Spektrum 23 sose 2014t

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DAS LEBEN DER ANDEREN Medium zwischen Sender und Empfänger EIN BLICK IN DIE QUELLEN VON PROF. CORNELIS WITTHOEFFT

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ie Musikwelt feiert in diesen Tagen den 300. Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach (geb. 8. März 1714). Sollte man aus seinen zahlreichen Reflexionen über die Musik die bedeutendste wählen, so wäre es wohl jene ebenso viel zitierte wie letztlich wenig beachtete Forderung, die er im Kapitel Vom Vortrage seiner epochemachenden Klavierschule aufstellte: „Indem ein Musikus nicht anders rühren kann, er sei denn selbst gerührt, so muss er notwendig sich selbst in alle Affekte setzen können, welche er bei seinen Zuhörern erregen will; er gibt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestalt am besten zur Mitempfindung. […] Diese Schuldigkeit beobachtet er überhaupt bei Stücken, welche ausdrückend gesetzt sind, sie mögen von ihm selbst oder von jemandem anders herrühren; im letztern Falle muss er dieselben Leidenschaften bei sich empfinden, welche der Urheber des fremden Stücks bei dessen Verfertigung hatte.“[1] Man mag Bachs Forderung als uns Heutige nicht mehr betreffend diskreditieren, da sie, aus einer dem modernen Menschen angeblich fernstehenden „empfindsamen“ Epoche stammend, Musik nur auf der affektiven Ebene behandeln und sich eher die emotionsskeptische Haltung Ferruccio Busonis zu eigen machen wollen, der vor einem Jahrhundert in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst das Gefühl der „Dreieinigkeit“ von „Temperament“, „Intelligenz“ und „Instinkt des Gleichgewichtes“ unterordnete und, direkt auf Bachs Mahnruf Bezug nehmend, nun dafürhielt, „der Künstler“ dürfe, „wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden […] – soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel im gegebenen Augenblicke einbüßen“[2]. Bachs Verdienst bleibt es, hier in den Begrifflichkeiten der Ästhetik seiner Zeit, erstmals präzise die vermittelnde Position des Vortragenden zwischen Werk und Publikum innerhalb des „heiligen Dreiecks von Komponist, Interpret und Zuhörer“ verortet zu haben, das

[1] Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen, Leipzig 11753, Erster Teil, Das dritte Hauptstück: Vom Vortrage, § 13, S. 122 [Reprint: Leipzig 1958]. – Die Rechtschreibung wurde modernisiert. [2] Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Leipzig: Insel o. J. [1916], S. 19. [3] Benjamin Britten, On Receiving the First Aspen Award, London 1964, S. 20, 19; deutsche Übersetzung von CW. [4] Johann Friedrich Reichardt, Über die musikalische Ausführung (Exekution), in: Musikalisches Kunstmagazin, 1. Bd., 3. Stück, Berlin 1782, S. 15.

Benjamin Britten 1964 mit den Worten definierte: „Ein musikalisches Erlebnis [experience] benötigt mindestens drei Menschen. Es erfordert einen Komponisten, einen Interpreten und einen Zuhörer; und sofern diese drei nicht gemeinsam daran teilhaben, gibt es kein musikalisches Erlebnis.“[3] Heute kann uns an Bachs Forderung an den Vortragenden die Fokussierung auf das Publikum überraschen, die der für uns ebenfalls ungewohnt gewordenen kommunikativen Haltung seiner eigenen Klaviermusik entspricht. Selbst die geforderte Empathie des Interpreten gegenüber dem Komponisten wird von Bach letztlich der Wirkung der Musik auf den Hörer nachgeordnet und in deren Dienst gestellt. Diese primäre Ausrichtung auf den Hörer steht nebenbei durchaus im Einklang mit der Art der musikalischen Analyse, wie sie noch weit nach Bachs Zeiten gepflegt wurde; die sogenannte rhetorische oder Wirkungsanalyse, die das Kunstwerk aus der Perspektive des Erlebens darstellt, wurde erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die heute gängige, organische oder immanente Analyse abgelöst, die sowohl vom Interpreten wie vom Zuhörer abstrahiert. Im Anschluss an Bach stellte ein anderer Jubilar dieses Jahres, Johann Friedrich Reichardt (gest. 27. Juni 1814), ebenfalls den Interpreten in den Mittelpunkt seiner musikpädagogischen Überlegungen, wenn er, auch im Hinblick auf die zukünftige Musik, vehement für die Qualitätshebung von dessen Ausbildung eintrat: Wäre „die Ausführung, die sich doch lehren und lernen lässt, […] vollkommen oder doch besser, hörte man die Werke großer Meister ganz in ihrem Geiste ausführen, so wären alle Lehrbücher der Komposition […] fast entbehrlich. Die wahre Ausführung dieser Werke würde auf Ohr und Herz weit treffender und fruchtbarer wirken als alle durch den Verstand gefasste Regeln und der durch diese geleitete oder verleitete Blick in Partituren.“ Dabei verlangte er einen entsprechend hohen musikalischen Bildungsstandard des Interpreten: „Der ausübende Tonkünstler, der ein edles Werk ganz im Geiste des Komponisten ausüben soll, muss, die Erfindung ausgenommen, fast alle Fähigkeiten und Kenntnisse des Komponisten besitzen: denn er muss das Stück verstehen, seinen Zweck einsehen und fühlen, die Mittel kennen, wodurch sein Vortrag wieder verständlich und der Zweck erreicht wird.“ Reichardt vergaß nicht hinzuzufügen, dass der Ausführende zudem „die Fertigkeit“ besitzen muss, „alle jene Mittel mit Leichtigkeit und Sicherheit anzuwenden und auszuüben.“[4] Die Ausbildung der Kompetenz des Interpreten, „in den Sinn des Komponisten einzugehn und ihm nachfühlen zu können“, stellte Reichardt dabei – ein SPEKTRUM #23_ 57


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