ich weiß natürlich nicht wie es wird, wenn alles noch größer wird, ob wir es schaffen den familiären Touch beizubehalten. Ich habe das an den Weihnachtsfeiern gemerkt, am Anfang waren wir 20, dann 40, 50 und bei der letzten waren 70 bis 80 Leute hier. Wichtig ist, dass man den persönlichen Kontakt zu den Mitarbeitern hält. mikSes: Was ist dein Erfolgsrezept? Japanischer Ehrgeiz? Woher kommt das alles? Natascha Tessmann: Ich glaube, so ein bisschen. Ich bin sehr neugierig, fleißig und Details sind mir wichtig. Mein Partner Alexander, der 2. Geschäftsführer, ist für die großen Sachen zuständig: für strategische Planung. Geduld und die Disziplin zu haben Sachen zu Ende zu machen ist wichtig. Bei allem was man macht zählt, dass man am Ende ankommt und nicht in der Mitte aufgibt. Als ich mit 18 in Japan war, hatte ich nach 3 Monaten meine größte Krise. Ich hatte Konflikte mit der Kultur und habe gemerkt, dass ich weder nach Deutschland gehöre, wo man mich vom optischen her nicht annimmt, noch nach Japan und fühlte mich sehr verloren. Da hab ich gesagt: Jetzt erst recht! Ich habe das Studium dort durchgezogen. Wir sind alle paar Jahre in ein anderes Land umgezogen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass man dort zu Hause ist, wo man sich niederlässt. In Deutschland war Köln für mich am angenehmsten. Ich fahr jetzt noch nach München und bekomme Gänsehaut (lacht). Das Interview führte Ebru Coban. 2|2007

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Tollkühne Männer in fliegenden Kisten ::::: keine großstadt ohne taxis_sie sind popkultur, symbol und mythos. aber wer jagt da eigentlich halsbrecherisch durch die stadt? der irre travis aus scorceses „taxi driver“, oder grimmige männer mit turban und dem hang, den fahrgast in ihrer muttersprache zu beschimpfen – wie in new york angeblich üblich? glücklicherweise weder noch, trotzdem haben taxifahrer eine ganze menge zu erzählen. Text: Volk a n Ko r t a k

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ine Faustregel der Taxifahrer besagt: „Wenn am Bahnhof der Stadt kein Betrieb ist, dann ist nirgends in der Stadt Betrieb.“ Also begebe ich mich dorthin, zur Schlagader jeder Stadt, Umschlagplatz für Reisende und Ratlose, Penner und Pendler – hier warten die meisten Gelblinge auf Kundschaft – oder liefern diese ab. Hektisch jongliert ein Mann Brieftasche, Handy und Aktenkoffer und kramt nach Kleingeld, nur um schließlich entnervt aufzugeben, dem Fahrer einen Schein hinzuwerfen und mit einem „Rest ist für sie“ in Richtung Bahnsteig zu eilen. Der Mann am Steuer grinst zufrieden. Das Geld wechselt seinen Besitzer für einen Dienst, auf den jeder stadtunkundige Geschäftsmann angewiesen ist, wie ein Börsenmakler auf Aktienkurse. Hier unter dem Dom, dem Wahrzeichen der Stadt, stehen dutzende Wagen. Heute scheint die Sonne, was zwar schön ist für Touristen, nicht aber für das Geschäft eines Taxifahrers. „Wenn es warm ist, dann gehen viele Leute zu Fuß und für uns heißt das: Länger warten“, sagt Yusuf Ipekci (43), und schaut dabei einem Pärchen zu, das fröhlich an seinem Wagen vorbeischlendert. Yusuf kam 1982 aus der Türkei nach Deutschland und fährt seit 1996 Taxi. „Ich wollte es nur vorübergehend machen, aber ich bin hier hängen geblieben“, sagt er. Yusuf macht nicht den Eindruck eines ungebildeten Mannes. Er ist ein dunkler Typ mit Halbglatze, aber an den Seiten stehen sie ab, die gelockten schwarzen Haare. Eine schmale Brille lässt ihn intellek-

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tuell aussehen – und auch sonst hat er sich nicht damit abgefunden ein Taxi zu fahren. Yusuf studiert im zehnten Semester Volkswirtschaftlehre und steht kurz vor seinem Abschluss – er möchte sich mit Außenhandel beschäftigen. Taxi fährt er nicht gerne und es scheint so, als fühlte er sich zu Höherem geboren. Plötzlich klopft ein alter grauhaariger Herr an die Scheibe und lugt dabei ins Auto. „Junger Mann, sind Sie vor mir?“ fragt er ins Taxi hinein. Der sympathische alte Mann ist Grieche und 77 Jahre alt. Ein Kollege, sie nennen Ihn hier einfach Opadopoulos. Überhaupt hat jeder einen Spitznamen – einer kurioser

mörder, räuber, berufskiller – alles kann passieren. als der andere. Beispielsweise uçan teneke (dt.: fliegende Blechdose) – Ein Bleifuß, beliebt bei Fahrgästen mit starken Nerven und wenig Zeit. Oder ‚Einbahn Ramazan’, der mit Vorliebe in entgegen gesetzter Richtung in Einbahnstraßen fährt und eventuell anwesenden Ordnungshütern mit gleichmütigem Schulterzucken stets das gleiche erklärt: „Die Straße ist doch breit genug.“ Bei allen netten Kosenamen und der gemütlichen Kollegialität hat der Beruf aber auch


Foto: V.Kortak, Illustration: J.Krawitz/M.Naujoks

„ein taxifahrer muss eben mehr sein als ein chauffeur – er ist seelsorger, psychologe, philosoph, reiseführer, notarzt und hebamme in einem.“

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seine Schattenseiten. „Opadopoulos wurde mehrmals bestohlen“, sagt Yusuf. „Du weißt einfach nicht, wer sich ins Auto setzt. Mörder, Räuber, Berufskiller – alles kann passieren.“ Manch einer hat sich angewöhnt jeden Kunden misstrauisch zu beäugen, vor allem nachts. Der Ausdruck ‚Berufsrisiko’ hat im Taxigeschäft einen etwas unheimlichen Klang. Auch Ebrahim Alipour (49) weiß seit 14 Jahren um seine Kunden, hat aber das Glück Tagfahrer zu sein. „Tagsüber fährt man eher Geschäftsmänner, abends tauchen die skurrilen Typen auf“, gibt er zu und sein lächelndes Passfoto mit Schnauzer scheint dies bestätigen zu wollen. Inzwischen ist der Schnauzer Vergangenheit. „Ich versuche immer meine Fahrgäste zu verstehen“, meint Ebrahim, der sich mit seinen Kunden gern über Kulturelles unterhält, private Themen jedoch zu meiden versucht.

nur wenige haben tatsächlich das glück, aber sie alle träumen von der perfekten fahrt.

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Ein Taxifahrer muss eben mehr sein als ein Chauffeur – er ist Seelsorger, Psychologe, Philosoph, Reiseführer, Notarzt und Hebamme in einem. „Die Leute öffnen dir ihr Herz, wenn du Ihnen zuhörst“, sagt er, „dennoch wird auf dich herabgeschaut.“ Das Taxi ist ein Kultobjekt und das Verkehrsmittel des 20. Jahrhunderts. Kultverdächtig auch, dass Ebrahim auf seinen Fahrten ausschließlich klassische Musik hört – am liebsten Bach, Mozart und Beethoven. Felix (52) ist weniger rigoros bei der Beschallung seines Arbeitsgeräts. Er fährt nur an Wochenenden und liest viel lieber spirituelle Bücher. Er nennt es eine ‚Seelenreise’ machen und nutzt die Bücher zur Ablenkung vom Alltagstrott, was er hauptberuflich macht, mag er nicht verraten. „Taxifahren ist ein Dienst, der über Nationalitäten und Hautfarben hinweg sieht“, sagt er mir. Er selbst fährt seit 15 Jahren und meint es sei „der schönste Beruf, den es gibt“. Vor allen Dingen weil der Spaßfaktor enorm sei, denn der Taxifahrer erlebt Menschen und Geschichten, die der Normalsterbliche nur aus Filmen kennt. „Aber“, fügt er hinzu „es tut weh, eine Stunde auf einen Kunden zu warten und dann für nur drei Euro zu arbeiten“. Mittlerweile fahren einige ihre letzten Runden, andere vertreiben sich die


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Zeit und spielen Backgammon auf der Motorhaube des Mercedes, manch einer poliert in kleinen kreisenden Bewegungen sachte seinen ‚Hellelfenbein-farbenen’ Wagen. Die Farbe hat sich 1971 durchgesetzt. Vorher fuhren Taxis in schwarz. Die frühen Nachtstunden brechen an. Ganz andere Fahrer sehe ich nun und vor allem ganz andere Kunden, darunter viele Jugendliche in Feierlaune. Da fällt mir ein Mann mit Hut auf. Ich habe ihn nach langem Aufenthalt endlich gefunden: Einen deutschen Taxifahrer – noch besser – kölsches Urgestein. Hötsche nennen sie ihn hier, weil Manfred Fuchs (55) immer seinen schwarzen Hut trägt. Der dunkelgrüne Pullunder und die braune Lederjacke ergeben eine seltsame Mischung aus Großvater und wildem Kerl. Und das Innere seines Taxis ist das pure Chaos. Überall liegt etwas herum, Zigarretten, Handy, Zeitungen und Bücher in den Ablagefächern, sogar ein kleines Fernsehgerät. Ein deutscher Taxifah-

rer ist für mich ein Exot in der breiten Masse der Taxifahrer aus aller Welt. Warum das so ist, frage ich ihn. „Weil der deutsche Mitbürger nicht mehr bereit ist, Schicht zu arbeiten – weil der Job eben net jut bezahlt is“, sagt er in breitem kölschem Dialekt. Auch er kennt die langen Leiden seines Berufs, wenn man wartet und wartet und am Ende nichts dabei herumkommt. „Ich hab´ schon mal einen nach dort drüben gefahren“, sagt er, und weist auf das Hotel auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Manfred hat 1993 angefangen, ist aber nicht auf den Beruf angewiesen. Er ist gelernter Bäckermeister, für ihn ist es ein Zusatzeinkommen. „Mir gefällt die Freiheit des Berufs und dass man Menschen quer durch alle Schichten kennen lernt – vom Milliardär bis zum Clochard.“ Peter Maffay habe er einmal gefahren, ohne es zu merken. Was ist dran an all den Geschichten und Mythen die sich die Taxifahrer erzählen, frage ich – sind sie wahr? „Es gibt nichts, dass es nicht gibt.

Sie können sich ausdenken, was sie wollen, es hat sich schon alles ereignet.“ Ich glaube ihm. Kreuz und quer schießen die Taxis durch die Großstadtlichter und die lauwarme Sommernacht. Einsamkeit, Müdigkeit, Träume, Hoffnungen, Glück und Unglück wechseln sich wie Momentaufnahmen auf den Rücksitzen ab. Und obwohl jeder Taxifahrer den Rhythmus seiner Stadt kennt, kann keiner erahnen ob der nächste Kunde sich nur einen kurzen Fußweg ersparen möchte, oder aber weit fort will. Nur Wenige haben tatsächlich das Glück, aber alle träumen sie von der perfekten Fahrt. Die weiteste Fahrt, die hier jemandem bekannt ist, ging nach Oslo – für einen Festpreis von 1500 €. Eine Fahrt, von der jeder träumt, spätestens beim nächsten Betrunkenen, der sich nicht mehr an seine Adresse erinnern kann..

Foto: Volkan Kortak

Ebrahim Alipour: „Die Leute öffnen dir ihr Herz, wenn du ihnen zuhörst, dennoch wird auf dich herabgeschaut.“

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Nazim Yalazkan wurde 1981 in Iskenderun, im Süden der Türkei, nahe der syrischen Grenze und direkt am Mittelmeer, geboren. Er ist neben einem 1 Jahr älteren Bruder und einer 1 Jahr jüngeren Schwester das mittlere Kind eines türkischen Hausmeisters, aufgewachsen in einem reichen Stadtviertel, in dem der Vater arbeitete. Die Familie Yalazkan hatte jedoch nie viel Geld.

Foto: privat

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Vom Militär in den Kurort Gemünd ::::: dies ist die geschichte eines jungen türken, der auszog um sich seinen traum von einem besseren leben zu erfüllen_einer, der durch harte arbeit und etwas glück nach einem langen weg seinen platz gefunden hat, mitten in deutschland, in seinem eigenen massagesalon mikSes: Herr Yalazkan, war es schon immer ihr Traum Masseur zu werden? Nazim Yalazkan: Nein, ich hatte nicht vor Masseur zu werden. Mir war nur wichtig, dass ich eine gute Arbeit finde, mit der ich ein gutes Leben führen kann. Ich wusste ja aus meiner Kindheit wie es ist arm zu sein. Da habe ich schlechte Erfahrungen gemacht. Als ich fünfzehn war, fingen meine Freunde an mich zu meiden, sie befanden mich ihrer wohl nicht mehr würdig. Sie waren Kinder von Ärzten und Anwälten. Das hat mich sehr enttäuscht. Mein Traum war es, ein besseres Leben zu führen. Als ich sechzehn war kaufte ich mir von meinem Ersparten ein Busticket nach Antalya, 700 Kilometer weit entfernt von Iskenderun. Ich wollte dort Arbeit finden, doch auf meinen Tatendrang folgte schon bald Enttäuschung. Ich musste die Nacht auf der Straße verbringen und fand keine Arbeit. Ich war gezwungen wieder nach Iskenderun zurückzukehren. Mit siebzehn versuchte ich es erneut, fest entschlossen Arbeit zu finden, denn eine weitere Niederlage wollte ich nicht über mich ergehen lassen. mikSes: Wie kamen Sie dann zu ihrem Beruf? Nazim Yalazkan: Das ist mehr dem Zufall zuzuschreiben. Als ich das zweite Mal nach Antalya fuhr, hatte ich nach einigen Tagen und Übernachtungen am Strand tatsächlich Glück. In einem Hotel brauchte man jemanden zum Handtücher-Falten und zum Sauberhalten des Massagebereichs. Ich habe schnell gemerkt, dass ich das auch kann, zum Beispiel einfache Peelings und Schaummassagen. Das habe ich meinen Vorgesetzten gesagt und da sie jemanden brauchten, bekam ich eine Festanstellung im hoteleigenen Hamam (türkisches Bad). Dort habe ich fast zwei Jahre lang gearbeitet und mich dann dazu entschieden Masseur zu werden. Ich

hatte ja auch schon einige Erfahrungen gesammelt und fand Gefallen daran. Ich wollte mehr erreichen und beschloss die Ausbildung zum Masseur zu machen, damit ich etwas in der Tasche habe. Tagsüber musste ich regulär arbeiten und abends die Massageschule besuchen, drei Monate lang und dann noch ein Jahr Praktikum. Als ich neunzehn war, kam ein Bescheid vom Militär, dass ich für achtzehn Monate zum Wehrdienst musste. Das passte mir gar nicht, denn zu dieser Zeit hatte ich meine zukünftige Frau kennen gelernt. Sie ist Deutsche und war in der Türkei im Urlaub. mikSes: Wehrdienst und eine Frau, die wieder in Deutschland ist, wie bekommt man das unter einen Hut? Nazim Yalazkan: Ich hatte Glück. Nach drei Monaten fand man heraus, dass ich Masseur bin und von da an habe ich Hauptmänner und sogar einen General massiert, fünfzehn Monate in einem Militärkrankenhaus in Ağri.

„beim militär fand man heraus, dass ich masseur bin. von da an habe ich hauptmänner und sogar einen general massiert.“ Steffi und ich telefonierten oft, sie hat mich auch während meines Urlaubs besucht. Als die achtzehn Monate vorüber waren, habe ich sogar eine Auszeichnung vom Krankenhaus und vom Militär für meine „Massage-Verdienste“ bekommen. Einen Monat danach haben Steffi und ich geheiratet. Es spielte weder für mich noch für meine Familie eine Rolle, dass sie vierzehn Jahre älter war als ich. Auch

dass sie katholisch ist und ich Moslem bin, war für uns zweitrangig, denn jeder darf glauben was er will. Wenn man eine ältere Frau heiratet und auch noch eine Deutsche, dann wird einem schon mal unterstellt man würde dies nur mit Hintergedanken machen. Aber so war das nicht, wir lieben uns. mikSes: Wie sah ihr Weg nach Deutschland und zum eigenen Massagesalon aus? Nazim Yalazkan: Mit ihr bin ich nach Deutschland gekommen, denn sie hatte hier ihr Haus und ihre Arbeit. Ich hatte ja sowieso noch keinen festen Job, außerdem war ich neugierig. Wenn es mir nicht gefallen hätte, hätte ich auch wieder zurückgehen können. Masseur kann man in jedem Land werden, aber ich glaube, ich habe da auch ein bisschen die Herausforderung gesucht. Im Februar 2003 bin ich zum ersten Mal nach Deutschland gekommen. Ich konnte kaum Deutsch und habe mich hauptsächlich mithilfe eines Wörterbuches verständigt. Schon nach einem Monat hatte ich einen Job in einem Wellness-Hotel als Masseur. Wegen der Arbeit und auch weil ich keine türkischen Freunde in Deutschland hatte, habe ich die Sprache schnell gelernt. Die Ausbildung musste ich noch mal machen, denn mein türkischer Abschluss wurde nicht anerkannt. Einige Kunden aus dem Hotel haben mir geraten ich, solle mich selbstständig machen, Massage sei doch ein lukratives Geschäft. 2005 habe ich mich mithilfe meiner Frau in den eigenen vier Wänden selbstständig gemacht. 2006 bezog ich mit meinem Massagesalon ein eigenes Ladengeschäft in dem Kurort Gemünd. Es lief es direkt gut. Ich habe am Tag so ungefähr acht Kunden, das heißt ich kann mich nicht beklagen und habe immer Arbeit. Das Ganze ist ja ein EinMann-Unternehmen. Das Interview führte Lina Woelk.

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Ein Inder in Deutschland

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::::: mikSes erzählte er seine eindrücke aus einem jahr deutschland Ich heiße Mrinay. Aber wer das nicht aussprechen kann, darf mich auch John nennen...

Alter: 20 Beruf: Student (Computer Engineering) Heimat: Indien

Foto: Tartopom/Fotolia.com, Kollage: J.Krawitz

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Zu Deutschland hatte ich schon ziemlich früh eine Verbindung...

Foto: Jenzig71/www.photocase.de

Gemeinsam fuhren wir mit dem Zug nach Duisburg. Einer der Fahrgäste hörte uns reden, drehte sich zu uns und sagte mit lauter und aggressiver Stimme, dass wir in Deutschland Deutsch reden müssten.

... bis auf solche Erfahrungen gefällt es mir gut in Deutschland. 2|2007

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* Auch mir sind diese Werte wichtig. 60

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Von meinem Vater lernte ich die ersten deutschen WĂśrter: ::::: angst

::::: autobahn

::::: bildungsroman

::::: doppelganger

::::: gesundheit!

::::: kraut

::::: oktoberfest

::::: panzer

::::: rottweiler

::::: weltschmerz

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Die Busse, Bahnen und Züge sind so pünktlich und überall gibt es kleine Maschinen, die das Leben erleichtern.

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... dass ich nicht alles sagen kann, was ich möchte... Heimweh nach Indien habe ich schon. Ob ich irgendwann nach Deutschland zurückkehren werde, weiß ich noch nicht...

Das Wetter könnte allerdings noch besser sein.... 2|2007

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Foto: David H. Lewis / www.istockphoto.com

::::: Rettet die Orchideen_vom aussterben bedrohte studienfächer? diesmal: osteuropastudien ::::: Zur Kasse bitte, Eintritt frei ist vorbei_oder was 300 euro in münster auslösten ::::: Wie beszahle ich mein Studium?_möglichkeiten zur studienfinanzierung ::::: Das Märchen vom Zentralabitur_wirksamkeit nicht nachgewiesen, höchstens was für märchenerzähler der bildungspolitik ::::: Reichlich Akademisches_diesmal: diplomarbeit zum heimatbegriff in der migrantenliteratur

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Rettet die Orchideen: ::::: zur arterhaltung bedrohter studienfächer stellen wir an dieser stelle regelmäßig wissenschaftliche disziplinen vor, die auf der „roten liste“ stehen und möglicherweise vom aussterben bedroht sind_wir wollen dennoch hervorheben, warum sie unter artenschutz gestellt werden sollten.

Diesmal:

::::: „im westen nichts neues – im osten schon…“ _osteuropastudien Text: Esra G e n ç

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m Mai 2004 und Januar 2007 wurde die Europäische Union in Richtung Ost erweitert. Die neuen Verbündeten sind die Alten aus dem Ostblock. Sie heißen Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei und Ungarn sowie Bulgarien und Rumänien. Auch die mit Sonne gesegneten Länder Malta und Zypern durften dazu stoßen. Seit dem EU-Beitritt pulsiert Osteuropa mehr denn je. Städte wie Warschau und Prag werden zunehmend interessanter für Schüler und Studenten, die es in die benachbarte Ferne zieht. Heute ist es spannend osteuropäische Kultur und Mentalität kennen zu lernen. Der Blick wird viel öfter als vor ein paar Jahren vom Westen in den Osten geschwenkt. Deshalb heißt das Orchideenfach, was ich Euch heute vorstellen werde: Osteuropastudien. Aus dem Namen geht es irgendwie schon hervor: Osteuropastudien, also ein Studium, das Osteuropa betrifft… Das Hauptaugenmerk liegt bei diesem Studiengang - wie bei allen regionalen Studiengängen - darauf, Studierenden die Fähigkeit zu vermitteln, Entwicklungen und Situationen in der speziellen Region, hier Osteuropa, zu analysieren. Sie sollen lernen, diese Entwicklungen und Situationen in die jeweiligen Zusammenhänge zu bringen. Politik, Kultur, Geschichte, Wirtschaft und das Rechtssystem des jeweiligen Landes spielen hierbei die primäre Rolle. Kurz-um: Die Studenten sollen Regionalkompetenz erlangen. Das vielleicht wichtigste Basiselement

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ist hierbei das Erlernen einer oder mehrerer osteuropäischer Sprachen. So sollen Absolventen der Regionalstudien Ostmitteleuropa (Universität Münster) mit einem Bachelor in der Tasche über solide Grundkenntnisse des Polnischen oder Lettischen verfügen. Um die Sprachkenntnisse zu vertiefen und die Kultur hautnah miterleben zu können, sind Auslands-semester für die Studierenden vorgesehen. Neben der Sprachkompetenz muss der Spezialist aber auch firm hinsichtlich der Geschichte und Kultur des osteuropäischen Landes sein. Denn nur mit einem fundierten Wissen, kann er in einem interkulturellen Umfeld auf die speziellen Situationen des osteuropäischen Berufslebens reagieren. Die

seit dem eu-beitritt pulsiert osteuropa mehr denn je. Brückenfunktion zwischen Ost und West zeichnet den Absolventen dieses regionalen Studienganges aus. Im Zuge der Osterweiterung der EU gewinnen Spezialisten, die sowohl mit den westlichen Gepflogenheiten als auch mit der osteuropäischen Mentalität vertraut sind, immer mehr an Bedeutung. Es ist wich-tig, die kulturellen Eigenarten seines Gegenübers zu kennen, um mit ihm kommunizieren und verhandeln zu können. Gefragt


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päischen Sprache mitbringen. Auch MagisterStudenten im fortgeschrittenen Stadium ihres Studiums können sich bewerben. Zu nennen ist auch das Studienangebot in Südosteuropastudien der Universität Jena. Hier können Magister-Studenten Südosteuropastudien als Nebenfach belegen. Die Regelstudienzeit beträgt neun Semester. Osteuropa-Interessierten rate ich im Hochschulkompass einfach das Suchwort „Ost“ einzugeben. Neben den oben genannten Stu-

diengängen gibt es auch viele, die speziell die Geschichte Osteuropas oder slawische Sprachen betreffen. Über Zulassungsvoraussetzungen könnt Ihr Euch wie immer auf den Websites der jeweiligen Universitäten informieren. Je nach Hochschule können sie hinsichtlich der Sprachvoraussetzungen variieren.

Foto: Yavuz Arslan/Das Fotoarchiv

sind deshalb regionale Spezialisten vor allem in der Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft. Tätigkeiten in den Medien, in NichtRegierungsorganisationen (NGOs) oder politische Öffentlichkeitsarbeit stehen ebenso zur Debatte. Abiturienten können z.B. an der Universität Münster innerhalb von sechs Semestern einen Bachelor in Regionalstudien Ostmitteleuropa erwerben. Die Universität München dage-gen bietet einen viersemestrigen interdisziplinären Master- und Magister-Studiengang in Osteuropastudien an. Dieses Angebot richtet sich an Absolventen, die einen ersten Universitätsabschluss haben und neben sehr guten Deutsch- und EnglischKenntnissen, Grundkenntnisse einer osteuro-

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Zur Kasse, bitte! Eintritt frei ist vorbei… ::::: oder was 300 euro in münster auslösten_die protestfront schillerte bunt und dennoch konnte sie der landesweiten studiengebühreneinführung nichts entgegensetzen Text: Elvin T ü r k

Als Studiengebühren an fast allen Universitäten in Nordrhein-Westfalen eingeführt waren, wollte der Protest an der Universität Münster immer noch nicht abflachen.

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diengebühren einzuführen, einige nur Langzeit- bzw. nur Zweitstudiengebühren. Seitdem die Diskussion um die Studiengebühren entfacht ist, haben sich viele Studentenvertretergruppen zusammengeschlossen, die tatkräftig gegen die Einführung der Studiengebühren protestiert haben und es wohl zum Teil. noch tun werden. In Bremen haben einige Studenten Klagen eingereicht, Recht bekommen und ihre bereits überwiesenen Gebühren zurückerhalten. In Marburg wurden Autobahnen blockiert, in Bielefeld wurde ein Generalschlüssel entwendet, Toiletten in Brand gesetzt, das Büro eines Professoren mit Tierexkrementen verschmutzt und das Auto des Rektors angezündet. „An den Unis wird gelee(h)rt!“ oder „Lebst du noch oder zahlst du schon?“ sind nur einige der Aufschriften bzw. Transparentsprüche, die man während der Protestbewegungen lesen konnte. In dem Internetforum Studentenverzeichnis, kurz StudiVZ, das mittlerweile allen Studenten,

studieren in deutschland war nie völlig umsonst. studenten haben auch früher regelmäßig einen sozialbeitrag gezahlt.

den meisten Abiturienten und auch vielen Akademikern bekannt sein dürfte, findet man mindestens 180 Gruppen, die sich mit den Studiengebühren auseinandersetzen. Startet man beim Videoportal YouTube (zu Deutsch: „Deine Glotze“) eine Suchanfrage mit „Studiengebühren“ als Schlagwort, werden in null Komma nichts mehr als 300 Videos angeboten, die sowohl die Demonstrationen auf Deutschlands Straßen dokumentieren als auch Anti-Studiengebühren-Lieder abspielen oder sogar Teile aus entscheidenden Senatssitzungen zeigen. So kann man sich speziell zu Münster anschauen, wie die eigentliche Stellungnahme der Rektorin der Universität Münster, Ursula Nelles, zu allgemeinen Studiengebühren lautet, wie die Studenten dort die Senatssitzungen gestürmt haben, wie hoch das Polizeiaufgebot war.

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as vom 16. März 2006 stammende Hochschulfinanzierungsgerechtigkeitsgesetz (HFGG), ein Wortmonstrum, welches es den Hochschulen selbst erlaubt Gebühren bis zu einer Höhe von

500 Euro pro Semester zu erheben, ist Grundlage für die besondere Situation in NRW. Die Universität Münster war die letzte Uni in NRW, die noch keinen Beschluss zu Studiengebühren gefasst hatte. Studenten hatten bereits im Sommersemester 2006 zweimal Abstimmungen im Senat zu Studiengebühren verhindern können. Auch das Rektorat wurde mehrmals für kurz oder lang besetzt. Nachdem am 17. Januar 2007 der Senat seitens der Studenten gestürmt wurde, musste er in einer außerordentlichen Sitzung erneut zusammenkommen. Der Termin wurde auf den darauf folgenden Samstag auf acht Uhr gesetzt, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sich die Studenten kaum aus dem Bett quälen und sich den weiten Weg machen würden. Denn auch der Sitzungsort sollte ein anderer sein: Der Senat tagte in einer ehemaligen Nato-Kaserne in Handorf, heute Übungsgelände des Technischen Hilfswerks, unter Polizeischutz und strengem Ausschluss der Öffentlichkeit. Doch ca. 500-600 Studenten marschierten regelrecht ein mit Sonderbussen, privaten PKWs und Fahrrädern, diesmal allerdings ohne die Sitzung zu stürmen. In dieser vierstündigen Sitzung wurde ein neuer Termin für März festgelegt und der Antrag des Rektorats auf Erhebung allgemeiner Studiengebühren in Höhe von 300 € mehrheitlich abgelehnt. Bis zu dieser außerplanmäßigen Sitzung am 14. März 2007 sollte eine Kommission einen umfassenden Bericht zu den Studiengebühren vorlegen, mit konkreten Vorschlägen zur Verbesserung der Lehre an der Uni und mit konkreten Beträgen, welche die Uni gegebenenfalls dafür benötigt.

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m 14. März war es dann wieder so weit: Tausende Studenten hatten sich versammelt, um erneut das zu verhindern, was sie vorher auch zu verhindern gewusst hatten. Ihnen schloss sich auch der Bochumer Sänger Markus Henrik an. Seinen Münsteraner Kommilitonen stand er musikalisch zur Seite, denn er meint: „Die aggressivste Form des Pazifismus ist Musik!“ Für Markus Henrik „steht der Erhalt sozialer Ideale und freie Bildung für freie Menschen ganz oben auf der Agenda!“ und deshalb singt er in seinem ersten veröffentlichten Lied mit dem schlichten, aber einprägsamen Titel „Rot“ über die 68er Generation, ihre Werte und ihre Versäumnisse. Während dieser Senatssitzung konnte nun eine endgültige Entscheidung gefällt werden, die einen Tag später in einer Satzung über die Erhebung von Studiengebühren verabschiedet wurde. Der Senat der Uni Münster besteht 2|2007

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icherlich werden alle Studenten und Akademiker weitestgehend an positive Erlebnisse und glückliche Momente denken, wenn man sie nach ihrer Studienzeit fragt. Man kann trotz Selbstorganisationspflicht, Eigenverantwortung und Prüfungsstress das Campusleben genießen, viele neue Leute kennen lernen und feiern so gut es geht. Das meist dürftige Konto mindert nicht wirklich die Lust am freien Studentenleben. Die meisten behaupten im Nachhinein gewiss, es sei die beste Zeit ihres Lebens gewesen. Nun werden die meisten Studenten zur Kasse gebeten, wenn sie noch etwas von dieser Zeit am Campus mitnehmen möchten… Das Studieren in der Bundesrepublik Deutschland war zugegebenermaßen nie völlig umsonst. Studenten haben auch vorher schon einen bestimmten Sozialbeitrag regelmäßig gezahlt, bei der Einschreibung sowie zu Semesterbeginn - und zwar bundesweit. Je nach Universität variiert die Beitragshöhe, an die gewisse Konditionen geknüpft sind, die zum Beispiel die kostenlose bzw. zum Teil kostenpflichtige Fortbewegung im öffentlichen Personennahverkehr betreffen. Gebühren einzuführen wurde erstmals im Jahre 2000 angedacht. Denn auf der Plenarsitzung der Kultusministerkonferenz (KMK) wurde festgelegt, dass das Erststudium zwar unentgeltlich bleibe, die Erhebung von Langzeitgebühren oder Studienkontenmodellen jedoch möglich sei. Das erste Hochschulrahmengesetz enthielt in seiner ersten Fassung von 1976 keinerlei Regelungen zu Studiengebühren. 2002 jedoch wurde in der Novelle des Hochschulrahmengesetzes (HRG) bundesweit verbindlich festgesetzt, dass das erste Studium bis zum berufsqualifizierenden Abschluss gebührenfrei sei. Bund und Länder waren sich aber, wie so oft, uneinig, bis mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 2005 diese Novelle für nichtig erklärt wurde, da ein Verbot von Studiengebühren in die Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer eingreife. Über die allgemeine Zulässigkeit von Studiengebühren jedweder Art wurde zu jenem Zeitpunkt noch nicht entschieden. In sieben von 16 Bundesländern sind nun allgemeine Studiengebühren (also Gebühren für das Erststudium) beschlossen und wurden spätestens für das Sommersemester 2007 erhoben. In vielen anderen gibt es nur Langzeitgebühren bzw. Gebührenpflicht für das Zweitstudium. Selten muss man sowohl allgemeine als auch Langzeitstudiengebühren zahlen. Sechs Bundesländer planen keine allgemeinen Stu-


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aus 23 Mitgliedern: Zwölf Professoren, sieben Mitarbeiter und vier Studenten. Hätten alle Professoren für Studiengebühren gestimmt, wären die anderen Senatsmitglieder mit 12:11 Stimmen überstimmt gewesen. Doch der Beschluss ist nicht allein durch die Professoren entschieden worden. Einer der vier Studenten hat mit „Ja“ gestimmt, so dass das Endergebnis tatsächlich 12:11 Pro Studiengebühren lautete. War die Wahl geheim? Ja, das war sie. Aber trotzdem wissen alle Studenten, welcher Student es war – nicht nur in Münster. Max H. Brüggemann ist 23, studiert BWL, ist bei der Jungen Union aktiv und interessiert sich für (Hochschul-)Politik, Studentenverbindungen und den Rettungsdienst. All diese Informationen kann man seiner persönlichen Seite im StudiVZ entnehmen, denn dort ist er „immatrikuliert“, mit Foto. Es haben sich Gruppen für und gegen ihn gegründet, in denen man sich ausgiebig über ihn ausgelassen hat. Die Anti-Max-Brüggemann-Gruppen sind jedoch mittlerweile entfernt worden. Es besteht nunmehr eine Gruppe mit 379 Mitgliedern, die ihre „Solidarität mit Max Brüggemann“ zum Ausdruck bringen, denn Max habe, so heißt es in der Beschreibung der Gruppe, „nie einen Hehl aus seiner Haltung gemacht“. Auf seiner Pinnwand lassen sich mehr als 1000

Nachrichten lesen, die sich aus ganz Deutschland angesammelt haben. Max wird darin als „Judas“, „Kollegenschwein“, oder aber als „Märtyrer, den sich keiner gewünscht hat“, bezeichnet. Ein weiterer Kommilitone, der sich „quasi hintergangen“ fühlt, schreibt: „Dich soll der Blitz beim Kacken treffen!!! … warum haben wir uns denn den Arsch auf Demos abgefroren???“. Max selbst hätte zwar Reaktionen in diesem Ausmaß nicht erwartet,

„dich soll der blitz beim kacken treffen!“ – studentenvertreter, die für gebühren stimmten, haben es nicht leicht dennoch bleibt er ziemlich gelassen dabei. Zu seiner Freude lassen sich auch unterstützende Worte auf seiner Pinnwand finden: „Max, Du bist ein Held!“ findet die eine, „Respekt für deine Entscheidung. Ignorier einfach den Pöbel“, schreibt der andere. Einige sind re-

gelrecht erschüttert über die Beleidigungen und Drohungen und beschweren sich über die unsachliche und niveaulose Kritik. Andere scherzen über die Masse an Einträgen und gratulieren zu Max’ Berühmtheitsgrad. Außerdem lässt sich feststellen, dass Max so unbeliebt nicht sein kann, denn er hat 430 Freunde – so viel wie wahrscheinlich kaum einer im StudiVZ.

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ines ist sicher: Ab dem Wintersemester 2007/08 müssen Studenten der letzten Bastion Münster Studiengebühren in Höhe von 275 Euro zahlen – weitaus weniger als die meisten anderen Studenten in NRW – und man kann wirklich nicht behaupten, dass sie nicht gekämpft hätten. Die Solidarisierung und der Zusammenhalt der Studenten im Lande, und insbesondere der Münsteraner, haben gezeigt, dass unsere Gesellschaft nicht nur aus kurzsichtigen und egoistischen Individualisten besteht. Für die Zukunft aller Studenten kann man nur hoffen, dass die Studienbeiträge, egal in welcher Höhe, tatsächlich für die Verbesserung des Lehrangebots eingesetzt werden. Denn sonst wird das Protestieren kein Ende nehmen…

Wie bezahle ich mein Studium? ::::: BAföG, studienkredite, stipendien_mittlerweile gibt es zahlreiche möglichkeiten zur finanzierung Te x t : Jan Krawi tz Nach wie vor bleibt das BAföG die attraktivste Möglichkeit der Studienfinazierung. Ob und in welcher Höhe BAföG gezahlt wird, hängt vom Einkommen der Eltern, des Ehegatten und/oder des eigenen Einkommen ab. Gefördert wird für die Dauer der Regelstudienzeit. Das BAföG wird als zinsloses Staatsdarlehen vergeben, das nur bis zu maximal 10.000 € zurückgezahlt werden muss. Die genauen Rückzahlkonditionen richtet sich nach dem Einkommen. 72

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Wer nicht in den Genuss von BAfÖG kommt, für den besteht die Möglichkeit einen Studienkredit aufzunehmen. Das Zentrum für Hochschulentwicklung (CHE) hat vor Kurzem einen umfangreichen Studienkredit-Test veröffentlicht. Dort kann man sich über alle Bedingungen, Risiken und die Frage, welcher Kredit für wen am besten geeignet ist, informieren. Neben privaten Banken bieten auch einige Landesbanken besonders zinsgünstige Kredite an.

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Studienförderung, die nicht zurück gezahlt werden muss, bieten Stipendien von partei-, konfessions- und gewerkschaftsnahen Stiftungen sowie der Studienstiftung des deutschen Volkes. Sie fördern Begabte aller Studienrichtungen, die zuvor ein Auswahlverfahren durchlaufen müssen. Die Förderungshöhe richtet sich nach dem BAfÖG-Satz. Es entstehen aber auch immer mehr kleine Stiftungen, bei denen man für ein Stipendium anklopfen kann.


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Schleswig-Holstein keine Studiengebühren keine Langzeitgebühren

Hamburg

Studiengebühren: 500 € Langzeitgebühren: keine

Mecklenburg-Vorpommern keine Studiengebühren keine Langzeitgebühren

Bremen

Studiengebühren: geplant (500 €), ursprünglich mit „Landeskinderregelung“, Gerichtsentscheidung steht noch aus. Langzeitgebühren: 500 €

Berlin

Niedersachsen

keine Studiengebühren keine Langzeitgebühren

Studiengebühren: 500 € Langzeitgebühren: 600 bis 800 € zusätzlich

Brandenburg

keine Studiengebühren keine Langzeitgebühren

Sachsen-Anhalt Nordrhein-Westfalen

Studiengebühren: keine Langzeitgebühren: 500 €

Studiengebühren: bis 500 € (Entscheidung bei Hochschulen) Langzeitgebühren: keine

Sachsen Thüringen

Hessen

Rheinland-Pfalz

Studiengebühren: keine Langzeitgebühren: 500 €

Studiengebühren: keine Langzeitgebühren: keine für Zweitstudium 300-450 €

Studiengebühren: 500 € Langzeitgebühren: 500900 € (werden mit Studiengebühren verrechnet)

Studiengebühren: keine Langzeitgebühren: 650 €

Saarland

Studiengebühren: 300-500 € Langzeitgebühren: keine

Bayern Baden-Württemberg Studiengebühren: 500 € Langzeitgebühren: keine

Studiengebühren: 300-500 € (an Universitäten), 100-500 € (an Fachhochschulen) Langzeitgebühren: keine

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Das Märchen vom Zentralabitur ::::: die märchenhafte verklärtheit ließ das zentralabitur in den letzten jahren fast zu einem mythos werden_bessere verlgeichbarkeit wird ihm zugeschrieben, belegt werden konnte dies jedoch bis heute nicht

Dieser Text ist online nicht verfügbar.

Foto: Miss Jones/photocase.de

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Reichlich Akademisches ::::: an dieser stelle gibt mikSes in jeder ausgabe jungen akademikern die möglichkeit, ihre diplom-, magister- oder doktorarbeit_die sich im weitesten sinne mit interkulturellen themen auseinandersetzt, vorzustellen.

Folge 2

::::: der heimat-begriff in der deutsch-türkischen literatur Text: Arz u D ö n m e ze r- Mo u c h t a r

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Zur Person: Arzu Dönmezer-Mouchtar, geboren 22.07.1980, Studium der Germanistik und Islamwissenschaft an der Universität Bonn. Lebt seit zwei Jahren in Brüssel/Belgien und ist seit April 2006 Mitarbeiterin des Europaabgeordneten Dr. Jorgo Chatzimarkakis im Europäischen Parlament.

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ie große Welle der Einwanderung hat Europas Gesicht in vergangenen Jahrzehnten peu à peu stark verändert. Großbritannien ist heute eindeutig geprägt durch die massive Einwanderung der Menschen aus seinen ehemaligen Kolonien, dasselbe gilt für Frankreich und Spanien. Die großen Minderheiten in diesen Ländern, die Inder, Pakistani und Maghrebiner prägen das heutige Bild der ehemaligen Kolonialländer. In Deutschland, zwar einst auch eine Kolonialmacht, bildet die größte Minderheitengruppe Menschen türkischer Abstammung. Der Zuzug der ersten Türken nach Deutschland ereignete sich nach dem Zweiten Weltkrieg und den Anwerbeverträgen, die die Bundesrepublik mit diversen europäischen und orientalischen Ländern in den sechziger und siebziger Jahren schloss. Mit der Hoffnung auf Arbeit wanderten ab 1961 viele Türken aus ihrer Heimat in Richtung Deutschland aus. Für lange Zeit haftete der Begriff „Gastarbeiter“ an ihnen, da für beide Parteien (für die Deutschen als auch für die Immigranten) feststand, dass sie nach einigen Jahren wieder zurück in ihre Heimat gehen würden. Diese Menschen kamen jedoch nicht als Gäste, sondern als billige und deshalb umworbene Arbeitskräfte. Ian Chambers verdeutlicht in seinem Buch „Migration, Kultur, Identität“ knapp aber präzise, was man unter Migration versteht: „Wandern ist eine Bewegung zwischen zwei festen Punkten; dazu gehört ein Ort der Herkunft und der Ankunft- und die Kenntnis der Wegstrecke. Migration dagegen ist Wanderschaft ohne sichere Rückkehr oder gewisse Ankunft. Der Weg selbst eröffnet die Orte

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des Wohnens; und ruhen die Füße, ist doch das Gemüt rastlos. Die Welt im Kopf verliert ihren festen Halt- und Angelpunkt: kein Ursprung-kein Zentrum- kein Ziel.“ Chambers stellt richtig fest: Es gibt keine sichere Rückkehr, noch gibt es eine gewisse Ankunft. Somit wäre eine Definition der Lage türkischer Gastarbeiter gegeben. Denn für sie hat es nie eine Rückkehr in ihr Heimaten gegeben. Das feste Vorhaben in Deutschland einige Jahre

migration ist wanderschaft ohne sichere rückkehr oder gewisse ankunft. zu arbeiten, genügend Geld zu verdienen und zurück in das Heimatland zu gehen, hat sich nicht realisiert. Die meisten sind geblieben. Mittlerweile gibt es nicht nur die erste, sondern die zweite, dritte und sogar die vierte Generation der „Gastarbeiterkinder“, die sich in Deutschland ein Leben aufgebaut haben. Aber man kann in diesem Fall nicht von einer gewissen Ankunft sprechen. Denn wirklich angekommen ist keiner von ihnen. Deutschland als neue Heimat zu adaptieren ist niemandem gelungen. Eoin Bourke beschreibt in seinem Aufsatz „Die Bürde zweier Welten“ das Leben in zwei Kulturen als eine „Pendelfahrt“. Selbst die, die in der Bundesrepublik geboren wurden, haben stets diese Pendelfahrt zwischen zwei Welten und in keiner der beiden Welten ist eine Ankunft möglich. Viele der in


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Foto: Yavuz Arslan/Das Fotoarchiv

Deutschland geborenen und aufgewachsenen türkischen Kinder haben kaum noch einen Bezug zu ihrem Herkunftsland. Die meisten kennen die Türkei nur von Urlaubsaufenthalten während des Sommers, wenige von ihnen sprechen ein gutes Türkisch und haben kaum eine Ahnung von türkischer Geschichte oder Politik. In der Türkei werden sie dementsprechend nicht als Türken angesehen, sondern lediglich als „almanci“ was soviel bedeutet wie „Deutschtürke“. Diese Ausgrenzung stellt insofern einen Konflikt dar, da sie auch in ihrem Geburtsland nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft akzeptiert werden. Denn in der Bundesrepublik sind sie nicht Deutsche, obwohl mittlerweile viele einen deutschen Pass besitzen, die deutsche Bildung und Erziehung genossen haben und teilweise besser Deutsch als Türkisch sprechen, sind sie für die deutsche Gesellschaft einfach nur Türken. Somit ist der Weg für ihre Pendelfahrt zwischen zwei Welten bereitet. In dieser wissenschaftlichen Arbeit geht es vor allen Dingen um die Auseinandersetzung mit dem Begriff Heimat und seiner Komplexität in Zusammenhang mit der Migration. In der heutigen Zeit hat der Heimat-Begriff durch die industrialisierten Gesellschaften und den Forderungen des modernen Lebens einen höheren Stellenwert erlangt als je zuvor. Genau aus diesem Grund ist es interessant zu beobachten, wie dieser Begriff von Menschen wahrgenommen wird, die ihre Identität zwischen zwei völlig divergenten Kulturen formen müssen. Am Beispiel ausgewählter türkischer Autoren wird die Bedeutung, der Inhalt aber auch der Konflikt mit dem Begriff Heimat illustriert und analysiert. In diesem Kontext ist auch folgender Aspekt äußerst herausragend: Die Gemeinsamkeit dieser drei Autoren ist, neben ihrer türkischen Herkunft, dass sie Deutsch als die Sprache ihrer Werke bestimmt haben. Trotz dieses Faktums werden sie in der Forschung nicht unter der Kategorie „Deutsche Literatur“ aufgenommen, sondern gesondert entweder als „Gastarbeiterliteratur“ oder „Migrantenliteratur“ bezeichnet. Trotz einiger Gemeinsamkeiten haben Renan Demirkan, Nevfel Cumart und Feridun Zaimoglu doch ein unterschiedliches Verständnis von Heimat und einen unterschiedlichen Umgang mit ihrer „Heimatlosigkeit“, die sie auf ihre Protagonisten projizieren. Anhand dieser Beispiele wird in dieser wissenschaftlichen Arbeit der Begriff Heimat definiert und seine Wichtigkeit und Unverzichtbarkeit für die menschliche Natur erwiesen.

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Wenn Deutschland kein Spaß mehr macht ::::: kolumne_von seran sargur

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Seran Sargur ist General-Koordinator und Mitbegründer des deutschen türkischsprachigen TV-Senders „Kanal Avrupa“ und regelmäßiger Kolumnist für mikSes.

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ährend die deutsche Politik sich die Frage stellt, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland ist oder nicht, entwickelt sich parallel eine äußert gefährliche Situation: Migrantenkinder wandern aus! Deutschland wird zum Auswanderungsland! Doch nicht nur Menschen wandern aus, auch die Arbeit und die Aufträge gehen ins Ausland. So wurden – nur um ein Beispiel zu nennen – die zahlreichen Deutschlandfahnen aus der glorreichen WMZeit nicht etwa in Deutschland, sondern im fernen China produziert. Damit ist für mich persönlich die Frage, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland ist oder nicht, geklärt: NEIN! Wenn der Zuzug erschwert und die Auswanderung gerechtfertigt wird, dann können wir definitiv nicht von Einwanderung sprechen! Zu Recht regen sich die Gemüter über die defizitären Deutschkenntnisse bei Migranten auf. Ohne Sprache klappt es halt nicht mit dem Nachbarn. Da muss was geschehen, da sind wir sicherlich alle einer Meinung. Doch schauen wir uns mal die WM-Helden an: Nein, nein, nicht die sportliche Leistung, sondern die Deutschkenntnisse. Wie viele Spieler beherrschen die deutsche Sprache so wie es die verehrten Politiker verlangen? Haben Sie schon mal Neuville, Kurani oder Klose reden hören? Mehr möchte ich dazu nicht sagen ... Mich stört einfach die Doppelmoral: Die einen spielen Fußball und brauchen nicht ausreichend der deutschen Sprache mächtig zu sein, Hauptsache, sie schießen Tore. Und die anderen, ja, Hauptsache sie kommen nicht aus bestimmten Ländern. Weswegen sie kommen, ist gleichgültig, nur nicht aus bestimmten Ländern. Diese Menschen müssen Deutsch können, sonst klappt es nicht! Wie gesagt, die Diskussionen rund um die Zuwanderung veranlassen die alltägliche Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung: Auswanderung! Auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen, junge und gut ausgebildete Migrantenkinder wandern aus und nicht zuletzt in die Heimat ihrer Eltern. Dort werden sie von deutschen Unternehmen mit Kusshand empfangen. Denn deutsche Unter-

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nehmen wie zum Beispiel Mercedes-Benz werben gezielt für ihre Firmensitze im Ausland um Kinder von Migranten, die ihre Ausbildung in Deutschland absolviert haben. Während Deutschland noch belanglose Debatten führt, sehen ausländische Wirtschaftssegmente die Vorteile dieser jungen Menschen. Und sie haben viele Vorteile: Sie haben eine Ausbildung nach dem europäischen Standart genossen, beherrschen neben ihrer Muttersprache weitere Sprachen und sind mit und in verschiedenen Kulturen groß geworden. Doch was macht Deutschland? Stößt die Jugendlichen vor den Kopf und wirft ihnen vor, sie würden zu nichts taugen. Deutschland baut sich selbst eine Mauer zwischen sich und den Jugendlichen und entfremdet sie. Wer ist Schuld daran, dass Deutschland 40 Jahre verpennt hat? Wer hat nach 40 Jahren erst angefangen, über Sprachkurse zu reden? Aber: Schwamm drüber! Die Migranten haben ein leichteres Spiel als ihre gleichaltrigen deutschen Freunde. So können sie nach dem Studium in Deutschland eine Arbeit in Istanbul bei Adidas, Deichmann, Siemens, Bosch oder bei den zahlreichen anderen deutschen Firmen in der Türkei aufnehmen. Und wenn Sie sich dort etabliert haben, „Holen sie ihre Brüder“ nach, die es dann aus der Arbeitslosigkeit zum Call-Center-Manager in Izmir oder zu Empfangschefin in den FünfSterne Hotels an der Türkischen Riviera schaffen. Wie gesagt: Wenn Deutschland kein Spaß mehr macht und man seinen Kindern nicht zumuten möchte, was man selbst in Deutschland alles erleben musste, dann geht man eben und macht die Heimat der Eltern zu der ihrigen. Im Gebäck die gute deutsche Ausbildung, die mitteleuropäischen Wertvorstellungen und nicht zuletzt den deutschen Pass als Lebenspolice. Wie hieß es noch so schön vor einigen Jahren? „KINDER STATT INDER“! Doch hatte man da einen elementaren Teil vergessen, nämlich das Kinder-Kriegen. Blüh’ im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland!


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Der Integrationsgipfel und die türkischen Verbände ::::: kolumne_von erkan arıkan

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s ist merkwürdig, dass der Entwurf zum neuen Zuwanderungsgesetz dafür verantwortlich ist, dass die großen türkischen Verbände in Deutschland sich einmal an einen Tisch setzen und miteinander reden. Viele haben Erleichterungen durch das neue Gesetz erwartet. Doch hat es vielmehr den Anschein, dass es Hindernisse birgt. Viele sehen dieses Gesetz nicht als Integrationsgesetz. Während der öffentlichen Diskussion zum Gesetzesentwurf habe ich festgestellt, dass zwei Herzen in meiner Brust schlagen: Das eine Herz hat Sympathie für die türkischen Verbände, die noch einmal deutlich gemacht haben, dass das Zuwanderungsgesetz in seiner jetzigen Form tatsächlich eine Diskriminierung beim Familiennachzug für Türken darstellt. Die Erhöhung des Heiratsalters von Ehepartnern auf 18 ist absolut legitim. Ob dadurch Zwangsehen verhindert werden, wird die Zukunft uns zeigen. Deutsche Sprachkenntnisse zu fordern, ist ebenso legitim. Denn Sprache bedeutet Kommunikation. Aber: Warum gelten diese Spracherfordernisse aber nur für Türken, Araber und Menschen aus einigen anderen Ländern? Es gibt eine andere gesetzliche Regelung, die Menschen beispielsweise aus Australien, Israel, den USA, Andorra, oder Honduras den Zuzug nach Deutschland ohne Sprachanforderung erlaubt. Als Grund wird angeführt, dass zu diesen Ländern besondere wirtschaftliche Beziehungen bestehen. Die hat doch aber Deutschland mit der Türkei! Die Rufe nach einem Boykott des Integrationsgipfels werden dann natürlich laut, denn die türkischen Verbände kritisieren genau diese Zweiklassengesellschaft. John aus Australien kann nach Deutschland, obwohl er kein Deutsch spricht, Ali aus der Türkei muss zuhause bleiben! Das geht so nicht! Doch dann kommt das andere Herz in meiner Brust: Die türkischen Verbände stellen der Bundes-

regierung und der Kanzlerin regelrecht ein Ultimatum, „die Angelegenheit zur Chefsache zu erklären“. Ein demokratisch gewähltes Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das vom Bundesrat bestätigt wurde. Und dann kommen die türkischen Verbände und sagen: „LOS, DAS GESETZ MUSS GEÄNDERT WERDEN, SONST SIND WIR SAUER!“? Den Verbänden stehen ebenfalls demokratische Mittel zu, um am Zuwanderungsgesetz Verbesserungen vornehmen zu lassen, beispielsweise der bereits geschriebene offene Brief an Bundespräsident Horst Köhler, mit der Bitte, das Gesetz nicht zu unterzeichnen, oder eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Die Verbände beklagen, dass zu wenig mit ihnen über das Gesetz im Vorfeld gesprochen wurde, sonst wären auch die verschiedenen Probleme vorher bekannt gewesen. Doch es sollte dem Gesetzgeber überlassen sein, wen er konsultiert. Sie sehen, beide Herzen schlagen sehr stark.

Erkan Arıkan ist Leiter der türkischen Redaktion beim Radiosender „WDR Funkhaus Europa“ und regelmäßiger Kolumnist für mikSes.

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