X-Mas: Manuskript

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Manuskript & Arbeitsgrundlage MexxBooks - MachEinBuch B端cher gemeinsam schreiben

Ein Projekt der MedienFabrik Stand 8. Dezember 2010 Ausstehende Arbeitsschritte: Fertigstellung Geschichten/Profile, Korrekturlesen, Bildanreicherung, endg端ltiges Layout, crossmediale Formatierung


Die Geschichten (in Arbeit) Vorwort Huren, Derwisch & FengShui – Babylonische Weihnachten Weihnachten oder das Ende der Wünsche Die Meise und der erste Schnee Wundersame Weihnacht Der wundersame Adventkalender Engel gibt es nicht Das Mädchen mit dem goldenen Stein Glaubst du an ihn? Eine Schneeflocke für Sarah Maria und Jonas Am Ende der Welt Der Weihnachtsbaumkugeldieb Seniorenweihnacht


Der Weihnachtsopa Das groร e Weihnachtswunder Opas wundersamer Weihnachtsbaum David und der Stern Stille Nacht Der letzte Flug Winters Wunder Schneegestรถber Adventio


Die Autoren (in Arbeit)

@Badger West @Maria-Jolanda Boselli @Maria Fuhrig @Susanne Ulrike Maria Albrecht @Ingrid Kottig-Busche @Frank Lauenroth @Werner Leder @Anika Brust @T.G. Night @Sarah Schmitz @Richard Mรถsslinger @Martina Decker @Patricia Brigl @Nadja Close @Karl Plepelits @Andreas Seiller @Helga Licher @Andreas Bรถttger @Sophie Garbe @Dirk Ganser @Stephanie Wilhรถft @Monika Baus @Claudia van Es @Michael Saraska


Arbeitshinweise Wir freuen uns, dass wir hier unser erstes Buch präsentieren dürfen, das gemeinsam mit vielen Autoren über unsere Plattform MexxBooks – MachEinBuch geschrieben wurde. Da es ein Buch von Vielen ist haben wir den Kompromiss gewagt, den Text der Autoren soweit wie möglich zu lassen wie er ist und nur ihn nur soweit wie aus Sicht eines Buches unbedingt erforderlich anzupassen. Konzept, Format und Layout der Bücher werden sich in den vor uns liegenden Jahren und Jahrzehnten durch die neuen Medien wie Blogs und eBooks verändern. Diese Änderung wird auch das Druckformat betreffen, da Autoren und Verlage in Zukunft crossmedial denken und arbeiten müssen. Das bedeutet, dass sowohl der Inhalt als auch Konzept und Layout der Bücher für alle Medien und Distributionskanäle geeignet sein müssen. Wer jetzt aufschreit und die neuen Medien für den Untergang des Abendlandes bzw. der Buchkultur verantwortlich machen will, der sollte kurz innehalten und sich in Erinnerung rufen, dass sich die Schriftkultur seit ihrem Bestehen stets an die verfügbaren Medien angepasst und adaptiert hat. Wir haben das unglaubliche Glück, dass wir eine Zeitenwende erleben dürfen, wo neben das gedruckte Buch auch andere Formate und Medien treten. Da wir die neuen Medien noch nicht annähernd verstanden haben bedeutet das für Autoren wie für Verlage und Produzenten viel experimentelle Arbeit und die Notwendig, die entsprechende Aufgeschlossenheit dafür zu zeigen. Das vorliegende Manuskript bzw. die daraus resultierenden Bücher sind ein ebensolches Experiment. Wir wollen dabei nicht nur neue Formate und deren Integration testen, sondern auch neue Formen der Bezahlung von Content. Das Experiment geht also weit über das Manuskript und Buch hinaus in ein System von dem Autoren und Produzenten wie die MedienFabrik gleichermaßen existieren und leben können.


In den nächsten Tagen werden wir – nach Einlangen aller Autorenprofile – dieses Manuskript systematisch zu einem crossmedialen Buch [eBook, Print, Print-on-Demand] entwickeln. Zu diesem Zweck werden wir es noch mit entsprechenden Bildern und sonstigen optischen Elementen anreichern. Wir sind auf diesem Weg für jede Art Input dankbar. Sei es von den teilnehmenden Autoren oder interessierten Lesern. Anregungen, Kritik und Lob bitte entweder über MexxBooks – MachEinBuch oder einfach als Email am das.team@macheinbuch.de. Bisher hat uns das Projekt viel Spaß gemacht und dafür bedanken wir uns herzlich: Das Team MedienFabrik P.S.: Selbstverständlich läuft der Autorenwettbewerb parallel bis zum 24. Dezember 2010 weiter!


Huren, Derwisch & Fengshui Babylonische Weihnachten Badger West Ich liebe Weihnachts-Schreibwettbewerbe und sie lieben mich auch. In den vergangenen Jahren habe ich mich schon an Ausschreibungen in französisch, englisch, arabisch und natürlich in deutsch beteiligt. Ich kann eigentlich keine dieser Sprachen richtig oder womöglich gut (außer deutsch natürlich, ist ja klar, oder), however, Mitmachen ist alles und ich liebe das sprachliche Abenteuer. Beim ersten Mal verstand ich die Wettbewerbsbedingungen und Vorgaben für eine französische Ausschreibung nicht auf Anhieb. Glücklicherweise hilft das Internet in allen Fällen. Irgendwann hatte ich es kapiert. Ich durfte die Worte Amour, Joyeux Noël, Louvre, Paris, Escalier de Service=Hintertreppe (na, das Suchen hat gedauert) und Enfant Jésus auf keinen Fall verwenden. Stattdessen musste ich Rhinocéros, Putain=käufliche Dame, Savon=Seife, Visite Médicale=Arztbesuch sowie Arbre de Noël=Weihnachtsbaum, Boucher=Fleischer und Président in die Geschichte einbauen. Das war ganz leicht, und meine Story überzeugte die Jury. Ich bekam einen Sonderpreis als Autor der besten und einzigen ausländischen Einsendung. Die Auszeichnung beinhaltete drei Übernachtungen auf Montmartre am Fuß von Sacré-Cœur und eine Lesung in den Follies Bergeres. Das war genau der richtige Rahmen, weil meine Story auch dort spielte: Docteur Boucher, Gynécologue mit vielen Hobbies, hatte sich in der Beichtbox in Sacré-Cœur während eines hochnotpeinlichen Gesprächs mit seinem Seelsorger neben dem Beten diverser Ave Marias und Dutzender von Rosenkränzen noch etwas anderes eingefangen. Er sollte in der Weihnachtszeit die für jede Putain im Bezirk Montmartre vorgeschriebene Visite Médicale


unentgeltlich durchführen. Die Motive dieser Buße liegen bis heute im vorweihnachtlichen Dunkel und im Beichtgeheimnis verborgen. Sie hatten aber sicherlich nichts mit unbefleckter Empfängnis sondern eher mit deren befleckten Folgen in der täglichen Arbeit des Docteur zu tun. Gesagt getan, schon hing an der Kirche ein entsprechender roter Zettel. Die Situation eskalierte, als unmittelbar vor Weihnachten erst vereinzelt, dann immer mehr Damen in der Praxis von Dr. Boucher auftauchten. Allerdings kamen sie aufgrund einer Adressenverwechselung der Kirchensekretärin in die Praxis des gleichnamigen Zahnarztes – Dr. Boucher, Dentiste – Ich finde Schlachter übrigens einen unglücklichen Namen für einen Zahnarzt. Er war, wie ich dem interessierten Leser mitzuteilen wage, nicht der Bruder des, Gynécologue Boucher, sondern nur sein Schwager, der den Namen seiner Frau angenommen hatte. Der Autor fragt sich indes vergeblich, wie verzweifelt der Dentiste an seinem Geburtsnamen gelitten haben muss, um sich freiwillig nach der Hochzeit den Geburtsnamen seiner Frau „Boucher“ auf sein Zahnarztschild zu schreiben. Nun ja, es kam zu einem Tumult, weil die Damen die Idee hatten, ob der Arzt nicht nur ihre Erwerbsmulde, inspizieren sondern auch gleich ihre Zähne und Brücken mitreparieren würde. Es kam zur spontanen Besetzung des zahnärztlichen Entrees als dieser sich in Bezug auf Unterleibsinspektionen für interessiert aber dennoch unzuständig erklärte und für unentgeltliche Gebisssanierungen nicht zu erwärmen war. Daraufhin verwandelten die Damen den Weihnachtsbaum vor seinem Haus in ein brennendes Elend. Die Flics konnten das Chaos kaum stoppen, weil sie viel zu wenige waren. Warum so wenige? Ein Panzernashorn war aus dem Zoo ausgebrochen und die halbe Pariser Polizei war damit beschäftigt das Riesenvieh vom Präsidentenpalast weg in den Jardin du Luxembourg zu drängen. Vergeblich übrigens, das Rhino lief quer durch die Innenstadt, walzte mehrere Fahrradfahrer und Fußgänger platt und legte sich mit einem Sightseeing-Bus an. Danach, noch etwas benommen, wurde es mit List und schwerem Gerät in den Louvre und dort vorsichtshalber in den Fundus geschleppt. Museumsleute behalten eben alles, was sie erst einmal in den Fingern haben. Nun wieder zurück zum Montmartre und dem Tumult, dem brennenden Weihnachtsbaum von Dr. Boucher, dem Dentiste. Selten hatte man so viele Damen mit zur Besichtigung aufgerissenen Mündern in der Gegend gesehen. Die Polizei nahm vorsichtshalber alle -zig Anwesenden fest, darunter auch zwei jüngere Ordensschwestern, von denen die Flics vermuteten, sie wären nur


verkleidete Dienerinnen der Lust mit Spezialequipment. Man kenne das ja schon. Am nächsten Morgen konnten nur massive Drohungen der wutschnaubenden Ordensleiterin sie nach der durchlittenen Nacht befreien. Während dieser Nacht war… Aber darüber muss ich schweigen, denn das ist eine andere Geschichte. Die Massenfestnahme führte, wie jeder Verständige ahnen wird, zu einem unerfreulichen Mangel sonst üblicher Angebote in den Straßen zwischen Moulin Rouge und den Follies-Bergère. Das war die erste Geschichte. Da ich gerade von offenen Mündern sprach, äh schrieb, meine Lesung dieser Geschichte während der Abendvorstellung der Follies Bergeres war heftig. Die Zuhörer hatten den Text der Geschichte auf einem Zettel vor sich und lachten sich schon vor meinem Auftritt scheckig. Als ich meine Story dann vorlas, begannen die Ohnmachten, ob vor Lachen oder wegen meiner Aussprache, wer weiß? Ich musste die Lesung abbrechen, schon wegen der vielen Schuhe, die auf die Bühne flogen und die ich, angefeuert durch die Buh-Rufe, voller Enthusiasmus ins Dunkel des Zuschauerraums zurückfeuerte. Ja, ja, die Macht der Gewalt und der Sprache Ohnmacht! Ein langsam, am Stahlseil herabschwebender Kronleuchter voller barbusiger Damen, die durch geschmeidige Rotationsbewegungen des Oberkörpers die Aufmerksamkeit der Schuhwerfer von mir weg, hin zu ihren mit Neonfarben geschminkten, leuchtenden Brustwarzen zu lenken wussten, beendete meinen Ausflug in die Welt der französischen Unterhaltungsliteratur. English Fengshui Ich spreche englisch wesentlich besser als französisch, schon wegen all der Musiktitel und Computerausdrücke, die man heute so kennen muss. Also stand einem englischen WeihnachtsSchreibwettbewerb im darauffolgenden Jahr ja nichts im Wege. Die Liste mit den vorgeschriebenen Wörtern war sehr, sehr lang. 200 Wörter, 12 Namen und 40 Hauptstädte wurden verlangt, welche war egal; Hauptstädte meine ich natürlich, die Wörter und Namen waren nicht egal, logisch! Keine Bange, ich bin Kosmopolit und weiß mich auf der Landkarte und im Telefonbuch zu bewegen. Allerdings waren ein paar Ausdrücke dabei, die ich weder im Internet noch in der Bibliothek fand. Undefinierbare anscheinend esoterische Begriffe brachten mich ins Grübeln. Zuerst verzweifelte ich fast, dann fiel mir ein, dass einige meiner Nachbarinnen Esoteren, also völlig dem esoterischen


Wahnsinn Verfallene sind. Sie haben allerhand Zeug, wie chinesische Fahnen und Steine mit Löchern, seltsame Drahtgestelle und Wasserspiele in ihren Gärten. Eine hat mich mal gefragt, ob ich meinen Gartenzaun nicht wegreißen könne, „…von wegen dem Energiefluss und so…“. Wat `ne Quatsch! Die Energie soll doch durch die Latten fließen, außerdem geht in unserer Gegend sowieso alles bergab und nix bergauf. Die Esoteren fanden diese Physik eher langweilig, trotzdem halfen sie mir, allerdings waren sie sich nach einem nervenzerreißenden Grooming Tea bei mir einig, dass man in meiner Wohnung so überhaupt gaaaar nicht leben kann. „Der reinste Meditationsfriedhof, meine Liebe, findest Du nicht auch?“ Sollen sie quatschen, immerhin konnte ich infolge dieser Nachhilfestunde eine Mordsstory entwerfen. Schon die Skizze umfasste zwanzig Seiten. Hier ist die Telegrammversion: Ein junger Mann mit Persönlichkeitskrise und dem poetischen Namen Ethelbert flieht nach einem furchtbaren Weihnachtsfest mit der Familie aus den schottischen Highlands nach Kathmandu. „Im Winter nach Tibet, ist sicher auch kein Vergnügen.“ dachte er bei Wegfliegen noch. (Na ja, wie dem auch sei. Ich hatte mich bei den Organisatoren des Wettbewerbs erkundigt, ob Kathmandu bei ihnen als Hauptstadt von Tibet gilt, oder ob sie vielleicht lieber Peking haben wollten, wegen der chinesischen Besetzung versteht sich. Sie schlugen vor, stattdessen vielleicht lieber Lhasa zu verwenden, aber sie wären eher großzügig in der Hauptstadtfrage. OK, Glück gehabt.) Bei einem schon etwas senilen FengShui Meister für tibetanische und chinesische Begräbniskunst namens Grags-pa thob-pa nimmt Ethelbert Unterricht. Während der Ausbildung sind sie dauernd im guten alten Himalaja unterwegs. Er begegnet Dadul dem Menschenverderber, Gönpo dem Beschützer und Vaishravana dem nördlichen Himmelskönig sowie den anderen 96 FengShu-isten. Währenddessen erklärt sein Lehrer ihm nuschelnd in irgendeiner Sprache die Welt. Ethelbert schleppt den Alten von einem Kloster zum anderen die Eishänge rauf und runter. Dabei lernt er mehr und mehr auf sein Inneres zu hören, schon deshalb, weil ihm in der unglaublichen Höhe dauernd die Lunge pfeift wie ein Zeisig und sein geschundenes Herz hämmert wie Thors Hammer auf das Dach der Welt. Er vervollkommnet die Kunst, das Qi wirken, äh, fließen zu lassen. Ja, man kann ihn fast als erleuchtet bezeichnen. Die ganze Sache dauert nicht gerade sieben Jahre, aber immerhin einige Wochen.


Seine Karriere schnellt, als er das Flugzeug nach Westen besteigt, ebenso steil in die Höhe, wie der alte Airbus. Während der Rückreise nach Europa gestaltet er mal eben die Waschkabine des Flugzeugs nach FengShui-Prinzipien um. Danach fließt die Maschine fast über vor lauter Qi. Es gibt Ärger mit dem Purser. Viele Passagiere wollen sich nicht anschnallen um ihre Levitationsübungen nicht zu unterbrechen; Motto: Fliegen beim Fliegen. Außerdem riecht es grauenvoll aus der Toilette. In Paris angekommen, entdeckt er nach zahlreichen FengShui-Beratungen, wie leicht es ist, Geld damit zu verdienen. Nun erkennt er seine wahre Berufung. FengShui-Marketing! Kaum ein Jahr und rund 30 FengShui-Qi-Meister-Shows in kleinen Kaffs später, tingelt er durch die Welt – nur noch (40) Hauptstädte! (Bemerkung: Ich wollte auch darüber schreiben, dass er sich später sein kantiges Kinn FengShuimäßig operativ abrunden ließ, aber ich unterlasse es, um der plastischen Chirurgie nicht auch noch die harmoniesüchtige FengShui Gemeinde zuzutreiben.) Meister Ethelbert zieht also von Filmstar zu Filmstar, von Politikern zu Bank Chefs und zu diversen Oberbürgermeistern und versorgt alle mit seinem Produkt. Eine Einladung zum Dalai Lama schlägt er mit der Bemerkung aus: „Der versteht womöglich noch mehr vom Marketing als ich.“ So far, so good. Vielleicht sollte ich noch den showdown nachliefern. Es ist also wieder Weihnachten und Ethelbert ist auf Tournee. Im Big Apple erwischt es ihn. Bei einem Vortrag im Madison Square Garden verklickert er den Zuhörern seine FengShui Marketing Methode. Gerade ruft er ihnen sein aufmunterndes „Das Qi ist überall. Ihr müsst Euch ihm stellen! Weicht nicht zurück. “ Ein fataler Fehler. Ach, wäre er doch zurückgewichen! Sein persönliches Qi an diesem Tag ist gigantisch groß, grün, blinkt rhythmisch und ist schlecht befestigt. Der Weihnachtsbaum erschlägt ihn eher beiläufig und es gibt außer einem eingeschlafenen Inspizienten, der nun ewig weiterschlafen kann, keine weiteren Kollateralschäden. Als man seine Qi-entleerte Hülle im Body-Bag nach draußen bringt, stolpert der vordere Träger im Entree über eine Werkzeugtasche und Ethelbert rollt nur mit Glück nicht von der Bahre. Jemand montiert gerade unter einem blinkenden Weihnachtsstern eine Tafel mit der Aufschrift. Baulich umgestaltet nach FengShui


Und schon kam das 氣 / 气 (Qi) zurück! Darunter stehen die Namen der Sponsoren, alles Kollegen von Ethelbert. Er hat nichts gespendet. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Wie meine Geschichte, mittlerweile 80 Seiten lang, bewertet wurde? Gar nicht. Es gab aber einen extra Preis für das gewaltigste Epos das jemals bei ihrem Wettbewerb für weihnachtliche Kurzgeschichten eingereicht wurde. Außerdem sei es sehr schwer zu lesen für „Kurzgeschichtenleser“. Immerhin, Finnegan’s Wake galt auch lange Zeit als unübersetzbar, weil es schon in seiner Ursprungssprache kaum zu lesen ist. Ich empfehle jedem Arno Schmidts Meinung zu diesem Werk. Als Preis bekam ich auch noch Ulysses im Original, mit der Bemerkung „Viel Spaß beim Lesen“. Ich habe es verschenkt, was soll ich mich damit rumärgern! ‫“ وي ه ن شطن عم سان‬Sandige Weihnachten“ Später fand ich im Internet eine Weihnachtsausschreibung in Arabisch, meiner Lieblingssprache. Schon als Kind habe ich aus den Karl May Büchern massenweise arabische Wörter gelernt, natürlich nicht aus den Romanen mit Winnetou und so, ist ja klar! Die Aussprache habe ich später auf meinen Reisen nach Ägypten und Kuwait geübt und ansonsten frage ich meinen Nachbarn, Abu en Nasr. Der wohnt mir schräg gegenüber und hat nichts mit FengShui am Hut. Er steht aber auf Derwisch Tänze. Ein elender Krach ist das und er torkelt immer ein wenig wegen des dauernden Im-Kreis-Drehens. Die Ausschreibung war in arabisch und englisch. Es gab diesmal keine Vorgaben. Allerdings sollte man sich vorher zur Teilnahme anmelden und einige Unterlagen anfordern. Rasend schnell kam die Antwort: „Wie blöd muss man sein, um auf so einen Fake hereinzufallen? Zu glauben, dass der Fernsehsender Al-Dschasira einen Wettbewerb über die christliche Weihnachtsgeschichte ausschreibt!“ Sie hatten Recht, es hätte mir auffallen müssen, dass die Ausschreibung mitten im Ramadan erschienen war. Da läuft doch nix in Middle East. Sie drohten mir an, mich wegen unheilbarer Dummheit einzusperren, wenn es Allah gefiele mich jemals nach Syrien zu schicken. Oh Unglück, o Verhängnis! Das war also


eher ein Reinfall. Schade eigentlich, dass die Leute von Al-Dschasira so uncool waren. Ich hatte mir einen so schönen Titel ausgedacht: ‫“ وي ه ن شطن عم سان‬Sandige Weihnachten“ Toll oder? German Weihnachten Jetzt also doch noch zum Weihnachtswettbewerb in deutscher Sprache. Es kann ja eigentlich nichts mehr schief gehen. Wie waren noch gleich die Bedingungen? Titel: Weihnachten, das Fest ... Vorgegeben sind: Wachstum, Navigationsgerät, Blumenknospe, Pulswärmer und Feueralarm. Folgende Wörter sind verboten: Advent, Advent Weihnachtstag Weihnachtsmann Bescherung Geschenke Familie „Verdammt, schon wieder Formatierungsprobleme! Sorry!“ Als Entwurf stelle ich mir folgendes vor: Weihnachten, das Fest der Weihnachtsschreibwettbewerbe.


Seit er, der Bischof von Castrop oder so, sich in die Stimme des Navis im Auto seines Kollegen, dem Bischof von Rauxel, verliebt hat, wünscht er sich zu Weihnachten auch ein Navigationsgerät. „Eigentlich braucht er’s ja nicht. Er weiß ja eh’ scho wo’s lang geht und ich gleich gar.“ sagt sein Fahrer, ein eingefleischter Münchner. Rainer Maria, sein sogenannter Neffe, hat trotz schwindenden Wachstums bzw. heftiger Rezession und der Finanzkrise keine Kosten gescheut. Es gibt zu Weihnachten das Navi und einen Pulswärmer. Natürlich zwei vom Letzteren. Selbst ein Bischof hat ein Herz beziehungsweise zwei Pulse. Zusätzlich hatte er noch eine besonders schöne Blumenknospe aus Goldpapier - Christrose natürlich - für ihn ausgesucht. Das Licht fiel infolge weihnachtlicher Lichterkettenvollbeleuchtung ohne Ankündigung aus und er, ganz der christlichen Tradition folgend, war sofort mit Feuer zur Hand, nur um Licht zu spenden natürlich. Diese Spende führte zu einem stürmischen Feuerchen. Alle Papierblumen verbrannten. Das Feuer wurde gelöscht, aber leider hatte das Löschwasser die Pulswärmer durchtränkt, und beim Trocknen sind sie dann eingelaufen. Sie konnten höchstens noch als Schmuck für zwei Ablasskerzen oder zu Fesselspielen dienen. Später wurden während der Weihnachtsmesse, nach der Rainer Maria seine Geschenke übergeben wollte, das Navi und die Kollekte gestohlen. Nun stand Rainer Maria zu Weihnachten wieder ohne Alles da. Ohne Geschenke, ohne Glück und ohne Vater. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, sagte sein Onkel. Das also war mein Beitrag für den deutschen Weihnachts-Geschichten-Schreibwettbewerb. Ich hörte, die Jury zerstritt sich wegen der Bewertung meiner Story. Soll sie! Ich war mit dem 97. Platz sehr zufrieden. Gegen Herz-Schmerz-Christkind-Schmalz-Idyllen will ich ohnehin nicht anstinken, schon gar nicht zu Weihnachten. Ich freue mich gerade auf einen Weihnachts-Geschichten-Schreibwettbewerb in Tansania. Gerade habe ich erfahren, dass es jedes Jahr einen Contest für Geschichten in Kisuaheli gibt. Übrigens mein Vorname in Swahili bedeutet lautmalerisch „Er ist“. Mal sehen, was sich daraus machen lässt. Felis Navidad


© Badger West - Wer ist Badger West? Wer ist Badger West und was macht er so? Ich versuch mal ein paar Antworten: Da ist erstmal eine Menge Deutschland West, eine Portion Deutschland Ost, Küsse auf dem Eifelturm, Italien reichlich, England sehr englisch, Skandinavien sehr nüchtern, ein zersplittertes Resteuropa mit einem schönen Schwerpunkt auf Spanien und Portugal, zuviel USA, zuwenig Kanada, hinreichend Mexico, viel, aber doch zuwenig China, Hongkong, Korea und Malaysia, ein mich faszinierendes und zerfressendes Indien, gelassenes Thailand, wildes Namibia, wilderes Tansania, wüster mittlerer Osten, gefährlicher Jemen, wunderbares Syrien, Golfen in Kuwait, Hotelbrand in Israel und viele, viele andere unvergessliche Kulturen, Menschen, Buschleute, Ereignisse und Geschichten, ach und das darf ich nicht vergessen, die -40° Leere über der Erde. Das ist meine Welt. Ich begegne oft schwierigen Lebenssituationen fremder Menschen. Emphatisch mit Schwächeren zu sein, ist oft eine Last. Ich lade sie in Geschichten ab, erzähle meinen Freunden und meiner Frau davon und schreibe sie (meistens mit Technogedröhne auf den Ohren) in Romane und Kurzgeschichten hinein. Das Jammern nicht gewohnt, fern der Tröstungen von Göttern und so, hart auf naturwissenschaftliche Kenntnisse geeicht, spöttele, ironisiere, lästere und schreibe ich mich durchs Leben, was mich manchmal, ebenso wie die Bandwurmsätze, die ich liebe, aber nur selten ausleben kann, angeblich zu einer unerträglichen Nervensäge machen soll. Ich kann Steno, Schreibmaschine, einige Brocken arabisch, leidlich englisch, irgendwie spanisch und ach ja sächsisch aus Leidenschaft obwohl ich aus einer Gegend ohne Dialekt komme. Die Genderfrage? xy Was kommt nach dem Leben? Nix, na und! Zusammenfassend: Wenn man meine Geschichten liest, soll man alles sein, nur nicht gelangweilt; wenn ich das schaffe und außerdem ein klein wenig Polarisation, Provokation, Betroffenheit und


Nachdenken oder, wie in der Weihnachtsgeschichte einfach nur Spaß am Blödsinn erzeuge dann bin ich zufrieden. Oder sogar Glücklich?


Weihnachten oder das Ende der Wünsche Maria-Jolanda Boselli München, Freitag, 22.12.2006 Mara sitzt vor einem leeren Blatt. Nur die Überschrift sticht in blasskopiertem Schwarz hervor. „Wünsche, die nicht mit Geld zu erfüllen sind“. Langsam schleichen sich graue Schatten ins Zimmer. Sie stoßen sich von den Wänden ab und wandern über den Teppich auf Mara zu. Von draußen kriecht müdes Tageslicht herein. Bricht sich in den Wassertropfen, die am warmen Fensterglas hinunter rinnen. Wieder vergessen, die Heizung abzudrehen, gestern Abend. Mara ist mit Kopfschmerzen aufgewacht, noch bevor Wham im Radiowecker sie an das letzte Weihnachtsfest erinnerte. Das war um fünf. Seitdem bemüht sie sich, etwas zu Papier zu bringen, das Herrn Amsel davon abhalten würde, ihr eine Fünf reinzudrücken. Sie steht im Augenblick in Deutsch auf 4,5. Mit der 5 in Mathe reicht das locker für einen blauen Brief. Das letzte, was sie jetzt brauchen kann. Ihre Eltern würden sie schlachten. Vorausgesetzt, sie würden Notiz davon nehmen. Wovon sie nicht ausgehen kann, denn jetzt in der Hektik vor dem Jahresabschluss haben sie ganz andere Sachen im Kopf. Weihnachtsessen mit den besten Kunden, Projektberichte, Bonusausschüttung für die Mitarbeiter, Bilanzen. Mara lässt die Blicke tanzen. Auf den Lichtbahnen, die die Wintersonne in ihr Fenster gießt, hinaus auf die magere nebelweiche Landschaft. Hinüber zu den Bergsilhouetten, blaue Scherenschnitte auf rosagelbem Grund. Eigentlich lebe ich das Leben einer anderen. Denkt sie. Ich bin wie eine Anziehpuppe. Schlüpfe jeden Morgen in die Tätigkeiten, die meine Eltern mir zurechtgelegt haben wie eine Garderobe. Gymnasium, Tennis, Skifahren am Gletscher und im


Sommer Sprachkurs in Paris. Hinter all den bunten Hüllen friert die echte Mara. Sie würde sich am liebsten verkriechen unter den flüchtend hellen Wolkendecken. Sie setzt sich ans Klavier. Noten perlen auf die Tasten, formen sich zu Akkorden, klingende singende Fortsetzung ihrer Gefühle…. München, Freitag, 22.12.1758 Aurelius zuckte zusammen. So lange hatte er nachgedacht. So viele Töne ausgewählt und wieder verworfen. Und plötzlich war da um ihn herum ein Rauschen, eine völlig andere Art von Musik, in der Emotionen wetteiferten, sich Harmonien aneinander rieben und sich gar nicht auflösen wollten, Melodien, die das Leben nachzuzeichnen schienen. So lebendig war die Melodie, dass er meinte, die Noten greifen zu können. Sie tanzten um ihn herum mit schweren schwarzen Köpfen und dünnen Beinchen. Immer, wenn er sie zu erhaschen suchte, entglitten sie ihm zwischen den Fingern. Aber jetzt! Nein! Wieder griff er ins Leere, und seine Faust landete krachend auf dem Tisch. Durch den jähen Schmerz erwachte Aurelius aus seinem Traum. Benommen schaute er sich um. Die Kerze neben ihm war abgebrannt und hatte einen hässlichen Rand in den Tisch gekerbt. Dafür würde ihn die Mutter schelten. In der Kammer war es bitterkalt. Dickes Eis verkrustete das schlechte Fensterglas, und er konnte nur ahnen, dass sich draußen ein kalter Wintermorgen in die Nacht geschlichen hatte. Der Rücken taub, die Finger klamm. Kein Wunder, dass er die Noten nicht hatte einfangen können. Die Noten! Aurelius starrte auf das weiße Blatt Papier. Leer. Immer noch leer! Und dabei hätte längst das Eingangslied für die Christmette fertig sein sollen. Was sein Lehrer dazu sagen würde? Und seine Mutter erst. Seit des Vaters Tod war es Aurelius, der für das magere Auskommen der Familie zu sorgen hatte. Es war eine Gnade gewesen, mehr als eine Gunst, dass er die Stelle seines Vaters als Kantor der Kirche St. Johannes Nepomuk erhalten hatte. Eigentlich war das keine sehr verantwortungsreiche Stelle, St. Johannes, von den Asambrüdern vor noch nicht allzu langer Zeit erbaut, war eine Privatkirche. Aber wer weiß aus welcher Laune heraus hatte der Kurfürst von Bayern, Max Joseph III, beschlossen, die Christmette ausgerechnet in dieser Kirche zu besuchen. Und der Kantor, also er, Aurelius, sollte eigens zu diesem Anlass ein besonders schönes Orgelstück komponieren. Woher Max von den besonderen Qualitäten des jungen Musikus gehört haben konnte – Aurelius konnte es sich ebenso wenig vorstellen wie sein Lehrer. Vielleicht war es seine Nähe zu den Jesuiten, die ihn für Neues


begeisterte. Vielleicht hatte er im Vorbeigehen – die Residenz war ja nicht allzu weit weg – den jungen Organisten dabei belauscht, wie er unerhörte, ja verbotene Klänge in die gängigen Themen mischte. Große Septimen zum Beispiel oder übermäßige Quarten, so genannte Teufelsinterwalle. Nun – er würde enttäuscht werden, soviel stand fest. Denn es war zwei Tage vor dem Heiligen Abend, und noch hatte Aurelius keine Note aufs Papier gebracht. Verzweiflung griff mit eisiger Hand nach seinem Magen. Oder war es der Hunger? Gleichwohl. Denn wenn er nicht mit einer außergewöhnlichen Komposition aufwartete, würde auch die Vorratskammer der Familie leer bleiben. Aurelius war Hunger gewöhnt, und wenn er sich in einem seiner Zustände befand, wie die Mutter es nannte, auf seltsame Weise erschöpft, die Gedanken wie Schneestürme im Kopf, war er so erfüllt von der Musik, die in ihm tobte, dass er ohnehin nicht ans Essen dachte. Aber die großen Augen seiner Schwester Theresia, der das abgetragene Wollkleid an den dürren Rippen klebte! Der flehende Blick des kleinen Ferdinand, der sein mageres Händchen ausstreckte und darauf vertraute, dass der große Bruder ihm – nein, kein Zuckerplätzchen – nur ein kleines Stück trockenes Brot hineinschob! Genug! Aurelius stieß den Schemel so heftig zurück, dass er mit lautem Gepolter auf die Dielen schlug. Ohne auf das erschrockene „Aurelius, was ist dir?“ seiner Mutter zu achten, warf er den dünnen Mantel seines Vaters um die Schultern, riss die Kammertür auf, polterte die schrägen Stiegen hinunter und war auch schon auf der eisigen Gasse. „Mara, du musst in die Schule!“ Die Stimme ihrer Mutter, beiläufig zwischen zwei Schluck Latte Macchiato und einem Lidstrich nach oben geworfen, verfehlt ihr Ohr und duckt sich unter der letzten Dissonanz, die Maras Finger aus den Tasten schlagen. So. und So. Mara hat keine Ahnung von Terzen und Quinten, kann kaum eine Fuge von einer Gigue unterscheiden und will das auch gar nicht. Die Töne fließen aus ihr heraus und beginnen ein eigenes Leben zu führen. Ihr wirkliches Leben. Sie jubeln, selten genug, Maras Lachen hinaus auf die staunenden Straßen. Sie klagen, viel zu oft, Maras Leid hinein in die leeren Zimmer und Flure. „Mara Kind du spinnst. Warum gehst du nicht mal wieder shoppen mit Lisa und Marie? Geh kauf dir was Schönes, dann geht’s dir gleich wieder besser.“ Aber geht es ihr schlecht? „Mara, Mädchen, du gefällst mir nicht. Nächste Woche machst du ein Praktikum in der Agentur, da kommst du unter Leute und machst was Gescheites, statt dich in deinen Träumen zu verlaufen.“ Aber sie kennt den Weg, geht nicht in die Irre. „Mara! So, ich bin weg, Schatz. Schönen


Tag. Geh doch mit Lisa ins Kino und kauft euch was Feines zum Essen. Was macht eigentlich Marie? Es wird spät heute Abend, ist nicht schlimm, oder? Amüsier dich!“ Mara schaut hinaus in den Wintermorgen. Feiner Schneestaub glänzt goldweiß im Sonnenlicht. Sie klappt das Deutschheft zu, schließt die Augen. Sofort springen die Töne aus ihrem Versteck zwischen Herz Bauch und Verstand. Tanzen einen wilden Reigen auf ihrer zu Notenlinien gekräuselten Stirn. Sie streckt die Arme aus, beginnt sich zu drehen. Schnell immer schneller. Stampft mit den Füßen, klatscht in die Hände, biegt wiegt sich im Rhythmus ihrer eigenen Melodie. Hinaus aus dem Zimmer, die Treppe hinunter durch die Eingangstür. Aurelius fröstelte. Der kalte Nordwind schlug ihm mit eisiger Faust ins Gesicht, und schon nach wenigen Schritten waren seine Finger mit zartem Lapislazuliblau überzogen. Obgleich noch früh am Morgen, herrschte auf der Gasse schon reges Treiben. Maultierkarren, hoch beladen mit Kartoffeln, Rüben und Speck ratterten auf den Markt. Töpfer schleppten bunt bemalte Krüge herbei. Botenjungen eilten mit Päckchen und Paketen von Haus zu Haus. Aus einem Fenster hoch oben in einem prachtvollen Palais flüchteten abgerissene Melodienfetzen und warfen verlorene Töne hinaus in die Winterluft. Violine und Cembalo, ein dünner Sopran. Kinder übten fürs Hauskonzert. Aus den Backstuben schwoll aromatischer Rauch, es duftete nach Anis und Koriander, gebranntem Zucker und Zimt. In der Ratskellerküche am Ende der Gasse drehte sich schon seit dem frühen Morgen ein fetter Ochse am Spieß. Saftiger Bratendampf stieg Aurelius in Augen und Nase, dass ihm bald schwindelig wurde. Und jetzt wirbelten auch noch hastige Schneeflocken vom fahlen Wolkenhimmel herab, winzige Kristalle setzten sich auf seine Wimpern, salzig liefen sie seine Wangen hinunter. Wie gerne würde er seine Geschwister hierher führen. In samtenen Mäntelchen, mit dicken Fellmützen und warmen Stiefeln. Nicht zum ersten Mal wünschte Aurelius sich in eine andere Zeit, schlug Kapriolen in die Zukunft, nicht nur in die, die er vor sich hatte, nein viel weiter, vielleicht ein Jahrhundert und mehr. Konnten dann alle lesen und schreiben, gab es zu essen auch für die Kinder der Armen, liefen die Männer noch mit den Kniebundhosen herum, die er so affig fand? Führte der Tischler den Hobel noch wie heute, trat die Großmutter das Spinnrad noch? Er riss sich aus dem Grübeln. Wie die Zukunft auch aussehen mochte: MELODIEN WAREN EWIG, zumindest ihre Idee, ihre Grundkonzeption, wie die Sätze des Euklid. Aurelius rannte die Gasse hinunter, über


den Platz und hinüber zur Kirche. War mit einem Satz im dunklen Raum und die Treppe hinauf an der Orgel. Er griff in die Register. Mara läuft die Straße hinunter. Kaltgraues Band. Menschenleer. Erst am S-Bahnhof häufeln sich Menschen aneinander. Buntbemützt, warm verpackt glänzen in ihren Augen schon die erwarteten Freuden. Mandeln und Punsch auf dem Weihnachtsmarkt. Geschenke kaufen in der glitzernden Welt zwischen Kunstschnee und Lichterketten auf den Plätzen der Innenstadt. „Mara, huhuu!“ Da hinten steht Lisa. Winkt herüber, Handy in der Hand, da klingelt es und sie dreht Mara den Rücken zu. Glück gehabt. Obwohl sie heute noch nichts gegessen hat, ist Mara so satt wie nie. Vorweihnachtssatt. Geschenkesatt. Erwartungssatt. Nicht zum ersten Mal wünscht sie sich in eine andere Zeit, in der alles einfacher ist. In der nur zählt, was sie will und was sie kann und nicht, was sie sollte und soll. Ob sie das Handy vermissen würde und den Computer, das elektrische Licht und die Mikrowelle – keine Ahnung. Aber sie weiß, was sie sich wünscht. Mehr Zeit für sich selbst. Mehr Ruhe, um dem nachzuspüren, was da in ihr wirbelt und wühlt. Sie schaut der S-Bahn entgegen, die aus dem weißen Nichts auftauchen muss. Schneeflocken taumeln aus dunklen Winterwolken, Mara streckt ihnen die Zunge entgegen und lässt sie schmelzen wie zartes Festtagsseis. So sollte Weihnachten schmecken!, singt es aus ihr heraus. Klänge und Ahnungen fremder Melodien vermischen sich mit den Adventsgerüchen um sie herum, Mandeln und Bratapfelduft, Zedernrauch aus hellen Kaminen, Glühweinluft und Zigarettenqualm von denen, die nichts wissen wollen von rauchfreien Bahnsteigen. Warm steigt es in Mara auf, mächtig und wild. Ein Lied ohne Noten. Ein Klang ohne Ton. Aurelius sitzt an der Orgel. Bachs düsteres es-moll-Präludium steht noch auf dem aufgeklappten, unaufgeräumten Notenständer. Aber gerade jetzt hört er eine ganz andere Musik aus sich heraus. Sie klingt, als käme sie von ganz weit her. Keine 5 stimmigen Fugen, bei denen die einzelnen Stimmen isoliert gegeneinander spielen wie Kämpfer in einer abgegrenzten Arena. Dies hier ist anders, viel freier, ohne Form, mit perlenden Melodien und neuen Harmonien. Keine Stimmen, nur noch ein wildes Rauschen von Tönen. Etwas, das noch über die heitere Musik dieses Wunderkomponisten aus Wien hinausgeht. Aurelius gibt sich den Tönen hin, die auf ihn einwirbeln. Er spielte die Intervalle, die


eigentlich verboten sind, die Septimen und Quarten. Fensterscheiben würden dabei zerspringen hatte sein Lehrer ihm angedroht. Aurelius spielt die Terz dazu, und schon klingt es viel besser, ohne Auflösung. Oder ist dies gar eine neue Auflösung? Aurelius jubelt. Plötzlich ist sie zum Greifen nah, diese Zeit, in der jeder Ton mit jedem kombiniert werden kann. Mara ist ausgestiegen. Im dichten Schneetreiben geht sie die Sendlinger Straße hinunter Richtung Asamkirche. Aus den Läden schallt schrille Weihnachtsmusik und verklebt ihre Ohren mit einem zuckrigen Brei aus Glöckchen und falschen Harmonien. Rücksichtslos rempeln bepackte Männer sie an, eine Frau stolpert mit zu hohen Hacken im frischen Schnee, flucht, ein kleines Mädchen schreit nach seiner Mama, die es im Einkaufstrubel vor irgendeinem Schaufenster vergessen hat. Das Schimpfen und Fluchen und Schreien prallt an Mara ab. In ihr tobt ein Orkan aus anderen Akkorden. Mit beiden Händen stößt sie das Kirchenportal auf. Und bleibt wie angewurzelt stehen. Wie geht das? Ist es jetzt endlich soweit? Hat sie ihr Inneres nach außen gestülpt? Steht sie in ihrem eigenen Spiegelkabinett aus magischen Tönen? Oben an der Orgel greift jemand in die Tasten. Spielt ihre eigene, traurige, sentimental-melancholische Melodie. Aurelius ist in ganz in seinen „Zuständen“ gefangen. Er greift in die Tasten. Spielt eine fremde, traurige, sentimental-melancholische Melodie. Er spielt, spielt sich mit geschlossenen Augen in die ersehnte Zukunft. Visionäres A-Dur wie blaues Licht, erdenes e-moll, und dann plötzlich eine Tonart, die einen Sturm an Gefühlen darstellt und weckt: Nur einen Halbton entfernt findet er die Tonart für diese Melodie des Wehmuts und der Zukunftssehnsucht. Der Sturm kommt zur Ruhe. Mit nur einer Hand tastet er sich vor, Note für Note. Geht einen neuen Weg, der kein fremder mehr ist. Er schaut nicht einmal auf, als eine schmale Hand neben ihm begleitend über die Tasten schreitet. Zum Heiligen Abend, dem Ende der Wünsche, dem Ziel aller Träume.


© Maria-Jolanda Boselli - Wer ist Maria-Jolanda Boselli? Name: Marie Nachname: Bastide Passion: Schreiben Profession: Journalistin und Autorin Genres: Erzählungen, Krimis un, Reportagen und soziale Literatur zu aktuellen Themen Publikationen: Ambiente, Wohn!Design, Eltern, Handelsblatt, brigitte.de, Sozialcourage, Nymphenspiegel, Die neue Isar u.a. Aktuelle Projekte: „SMS-Gedichte und –Krimis,“ „Migration oder Integration?“, „So sieht Pflege aus“ Wohnort: München Lebensmittelpunkt: Italien Mein Alias verbindet mich mit meiner Großmutter, einer nur scheinbar angepassten Professorengattin, die im frühen letzten Jahrhundert feministische Romane schrieb. Ich liebe Krimis und interessiere mich für die Menschen an und in sozialen Brennpunkten. Meine Neugier ist nicht nur berufsbedingt, doch so kann ich ihr hemmungs- und gewissenlos frönen. Ich male mit Worten Geschichten, die, im besten Fall, mit allen Sinnen erlebbar werden. Da ich aus dem Alltag schöpfe, freue ich mich ebenso über Anregungen von Leserinnen und Lesern. Weblog: www.mariebastide.wordpress.com Twitter: http://twitter.com/semisappho Facebook: Maria-Jolanda Boselli


Die Meise und der erste Schnee Maria Fuhrig Fritz war eine kleine freche Kohlmeise die aber doch der ganze Stolz der Eltern war und leider auch der einzige Nachwuchssprössling aus dem Hause Meiserich. Dies fiel jedoch gar nicht auf, denn Fritz beschäftigte seine Eltern und die gesamte Nachbarschaft so sehr, dass ein weiterer Sprössling der Familie, alle nur noch in den endgültigen Wahnsinn getrieben hätte. Der kleine Pipmatz wohnte mit seinen Eltern in einer ruhigen Gartenanlage, oder sagen wir besser es wäre eine ruhige Gartenanlage wenn Fritz nicht wäre. Doch er war da und es gab immer so unendlich viel immer zu entdecken und kennenzulernen, dass ein Tag fast nie ausreichte und Fritz am Abend immer ganz traurig wurde weil er nun nicht mehr raus durfte sondern bei Mama und Papa Meiserich im Busch bleiben musste. Unter uns gesagt störte es Fritz auch nur gerade so lange wie er wach war denn kaum wurde es dunkel, war unser kleiner Pipmatz so dermaßen erschöpft, dass sein Gepiepe recht schnell ein Ende fand und er in die Welt der 1000 Träume entschwand um neue lustige Abenteuer seiner Fantasie, zu erleben. Eines Tages aber wachte Fritz schon sehr früh auf und wunderte sich warum es im Busch denn noch gar so dunkel war denn auch sein Vater hockte bereits abflugbereit auf dem Ast und beäugte Fritz mit einem geheimnisvollen verschmitzten Lächeln. Mama Meiserich war nirgends zu sehen und so hopste er neben seinen Vater und fragte ihn nach dem Grund warum alle schon wach wären obwohl es doch so dunkel war. Vor allem weil er auch schon lautes Gepiepse der Nachbarn hören konnte die angeblich schon draußen herumflogen. Papa Meiserich war eine gemütliche Meise und hatte keine sichtliche Eile die Neugierde von seinem Sohn zu nehmen. Es schien ihm eher zu gefallen denn er fragte nur ob Fritz denn so gar nicht wüsste was


los sei und dass er es ihm aber auch gar nicht sagen wollte. Fritz wurde unruhig. Er wollte wissen was in dieser Welt grad total verkehrt war und hopste an seinem Vater vorbei in Richtung weite Welt oder sagen wir einfach in Richtung Blätterwerk das aber nur noch karg und vereinzelt an den Ästen hing. Und je näher er kam umso unheimlicher wurde ihm denn eine weiße Wand wurde sichtbar und nicht der gewohnte Ausgang. Was war dies nur und wie konnte er nun nach draußen? Warum waren alle draußen nur er nicht? Warum half ihm sein Vater nicht und ….. Das Problem erübrigte sich recht schnell denn Vater Meiserich war auch schon zur Stelle und sagte zu seinem Sprössling er solle mitkommen. Im unteren Geäst dann endlich die erlösende Öffnung und Fritz freute sich so sehr, dass er einfach drauf zu hopste und schwups…. in die Luft flog um dann fast wieder mit einem der Nachbarn zu kollidieren was er aber zum Glück grad noch rechtzeitig verhindern konnte. Erst jetzt bemerkte er dass es ja regnete… nein, kein Regen…. es war nicht so hart und nass sondern weich und…. Weiß! Auch am Boden und über seinem Wohnbusch war eine weiße Decke die aussah wie die Wolken die doch eigentlich über ihm waren und nicht unter ihm… Was um alles in der Welt war das? Es schien auch jetzt alles so hell und nicht wie vorhin im Busch unter der weißen Decke… Das musste Fritz sich genauer anschauen und lies sich erst einmal auf einem Ast nieder der zum Glück frei von dem weißen Zeug war und von dem aus er alles begutachten konnte… Doch viel Zeit zum Grübeln blieb nicht, denn Vater Meiserich war schon an seiner Seite und grinste verschmitzt. „Heute nicht so quirlig wie sonst junge Meise? Überrascht dich der Schnee?“ Schnee, das war also der Schnee von dem Theo sein Nachbar immer erzählt hatte und den er doch so gern einmal kennenlernen wollte und der nie kam… Jetzt also wo er geschlafen hatte war er gekommen und er hatte es gar nicht bemerkt… Das hieße aber dann, dass er sehr kalt sein müsste, denn Theo hatte ihm erzählt dass man davon kalte Füße bekäme und man auch darin einsinken würde… Ein unheimlicher Gedanke der es aber wiederum Wert war auszuprobieren und so rief er seinem Vater schnell zu, dass er weg müsse und schwups war der freche Fratz in der Luft.


Wie war die Luft so klar und wie lustig wenn man versuchte durch die Schneeflocken hindurch zu huschen doch plötzlich merkte Fritz was es gar nicht mehr gab und was ihn furchtbar störte. Er hatte nämlich Hunger und das war grad etwas was sich als schwierig erweisen könnte da die Welt in ein weißes Tuch gehüllt schien und jegliche Köstlichkeiten sich leider darunter befanden. Das war gar nicht gut und schnell war er wütend auf den Schnee. Außerdem fand er heraus, dass er wirklich kalt war und vor allem, dass man darin einsackte sobald man einen Fuß vor den Anderen setzte. Er brauchte ein Plätzlein das keinen Schnee hatte und fand dies auch unter einer Tanne, doch wie er so auf dem Boden umherhüpfte, ward dieser ganz hart und undurchdringlich. Aber wie sollte er dann an etwas Essbares kommen wo er doch so einen riesen Hunger hatte. Was machten denn die Anderen? Theo! Er musste unbedingt zu Theo, denn der würde sicher wissen was zu tun sein… Sobald der Entschluss gefasst war flog er los und dies wieder in so einem affenzahn, dass er erneut wieder sämtliche Nachbarn zu schimpfendem Gepipse veranlasste, dies aber in keinster Weise beachtete weil er hatte ja Hunger und musste schnellstmöglich zu Theo. Zum Glück war Theo da wo er immer zu finden war, nämlich auf der Stange in einem Gemüsebeet doch bei seinem abrupten Sturzflug wäre unser kleiner Fritz beinahe ausgerutscht da die Stang, wie sollte es anders sein, vereist war und Fritz dies natürlich noch nicht kannte. Theo ein älterer Knabe wäre ebenfalls beinahe von der Stange geflogen, konnte sich aber gerade noch in die Lüfte retten um dann wieder gemächlich sich auf seinen Stammplatz niederzulassen. „Theo Theo ich hab Hunger! Der blöde Schnee hat alles zugedeckt und jetzt knurrt mein Magen ganz fürchterlich!“ Theo lachte daraufhin und Fritz wurde erneut sauer, auf den Schnee und jetzt auch noch auf Theo! Was ihm vor kurzem noch die größte Freude brachte war nun ein ungemütlicher Morgen geworden und er wünschte sich so sehr die Sonne herbei damit er wieder was zu fressen bekam. Doch Theo ließ den armen Pipmatz nicht länger warten. Er hieß ihn mitkommen und flog zu den Häusern wo auf einem Balkon köstliche Nüsse und Äpfel lagen auf die sich Fritz sofort stürzte. Oh war das gut und sofort verschwand wieder jeglicher Ärger und hervor kam erneut die Freude auf den Tag der doch so viel Neues mit sich brachte.


So hopste er lustig über den Balkon, ärgerte Frau Amsel und Ihren Herrn Gemahl und scheute nicht davor zurück Ihnen die guten Nüsse vor dem Schnabel weg zu stibitzen. Doch was war das? Hinter einer Pflanze auf dem Balkon befand sich ein großer Haufen an Rosinen die er nur zu gut kannte da sie diese in den nahegelegenen Weinbergen vor nicht allzu langer Zeit immer gezupft hatten und die so furchtbar gut und süß waren. Doch als er eine davon nehmen wollte, ging es nicht und er hackte mit seinem Schnabel immer gegen etwas durchsichtiges das ihm verbot sich eine Rosine zu picken. Was unser kleiner Fritz nicht wusste war das, dass die Rosinen sich in einer Tüte befanden und er andauernd gegen diese versuchte anzukämpfen. Doch schon bald gab er den Kampf enttäuscht auf und hüpfte wieder weiter über den Balkon. So verging ein ganzer Tag und Fritz machte noch Bekanntschaft mit einem Eiszapfen gegen welchen er im Flug fast gestoßen wäre weil er ihn nicht gesehen hatte, mit gefrorenen Blumen die nach nichts schmeckten und einer Katze die aber zum Glück hinter der Scheibe war und sich furchtbar darüber ärgerte, dass Fritz sie auf der anderen Seite der Scheibe ärgerte und lustig vor ihr rumhopste während sie alle Krallen ausfuhr. Als er endlich in den heimatlichen Busch zurückkehrte, war es schon recht duster geworden und seine Eltern wollten ihn schon suchen lassen. Aber Fritz war so müde vom ganzen Tag, dass er dies nur noch halb mitbekam und seine Eltern ihn schließlich in Frieden ließen und sich über andere Dinge unterhielten. Und so hörte Fritz seinen Vater nur noch sagen: „Es ist ja nun bald Weihnachten“ und so sehr er auch gern gefragt hätte was Weihnachten ist, so war er viel zu müde vom Schnee und schlief alsbald auch ein ohne zu wissen was Weihnachten bedeutete. Doch er träumte vom Schnee, von Theo, den Rosinen und der Katze und bald würde er auch erfahren was Weihnachten war, ganz ganz bald… © Maria Fuhrig – Wert ist Maria Fuhrig

Maria Fuhrig, geboren 1980 in München, lebte seit früher Kindheit in Ländern wie Belgien, England und Österreich. Sie studierte Tourismus Management in England und zog nach Abschluss des Studiums wieder zurück in ihre Heimatstadt, wo sie heute ihrer großen Leidenschaft, dem Schreiben, nachgeht. Aufgewachsen in einem Haus von Germanisten, Anglisten und Historikern, kam Maria


Fuhrig schon früh in Kontakt mit Literatur. Sie liebte insbesondere die der großen französischen Schriftsteller. Bereits als Kind wurde ihr eine Karriere als Schriftstellerin nahe gelegt und so begann Sie bereits in frühen Jahren erste Gedichte zu verfassen, von denen auch 2010 das erste mit dem Titel „Sehnsucht“ in der Ausgabe „Ausgewählte Werke XIII“ der Bibliothek für deutschsprachige Lyrik erschienen ist. Immer auf den Spuren ihrer großen Vorbilder, wie Dumas, Rilke, Goethe, Schiller und vieler anderer, wird sich Maria Fuhrig weiterhin dem Schreiben hingeben um Gedanken, Träume und Eindrücke zu Papier zu bringen und an Ihre Leser weiterzugeben.


Wundersame Weihnacht Susanne Ulrike Maria Albrecht Mit einem lauten Knall schlug Sebastian die Tür hinter sich zu. Wütend warf er die Jeansjacke in die Ecke seines Zimmers und ließ sich traurig aufs Bett fallen. Während er mit den aufsteigenden Tränen kämpfte, schaute er auf den beleuchteten Messingstern. Wie der Stern über Bethlehem strahlte dieser elektrisch beleuchtete Stern aus blank poliertem Messing in seinem Fenster. Seine Mutter hatte ihn dort angebracht und täglich steigerte er seine Vorfreude auf Weihnachten. Morgen war Heiligabend und draußen fielen sogar die ersten Schneeflocken, alle Voraussetzungen für ein wunderschönes Weihnachtsfest waren gegeben, nur seine Mutter hatte ihm die Freude daran gründlich verdorben. Gerade heute beim Plätzchen backen hatte sie ihm mitgeteilt, dass er sich schon einmal mit dem Gedanken anfreunden müsse, dass sein Geschenk in diesem Jahr bei Weitem kleiner ausfallen würde als gewünscht. Bei dieser Ankündigung hatte sie Tränen in den Augen und erklärte ihm, dass sie als allein erziehende Mutter, deren Arbeitgeber die diesjährige Weihnachtsgratifikation gestrichen hatte, ganz besonders sparen müsse. Sebastian wünschte sich ganz weit weg zu sein und wollte damit all diesen Ungerechtigkeiten, die ihm jetzt widerfuhren, entfliehen. Aber allem voran wollte er es seiner Mutter heimzahlen, ihr einen anständigen Denkzettel verpassen. Mit seinem Verschwinden würde er ihr sogar einen großen Dienst erweisen. Denn ohne ihn würde sie bestimmt viel besser zurechtkommen und müsste nicht jeden Cent zweimal umdrehen, dachte er zornig und erhob sich zu allem entschlossen von seinem Bett. Wenn er erst einmal nicht mehr da wäre, dann würde sie die Sache mit dem Geschenk und dem Sparen mehr als bitter bereuen. Sebastian setzte sich an seinen Tisch, nahm ein Blatt Papier und fing an zu schreiben. Obwohl er noch nicht eingeschult war, konnte er bereits lesen und schreiben, was er seiner Mutter zu verdanken


hatte und ihm jetzt zugutekam. Er wollte dorthin, wo sich der Weihnachtsmann das ganze Jahr über aufhielt mit all den bunten, schönen Sachen und Geschenken, die so groß waren, dass sie gar nicht eingepackt werden konnten. Solange er seinen Wunsch persönlich an den Weihnachtsmann richtete, kullerten seine Tränen aufs Papier und vermischten sich mit der Tinte. Nachdem er fertig geschrieben hatte, faltete er das Stück Papier zu einem Flugzeug, öffnete das Fenster mit dem Stern von Bethlehem und ließ es durch den dunklen Nachthimmel mit all den unzählbaren, lautlosen Schneeflocken gleiten. Erst als es nicht mehr zu sehen war, schloss er das Fenster und legte sich trotzig aufs Bett. Der Duft der frisch gebackenen Plätzchen zog durch die ganze Wohnung und machte auch vor seinem Zimmer nicht halt. Obgleich sein Magen knurrte, wollte er standhaft bleiben und seiner Mutter die Zähne zeigen. Müdigkeit breitete sich über ihm aus, er schlief ein und wachte mitten im Traumland wieder auf. Ein wunderschöner, alles überstrahlender Engel nahm ihn bei der Hand und führte ihn an den Ort seiner Wünsche. Der Weihnachtsmann war derweil mit seinem vollgepackten Schlitten unterwegs, um all die vielen Geschenke pünktlich abzuliefern. Spielsachen, Musikgeräte, Bücher ... soweit das Auge reichte. Alles lag da, was Sebastians Herz begehrte. Aber sein besonderes Augenmerk galt dem Kleidungsstück, das direkt vor ihm lag. Genau die Jacke, die er sich schon das ganze Jahr über sehnlichst gewünscht hatte und die er jetzt nicht erhalten sollte. Er nahm sie auf, zog sie an und tatsächlich passte sie wie angegossen. Sogar ein Spiegel stand plötzlich da, in dem er sich ausgiebig und freudestrahlend betrachten konnte. Ein wertvolles und wunderschönes Kleidungsstück von überaus langer Lebensdauer war dieser robuste Lammfellblouson im Fliegerstil. Für das Modell hatte man die Farbe Sand ausgewählt und mit Antik-Finish versehen, wodurch der Blouson noch authentischer wirkte. Mit durchgehendem Reißverschluss, zwei Schubtaschen, sportlichen Schließen seitlich am Bund sowie zwei Innentaschen mit Reißverschluss war er ein treuer Begleiter durch die kalte Jahreszeit. Sebastian hörte nicht nur die Worte des Verkäufers, sondern sah diesen geradewegs und zuversichtlich lächelnd hinter sich stehen, während er sich selber im Spiegel bewunderte. Dennoch verging ihm blitzartig die Freude an seinem schönen, teuren Geschenk, als ihm der Engel zeigte, wie traurig seine Mutter über sein Verschwinden war und sich aus Verzweiflung über den Verlust ihres über alles geliebten Sohnes von einer Brücke stürzte. Sebastian zog die Jacke


aus und ließ sie achtlos auf den Boden fallen, während er mit tränenerstickter Stimme den Engel bat, ihn doch wieder nach Hause zu seiner Mutter zu bringen, die er mehr als alles und jeden anderen liebte. Der Engel nahm ihn gütig lächelnd bei der Hand und erklärte ihm, dass nur allein die Liebe das größte Geschenk im Himmel wie auf Erden sei. Es war Weihnachtsmorgen. Sebastian rieb sich den Schlaf aus den Augen und schaute durch das Fenster mit dem Bethlehemstern auf die einladende geschlossene Schneedecke. Bei dem Anblick des Sterns musste er sogleich an seine Mutter denken, die diesen so liebevoll an seinem Kinderzimmerfenster aufgehängt hatte. Beunruhigt und angsterfüllt schlich er auf der Suche nach ihr durch die Wohnung und fand sie glücklicherweise in der Küche vor. Dort war sie noch immer zugange, ganz leise zwar, um ihn nicht zu wecken. Und wieder stieg ihm der Duft der frisch gebackenen Plätzchen in die Nase. Die Tränen der Freude und Erleichterung liefen ihm bei ihrem Anblick über die Wangen. Wie immer wenn er sie sah, ging die Sonne für ihn auf. Er war Zuhause und seine über alles geliebte Mutter stand vor ihm. Rasch lief er zu ihr hin und umarmte sie wortlos. Sie zog ihn schweigend und verständnisvoll an sich. Sie brauchten keine Worte. Sie verstand ihn, so wie sie immer alles verstand. Sebastian fühlte sich glücklich und geborgen. Er hörte wieder die Stimme des wunderschönen, alles überstrahlenden Engels, der ihm ins Ohr flüsterte, dass nur allein die Liebe das größte Geschenk im Himmel wie auf Erden sei. Als sie am Abend von der Kirche zurückkamen und es Zeit war für die Bescherung, fand Sebastian unter dem Weihnachtsbaum den Lammfellblouson, den er sich so sehr gewünscht und den er in seinem Traum, oder war es gar kein Traum gewesen, so achtlos hatte zu Boden fallen lassen. Hastig schlüpfte er in die Jacke und warf sich voll Dankbarkeit in die Arme, seiner nicht weniger überraschten Mutter. Die kleinen goldfarbenen Glöckchen am Baum fingen leise an zu klingen und Sebastian wusste, dass er dieses wundersame Weihnachtsfest niemals vergessen würde.


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Der wundersame Adventkalender Ingrid Kottig-Busche Jan bekam wie in jedem Jahr zum 1.Advent einen Adventkalender von seiner Oma geschenkt. “Naja, eigentlich bin ich schon zu alt für solchen Firlefanz,“ sagte Jan zu seiner Mutter, „aber Schokolade esse ich immer gern.“ So hatte er auch keine Probleme, gleich nach dem Aufstehen ein Türchen des Adventkalenders zu öffnen.“ Mhmh, die Schokolade schmeckt köstlich“, erzählt er der Oma am Telefon. Die Motive hinter den 12 Türchen hatte er schon angeschaut. Als er das dreizehnte gerade öffnete, sprach plötzlich eine Stimme zu ihm: “ Guten Morgen Jan, schön dass wir dich heute mitnehmen können in den Winterwald. Ich bin der Hirsch aus dem Türchen Nummer drei.“ Und schon zog der Hirsch Jan sanft an seine Arme, bis der Junge mitten in einem Wald stand. Auf den Bäumen und den Sträuchern lag Schnee, der blinkte wie kleine Sterne, und der gesamte Waldboden glich einer glitzernden Eisfläche. Obschon Jan dort im Winterwald nur mit seinem Nachtpolter bekleidet war, fror er nicht. Das Eichhörnchen aus Nummer fünf brachte aus seinem Wintervorrat rasch eine Decke, auf die Jan sich setzte.


Der Hirsch trat wieder hervor und sprach: “Das, was du nun erlebst, lieber Jan, das ist der Traum der Tiere, die im Wald und auf dem Land leben. Wir geben dir heute die Kraft, unsere Sprache zu verstehen.“ Noch ganz verwirrt von diesem Geschehen, sah Jan sämtliche Tiere im Kreise stehen, die er hinter den Adventstürchen gesehen hatte. Sogleich trat der Esel zu Jan und sprach: “Ich bin nicht so faul, um nur noch im Zoo zu stehen, gerne möchte ich wieder Lasten tragen, dann könnten einige Fahrten mit dem Auto eingespart werden.“ Geschwind hoppelte der Hase hinzu und sagte mit kläglicher Stimme:“ So viele Jäger gehen auf die Pirsch, wir wünschen uns, dass sie uns übersehen, denn gern liegen wir nicht zerlegt auf dem Weihnachtsteller, wo man uns als köstliches Mahl verspeist.“ „Sag ich doch,“ mischte sich die Feldmaus ein, „bald sind unsere Bronchien verstopft von dem vielen Dünger, der auf das Land gestreut wird. Ich befürchte wir werden aussterben, und wer hätte das schon gern.“ Die Schlange, die durch den Tumult der Tiere aufgeweckt wurde, kam aus ihrem Winterversteck gekrochen und klapperte: “Papperlapapp, macht nicht so viel Krach, so aaaarg“, weiter kam sie nicht, denn sie schlief auf der Stelle sofort wieder ein. „Doch, doch!“ Zaghaft fing das Reh an zu sprechen und seufzte: “Im Wald da herrscht so manches Ungeheuer.“ „Ja, ja, so ist es“, brummte der Fuchs, „bei meinem Bau wirst du es finden, es frisst und frisst die Zweige der Bäume weg.“ „Meinen Teich, ihn hat es auch erwischt“, flötete die Libelle, „Die Unwetterkapriolen schütten ihn immer mehr zu, und ich finde noch nicht meine Winterruh.“ „Nun ist es aber genug, immer nur zu klagen“. Das Rotkehlchen flog leicht hin und her und sang mit leiser Melodie auch noch das Schaf, den Hund und die Gans herbei.


Alle tanzten nun im Kreise um den Jan herum, der sich nur wundern konnte und dann sprachen sie im Chor: „Jan, du sollst unsere Botschaft weiter sagen, ganz besonders an diesen Vorweihnachtstagen: “Liebe Menschen auf der Welt: in der Krippe waren der Esel, der Ochs und das Schaf, die ersten Begleiter vom Jesuskind, und wärmten mit ihrem Atem den Stall, so dass er mit vollem Glanz erfüllt wurde. Wir, die Tiere, und ihr, die Menschen, wir gehören doch zusammen. Darum bewahrt unseren Wald und unser Land, damit das Christkind noch viele, viele Jahre uns beglücken kann.“ Kaum hatten die Tiere zu Ende gesprochen, da stand Jan frierend vor dem Adventkalender in der Küche.“ Bist du krank?“ fragte die Mutter voller Sorge. „Aber nein, ich komme gerade aus dem Winterwald und habe eine Botschaft für uns alle.“ „Das Christkind, es soll es noch lange geben, drum wollen wir auf den Wald und auf das Land, da wo unsere Tiere leben, ganz besonders gut Acht geben. Wir alle brauchen uns doch einander!“ © Ingrid Kottig-Busche


Engel gibt es nicht Frank Lauenroth Eigentlich hätte alles ganz anders kommen können. Eigentlich sollte es ein wunderschöner Abend werden und eigentlich hatte Wachtmeister Ludwig Samtregen bereits den ganzen Dezember darauf gedrungen, den heutigen, Heiligen Abend frei zu bekommen. Aber wie wir alle wissen, ist das eben so eine Sache mit „Eigentlich“. Gestern Nachmittag hatte ihm sein Vorgesetzter, Hauptwachtmeister Riegenstieg, der eigentlich eine Seele von Mensch ist und dem Ludwig deshalb auch nicht böse sein mochte, eröffnet, dass zwei seiner Kollegen wegen Krankheit ausgefallen waren, und dass er, Ludwig, deshalb die schlimmste Schicht des Jahres übernehmen müsse. Nun, Ludwig war ein sanftmütiger Mensch und so nahm er diese Nachricht mit einem Lächeln entgegen. Dennoch war er unendlich traurig. Vielleicht hatte Hauptwachtmeister Riegenstieg geglaubt, dass er, Ludwig, sowieso nur vor dem Fernseher hocken würde. Sicherlich, er war alleine! Seine Ehe mit Gisela war kinderlos geblieben und als Gisela sich entschloss, ihre Liebe künftig einem anderen Mann zu schenken, da hatte sich Ludwig in ein Schneckenhaus zurückgezogen, aus dem er die letzten fünf Jahre nicht herausgekommen war. Und so war die Annahme, er würde seine weihnachtliche Aufmerksamkeit dem Fernsehprogramm schenken, nicht so weit hergeholt. Tatsächlich jedoch hatte Ludwig durchaus Besseres vor. Er begeisterte sich seit sechs Monaten für die Arbeit im Glückskind e.V., einer Institution, die Kindern aus mittellosen Familien oder auch Waisen ihren größten Wunsch erfüllen wollen. Und welcher Abend im Jahr eignete sich besser als der Heilige Abend, um diese Kinder glücklich zu machen? In Ludwigs speziellem Fall war das ein achtjähriger Junge namens Justus, der sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich ein eigenes Fahrrad zu besitzen. Als er selber in Justus’ Alter gewesen war, damals, in der Nachkriegszeit, da


hätte er auch gerne ein Fahrrad besessen. Doch die Zeiten waren hart und Fahrräder fast so etwas wie ein Luxusartikel. Nun ja, zumindest konnte er die Wünsche dieses armen Jungen nur zu gut verstehen. Justus war alles andere als vom Glück geküsst. Seine Eltern waren beide drogenabhängig und so wurde Justus sehr schnell zu einem Heimkind. Ohne Elternhaus sahen die Zukunftsperspektiven des Kleinen nicht wirklich rosig aus. Doch immerhin gab es solche Institutionen wie die Glückskind e.V., die den Kindern in solch schicksalhaften Situationen wieder zu neuem Mut verhalfen. Ludwig hatte dort eine neue Aufgabe gefunden! Etwas Erbauliches, ganz im Gegenteil zu den oftmals entmutigenden Ereignissen seines beruflichen Alltags. Ein einziges Kinderlachen konnte so viel an Streit, Rachsucht und Wut wettmachen, denen Ludwig tagtäglich auf den Straßen und in seiner Amtsstube begegnete. Seine außerdienstliche Tätigkeit hatte seinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Nur hatte er um sein soziales Engagement nie ein großes Aufheben gemacht. Tja, und das hatte er nun davon! Es war der Heilige Abend, es war achtzehn Uhr und Ludwig saß in seiner Amtsstube und hatte nichts Besseres zu tun, als sein Leben zu überdenken. Eigentlich war Ludwig bereits heute früh traurig geworden, als er an der Bushaltestelle hinauf zur digitalen Fahrplananzeige und dort das Datum 24.12. leuchten sah. Die Glückskind-Mitarbeiter hatten ihn gebeten, den Kindern in diesem Jahr den Weihnachtsmann zu geben. Erfreut hatte er zugesagt und sich sogleich ein passendes Kostüm besorgt. Eines mit roten Stiefeln, mit weißem Kunstfellbesatz, einem breiten, schwarzen Gürtel mit goldener Schnalle und einem großen, ebenfalls roten Sack. Er hatte sogar geübt, mit verstellter, dunkler Stimme zu sprechen … Alles vergebens! Nun musste er in aller Eile jemanden finden, der seinen Part als Weihnachtsmann übernehmen konnte. Zuerst aber sagte er den Glückskind-Mitarbeitern telefonisch ab und konnte dabei die Enttäuschung am anderen Ende der Leitung hören. Und spätestens in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er auch Justus enttäuschen würde. Sicherlich. Er konnte das Fahrrad auch noch morgen im Heim abgeben. Aber es würde nicht dasselbe sein!


Wenn Ludwig einen Weihnachtswunsch frei gehabt hätte – er wusste, dass es nicht so war, aber nur einmal angenommen – dann hätte er sich gewünscht, Justus und die gesamte restliche Rasselbande an diesem Tag glücklich machen zu dürfen. Doch Ludwigs größter Wunsch ließ sich jetzt nicht mehr erfüllen. Stattdessen musste er bis zweiundzwanzig Uhr Dienst schieben! So würde selbst der klägliche Rest seiner weihnachtlichen Stimmung komplett vergangen sein, wenn er allein durch die leeren Straßen von Groß-Flottbek nach Hause gehen würde. Vielleicht würde er sich etwas auf DVD ansehen. Auf den Fernsehsendern lief sowieso nichts Gescheites. Er konnte sich sogar gut daran erinnern, dass einmal am Heiligen Abend – zu später Stunde zwar – aber dennoch am Heiligen Abend auf RTL der Cyborg-Thriller Terminator gesendet wurde. Ein frohes Fest uns allen! Und dazu ein „Hasta la vista, Baby!“ Plötzlich rumpelte es aus einer der hinteren Zellen. Ludwig wunderte sich. Eigentlich sollten die Zellen allesamt leer sein. Sollte die Frühschicht ihm etwa eine Information vorenthalten haben? Mit einer Mischung aus Unglauben und Erbostheit – soweit ihm das überhaupt bei seiner sanften Natur möglich war – ging er nach hinten zu den Zellen und wollte überprüfen, was dieses Geräusch verursacht hatte. Zuerst vermutete er eine Katze oder ein anderes Tier in den hinteren Räumen. Zwar konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, wie dieses hier herein gelangt sein sollte, aber grundsätzlich ausschließen wollte Ludwig es auch nicht. Er betätigte den Lichtschalter und schritt langsam den Gang zwischen den Zellen hinunter. Es gab hier vier Zeilen auf jeder Seite. Jede maß drei mal zwei Meter. Alle Türen standen offen. Da, das Geräusch war wieder da! Es kam aus der hinteren rechten Ecke. Entschlossen schritt Ludwig Samtregen voran und zog die Tür zur letzten Zelle vollständig auf und erstarrte. Nun, das war eindeutig keine Katze! Auf der Bank lag eine übergewichtige Frau. Sie trug ein knöchellanges, weißes Kleid und hatte sich mit dem Gesicht zur Zellenwand gedreht. Und sie schnarchte leise! Unter der Bank stand eine halbleere Flasche Whiskey. Speziell dieser Anblick schien Ludwigs Riechorgan zu sensibilisieren. Die Zelle war erfüllt von Alkohol und kaltem Schweiß. Dies in Verbindung mit dem Anblick, der sich Ludwig darbot, war eine ziemlich herbe Mischung.


Aber Ludwig kannte keine Berührungsängste und stupste die Schlafende an. »Sie da, was machen Sie hier?« Die etwas zu füllig geratene Frau kratze sich an der Stelle, an der Ludwig sie zuvor gestupst hatte und ließ einen äußerst unweihnachtlichen Ton aus ihrem Körper entfliehen. Ludwig trat augenblicklich einen halben Schritt zurück und wartete auf weitere Entladungen. Doch nicht nur, dass diese ausblieben, auch begann sich die Frau langsam umzudrehen und setze sich auf. Und Ludwig war augenblicklich erstaunt. Sicherlich, diese Frau war ungepflegt, sie roch nach Alkohol, ihre Manieren ließen bislang zu wünschen übrig, doch ihr Gesicht war – wenn man einmal von der Fleischesfülle absah – rundlich und wunderschön. Rubens hätte diese Frau sicherlich Modell sitzen lassen. Warum aber – und damit kehrten Ludwigs Gedanken in die Wirklichkeit zurück – warum war sie hier? »Weil du es verdient hast?« Ihre Stimme klang offensichtlich betrunken, aber vor allen Dingen rauchig und dunkel und wollte so gar nicht zu ihrem lieblichen Gesicht passen. Andererseits musste der Whiskey ja irgendwie seine Spuren hinterlassen haben. Ludwig wollte sich darüber keine allzu großen Gedanken machen, aber eines beunruhigte ihn dennoch: Er hatte ihr eben keine Frage gestellt, er hatte die Frage nur gedacht und dann hatte diese Frau … »Du kannst mich Angel – hick – Angelika nennen.« Irgendwie schien ihm Angelika einen Schritt voraus zu sein. Zur Abwechslung wollte er ihr jedoch eine Frage laut stellen. »Was machst du hier?« »Nicht schlecht«, lallte Angelika. »Andere brauchen zehn Minuten, um schneller als ich zu sein.« Die Antwort hatte Ludwig a) nicht erwartet und b) auch nicht wirklich verstanden. Zumindest war der eben erarbeitete Vorsprung sofort wieder verloren gegangen. Und Angelika lachte leise.


»Was wäre, wenn ich dein ganz persönlicher Engel wäre, Wachmeister Samtregen?« Ihre Stimme lallte zwar immer noch, aber Ludwig glaubte etwas wie Ironie aus ihren Worten herausgehört zu haben. Um diese Frage ironisch zu meinen, müsste Angelika jedoch wissen, dass er nicht an Engel glaubte. »Das tun übrigens erschreckend wenige Menschen«, warf die ein, die scheinbar alles dafür tat, Ludwig davon zu überzeugen, dass sie etwas war, was nach seinem Dafürhalten nicht existierte. Andererseits war heute der Heilige Abend und damit rückte für ihn ein anderer Gedanke weit mehr in Reichweite. »Bist du der Weihnachtsmann?« fragte Ludwig. Angelika lächelte ihn schief an. »Ist es nicht ziemlich uncharmant, diese Frage einer Frau zu stellen?« Ludwig wurde sofort feuerrot im Gesicht. »Du glaubst nicht an Engel, aber an den Weihnachtsmann?« steckte Angelika dann auch sofort den mit Salz getränkten Finger noch tiefer in die symbolische Wunde. Ludwig wurde ganz unbehaglich und er dankte seinem Schöpfer oder irgendeinem anderen Verantwortlichen dafür, dass er mit Angelika allein war und niemand sonst gehört hatte, was er gerade gesagt hatte. »Ich glaube, es ist Zeit zu gehen« sagte die dicke Angelika und erhob sich schwankend. Andererseits hatte sie sich in dieser Aufwärtsbewegung mit traumwandlerischer Sicherheit der halbleeren Whiskey-Flasche bemächtigt und hielt sie Ludwig vor dessen wieder normalrote Nase. »Auch ein Schlückchen für den Nachhauseweg?« »Bedaure«, antwortete Ludwig. »Ich bin noch im Dienst.« »Nicht mehr seit zwei Minuten«, entgegnete Angelika und zeigte mit ihrem fleischigen Zeigefinger auf die Uhr über der Tür im Gang. Zwar stand – oder schwankte – Angelika noch immer mitten in der


Zelle und konnte die Uhr unmöglich sehen, doch Ludwig konnte von seinem Standort sehr wohl erkennen, dass Angelika Recht hatte. Die Uhr zeigte Zwei Minuten nach Zehn an. Und tatsächlich hörte er von vorne aus der Amtsstube die Stimme von Wachtmeister Richard Katzenheimer, seiner Ablösung. Wie konnten vier Stunden im Fluge vergangen sein? Eben war es noch um Sechs und jetzt … »Hast du das gemacht?« »Die Vermutung liegt nahe, nicht wahr? Aber im Umgang mit mir vergessen Männer immer die Zeit.« Ludwig gelang ein skeptischer Blick, dann ließ er Angelika sein, wo sie war und ging erst einmal in die Amtsstube nach vorne. Auch dort stand die Uhr auf kurz nach Zehn. Es war zum Verrücktwerden! Das alles konnte doch eigentlich gar nicht wahr sein! Aber das war ja eben so eine Sache mit „Eigentlich“! Katzenheimer jedenfalls wünschte ihm ein frohes Fest – oder was davon noch übrig war – und schob ihn halb zur Tür hinaus. »Sieh zu, dass du nach Hause kommst«, sagte sein Kollege und Ludwig wollte ihm sagen, dass in der hinteren rechten Zelle eine dickliche Frau mit knöchellangem Kleid und fragwürdigen Manieren … »Nimmst du mich mit zu dir nach Hause?« fragte die wohlbekannte Stimme in seinem Rücken. Ludwig fuhr erschrocken herum und sah Angelika im Türrahmen stehen. Eilig wandte er sich wieder zu Katzenheimer um, aber der war längst mit etwas anderem beschäftigt. Ludwig warf seinen Mantel über, nahm seine Tasche und drängte Angelika hinaus auf die Straße. Erst dort bemerkte er, dass sie immer noch nur ihr Kleid trug. Zu allem Unheil hatte es zu schneien angefangen und so war ein dünnes, wenn auch knöchellanges Kleid nicht die ausreichende Garderobe.


Einen kurzen Moment überlegte Ludwig Samtregen. Dann nickte er sich selber zu. Egal ob Engel oder nicht. Niemand hatte es verdient, in der heiligen Nacht zu frieren. Und so zog er sich den eben noch übergeworfenen Mantel wieder aus und legte ihn Angelika über ihre Schultern. »Danke«, hauchte ihm Angelika entgegen. »Also bei mir zuhause sind die Klempner. Wir müssen wohl zu dir gehen.« Ludwig lächelte mittlerweile amüsiert. So recht ernst nehmen mochte er Angelika nicht. »Hast du nichts Besseres vor?« fragte Ludwig sie und beäugte sie abermals von oben bis unten. Diese Frau war so gar nicht sein Typ. Zwar glaubte er nicht, dass Angelika unlautere Absichten hegte, doch fragte er sich schon, was sie von ihm wollte. Aber dann ertappte er sich dabei, dass sie schon fast die Hälfte seines Nachhauseweges hinter sich gebracht hatten. Und das langsam nebeneinander hergehend. »Du bist kein Mann vieler Worte« lockte Angelika Ludwig aus der Reserve. Das hatte ihm auch Gisela immer vorgehalten und in seiner Not zeigte er schnell auf ein weihnachtlich beleuchtetes Fenster im ersten Stock eines Gebäudes direkt vor ihnen. »Sieht gemütlich aus.« Angelika lächelte ihn an und schwieg. So gingen sie nebeneinander her, schauten gemeinsam in beleuchtete Fenster und Vorgärten und sagten eine ganze Weile nichts. »Du hast noch nicht deinen Weihnachtswunsch gesagt« begann Angelika wieder. »Wärst du wirklich ein Engel, dann würdest du ihn doch kennen.« Angelika grinste ihn an. »Ich habe nie behauptet, ihn nicht zu kennen. Ich habe nur gesagt, dass du ihn noch nicht ausgesprochen hast.«


»Schlaumeier!« entgegnete Ludwig und sah wieder zu den Fenstern hinauf, hinter denen festlich geschmückte Tannen standen, von Kerzen erleuchtet und sicherlich mit dem einen oder anderen Geschenk darunter. »Vielleicht auch ein Fahrrad!« begann Angelika wieder. Ludwig gab alle Verteidigung auf. »Gut. Du hast gewonnen. Aber mein größter, mein einziger Weihnachtswunsch ist nicht erfüllbar!« Angelika legte ihm die Hand auf die Schulter und Ludwig ging glatt ein wenig dabei in die Knie. Engelsleicht? Nicht wirklich! »Ach Ludwig, es gibt unendlich viele Möglichkeiten, den Weihnachtszauber zu erleben. Auch wenn man kein Kind mehr ist.« Doch Ludwig, der ein wenig in der Temporalphysik bewandert war, hielt es für aussichtslos, seinen Wusch überhaupt auszusprechen. Doch hatte sich heute nicht gerade die Zeit total verrückt verhalten? Ludwig fasste sich ein Herz und sagte, was ihm so wichtig war. »Könnte nicht morgen noch einmal Heiligabend sein? Ich würde dann zeitig die Wache verlassen und könnte pünktlich bei den kleinen Rabauken sein. Und ich könnte Justus seinen größten Wunsch erfüllen und ihm das Fahrrad schenken. Wir würden um den Weihnachtsbaum herum sitzen, würden alkoholfreien Eierpunsch trinken und würden gemeinsam Lieder singen. Das wäre ein feiner, Heiliger Abend!« Und dann fügte er ungläubig und traurig hinzu: »Aber darauf werde ich wohl ein ganzes Jahr warten müssen.« Angelika baute sich daraufhin vor ihm auf, legte ihm die Hand fast wie eine Heilpraktikerin auf die Stirn und Ludwig glaubte so etwas wie Pfefferminzöl an ihrer Hand zu riechen. Es hätte aber auch nur Alkohol sein können. Sie murmelte währenddessen ein paar unverständliche Worte mit geschlossenen Augen. Angelika war ganz dicht vor Ludwig und langsam stieg ihm ihr Geruch wieder


in die Nase und er befürchtete, seinen Mantel später gut ausdünsten zu müssen. Doch dann vergaß er das rasch wieder, denn Angelika war zum Ende dessen gelangt, was sie mit ihm getrieben hatte. »Dein Weihnachtswunsch wird dir erfüllt werden. Wenn du morgen erwachst, wird noch einmal der 24. Dezember sein, du wirst nicht zur Spätschicht müssen und kannst so die Kinder besuchen. Und Justus kannst du sein Fahrrad pünktlich und höchstpersönlich schenken!« Ludwig runzelte die Stirn. »Einfach so?« Angelika nickte. »Einfach so! Na ja, eine Sache ist noch notwendig, damit meine Beschwörung wirkt. Du musst dich einmal um dreihundertsechzig Grad drehen.« Ludwig war wieder amüsiert. Zumindest hatte man Spaß mit der dicken Frau. Dann stellte er die Aktentasche in den Schnee, schloss die Augen und drehte sich einmal um sich selbst. Als er die Augen wieder öffnete, hing sein Mantel auf seinen Schultern und Angelika war nirgends mehr zu entdecken. Er drehte sich nochmals, nun mit offenen Augen, auf der Suche nach ihr und ihrem knöchellangen, weißen Kleid. Doch sie war fort. Einen Moment noch stand er ungläubig da. Der Schnee fiel ihm auf den Kopf und allein der Geruch, der sich wahrscheinlich porentief in seinem Mantel eingenistet hatte, bestätigte ihm, dass der heutige Abend kein Traum gewesen war. Ludwig vollendete seinen Nachhauseweg. Er öffnete seine Wohnungstür, stellte die Aktentasche in den Flur, entledigte sich seiner Schuhe und hing den Mantel auf einen Kleiderbügel. Mit diesem ging er zur Balkontür, öffnete sie und platzierte den Mantel auf einem Haken, den er genau für solche Zwecke dort befestigt hatte. Als er die Tür wieder schließen wollte, schlich sich noch schnell ein Luftzug durch die geöffnete Tür in sein Wohnzimmer und brachte ein Glöckchen an seinem kleinen, kitschigen Kunsttannenbaum zum Klingen.


Dingeling! Dingelingeling! Ludwig hielt mitten in der Bewegung inne. In einem alten amerikanischen Film wurde einmal erwähnt, dass ein Engel seine Flügel erhält, wenn ein Glöckchen schellt. Tja, aber eigentlich glaubte Ludwig ja nicht an Engel. Also schloss er die Tür und begab sich in sein Schlafzimmer. Ludwig legte sich nach den Aufregungen des heutigen Abends endlich zur Ruhe. Er wusste, dass der Schlaf leichtes Spiel mit ihm haben würde. Die Augenlider wurden ihm schwer und als er beinahe schon eingeschlummert war, ertappte er sich dabei, dass er doch hoffte, Angelika hätte die Wahrheit gesagt. Aber eigentlich gab es doch keine Engel! Ludwig zog das Deckbett ein wenig dichter an sein Kinn heran und kuschelte sich richtiggehend ein. Begleitend zu seinem letzten halbwachen Gedanken runzelte er ein wenig die Stirn. Dingeling! Dingelingeling! Und Ludwig war eingeschlafen. Doch wenn er am nächsten Morgen erwachen würde, dann würde das nicht, wie eigentlich anzunehmen, am ersten Weihnachtsfeiertag sein. Und spätestens, wenn er an der Digitaluhr der Anzeige der Bushaltestelle vorbeikam würde er sich fragen, warum im Tagesdatum eine 24 enthalten sein würde. Und er würde sich an Angelika erinnern und an seinen Weihnachtswunsch. Und daran, dass er eigentlich nicht an Engel glaubte. Aber wie wir alle ja mittlerweile wissen, ist das eben so eine Sache mit „Eigentlich“.


© Frank Lauenroth - Wer ist Frank Lauenroth? Frank Lauenroth wurde 1963 geboren, ist diplomierter Maschinenbau-Ingenieur, jedoch seit langem als Software-Entwickler tätig. Er wohnt mit seiner Frau und seinem Sohn im Westen Hamburgs. Seine Vita umfasst neben dem Gewinn des Roman-Wettbewerbes „Deutschland schreibt“ im Jahre 2005 für seinen Thriller „Simon befiehlt“ diverse Veröffentlichungen in Kriminal- und ScienceFiction-Anthologien, zuletzt in den Anthologien „Weltentor“ des Noel-Verlages und „Stehlen & Rauben“ der Edition Splitter in Wien. 2010 erschien sein Books-on-Demand-Bestseller „Boston run – Der Marathon-Thriller“ als Neuauflage im Sportwelt-Verlag und erhält seitdem auf zahlreichen Rezensionsplattformen und Buchforen Bestnoten. Website: http://www.franklauenroth.de Twitter: http://twitter.com/ThrillerAutor Facebook: http://www.facebook.com/flauenroth


Das Mädchen und der goldene Stein Werner Leder Vor einer sehr langen Zeit lebte ein kleines Mädchen mit seiner schwerkranken Mutter in einer halbverfallenen Hütte, die am Rande eines undurchschaubaren Waldes stand. Mutter und Kind waren bitterarm. Sie hatten nie genug zu essen und nichts Vernünftiges anzuziehen. Der kalte Winter, mit Schnee und Eis war bereits ins Land gezogen. Und rund um die zugige Hütte türmten sich Schneewehen bis hinauf zum Dach. Jeden Tag ging das kleine Mädchen in den dunklen Wald um Beeren, Kräuter und Pilze zu sammeln. Denn es hatte sich allein um alle lebensnotwendigen Dinge zu kümmern, da seine Mutter gar zu krank und hilflos im Bett lag. Von nirgendwoher bekam die Mutter Geld, um für sich und ihr Kind Speise, Trank und Kleidung zu kaufen. Hilfreiche Menschen aus der Stadt stellten hin und wieder alte, abgetragene Kleidung und Speisereste vor die Tür der windschiefen Hütte. Nun aber verschlimmerte sich die Krankheit der Mutter mehr und mehr, so dass sich das Mädchen noch größere Sorgen machte und es bald am Ende seiner Kräfte angekommen war. In früheren Jahren hatte die Mutter ihrem Töchterchen immer zu Weihnachten ein warmes Wintermäntelchen aus vielen bunten Stoffresten genäht. In diesem Jahr aber verschlimmerte sich ihre Krankheit so sehr, dass sie auch in der Weihnachtszeit gar nicht mehr aus dem Bett kam. Das kleine Mädchen musste am Heiligen Abend in einem hauchdünnen Kleidchen in den bitterkalten und tief verschneiten Wald gehen, um unter Bäumen und Sträuchern nach etwas Essbaren für sich und die Mutter zu suchen.


Als es in der klirrenden Kälte zitternd durch den verschneiten Wald ging, sahen das schnelle Eichhörnchen, der majestätische Rabe und das hübsche Rehlein das kleine frierende Mädchen, wie es ganz traurig und bitterlich weinend daher kam. Da sprach das Eichhörnchen zu dem kleinen Mädchen: „Wir Tiere im Walde wissen alles über dich und deine schwerkranke Mutter. Wir wollen euch beiden helfen. Komm, ich zeige dir jetzt mein Bucheckernversteck.“ Und schnell sprang es zu dem dicken Baumstamm, wo tief unter dem Laub die Bucheckern lagen. „Nimm davon so viel du tragen kannst“, sagte es zu dem Mädchen. Nun kam auch der Rabe daher und hatte ein paar viel zu große Walnüsse in seinem kräftigen Schnabel. „Für dich kleines Mädchen, damit du und deine Mama nicht so hungern müsst“, sagte er und blinzelte dem Mädchen mit schräg gehaltenem Kopf liebevoll in die Augen. Das Rehlein aber sprang ausgelassen um das Mädchen herum und sprach: „Komm! Folge mir!“ Es führte das kleine Mädchen zu einem uralten Baum, befreite mit seinen kleinen Füßchen eine mächtige Wurzel von Schnee und Laub, und sprach: „Schau, hier wächst das wohlschmeckendste Moos im ganzen Wald, nimm so viel du in deinem dünnen Kleidchen tragen kannst“. Das Mädchen nahm sein Röckchen wie eine Schürze hoch, tat die Bucheckern vom Eichhörnchen und die Walnüsse vom Raben hinein, und obenauf legte sie das herrlich grüne und nach Wald duftende Moos vom Rehlein. „Danke ihr lieben Tiere des Waldes“, rief das kleine Mädchen beim Abschied dem schnellen Eichhörnchen, dem majestätischem Raben und dem hübschen Rehlein zu. „Halt an, halt an! Warte doch!“ rief da das herbei springende Füchslein ganz aufgeregt schnaufend aus dem Unterholz, „ich will dir bei dieser bitteren Kälte meinen Pelz zum Wärmen geben.“ Da nahm das kleine Mädchen dankbar den Fuchspelz, zog ihn an und schnell war es ihm ganz warm geworden. „Danke, danke ihr lieben Tiere des Waldes, ihr habt mich sehr reich beschenkt“, sagte das Mädchen beim Abschied, und reichte dem Eichhörnchen, dem Rehlein, dem Raben und dem Füchslein dankbar ihre Hand. Danach machte es sich fröhlich singend auf den Weg nach Hause.


Als nun das kleine Mädchen die Hütte schon von weitem sah, rief es so laut es konnte: „Mutter, Mutter, ich komme heim!“ Die schwer kranke Mutter hörte zwar ihr Kind in der Ferne rufen, konnte ihm aber nicht antworten, da sie vom Fieber gar zu schwach war. Plötzlich wurde es um das Mädchen ganz hell. Die Sterne funkelten am Himmel um die Wette. Und

wie aus dem Nichts gekommen, stand ein wunderschöner strahlender Engel, mit einem weißen Einhorn an der Hand, vor dem kleinen Mädchen, und er sprach: „Wohin gehst du in der Heiligen Nacht, bei Eis und Schnee und klirrender Kälte?“ – „Heim zu meiner lieben Mutter, die liegt schwer krank in ihrem Bett. Ich bringe ihr das Essen, welches mir die lieben Tiere im Wald geschenkt haben“, antwortete das Mädchen. „Was trägst du da für einen wunderschönen Pelz?“ fragte jetzt der Engel das Mädchen. „O, den hat mir das liebe Füchslein geschenkt, da ich gar so sehr fror“, antwortete das Mädchen. „Gib ihn mir“, sprach der Engel, „ich habe noch einen sehr weiten Weg vor mir, heut in der Heiligen Nacht. Hier, nimm diesen goldenen Stein dafür“. – „Das ist wahrlich ein schlechter Tausch“, sagte das Mädchen, „einen so herrlich warmen Pelz gegen einen bitterkalten, wenn auch goldenen Stein, einzutauschen“. „Nein, nein, nein, du wirst es nicht bereuen“, rief da der Engel, „dieser goldene Stein ist etwas ganz besonderes. Er ist aus purem Golde und doch sieht er aus wie ein durchscheinend' Glas. Ich brachte ihn geradewegs aus der himmlischen Stadt Jerusalem mit auf die Erde. Nimm ihn. Und wenn du an Gottes Wege glaubst, wird deine schwer kranke Mutter bald wieder gesund sein, und Armut werdet ihr nicht mehr kennen“. Das kleine Mädchen hatte jetzt große Hoffnung für seine geliebte Mutter und für sich. Lieber die restliche Wegstrecke frieren als für immer in Armut leben, dachte es bei sich. Es vertraute dem strahlenden Engel und tauschte den Fuchspelz gegen den goldenen Stein. Sie lächelten sich liebevoll an und beide gingen ihres Weges. Das schneeweiße Einhorn aber drehte sich noch einige Male um, und wieherte dem Mädchen freudig zu. Als das kleine Mädchen in das Zimmer der Mutter kam, stöhnte diese arg vor Schmerzen. „Ach Mutter“, rief weinend das Mädchen, „wenn ich dir doch bloß helfen könnte“. Plötzlich erfüllte sich


der ganze Raum mit hellem Schein. Alles war in ein überirdisch strahlendes Licht getaucht - und ein himmlischer Chor begann wunderschön zu singen: „Friede, Friede, Friede auf Erden, alles Unglück muss zum Glück heut werden. Friede, Friede in allen Herzen, vergehen müssen jetzt die Schmerzen“. Als der Engelchor verklungen war, erhob sich - wie durch ein Wunder - die Mutter freudestrahlend und gesund von ihrem Krankenbett und rief voller Glück: „Mein geliebtes Töchterlein, wie wunderbar das alles ist, du kamst in mein Zimmer und plötzlich erstrahlte es in einem wunderschönen überirdischen Licht. Der himmlische Chor sang das Lied vom Frieden auf der Welt und in den Herzen der Menschen - und ich wurde wieder gesund“. Da umarmten sich Mutter und Tochter ganz inniglich vor lauter Glück und Freude. Sie aßen dankbar von den köstlichen Gaben, die ihnen die lieben Tiere des Waldes geschenkt hatten. Den goldenen Stein aber tat das Mädchen in sein Schatzkästlein, damit es ja nie verloren ginge; denn es ahnte wohl, dass es die Gesundheit der Mutter, all das Glück und den Frieden diesem kalten goldenen Stein verdankte, den es bei dem Engel gegen den warmen Fuchspelz eingetauscht hatte. Von nun an wurde die Mutter nie mehr krank. Auch hatten sie beide immer Essen und Trinken in Fülle, so dass sie notleidenden Menschen von ihrem Reichtum noch abgeben konnten. Und eins ließ sich das kleine Mädchen, auch dann als es eines Tages zur Frau geworden war, das ganze Leben lang nicht nehmen: Jedes Jahr am Heiligen Abend bekamen die Tiere im tiefen dunklen Wald viele schöne Geschenke. Es wurde eine große Bescherung gemacht für die schnellen Eichhörnchen, die majestätischen Raben und die hübschen Rehlein. Und mitten unter ihnen tollten friedlich und vergnügt die schlauen Füchslein, die sich wie alle anderen Tiere an den mitgebrachten Gaben satt aßen. So lebten Mutter und Tochter glücklich und zufrieden noch sehr viele Jahre, bis an ihr Lebensende.


© Werner Leder - Wer ist Werner Leder? Werner Leder schreibt seit seiner frühesten Jugend. Er begann mit Liebesgedichten für seine Mutter, später schrieb er Kurzgeschichten über viele Themen die ihn beschäftigten. Er komponierte Musik für Märchen- Kinder- und Kirchenlieder und schrieb auch die Texte dazu. In den sechziger Jahren besang er Schalplatten, war Dressman, Fotomodell und Schauspieler. Zwischendurch schrieb er Gedichte und Geschichten für Zeitungen. In den siebziger Jahren gab er zusammen mit seiner Frau ein Getreidekochbuch heraus, das noch immer zu bekommen ist. In neuerer Zeit sind einige Buch-Titel von ihm im Engelsdorfer Verlag Leipzig erschienen. Heute wohnt Werner Leder am schönen Bodensee. Über sich sagt er: „Hier inspirieren mich die paradiesische Landschaft, die darin lebenden Menschen und Tiere, und meine spirituelle Seite zu meinen Gedanken, Gedichten, Geschichten und Versen. Ich schreibe auf verschiedenen InternetPlattformen, beteilige mich an Fortsetzungsgeschichten und lese gerne vor Publikum aus meinen Büchern. Am liebsten schreibe ich über Themen die uns alle bewegen: zeitnah, ergründend, forschend, medial und philosophisch. Zum Beispiel über Liebe und Erotik, Jung sein! Alt werden! Über Abenteuer und Märchen, - und vieles mehr. Auch spirituelle Fragen: Wer bin ich, Woher komme ich, Wohin gehe ich? versuche ich zu ergründen. - Die Welt ist groß und die Themen liegen quasi vor der Tür - aber auch in mir. Was möchte ich mit meinem schreiben bewirken? Ganz einfach: Ich möchte Dinge, Ereignisse und Erfahrungen so darstellen, wie ich sie sehe – also aus meiner inneren und äußeren Sichtweise, die viele Varianten der Darstellung zulässt. Meinen Lesern und Zuhörern möchte ich eine kleine Auszeit aus ihrem Alltag gönnen und ihnen Entspannung, manchmal auch ein Nachdenken oder sogar ein Schmunzeln schenken".


Glaubst du an ihn? Anika Brust Flocke für Flocke rieselte vom Himmel. Es schneite. Es schneite dicke weiße Schneeflocken, die dieses Jahr einen schönen Winter ankündigten. Der kalte, eisige Wind blies ums Haus und jedermann konnte froh sein, ein Haus mit einem warmen Ofen zu haben. Die kleine Maja tat das auch. Sie war froh, drinnen zu sein, wo es schön warm war. Aber sie mochte auch den Schnee. Sie könnte den ganzen Tag draußen im Schnee herumtollen, das liebte sie. Doch nun stand sie, nur gekleidet mit ihrem Schlafanzug und nackten Füßen, die schon ein wenig kalt geworden waren, am Fenster und starrte in die schneereiche Nacht hinaus. Sie hielt ihren Teddybär im Arm und betrachtete die Dunkelheit der Nacht. Sie war sich sicher, dass dieses Weihnachten wunderschön werden würde. Noch zwei Wochen würde sie warten müssen. Noch zwei Wochen dauerte es, bis sie endlich das 24. Türchen öffnen dürfte. Maja konnte es kaum noch erwarten. Jeden Tag fragte sie ihre Mama, wie lange sie noch warten müsse. Sie hasste das Wörtchen „warten“. Sie war ein aufgewecktes und sehr ungeduldiges Mädchen, deshalb konnte sie das Wörtchen warten nicht mehr hören. Doch immer kam von ihrer Mum nur eine einzige Antwort: „Bald, mein Schatz! Bald ist es soweit.“ Diese Worte hallten nun schon den ganzen Tag und sogar die Nacht, wenn sie nicht schlafen konnte, in ihrem Kopf wider. Es würde noch so lange dauern. Zwei Wochen kamen ihr wie eine Ewigkeit vor. Aber schon jetzt schneite es, was sie etwas vom vielen Warten ablenkte. Es schien, als hätten die dicken Schneewolken noch nie etwas anderes getan, als zu schneien. Es war nicht üblich, dass es vor Weihnachten schon schneite, jedenfalls nicht in diesen Mengen. Das letzte Jahr und auch das davor waren ganz anders gewesen. Sie hatten alle noch zwei Wochen nach Weihnachten oder vielleicht


noch mehr, auf den Schnee gewartet. Das eine Jahr wollte und wollte er einfach nicht kommen. Und dabei ist der Schnee doch so wichtig für die vielen Kinder, die endlich wieder ihren Schlitten aus dem Keller geholt haben und ihn nun wieder einfahren wollen. Und was ist mit Schneeballschlachten? Die waren auch nur mit Schnee möglich. Schnee gehörte einfach zu Weihnachten dazu wie Weihnachten und Geschenke. Ohne Geschenke wäre Weihnachten nicht Weihnachten und ohne Schnee wäre es genauso. Doch dieses Jahr schneite es, was auf jeden Fall dafür sprach, dass dieses Jahr schön werden würde. Majas Füße wurden nun langsam kalt. Sie trat vom Fenster weg. Sie kuschelte sich wieder unter ihre warme Bettdecke und schloss die Augen. Mit ihren Teddy fest im Arm schlief sie nun langsam ein. Das helle, silbern glänzende Mondlicht, das sich durch die Wolken hindurch zwang, schien einen Moment in ihr Zimmer. Aber schon bald war es wieder verschwunden, da sich die Wolken vor den Mond schoben und nur noch mehr Schnee auf die Erde rieseln ließen. Frau Holle schien dieses Jahr echt fleißig zu sein. Maja schlief schon tief und fest. Und genau das tat sie bis zum nächsten Morgen. An diesem Morgen wurde sie von glitzernden Sonnenstrahlen, die fast dem silbernen Mondlicht von letzter Nacht glichen, geweckt. Sie sprang aus ihrem Bett und lief wie immer als erstes zu ihrem Weihnachtskalender. Sie überlegte kurz, welcher Tag heute war und suchte dann das passende Türchen. Sie öffnete es hastig und zum Vorschein kam ein kleiner Weihnachtsmann aus Schokolade. Sie lief damit hinunter in die Küche, wo ihre Mutter schon mit dem Frühstück auf sie wartete. Mit einem Strahlen in den Augen, das sie immer bekam wenn sie eines der Türchen öffnete, zeigte sie ihrer Mum, was sich heute in ihrem Kalender befand. „Mum, schau mal ein Weihnachtsmann, schau mal!!“ rief Maja. „Ja Schatz, aber jetzt iss bitte erst mal!“ sagte sie, um Maja von ihrer Begeisterung etwas zurückzuhalten. Nach dem Essen zog sie sich an und kämmte ihre blonden Haare. Ihre Mutter machte ihr zwei Zöpfe und schmückte ihre Haare noch mit zwei roten Schleifchen aus. Sie zog sich eine dicke Winterjacke und Stiefel an. Als letztes legte sie noch ihren gestreiften Schal um den Hals, damit sie sich nicht


erkältete. Dann fuhr ihre Mum sie zum Kindergarten. Maja war gerade sechs Jahre alt. Nächstes Jahr würde sie in die Schule kommen und darauf freute sie sich auch schon. Der Wagen ihrer Mum hielt und Maja sprang aus dem Auto. Sie winkte ihrer Mum noch einmal zu und ging dann alleine in den Kindergarten. Das Auto ihrer Mum verschwand hinter ihr. Unterwegs fing Maja noch ein paar Schneeflocken auf, da es immer noch schneite. Eine der Schneeflocken landete genau auf ihrer Nase. Sie war kalt und schmolz sofort dahin, da Majas Haut so warm war. Nun ging sie hinein. Drinnen wartete ihre Freundin Anna schon auf sie. Heute wollten sie alle zusammen etwas basteln. Jeder was er wollte. Schneemänner, Weihnachtsmänner, Rentiere...ganz egal, Hauptsache es hatte mit Weihnachten zu tun. Maja entschied sich natürlich für den Weihnachtsmann. Alle Kinder saßen zusammen an einem großen Tisch. Links von ihr saß ein Junge, der auch in ihrer Gruppe war und rechts von ihr saß Anna. Maja werkelte an ihrem Weihnachtsmann. Er sollte ja auch schön werden. Sie schnitt gerade etwas aus dem Papier aus. Währenddessen hörte sie, wie sich der Junge neben ihr mit einem anderen unterhielt. „Hey, ich weiß, wo meine Mama die Weihnachtsgeschenke versteckt hat!“ hörte sie den einen sagen. „Echt? Wo denn?“ sagte der andere. Diese Aussage macht Maja stutzig. Wie hatte er das gemeint mit den Weihnachtsgeschenken? Sie beschloss ihn einfach zu fragen. „Wie hast du das gemeint mit den Weihnachtsgeschenken?“ fragte sie und er sah sie verwundert an. „So wie ich es gesagt habe, oder glaubst du etwa, der Weihnachtsmann bringt dir die Geschenke?“ fragte er und sah dabei auf Majas gebastelten Papierweihnachtsmann. Zögernd sagte Maja: „Ja...“, als wenn es ganz natürlich gewesen wäre. Die Jungen und auch andere Kinder, die ihr Gespräch mitbekommen hatten, fingen an zu lachen. „Wirklich?“ fragte noch mal ein anderer, weil er es gar nicht glauben konnte, was sie sagte. Wieder nickte Maja leicht mit dem Kopf und die anderen brachen erneut in lautem Gelächter aus. Daraufhin stand Maja mit Tränen in den


Augen auf und versteckte sich den Rest des Tages auf der Toilette, bis ihre Mum sie abholte. Anna versuchte sie zu trösten, aber das half wenig. Sie weinte. Ihre ganzen Träume und Hoffnungen waren zerstreut. Sie konnte sich das Ganze nicht erklären. Sie fand nur eine einzige plausible Erklärung für das, was dieser Junge da gesagt hatte. Es konnte nur so sein, das die Eltern den Weihnachtsmann unterstützen. Er würde doch alleine sowieso nicht alles schaffen, bei den vielen Kindern auf der Welt. Sie saß nun im Auto ihrer Mum. Ihre Augen waren rot und sie schaute schweigend aus dem Fenster. „Ist was passiert heute?“ fragte ihre Mum. „Du bist so ruhig.“ Erst als sie zu Hause waren, erzählte Maja ihr, was passiert war. „Gibt es den Weihnachtsmann?“ fragte sie schließlich und sah ihre Mutter verzweifelt an. Irgendwann musste es zu dieser Meinungsverschiedenheit zwischen den Kindern kommen, das war klar. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dann diese Frage kommen würde. Aber ihre Mum hatte sie schon erwartet. Sie kniete sich hin, um ihrer Tochter in die Augen schauen zu können. Sie strich ihr über die blonden Haare. „Natürlich gibt es einen Weihnachtsmann, mein Schatz. Vielleicht nicht genau so, wie du ihn dir vorstellst. Auch ich habe den alten Mann, mit weißen Bart, roten Mantel und großen Schuhen noch nie gesehen. Aber es gibt ihn. Er existiert in unseren Gedanken und Träumen. Wenn du an ihn glaubst, dann gibt es ihn auch. Es ist deine Fantasie, die dir zeigt, wie er aussieht und ob er existiert.“ Maja dachte lange darüber nach. Diese Erklärung war für ein kleines Mädchen, das immer fest an ihn geglaubt hatte, ein wenig zu kompliziert. Gibt es ihn nun oder nicht? Egal. Also glaubte sie weiterhin mit Stolz an den Weihnachtsmann. Ihr war mittlerweile egal, was die anderen dachten. Hauptsache sie war sich ihrem Glauben sicher. Das war das Wichtigste. Auch ihre Mutter war froh darüber, denn als Kind noch an den Weihnachtsmann zu glauben, war das Schönste. Die Vorfreude und den Glauben daran, das er wirklich kommen würde... Das gönnte sie ihrer Tochter, weil sie wusste, wie es sich anfühlte und sie wusste, dass es als Kind zu Weihnachten einfach am Schönsten ist. Als Kind hat man noch ganz andere Gefühle zu Weihnachten. Nur leider verschwinden diese, wenn man älter wird


mit der Zeit. Ihre Mutter wünschte sich auch noch mal Kind zu sein. Aber ich glaube, dass wünscht sich jeder... Jedenfalls wurde Weihnachten noch wunderschön, so wie Maja es sich vorgestellt hatte. Der Schnee blieb und sie konnte jeden Tag Schlitten fahren. Der besondere Tag, an dem sie das 24. und letzte Türchen öffnen durfte, rückte immer näher. Im Kindergarten bastelten sie Wunschzettel. Und zu Majas Überraschung bekam sie fast alles, was sie sich gewünscht hatte. Im Kindergarten hatten sie sich vorgenommen, ihre Wunschzettel mit dem, was sie bekommen hatten, zu vergleichen. Maja hatte tatsächlich mehr das bekommen, was sie sich gewünscht hatte, als der Junge, der nicht an den Weihnachtsmann glaubte. Nach diesem Ereignis begann er zu grübeln und überlegte, ob Maja mit ihrem Glauben an den Weihnachtsmann nicht vielleicht doch Recht hätte und es ihn wirklich gibt. Aber in diesem Fall war es wohl doch ihre Mutter, die sie Recht haben ließ. Aber gibt es ihn nun wirklich? Den alten Mann, mit schneeweißem Bart, langen roten Mantel und großen Schuhen? Diese Frage hatte Maja noch lange beschäftigt. In der Weihnachtsnacht hatte sie das Gefühl gehabt, der Schlitten des Weihnachtsmannes wäre tatsächlich auf ihrem Dach gelandet und sie glaubte das Schnaufen der Rentiere gehört zu haben. Oder hatte sie das nur geträumt???


Š Anika Brust


Eine Schneeflocke für Sarah T.G. Night Wenn der erste Schnee auf Erden fiel, um die Welt unter seinem jungfräulichen weißen Mantel zu bedecken, und die Weihnachtszeit langsam begann, wurden die Weihnachtsengel auf die Erde gesandt, um auch die letzten Wünsche einsammeln zu können, die sich die Menschen noch in letzter Minute aus vollem Herzen wünschten. Unschuldig und rein wie die ersten Schneeflocken sammelten die Engel die Wünsche vorsichtig und behutsam ein. Jeden Abend erschienen sie getarnt als kleine Schneeflocken, um die schönen Briefe, Träume und unschuldigen Gebete, die die Menschen unbedacht und ahnungslos in die Nacht flüsterten, mitzunehmen, sodass auch der letzte Wunsch in Erfüllung gehen konnte. Mein Name ist Maria und ich gehöre zu diesen Weihnachtsengeln. Wie jedes Jahr wurde ich mit den anderen Weihnachtsengeln auf die Erde geschickt, um die Weihnachtswünsche und die darin verborgenen Hoffnungen der Menschen einsammeln zu können. Einige von denen waren in wunderschöne Umschläge verpackt, andere waren selbstgemachte Briefe. Einige wussten es nicht, aber auch deren Gebete vor dem Fenster, die sie, ohne es zu merken, dem Abendstern ahnungslos anvertrauten, wurden von uns erhört und notiert. Sie waren genau so kostbar und wichtig wie all die anderen. Jeder Weihnachtsengel hatte seine Aufgabe bei der Einsammlung, sodass keiner verloren ging, oder schlimmer noch vergessen wurde. Es gab die Postweihnachtsengel, welche die Umschläge und Briefe einsammelten und sie zum Weihnachtsmann weiterleiteten für die Geschenke. Es gab die Traumweihnachtsengel, die in die Träume der Menschen huschte, den größten und innigen Traum aussuchten und diesen Gott und dem Weihnachtsmann erzählten, die dann entschieden, ob es ein ideales Weihnachtsgeschenk sei oder eher etwas für die restliche Zeit. Es gab auch Weihnachtsengel, die sich um die Wünsche der Tiere kümmerten und noch viele, viele mehr. Ich war für die letzten Wünsche zuständig, die zum Abendstern geflüstert wurden. Meine Aufgabe bestand darin, mit dem


ersten Schnee die Menschen zu finden, die Wünsche hatten, aber keine Möglichkeit fanden, sie jemanden anzuvertrauen. Vielleicht aus Angst oder weil sie nicht wussten, dass sie solch einen Wunsch in sich tragen, der nur darauf wartete, herauszukommen und erhört zu werden. Sie beteten den Abendstern Tag für Tag mit vor Träumen, Ängsten und Sehnsüchten schweren Herzen an und verrieten ihm ihre tiefsten und auch geheimsten Wünsche an. Ich hatte die Aufgabe, sie mir zu notieren und zu den anderen Wünschen zu leiten, sodass der Weihnachtsmann und Gott sie lesen konnten. Ich dachte nicht, dass es solch ein schweres Unterfangen sein würde, als ich zum ersten Mal auf die Erde gesandt wurde, und dort anfing die Wünsche und Hoffnungen einzusammeln. Doch ich wurde seitdem immer wieder von Neuem belehrt, was für eine harte Arbeit es war. Ich tat sie dennoch gerne und ich liebte sie auch, aber nichtsdestotrotz verstand ich, wie hart und schwer sie war. Einige Wünsche und Träume waren sehr eigenartig, andere wiederum waren sehr lustig und brachten mich zum Lachen, sie erheiterten mich sehr und ließen meine Aufgabe einfacher erscheinen. Einige waren von einfacher Natur und sehr schlicht gehalten. Manche waren mehr kompliziert oder sehr Herz erwärmend und dann gab es auch noch die, die meine Aufgabe erschwerten, da sie an meinem Herz zu rütteln begannen und mich nur schwer wieder gehen ließen. Jedes Jahr brach es mir von Neuem das Herz, wenn ich Träume hören musste, die keiner sonst zu hören schien. Die hoffnungslos klangen. Ich wusste zwar, dass sie am Ende Erhörung finden würden. Trotz alledem hing mein Herz an den harten Wünschen, bei denen es schien, als ob sie keiner je erhören würde. Eva, eine gute Freundin und ein Engel wie auch ich einer bin, sagte mir, als wir uns gerade zusammen vorbeugten um auf die Erde zu schauen und die Menschen zu beobachten, dass alle Engel einfach zu warmherzig waren und auch in gewisser Weise zu gut, um direkt auf die Erde geschickt zu werden, da es uns Engeln doch alles zu nahe ans Herz ging. Einige Engel konnten es besser vertragen, da sie so viel Liebe, Geduld und Warmherzigkeit besaßen, dass sie es nicht nur auf eine Person richteten. Aber dann gab es auch die Engel, die es nicht konnten, und die deshalb eines Tages auf der Erde bleiben würden, um sich um einzelne Menschen zu kümmern. Und auch ich würde durch mein reines und gutherziges Wesen, das all seine Wärme zu gerne mit anderen teilte, irgendwann einmal auf Erden bleiben.


Und sie hatte Recht. Der Winter kam wie jedes Jahr, doch der Schnee ließ auf sich warten und ohne Schnee war es uns unmöglich, auf Erden zu gelangen. Als der Schnee dann endlich auch kam und alles unter ihren Weißen Mantel bedeckte, hatten wir alle sehr viel Mühe, die Zeit nachzuholen, die uns verloren gegangen war durch den verspäteten Schnee. An meinem zwanzigsten Tag vor dem Weihnachtsabend fing ich an, eine kleine leise Stimme zu hören, kaum wahrnehmbar, die darum bat, dass jemand doch kommen möge, der sie und ihre kleinen Brüder lieben konnte und mit sich nach Hause nahm, sodass sie zusammen Weihnachten feiern könnten. Ich versuchte, die Stimme zu verfolgen, doch es gelang mir leider nicht so recht an diesem Abend. Am darauf folgenden Abend hörte ich wieder die gleiche Bitte und dieses Mal gelang es mir, auch die Stimme ausfindig zu machen, die sich heimlich in mein Herz zu schleichen schien. In einem Saal voll mit schlafenden, kleinen Kindern entdeckte ich die Besitzerin zu der kleinen Stimme und der großen Bitte. Es war ein kleines Mädchen, zart von der Statur, das hoch zu den Klaren Sternen Himmel sah und dabei leise vor sich hin weinte, aber nicht das beruhigende Streicheln über den Rücken der zwei Jungen unterbrach, die an ihrer Seite friedlich schliefen. Ich notierte mir ihren Wunsch und fuhr fort, weiter einzusammeln, denn auch die anderen Wünsche mussten erhört werden. Doch die Bitte und das Bild, das sie mir bot, wie sie so einsam am Fenster saß, trotz all der anderen kleinen Körper um sie herum, lies mich einfach nicht mehr los. Am nächsten Abend kam ich wieder an ihr Fenster und sah zu wie sie den beiden Jungen wieder beruhigend über den Rücken strich und leise summte. Ihr schulterlanges, braunes Haar war ein trauriger Anblick, der ihre Augen verbarg und sie noch kleiner und zerbrechlicher wirken lies. Als sie dann hoch zum Sternenhimmel sah, konnte ich in ihren klaren, violetten Augen die Jahre sehen, die sie geprägt hatten, all den Schmerz, die Trauer und die Angst vor dem unbekannten Schicksal. Dabei war sie gerade mal sechs Jahre alt. Ich selber verstand die Welt nicht mehr in der sie lebte. Was war nur falsch mit den Menschen, wenn sie solch einem zartes Wesen solch einen erwachsenen Blick in die Augen zauberten? Das Bild und ihr Blick brannten sich tiefer in mein Herz hinein, ohne dass ich es überhaupt bemerkte. Es stimmte mich so traurig, dass ich immer wieder kam, um nach dem Verbleib des kleinen Mädchens zu sehen, das mein Herz einfing, und ich wurde von Mal zu Mal trauriger. Bis Gott mich zu sich rief und mich fragte, was mich so traurig machte. Er beobachtete all die Engel und sah mir meine Trauer an. Mit leiser und trauriger Stimme fing ich an, ihm von dem kleinen Mädchen zu erzählen,


das ich seit dem Tag, als ich sie zum ersten Mal sah, immer wieder aufsuchte, um zu sehen ob es ihr gut ging. Gott lächelte mich liebevoll und mit so viel Verständnis an, dass ich weinen musste. Er sagte zu mir, dass er nicht mehr nach jemandem suchen musste, der geeignet sei für das kleine Mädchen, sodass sie ihr Weihnachtsgeschenk bekommen konnte: eine Familie. Es sei das größte Geschenk, wenn es das Schicksal möglich macht, zwei Herzen, oder in diesem Falle vier Herzen zusammen zu führen, die einander brauchten, so wie das meine und die der drei Kinder. Und so wurde ich zum letzten Mal von Gott mit all den anderen Engeln auf die Erde gesandt, die sich schweren Herzens von mir verabschiedeten. Gott gab mir ein Heim und ein neues Leben auf Erden, sodass ich die drei Menschen zu mir holen konnte, die mich brauchten und die ich brauchte um endlich glücklich zu sein. Wir bauten uns ein Zuhause auf voller lachen und Liebe. Kein Tag mehr war einsam und ich bedauere bis heute nicht diese große Entscheidung, denn sie schenkte mir eine Familie mit der ich von nun an weinen, lachen, singen, schreien und so vieles mehr machen konnte und erleben durfte. Von nun an feierten wir an jedem Weihnachtsabend mit Liebe und Glück unsere Zusammenkunft. Das kleine Mädchen, das Sarah heißt, und die beiden Jungs namens Max und Tim, bekamen eine Mutter, die sie liebevoll Mama Maria nannten. Nie wieder richteten sie solch einen großen Wunsch an den Abendstern. Sobald der erste Schnee vom Himmel fiel, entzündeten wir eine Kerze jeden Abend bis zum Weihnachtsabend, um den Engeln zu danken für die Mühe und Arbeit und dass sie unseren größten Wunsch erfüllt hatten. Und ich konnte auch fast Evas lange braunen Locken sehen und wusste, dass sie da draußen war, um auch die Wünsche der anderen Menschen zu erhören. Ich konnte hören, wie sie leise flüsterte: "Ich freue mich, Maria, dass du ein warmes Heim gefunden hast und das du die Liebe teilen kannst und sie auch erwidert bekommst. Ich vermiss dich und werde stets über dich und deine Kinder wachen." Ich lächelte raus in die dunkle Nacht uns sah zu, wie neue Schneeflocken vom Himmel fielen.


© T.G. Night - Wer ist T.G. Night?

T.G. Night, geboren 1986, als Tochter einer Thailändischen Mutter und einem Deutschen Vaters in Berlin. Nach ihrer Ausbildung als Bauzeichnerin hat die Reiselust von ihr Besitz ergriffen und sie fortan als Au-Pair fremde Länder und Kulturen sehen lassen. Sie schrieb schon als Kind Geschichten, die sie ihrer Familie und Freunde erzählte. Traute sich bisher aber nicht es auch fremden zu zeigen. „Eine Schneeflocke für Sarah.“ ist ihre erste veröffentliche Geschichte die Leser zum Träumen verführen soll in der Kalten Winterzeit. Derzeit lebt sie in Thailand, bis der Wind in ihren Leben wieder aufkommt und sie in neue Länder und unbekannte Städte trägt wo auch schon neue Geschichten und Abenteuer auf sie warten. https://twitter.com/@tg_night


Maria und Jonas Sarah Schmitz Der Nachthimmel spannte sich als Tuch mit tausenden, funkelnden Lichtlein über die Erde. Im zarten Schein der Sterne glitzerte die Wasseroberfläche des Sees wie ein Meer aus Diamanten. Schneeflocken strichen sanft über die erröteten Wangen einer jungen Frau, welche auf der hölzernen Bank kauerte. Einsam war sie. Einsam, völlig alleine, am Heiligen Abend. Ihr Handy, welches im pulvrigen, weißen Schnee lag, schenkte ihr Hoffnung; Hoffnung darauf, dass vielleicht noch jemand an sie dachte. Aber dem war nicht so. Es gab niemanden mehr – außerdem dem Kinde in ihrem Leib. Zitternd rieb die Frau die bloßen Hände an den Bauch. Augenblicklich pochte ihr Herz schneller. Wärme erfüllte sie für einen einzigen Moment. Sie vergaß, wie sehr sie in dieser Nacht fror. Erst der eisige Wind aus dem hohen Norden verwehte all die Liebe in ihr. Hastig schlang sie den bunten Schal mit dem braunen Schokoladenfleck enger um den Hals. Ein Auto schoss vorüber. Kurz huschten die Scheinwerfer über das blaue, schmale Gesicht. Die Reifen quietschten. Aber der Fahrer hielt nicht an, sondern rief lediglich: „Frohe Weihnachten, Kleine!“ Dies klang beinahe spöttisch. Denn froh mochte dieses Weihnachten keinesfalls sein. Als die junge Frau den Eltern bei Tische von dem Kind erzählte, welches sie erwartete, hatten diese sie verstoßen. „Zur Adoption freigeben - sofort!“, brüllte der Vater. Seine herrische Stimme verjagte die Spatzen, die auf dem Fensterbank Körner pickten. Ihr Mutter hatte lediglich die Hände vors Gesicht geschlagen und leise geschlurzt: „Du machst dein Leben kaputt, Marie. Du bist doch erst sechzehn. Noch so jung und…“ „Aber, Mutter!“


Der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch: „Und wer ist der…?!“ „Jonas Davids, ein Maurerlehrling im ersten Jahr.“ „Hinfort mit dir, bis du dich besonnen hast!“ „Was?! Vater, ich bitte dich…“ Die Stimme versagt ihr. Ein wässriger Vorhang verdeckte die Sicht auf die Krippe unter dem geschmückten Weihnachtsbaum. Völlig verzweifelt, kopfschüttelnd riss sie ihre Jacke von der Garderobe, schlüpfte in die Schuhe und rannte in die dunkle Nacht hinaus. Mehr und mehr Schneeflocken tanzten nun auf ihr langes, blondes Haar herab. Aus den Fenstern strahlten die Lichter der Weihnachtstannen. Der Geruch von Plätzchen und allerlei Köstlichkeiten lag in der Luft - es war schließlich Weihnachten. Das Fest der Liebe, welches niemand mit ihr zu teilen gedachte. „Marie!“ Die junge Frau hob den Kopf und starrte in ein ihr wohlbekanntes Gesicht. „Marie, mein Mädchen.“, murmelte Jonas Davids, „Weshalb bist du nicht bei deiner Familie? Warum speist du keine Vanillekipfel und Schokoladennikolause?“ „Ach, Jonas.“ Schlurzend schmiegte sich Marie an die wärmende Brust ihres Freundes. „Ich dachte, auch du hättest mich verlassen, bloß weil ich wünsche, unser Kind behalten zu dürfen.“ „Hunderte Mal, mein Schatz, habe ich dir geschworen, dass ich euch liebe – euch beide, dich und das Kind.“ Andächtig kniete er nieder, lächelte, mit der Hand über den Bauch streichelnd. „Für euch ginge ich an das Ende der Welt und zurück. Das verspreche ich.“ „Aber wir haben kein Geld. Wovon wollen wir leben? Ich muss in die Schule, mein Abitur schaffen. Die 500 Euro, die du während der Ausbildung verdienst, reichen gerade einmal für einen von uns und…“ Das Junge legte ihr besänftigend den Zeigefinger auf die Lippen. „Psst, ganz ruhig.“


„Ich… Ich kann nicht.“, erwiderte Marie. In der Ferne läuteten vom Kirchturme herab die Glocken zur heiligen Messe. „Komm, lass uns ein Hotelzimmer reservieren.“ Entschlossen legte Jonas seine Hand in des Mädchen, wobei er es mit sich zog. „Nur für diese Nacht.“ Und so spazierten sie durch den matschigen, vom Abgas der Autos braun gefärbten Schnee auf der Suche nach einer Bleibe. Die Hände blau-rot vor Kälte klingelten sie an der ersten Türe einer Jugendherberge. „Was wollt ihr? Ich spende nichts.“ Der Herbergsvater im Nikolauskostüm verzog grimmig das Gesicht. Sein grauer Bart war ungepflegt, die Haare fettig. Dreck sammelte sich unter den Fingernägeln, die nun ungeduldig über das Holz des Türrahmens tippten. „Guten Abend, Herr. Wir würden gerne in Ihrem Hause nächtigen.“ „Macht 69 Euro.“ „So viel?“ „Bist du etwa taub?!“ Erzürnt trat der Mann aus der Türe hinaus, sodass das Pärchen erschrocken einen Schritt zurückwich. „69 Euro, keinen Cent weniger. Wenn ihr nicht zahlen könnt, so schert euch davon.“, knurrte er. Seufzend ging das Paar weiter und erreichte als bald ein nobles Hotel. Der Vorgarten wurde von einem Dutzend Plastikengeln erleuchtet, die Fensterrahmen von Lichterketten umrandet. Auf den weißen Tischdecken stapelten sich Teller voller Speisen. „Glaubst du, Jonas, dass man uns gerade dort aufnimmt?“, fragte Marie niedergeschlagen. „Menschen, die solch eine Stromrechung bezahlen und sich das teurere Rentierfleisch als Vorspeise leisten können, ja, solche Menschen werden sicherlich gütig sein.“


Von ihrem Schreibtisch aus, auf dem sich einige Unterlagen stapelten, lächelte ihnen eine freundlich aussehende Dame zu, die sich aufrichte, ihren knielangen Rock glatt streichend. „Guten Abend. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ „Guten Abend. Wir würden gerne ein Zimmer reservieren – wenn möglich ohne Zusatzleistungen.“ Nickend flogen die Finger der Frau über die Tastatur ihres Computers. „All unsere Zimmer sind ausgebucht. Das einzige, welches noch frei wäre, wäre die VIP-Suite im Dachgeschoss, aber ich denke, diese käme für Sie nicht in Frage.“ „Könnten wir das Geld nicht im Laufe der nächsten Wochen zurückzahlen? Meine Freundin ist im achten Monat schwanger und wir benötigen dringend eine Bleibe.“ Die Angestellte schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid.“, entgegnete sie mit einem Tonfall, der verriet, dass ihr nichts Leid tat. „Dies ist nicht möglich. Ich kann Ihr Anliegen nachvollziehen… aber nein.“ „Ich kann mein Handy hinterlegen. Meine Armbanduhr, meinen I-Pod. Hier, nehmen Sie alles, was ich besitze.“ „Ihr Besitz, nun ja, ist von geringem Wert.“ Flehend nahm Jonas die Hand der Angestellten, legte den Kopf schief: „Worüber würden Sie sich mehr freuen? Über eine gute Tat oder… Geld?“, fragte er leise. Schweigen, nur die leise Melodie von „Jingle Bells“. „Lass uns gehen, Jonas. Dies hat keinen Sinn“, meinte Marie schließlich. Feucht glitzerte es in ihrem Augenwinkel, als sie plötzlich zu Boden sank. Wellen des Schmerzes jagten durch sie hindurch. „Marie!“, schrie Jonas entsetzt. Liebevoll küsste er ihre heiße Stirn. Sofort bildete sich eine neugierige Menschenmeuten um die beiden im Schnee kauernden Jugendlichen. „Gedenket dem Kindlein in der Heiligen Nacht vor 2010 Jahren, zu dessen Ehren wir „Weihnachten“ feiern“, rief der junge Mann. „Damals streiften Maria und Josef durch die Straßen, klopften an die


Türen der Herberge. Durch Glück fanden sie eine Krippe, in der das Jesuskind sicher geboren wurde. Vielleicht, vielleicht haben wir, dieses Mädchen und ich, nicht so viel Glück. Vielleicht wird unser Sohn nicht gesund und wohlauf sein, wenn er das Licht der Welt erblickt. Sein Schicksal liegt alleine in ihrem Portemonnaie: Spenden Sie uns einen Euro, damit wir uns eine Unterkunft leisten können. Bitte…“ Grob schnitt ihm ein Familienvater das Wort ab. „Welch eine Frechheit. So unvernünftig, wie die Jugend heute ist, geschieht es euch recht.“ Daraufhin verschwanden mehr und mehr Menschen in der Dunkelheit. Nicht ein einziger reichte dem Pärchen die Hand. Verzweifelt legte sich Marie in den schmutzigen Schnee. Sie konnte nicht mehr. Eisige, glasklare Tränen rannen über ihre erröteten Wangen. Ihre Lider flatterten. Dunkelheit schenkte sich über ihr Haupt. Es hatte zu stürmen begonnen. Nebelschleier umarmten das Licht der Straßenlaternen. Kälte schlug ihnen wie eine Faust in die ungeschützten Gesichter. Das Erste, was sie spürte, als sie aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte, war die Wärme, die sie umgab. Die Augen verschlossen tastete sie mit den Fingern neben sich und registrierte erstaunt, dass sie wieder fühlte. Weiche, warme Wolle. Mehr und mehr Reales drang in ihren Sinn. Der Geruch von Gebäck. Der Gesang von „Stille Nacht, heilige Nacht“ im Radio. Stimme, die weit weg und doch sehr nah klangen. Langsam öffnete sie die Augen und erkannte ein kantiges Gesicht, welches sich über sie beugte. „Bist du… bist du ein Engel?“, formten ihre Lippen. Der junge Mann lachte mit einem Blick auf seine zerrissene Lederjacke und die löchrigen Chucks. Seine Haare waren an den Seiten kurz geschoren, in der Mitte blau gefärbt. Piercings spickten die Ohren. Hinter seiner dreckigen und verkratzten Brille wurden seine tiefgrünen Augen vergrößert. „Danke für das Kompliment.“ Er grinste, wobei seine schiefen Zähne sichtbar wurden, „Aber nein, ich bin Gabriel.“


„Wo bin ich?“ Beschämend kratzte er sich am Kopf: „Leider muss ich dich enttäuschen – dies ist nicht der Himmel, sondern die hässlichsten Wohnung Kölns. Ich wünschte, ich könnte euch etwas mehr bieten.“ Panisch richtete sie mich im Bett auf, ließ sich jedoch aufgrund der Schmerzen sofort wieder in die Kissen fallen. „Wie… wie bin ich hierhergekommen?“ stotterte sie. Ihre Stimme überschlug sich beinahe. „Jonas, mein Freund, wo… wo ist er?“ „Ich bin hier, Marie.“ Jonas hockte sich auf die Bettkante und deckte seine Freundin zu. Sein ruhiger Tonfall beruhigte das Mädchen ein wenig. „Gabriel ist der einzige, der nicht weggesehen hat und sofort anbot, dass wir bei ihm wohnen dürfen. Er ist wahrlich der gütigste Mensch auf Erde.“ Plötzlich stöhnte Marie auf. Schweiß perlte von ihrer Stirn. „Es… Es ist soweit“, wisperte sie. „Habe keine Angst“, erwiderte Gabriel betont gelassen. Im selben Augenblick schlug er die Fäuste über dem Kopf zusammen. „Oh Gott im Himmel, lasse dies ein Traum sein! Ich bin nicht würdig, diese frohe Botschaft eingeleitet zu haben – schon gar nicht in meiner „Darth Vader“-Bettwäsche“, wiederholte er immer wieder, während er durch die unaufgeräumte Zwei-Zimmer-Wohnung tigerte. Jonas lächelte. „Gabriel, wir befinden uns nicht in Bethlehem, deine Wohnung ist keine Krippe und du bist kein Ochs’ und Esel. Marie, glaubst du, dass du es noch zu Fuß ins Krankenhaus schaffst?“ Schwach schüttelte das Mädchen den Kopf. „Nein.“ Ihre Hände krallten sich in die Bettdecke, sodass ihre Knöchel weißlich hervortraten. „Okay, tief einatmen, ganz tief einatmen. So ist es gut. Ein, aus, wieder ein. Gabriel, ruf die Hebamme! Schnell!“ „Die Hebamme – natürlich!“ Zwei Stunde später wiegte Marie ihr Kind im Arm. Seine Augen waren geschlossen, die Händchen griffen nach dem Finger seiner Mutter. Jonas, der am Bett kniete, hütete über den friedlichen Schlaf


seines neugeborenen Sohnes. Stille hüllte die glückliche, kleine Familie in einen tiefen Zauber. Über die Wände tanzten die Schatten der Kerzen. Der Duft eines weißen Weihnachtssternes lag in der Luft. Gabriel, der auf dem Balkon stand, hatte die Hände zum Gebet gefalten, während er in den von Sternen übersäten Himmel starrte. Plötzlich durchfuhr ein Klingeln die liebliche Ruhe. Verwundert richtete sich Jonas auf. Sein Blick schweife zur Küchenuhr hinauf. Es war beinahe Mitternacht. Die Zeiger bewegten sich auf einen neuen Tag zu. „Erwartest du Besuch?“, rief zu Gabriel herüber, der die Achseln zuckte. „Nein, im Grunde nicht.“ Unschlüssig schlich Jonas zur Türe herüber, darauf bedacht, möglichst wenig Chaos zu beseitigen. Als er die Klinge herunterdrückte, stürmten zwei Gestalten ungehalten in die Wohnung. Erschrocken fuhr Marie hoch. „Vater, Mutter! Wie… was?“, stammelte sie. „Ein Stern am Himmel wies uns den Weg.“ Gabriel hob unschuldig die Hände: „In deinem Handy war die Telefonnummer gespeichert.“ „Frau Goten, Herr Goten.“ Höflich verbeugte sich Jonas vor den Eltern seiner Freundin. „Ich weiß, all dies ist nicht im Sinne Ihrer Zukunftspläne. Vermutlich haben Sie einen besseren Schwiegersohn und Vater Ihres Enkels erwünscht. Jemanden, der studiert, seine Masterprüfung mit Bravour besteht und anschließend ein Vermögen verdient. So ein „Jemand“ bin ich nicht. Doch möchte ich Ihnen sagen, dass ich immer für Marie da sein werde. Ich liebe Ihre Tochter von ganzem Herzen, Herr Goten. Damit Marie Ihr Abitur machen kann, werde ich einen Nebenjob annehmen, mit dem wir eine Tagesmutter finanzieren.“ „Nach alle dem, was in dieser Nacht geschah, können wir unser Kind nicht zur Adoption freigeben“, erwiderte Marie und erzählte von der Suche nach ihrer Bleibe. „Natürlich“ Der Mutter hockte sich auf die Bettkante und strich ihrer Tochter eine Strähne aus der Stirn. „Wir möchten uns für unser grobes Verhalten entschuldigen“, fügte ihr Vater hinzu, während


er Jonas die Hand reichte, „Es war falsch, dich zu verstoßen. Schließlich ist dieses Kind ein Geschenk Gottes.“


© Sarah Schmitz – Wer ist Sarah Schmitz? Name: Sarah Schmitz Geboren am: 4. September 1992 (18 Jahre) Bisherige Veröffentlichungen: „Der Weihnachtsengel“, Kurzgeschichte, HS-Woche. (2006) „Die Lebensschaukel“, Anthologie „Chaos in jung“, Chaotic Revelry Verlag. (2008) „Der Hütchenspieler“,

Literaturpreis des Landtages NRW.(2010)

„Albinoweiß“, Anthologie „der Gier“, Michason & May Verlag. (2010)


Am Ende der Welt Martina Decker Jens fluchte leise. Das Schneegestöber wurde immer heftiger. Die Flocken tanzten wild im Scheinwerferlicht, nahmen ihm jede Sicht. Die Fahrbahn war ein einziges weißes Band. Der Scheibenwischer raste über die Windschutzscheibe – tok-tok, tok-tok – monoton und nahezu ergebnislos. Er hätte doch die Route über die Autobahn nehmen sollen. Wie war er nur auf die Schnapsidee gekommen, über Land zu fahren? Jens beugte sich etwas vor. Versuchtem, durch die schmierigen Streifen auf der Scheibe ein Hinweisschild zu entdecken. Er hatte auf einmal das Gefühl, völlig vom Weg abgekommen zu sein. Im Schritttempo fuhr er weiter. Unter der Schneedecke lag das blanke Eis. Zweimal war das Heck schon ausgebrochen und der Straßengraben gefährlich nahe gewesen. „I am dreaming of a white Christmas...” sang Chris Rear und in Jens’ Ohren klang es wie blanker Hohn. Er schaltete das Radio ab. Jetzt war nur noch das Knirschen der Reifen auf dem Schnee zu hören, das Klappern des Scheibenwischers und das eintönige Gesurre der Klimaanlage. „Oh du Fröhliche…“ murmelte Jens sarkastisch. „Irgendwie hab ich mir den Weihnachtsabend doch etwas gemütlicher vorstellt!“ Zuhause in der Küche lag ein Stück Gänsebrust, das er sich hatte braten wollen. Dazu ein paar Knödel aus dem Kochbeutel und eine kleine Dose Rotkraut. Ein gutes Glas Rotwein und ein noch besserer


Film – das war der Plan gewesen. Für Fritz, seinen Kater, hatte er eine Dose von diesem besonders exklusiven Futter geholt. Sein Magen knurrte. „Halt die Klappe! Es gibt nix!“ Jens musste lachen. Er unterhielt sich mit seinem Bauch! Das war absurd! Tastend suchte seine rechte Hand die Ablage ab, ohne dass er dabei die Augen von der Fahrbahn ließ. Vielleicht fand sich ja zufällig noch ein Keks oder ein Kaugummi. Plötzlich tauchten bunte Lichter vor ihm auf. Im ersten Moment glaubte Jens, er würde sich das einbilden. Doch mit jedem Meter stachen sie deutlicher aus dem Schneegestöber hervor und dann erkannte er die Umrisse eines kleinen Hauses. Der Schriftzug „Waldschänke“ leuchtete ihm gelb-grün entgegen und in einem der Fenster blinkte ein roter Stern. Jens stellte den Wagen auf dem Seitenstreifen ab und blieb einen Augenblick regungslos sitzen. Die Uhr im Armaturenbrett zeigte viertel nach sechs und in die Freude über das Unerwartete mischten sich Zweifel, ob die Gaststätte überhaupt geöffnet sein würde. Mit einem hoffnungsvollen Seufzer zog er seine Jacke an und stieg aus. Schon auf dem Weg vom Wagen zur Eingangstür schlug ihm der Geruch von fettigen Pommes Frittes und zu scharf angebratenen Frikadellen entgegen. Zögerlich drückte er die Klinke und stellte erleichtert fest, dass die Tür wirklich nicht verschlossen war. Schnell trat er ein. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an das Dämmerlicht in dem Schankraum zu gewöhnen. Direkt gegenüber war ein langer Tresen, drei schmale Tische standen unter den Fenstern, die wild mit Engeln und bunten Kugeln behangen waren. Auf den braun karierten Tischdecken lagen dürre, mit dunkel roten Bändern geschmückte Tannenzweige und flackerten einfache Teelichter. Der Gastraum war leer. Aber aus einem Raum hinter der Theke drang das Klappern von Geschirr. „Hallo!“ rief Jens. „Ist jemand da?“ „Wir haben geschlossen…“, bekam er zur Antwort und eine Frau tauchte im Türrahmen hinter der Theke auf. Nachlässig wischte sie sich die Hände an der Schürze ab und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre dunklen Augen sahen Jens ernst, aber nicht unfreundlich an. „Es riecht wirklich


gut… wissen Sie, der Schneesturm und … können Sie mir vielleicht wenigstens sagen, wo ich hier bin?“ versuchte Jens zu erklären. „Am Ende der Welt!“ antwortete sie und nichts in ihrem Gesicht deutete darauf hin, dass es sich dabei um einen Scherz handelte. „Na prima!“ meinte Jens. „Genau das habe ich befürchtet!“ Er lächelte verkrampft. Schweigend standen sie einander gegenüber. Ihr Blick glitt an ihm herunter, maß ihn ab. Jens begann zu schwitzen. Winzige Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und nur zu gerne hätte er die Jacke ausgezogen. Der Ofen in der Ecke heizte ordentlich. Unschlüssig, was er nun machen sollte, stand er im Raum. „Wir haben geschlossen!“, hatte sie ihm zugerufen. „Ja, dann geh ich wohl mal wieder“ sprach er in die Stille hinein und wandte sich zum Gehen. „Frohe Weihnachten und entschuldigen Sie bitte die Störung!“ Rückartig zog er die Tür auf. Wind und Schnee schlugen ihm entgegen und fröstelnd stellte er den Kragen seiner Jacke hoch. „Wenn Sie wollen, können Sie bleiben, bis das Wetter sich beruhigt hat!“ Ihre Stimme klang angenehm warm und weich. Erfreut drückte er die Tür schnell wieder zu. „Es sind noch ein paar Frikadellen da vom Mittagstisch. Wollte sie gerade wärmen. Und Kartoffelsalat.“ „Ich liebe Frikadellen!“ Sie nickte und verschwand wieder in der Küche. Jens hängte seine Jacke über einen Stuhl. Dann rollte er die Ärmel seines Hemds auf und ging ihr nach in die Küche. „Wo finde ich Teller und Besteck?“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf einen Schrank. „Unteres Regal. Besteck ist in der Schublade darüber.“


Eine viertel Stunde später saßen sie beide am Tisch nahe dem Ofen. Jens hatte hinter der Theke eine halbvolle Flasche Rotwein gefunden. „Danke für die Einladung!“ Er hob das Glas. „Übrigens: Ich heiße Jens.“ „Emma!“ Mehr sagte sie nicht, aber sie hielt seinen Blick. Jens fand sie hinreißend. Sie hatte braune Augen, die ein wenig schräg standen. Die dunklen, schulterlangen Haare waren zu einem losen Zopf zusammengebunden. Jens fiel auf, dass sie weder MakeUp noch Schmuck trug. Schweigend leerten sie die Teller. Emma schien nicht reden zu wollen und Jens wollte nicht aufdringlich sein. Aus dem kleinen Radio in der Küche drang Weihnachtsmusik in den Gastraum. Leise summte er mit. „Hast du Familie?“ nahm Emma unvermittelt das Gespräch wieder auf. Er schüttelte den Kopf. „Ich lebe alleine! Meine Eltern sind schon vor Jahren ausgewandert und aalen sich jetzt vermutlich gerade in der Sonne Melbourns!“ „Keine Freundin?“ „Keine Zeit!“ Er goss Wein nach. „Und du?“ „Meine Eltern sind tot – ihnen hab ich diesen Laden hier zu verdanken. Mein Mann ist weg - hat mich vor die Wahl gestellt: Er oder die „Waldschänke“. Er wollte nicht mit mir am Ende der Welt leben.“ „Nicht gut!“ „Doch!“ Das erste Mal an diesem Abend lächelte sie. Das Eis war gebrochen. Jens erzählte von seinem Job als Handelsvertreter und von den Kunden und Emma von den Schwierigkeiten, die sie anfangs hier gehabt hatte und ihrer neu gewonnenen Unabhängigkeit.


Mit der zweiten Flasche Wein wechselten sie vom Tisch auf die gemütliche Holzbank vor dem Ofen. Emma hatte die Beine angezogen und mit ihren Armen umschlungen. Ihr Kinn lag auf den Knien und mit glänzenden Augen sah sie auf die glimmenden Holzscheite. Jens war bis auf die Kante vorgerutscht und hatte sich entspannt zurückgelehnt. Das Feuer verströmte eine gemütliche Wärme. Kurz schloss er die Augen. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee ließ ihn die Augen wieder öffnen. Überrascht stellte er fest, dass es bereits Tag war. Versonnen sah er aus dem Fenster. Es schneite nicht mehr, aber über allem lag eine dichte Schneedecke. „Ausgeschlafen?“ Emma kam mit einer Kanne und einen Teller Gebäck aus der Küche. „Brot ist keins mehr da – aber dafür sind die Kekse selbst gebacken.“ „Danke, Emma! Das war ein wunderbarer Weihnachtsabend.“ meinte Jens. Sie nickte stumm, goss Kaffee in die Tassen. Er rührte minutenlang mit dem kleinen Löffel in der heißen Flüssigkeit herum. „Die Straße ist gut befahrbar. Ich habe vorhin bei der Straßenmeisterei angerufen. Bis zur Autobahn sind es nur sechs Kilometer. In gut einer Stunde bist du zuhause!“ Ihre Blicke trafen sich. „Ich komme wieder – wenn ich darf!“ „Die „Waldschänke“ ist ein Gasthaus – Gäste sind immer willkommen.“ erwiderte sie. Jens nickte. Gerne hätte er sie jetzt in den Arm genommen und geküsst. Aber er spürte, es wäre verfrüht. Er leerte die Tasse in einem Zug und stellte sie auf dem Tresen ab. Mit den Fingern ging er sich durch die Haare und zog seine Jacke an. An der Tür drehte er sich noch einmal zu ihr um. „Frohe Weihnachten, Emma!“


© Martina Decker - Wer ist Martina Decker? Martina Decker wurde 1964 in Bremen geboren. Sie lebt in Hackenheim in der Nähe von Bad Kreuznach. Wenn sie nicht arbeitet oder schreibt, genießt sie das Leben mit Familie und Freunden, spielt in einer Laienspielgruppe Theater oder liest ein Buch. Seit 2009 ist sie Mitglied der Autorengruppe Eulenfeder in Bad Kreuznach. Schreiben ist für sie Freude, Entspannung und manchmal harte Arbeit, wenn sich die richtigen Worte einfach nicht finden lassen wollen. Und immer auch ein Weg, ihre Gedanken zu ordnen und Geschehnisse zu reflektieren. Würde Geld keine Rolle spielen, hätte sie vielleicht ein kleines, literarisches Cafè. Es gäbe selbst gebackenen Kuchen, Bilder unbekannter Künstler an den Wänden und ebenso unbekannte Autoren würden Lesungen machen. Sie veröffentlichte bisher Haiku, Gedichte und Kurzgeschichten in div. Anthologien. Ihr Debütroman „Wolfskind“ ist seit August 2010 im Handel. Wer mehr wissen möchte: www.allesnurfantasie.de http://fraudecker.wordpress.com/ http://www.facebook.com/home.php?#!/profile.php?id=100001126880167


Der Weihnachtsbaumkugel-Dieb Patricia Brigl Hallo! Ich bin’s Niki, ich bin eine Dackeldame mittleren Alters. Mein Herrchen ist der berühmte Detektiv Alfred Reng. Ihr kennt ihn noch nicht? Skandal! Auf jeden Fall muss ich euch eine Geschichte erzählen ... Es war ein kalter, eisiger Wintertag, ich glaube es war sogar Heiligabend kurz vor 9.30 Uhr, das weiß ich noch ganz genau, denn ich bekomme immer genau um halb 10 Uhr mein Frühstück!!! Genau in diesem Moment klingelte das Handy von Alfred. Frau Bender war dran. Sie sagte mit ganz aufgebrachter Stimme: „Herr Detektiv, sie müssen sofort kommen! Bei mir wurde eingebrochen! Meine ganzen Christbaumkugeln sind verschwunden!!!“ Alfred meinte, er würde sich sofort mit mir auf den Weg machen. Natürlich sofort! Und ich? Ich musste natürlich wieder auf mein Frühstück verzichten! Pff! Wir machten uns auf dem Weg, es war kein weiter Weg, nur fünf Häuser weiter entfernt wohnt Frau Bender. Doch es war ein sehr, sehr rutschiger Weg! Ich bin heil davon gekommen und Alfred glücklicherweise auch. Das Opfer erwartete uns schon. Frau Bender lief uns ja fast in die Arme! Kurz danach standen wir im Wohnzimmer. Alfred verhörte sie: „Wann war der Baum unbeaufsichtigt? – Haben Sie etwas gehört?“ – und so weiter ... Ich schnüffelte in der Gegend herum und vernahm einen Geruch. Es war eine eigenartige Mischung aus Banane, Rum, Bier, Katze, Vanille und Zigaretten. Sehr verdächtig, dachte ich. Außerdem sah ich einen Fußabdruck. Ich schätze, dass es die Schuhgröße 46/47 war. So riesig, wie der war, konnte es aber auch Schuhgröße 52 sein! Schuhgrößen erkennen lernt man leider nicht in der SchnüfflerAusbildung!


Also, auf jeden Fall waren wir zurückgekehrt ins Büro. Alfred ging mit mir noch einmal die Fakten durch. Er sprach: „Sie hat nichts gehört, das Fenster war zu, aber unversehrt und niemand anders hat den Dieb entdeckt! Komisch, komisch! Genau jetzt an Weihnachten! Tztz!“ Er seufzte, es war ein trauriger Seufzer. Plötzlich hörten wir einen Schrei. Er kam aus dem Haus der Familie Gutt. Alfred sprang auf, gab mir ein Zeichen, zu folgen, und rannte aus der Tür. Dann krachte er mit Niko zusammen! Niko heißt eigentlich Nikolaus Bodento. Sein Vater war Italiener. Niko war ganz komisch angezogen, fast schon maskiert. Obwohl ich Niko sehr gerne mag, hab ich ihn ins Bein gebissen. Denn ich habe gesehen, als er mit meinem Herrchen diesen Zusammenstoß hatte, dass er Christbaumkugeln fallen ließ! Ich war schockiert! Und Alfred erst! Wir nahmen ihn mit in unser Büro. „Was soll das, du kannst doch nicht einfach die Nachbarschaft beklauen. Du hast doch Manieren oder habe ich mich in dir getäuscht?“ Als Alfred eine kurze Denkpause machte, ergriff der Dieb das Wort: „Entschuldigung, ich musste das machen, mein Bruder Jo hat mich gezwungen!“ Wie es sich herausstellte, musste Niko die Kugeln wirklich für Jo klauen, diese verkaufte Jo dann billig weiter, um sich zu Weihnachten einen Apple iPod leisten zu können! Die Eltern der beiden Jungen sind nicht gerade reich, einen anderen Einfall hatte er nicht, so kam er auf diese dumme, sogar sehr dumme Idee. Gnädigerweise haben Frau Bender und die anderen Opfer keine Polizeianzeige erstattet. Sie waren nur alle enttäuscht von den beiden Jungen. Als wir alles aufgeklärt hatten, war es schon nach 20 Uhr und ich habe dann endlich mein Weihnachtsgeschenk bekommen! Einen riesigen Hundeknochen! Von den Nachbarn habe ich sogar vier Tage später ein Halsband bekommen. Auf dem stand: Niki, unsere Christbaumkugel-Retterin! Also ich glaube, wir sind am Ende unserer Geschichtenstunde angekommen und so wünsche ich euch frohe Weihnachten und ein gutes, neues Jahr! Bis bald eure


Niki Wuff.


Š Patricia Brigl (15 Jahre)


Seniorenweihnacht Richard Mösslinger Wann friaher oaner gsagt hat: „Du wirst noh oft an die schöne alte Jugendzeit z’ruckdenkn!“, han ih allwal gmoant: „Ih net, wal mei Jugend net gar so rosig varlafm is. Etlah Jahr vorm Kriag geborn habm mia schiar gar nix ghabt. Im Kriag war ih mit der Muatter und die Gschwister alloan. Is Gwand han ih von eahner nachtragn müassn und hab nia was Neichs kriagt. Nachm Kriag is’s uns noh letzer gangen, wal der Vater in Gfangenschaft war. Hint und vorn hat’s zu nix anderm als zan Essn greicht. Heit, -zig Jahr danach wünschert ih ma(r) die alte Zeit wieder z’ruck. Warum? Sölm warn mia trotz Oanfachheit und Armut – oder grad destwegn – a Familie, dei zsammghaltn hat. Dei dahoam warn, habm gemeinsam auf Weihnachtn hing’arbeit’t. Und wann die Muatter von dem Wenign, was ma ghabt habm, oanfache Keks bachn hat, habm mia mithelfm därfm! Mia sand uman Adventkranz gsessn, habm Liader gsungen und Gschichtn sand vorglesn wordn. Mia warn, bis aufm Vater, alle beinand. Heut sitz ih da ganz alloan in mein Zimmer vom Altnheim – deis därf ma ja heut neama sagn, sondern Bezirksseniorenheim oder Altenwohnstätte – und hear zwar in mein Radio Weihnachtsmusi, aber ah net deis, was mia enter gsungen habm. Neimodern’s Zeich kimmt da aus der Raunl und is meiste is englisch. Wia wann mia net gnua schöne Liader auf Deutsch hättn! Sie habm sih im Heim ja bemüaht, uns Weihnachtn recht nett z’machen, aber die Weihnachtsfeier mit Bescherung war schon am 11. Dezember, wal später der Herr Bezirkshauptmann koa Zeit mehr ghabt hätt. Is ja eh varständlih, er hat ja ah a Familie und muass zur rechtn Zeit am richtign Platz – und deis is sei Familie – sein. Mia Altn varstangatn deis eh alle!


Is Packl von der Bescherung han ih noh varpackt vor mir liegn, ih mach’s erst auf, wann die Glockn zur Mettn leutn! Nur, bis dorthin is’s noh fürchterlih lang und ih bin alloan, alloan in mein Zimmer, koans von meine Kinder is da. Is ja eh klar, wal dei müassn mit eahnare Kinder Weihnachtn feiern, und da is ebm koa Platz für mih alts Leut. Abgsehgn davon, dass s’ ja net im Ort wohnen, wal s’ da koa Arbeit gfundn habm. Na, ih fühl mih net a(b)gschobm oder varlassn von meine Kinder! Was solltn s’ denn toan? Iader hat a eigene Familie weit weg von da und ah koan Platz, geschweige denn a Zeit für mih. Ih varsteh’s ja. Nur gehen s’ ma(r) schon sakrisch a(b), vor allm die Enklkinder! A Kartn habm s’ ma(r) ja gschickt und a Packl ah, aber deis werd ih erst aufmachn, wann is Mettngleut zan hearn is – wann ih net vorher einschlaf. Wann s’ schon net da sein können bei mir, anruafm hättn s’ vielleicht doh können. Aber auf deis denkn s’ wahrscheinlih net. Ganz alloan sitz ih da und Weihnachtn gschiacht. Is’s da a Wunder, wann ih mih an mei Kindheit erinner und mia sölbige Zeit z’ruck wünsch?


© Richard Mösslinger - Wer ist Richard Mösslinger? Schulrat Richard Mösslinger, VD Geboren 1951 in Leoben, Unterrichtstätigkeit in Krieglach/Stmk. Ich schreibe Lyrik in Mundart und Hochsprache – auch in Prosa, Kindergedichte und Theaterstücken für Schulklassen, Lieder für Kinder - gemischte Chöre, die ich selbst Texte und vertone. Habe mit Anthologien, eigenen Büchlein und „Reibeisen“ des Europa-Literaturkreises-Kapfenberg ca 43 gebundene Veröffentlichungen, zahlreiche Veröffentlichungen in Tageszeitungen und anderen Zeitschriften, aber auch im Internet ( http://www.vs-material.wegerer.at oder http://www.europalteratur.blogspot.com.) Zahlreiche Lesungen im In- und Ausland (auch Istanbul), besprach, besang mehrere Tonträger und produzierte eine Audiokassette mit eigenen Liedern mit meinem Kinderchor.


Der Weihnachtsopa Nadja Close „Ich kann es nicht mehr hören, ewig dieses Gedudel, diese Weihnachtsmusik, nein, das nervt“, so brummelte er vor sich hin, während er sich durch das Gedrängel in der City schob. Meine Güte, ist das wieder voll. „So passen sie doch auf, sie dumme Kuh“, knurrte er die junge Frau an, die mitten im Gewühle wie verloren stand. Er sah sie kaum richtig an, es war ihm auch egal, andere Menschen interessierten ihn seit langem nicht mehr. Er interessierte ja auch keinen mehr, seit seine Frau tot war, keiner rief ihn an und Besuch, den hatte er lange nicht gehabt, wollte er auch nicht. Reichte schon, wenn er mitbekam, wenn seine Nachbarin wieder von ihren ach so süßen Enkeln schwärmte, es grauste ihn beinahe. Dieses sentimentale Geschwätz, nein, das brauchte er nun wirklich nicht. Mitten in diese Gedanken hinein, zupfte irgendwas an seinem Hosenbein. Missmutig strich er mit der Hand darüber, sah gar nicht hin. Und berührte eine Hand.. kleiner als die seine, ja, deutlich kleiner. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als hinzusehen, was ihn da so störend aus seinem Unmut riss.. ein Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, schätzte er. Woher sollte er das so genau wissen, seine Ehe war ja kinderlos geblieben..zum Glück, war ihm doch sicher einiges erspart geblieben...ach so, ja, das Kind. Guckte ihn so an, völlig unbeeindruckt von dieser Miene, die anderen doch deutlich machte, der Träger dieses faltigen Gesichtes will seine Ruhe und in diesen Kinderaugen glitzerte es verdächtig. „Du, hör mal, weisst du, wo meine Mami ist, auf einmal war sie weg.“ „Ist mir doch egal, vorher soll ich das wissen, du dummes Gör“ ...formte sich in seinem Kopf, doch heraus kam.. “Oh, schau an, wer


bist denn du?“ Nach ein paar Minuten wusste er, sie hieß Mona, wohnte in dem blauen Haus, dem großen, ihre Mama ist sooo hübsch wie ein Engel und heißt Lisa. Papa hat früher immer irgendwas von seinem Bild erzählt, aber das versteht sie nicht, jetzt ist der im Himmel, mit Opa und Oma und Mama ist auch weg...all das sprudelte nur so aus dem Kind heraus. Inzwischen hatte sie wie selbstverständlich seine Hand genommen, vertrauensvoll. “Komisch, warum ausgerechnet ich“, zog es kurz durch seine Gedanken. Das große blaue Haus, konnte das sein, dass sie ausgerechnet in seinem Haus wohnte, war die Kleine eine Nachbarin? Er ging mit ihr durch die City, sprach einige Menschen an, ob sie vielleicht helfen könnten “ ...meine Güte, sind die unfreundlich, manche hören gar nicht hin...“ „MAMA..da, da ist sie ja...“, strahlend stürmte Mona auf die junge Frau zu ..oh.. die dumme Kuh von vorhin.. dabei ließ sie seine Hand nicht etwa los, nein, sie zog ihn trotz ihrer Jugend kräftig mit. „Schau, das ist mein Schutzengel, der hat mich gefunden und geholfen dich zu suchen“ Freude auf beiden Seiten, Tränen in den Augen der Mutter ...er drehte sich um, wollte nicht stören. „Bitte, Herr Krüger, bleiben sie doch!“ .., “Sie kennen mich?“ Sie seien doch Nachbarn, seit knapp drei Wochen, sie habe ja auch bei ihm geschellt, um sich vorzustellen, aber ...ja, die Schelle hatte er, wie so oft ignoriert... Vier Wochen später saßen die drei bei Herrn Krüger im Wohnzimmer..weihnachtlich sah es hier aus..seit Jahren das erste Mal wieder ...Plätzchen, nein, die hatte er nicht gebacken, das hatte Lisa gemacht, die ihn lächelnd ansah..ihren Schutzengel. Adoptiert hatte ihn Mona, er war ihr Weihnachtsopa, so nannte sie ihn ...auf ihrem Wunschbrief hatte sie genauso einen Opa gemalt...sie wusste, sie war ja schon ein großes Mädchen, dass ihr Papa bei den Engeln war und auch als Weihnachtsgeschenk käme er nicht wieder..aber gegen einen Opa hatte wohl der Weihnachtsmann nichts einzuwenden...


© Nadja Close- Wer ist Nadja Close? Anbei meine Darstellung meiner Person, wobei es mir in diesem Bereich schwerfiel, mich kurz zu fassen. Inwieweit Sie dies nutzen können, obliegt Ihrer professionellen Beurteilung. Mit frdl. Gruß Nadja Close     

Personalia: Nadja Close, geb.: 17.07.1968 verheiratet seit 20 Jahren, drei Kinder(16,18,20) zur Familie gehört eine 4jährige Schäferhündin seit 15 Jahren Helferin in der Altenpflege Hobbys: Lesen,schreiben,mein Hund

Ich schreibe seit meiner frühesten Jugend Gedichte und Kurzgeschichten, ich verarbeite damit erlebtes, Erfahrungen, Gefühle, Ängste, Glück... Habe ich einen Stil? Ich denke eher nicht, ich entwickle mich, schreibe heute sicher anders, als vor Jahren, versuche mich an anderen Formen, versuche nicht langweilig zu sein, nicht unbedingt immer gleich zu schreiben. Veröffentlicht habe ich bisher nur im Internet, auf einer für mich sehr guten Gedichteseite.(www.gedichteseite.de), wo ich als "Mother3" agiere. Als junges Mädchen habe ich angefangen mit Kurzgeschichten,um mich später doch eher auf Gedichte zu konzentrieren. Aber die Lust Kurzgeschichten zu verfassen, ist mir nie ganz verloren gegangen. Den PC, erst nur benutzt, nutze ich ihn heute intensiver, auch um mich weiter zu entwickeln, zu lernen, mich an die Technik ranzutasten. Es reizt mich, meine Grenzen auch hier zu erweitern. Stagnation liegt mir wohl in keinem Bereich meines Lebens. Vorbilder in literarischer Hinsicht..ich versuche niemand zu imitieren, eifere wohl niemand nach. Mein Lieblingsdichter ist und bleibt Rainer Maria Rilke. Vorbilder in anderen Bereichen..ich bewundere so manchen Mitmenschen, eher die stillen, verborgenen Helden. Ich würde mich zwar als schwierigen Menschen bezeichnen, da mitunter zu ehrlich und unbequem, aber mich als Freund zu haben, heisst einen Mensch, der 100prozentig zu einem steht, der verteidigt(manchmal sich die Finger dabei zu verbrennen..), der gerne zuhört, gerne lacht,an seiner


Seite zu haben. An erster Stelle steht f체r mich, meine Familie, meine Kinder, mein Mann! Wobei ich nicht nur Mutter bin..ich bleibe auch Frau und eigenst채ndig denkender Mensch.


Das große Weihnachtswunder Karl Plepelits Warum eigentlich nennt man Weihnachten das Fest der Liebe? Etwa, weil da die Menschen Geschenke austauschen, um irgendeiner vage gefühlten Pflicht zu genügen? Oder weil die Liebe innerhalb der Familien am Heiligen Abend aufblüht gleich einem Büschel Barbarazweige? (Dass vielfach das Gegenteil zutrifft, ist ja kein Geheimnis.) Warum aber dann? Als ich noch ein holder Knabe im lockigen Haar war, vergnügte ich mich mehrere Jahre hindurch am Nikolausabend damit, als heiliger Nikolaus mit Bischofsmütze, Bischofsstab und einem Sack voller Früchte und Süßigkeiten durch die Gassen unserer kleinen Stadt zu ziehen, bekannte Familien mit kleinen Kindern zu besuchen und diese zu beschenken; und mehrere Krampusse begleiteten mich, schwangen die Rute und stießen gefährliche Laute aus, um den Kleinen den nötigen Respekt einzuflößen. Unter diesen Familien war stets die eines seit Jahren heimlich von mir verehrten Mädchens. Es hieß Regina, war über alle Maßen schön und ging in eine Parallelklasse meiner Schule. Zu meinem Leidwesen war es mir noch nie gelungen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen – kein Wunder; ich war ja viel zu hässlich (dies antwortete mir zumindest das Spieglein an der Wand) und überdies alles andere als ein Draufgänger, zumindest Mädchen gegenüber. Als Heiliger mit langem, weißem Bart hingegen, so sagte ich mir, könnte ich auf Regina vielleicht doch einigen Eindruck machen. Inzwischen war ich fünfzehn geworden. Wieder besuchte ich als Nikolaus mit meinen wilden Gesellen Reginas Familie und bedachte ihr Brüderchen mit Geschenken und salbungsvollen Worten und sie selbst mit sehnsuchtsvollen Blicken. Doch im selben Moment, wo wir danach ihr Haus verließen, gerieten wir unversehens in eine höchst unangenehme Situation. Eine Horde wilder Teufel trieb auf


der Straße ihr Unwesen, und soweit ich erkennen konnte, hatten sie nicht einmal einen Nikolaus bei sich. Sie begannen uns sofort zu belästigen und verfolgten uns bis in den nahen Stadtpark. Hatten wir jedoch gehofft, sie würden sich vor dessen Dunkelheit grauen, so stellte sich dies als Irrtum heraus. Gerade die Dunkelheit des einsamen und tief verschneiten Parks schien ihre Angriffslust ins Unermessliche zu steigern. Es dauerte nicht lange, da hatten sie uns umzingelt und gingen sogleich zum Angriff über, und es entbrannte eine heiße Schlacht zwischen den beiden höllischen Heerscharen, während ich nur erschüttert zuschauen konnte, wie sie gleich wild gewordenen Steinzeitkriegern mit ihren Ruten aufeinander losgingen. Plötzlich fiel mir ein, dass ich ja in meinen Händen, zumindest im Vergleich zu den Ruten, eine regelrechte Wunderwaffe hielt. Also stürzte ich mich, meinen Bischofsstab schwingend, mitten ins Kampfgeschehen, ohne noch länger auf ein Vorweihnachtswunder zu warten. Und sogleich ging einer der feindlichen Teufel unter jammervollem Stöhnen zu Boden. Seine Niederlage sollte jedoch nicht ungerächt bleiben. Mit barbarischem Geschrei stürzten sich die übrigen Feinde auf mich und hatten mir im Nu meine Wunderwaffe entrissen; und nun begannen sie, oder vielmehr, nun begann einer von ihnen mit ihr auf uns einzudreschen. Meine eigenen Teufel konnte er auf diese Weise zwar nicht zur Strecke bringen, denn die nahmen wie die Dämonen bei einer Geisterbeschwörung augenblicklich Reißaus. Mich aber brachte er zur Strecke. Ich spürte einen dumpfen Schlag am Hinterkopf und sah sogleich die lieben Sternlein, und mir lösten sich, wie Homer sagen würde, auf der Stelle die Knie und das liebe Herz, und mir schwanden die Sinne. Als ich wieder zu mir kam, dachte ich als Erstes, mir zerspringt der Schädel; so heftig schmerzte mich der Kopf. Gleichzeitig erschrak ich heftig über einen Entsetzensschrei aus weiblicher Kehle. Und war das nicht Reginas Stimme gewesen? Ich schlug die Augen auf und erkannte zu meinem Entzücken über mir tatsächlich Reginas schemenhafte Gestalt. Sie schien vor mir zu hocken oder zu knien und machte ein Gesicht, als erlebte sie gerade den Weltuntergang. Dies erheiterte mich so sehr, dass ich trotz allem kichern musste. Doch ehe ich noch irgendetwas sagen konnte, sprach sie mich an; und ihre Stimme klang so erleichtert, wie wenn ich eben von den Toten auferstanden wäre: "Du lachst? Also ist alles in Ordnung?"


"Aber ja", brummte ich mit Todesverachtung, indem ich mich zunächst zu einer knienden Position aufrappelte; und ich sah, dass Regina ebenfalls im Schnee kniete. "Aber wieso bist du hier?" "Weil ich das schauderhafte Gebrüll auf der Straße gehört habe. Und da dachte ich mir gleich, euch geht es an den Kragen, zog mich schnell an und rannte hinaus und euch nach. Kannst du aufstehen?" "Aber sicher", erwiderte ich im Brustton der Überzeugung. Und es gelang sogar, wenn auch nicht ohne Mühe und Reginas tatkräftige Hilfe (die mich einerseits glücklich machte, andererseits aber beschämte). Dann erinnerte ich mich an meinen Bischofsstab und den Sack mit den Geschenken und begann die ganze Umgebung danach abzusuchen. Und jawohl, den Sack fand ich ganz in der Nähe, und übrigens, nicht ohne Wehmut, auch meine schöne Bischofsmütze aus Pappe und Papier, schwer ramponiert; und ich dankte ihr im Stillen dafür, dass sie meinem Kopf als Knautschzone gedient hatte. Aber mein Bischofsstab war nirgends zu entdecken. Den hatten die bösen Feinde offensichtlich mitgenommen, wohl, um das Corpus delicti verschwinden zu lassen. Dies alles erzählte ich Regina, damit sie nicht dachte, ich hätte plötzlich den Verstand verloren, und sie schrie abermals entsetzt auf, als sie hörte, in welcher Form sich meine eigene Wunderwaffe gegen mich gekehrt hatte. Und als ich ihr versicherte, mir sei aber nichts passiert außer einer kleinen Ohnmacht und einem bisschen Kopfweh, erklärte sie mich frank und frei zu einem großen Helden (was mich stolz und glücklich machte). Leider sei sie zu spät gekommen, um mein Heldentum zu verhindern. Sie sei dem Krach nachgegangen. Aber dann sei es plötzlich mit einem Schlag still geworden. Die Kämpfer hätten sich offenbar in Luft aufgelöst, und sie sei einfach den Spuren im Schnee gefolgt. "He, das finde ich aber super, ich meine, irrsinnig nett, dass du ...", erwiderte ich gerührt. Und damit versiegte mein Redefluss. "Aber geh, das war doch überhaupt keine Frage, nachdem du eben erst bei uns ..." Und damit versiegte ihr Redefluss, und ich wusste nichts mehr zu erwidern. Wir hatten uns inzwischen in Bewegung gesetzt und wanderten nun in tiefem Schweigen zu ihrem Elternhaus zurück. Und obwohl ich spürte, dass Regina auf irgendeine Äußerung von mir wartete, wie


es eben Kavaliere in Gegenwart von Damen zu tun pflegen, wollte mir nichts mehr zu sagen einfallen. Die naheliegende Aufforderung, sich zum Schutz vor den nächtlichen Dämonen bei mir einzuhängen, brachte ich einfach nicht über die Lippen und traute mich auch nicht, ihre Hand zu ergreifen. Gleichzeitig schämte ich mich in Grund und Boden, weil ich mich als derartiger Feigling und Muffel erwies. Erst beim Abschiednehmen vor der Haustür brachte ich wieder den Mund auf. Ich drückte ihr meinen Sack mit den restlichen Geschenken in die Hand und trug ihr auf, ihn ihrem Brüderchen als speziellen Gruß vom Nikolaus zu übergeben. Mein Auftritt als heiliger Mann war für diesmal klarerweise beendet. Und siehe da, in den nächsten Tagen sprach mich Regina in der Schule mehrere Male an. Und so sehr ich auch, in den Worten des Dichters, von ihrem Gruß beglückt war, ich erwies mich jedes Mal als der gleiche Muffel. Und der Erfolg war, dass sie sich, leise seufzend, abwandte und ihre Versuche, mit mir ein Gespräch anzuknüpfen, bald aufgab. In meiner wachsenden Verzweiflung beschloss ich, mich nicht nur gegenüber meinen bösen Feinden, sondern endlich auch gegenüber meiner süßen Geliebten wie ein Mann zu verhalten, um mein, das heißt, unser Liebesglück zu retten. Schließlich weihnachtete es sehr. Und nennt man Weihnachten nicht das Fest der Liebe? Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien machte ich mich also unauffällig an Regina heran, nahm all meinen Mut zusammen und fragte sie, ob sie vielleicht am Heiligen Abend mit mir die Christmette besuchen wolle. Doch dabei drohten sich mir auf der Stelle die Knie und das liebe Herz zu lösen, ohne dass mein Kopf mit einem Bischofsstab Bekanntschaft gemacht hätte. Aber o Jubel, o Freud: Ohne einen Augenblick zu zögern, bejahte sie meine Frage, schenkte mir ein strahlendes Lächeln, fand das Ganze sogar eine wunderbare Idee, und ich fühlte mich, als hätte mich das Christkind geküsst. Also gut. Nächster Tag. Heiliger Abend. Ich hole Regina ab. Wir wandern gemeinsam zur Kirche. Wieder rühmt sie mich als großen Helden, wieder weiß ich darauf nichts zu sagen, und wieder herrscht ärgerlicherweise verlegenes Schweigen zwischen uns. Wir erreichen die Kirche. Die Mette hat bereits angefangen. Wir finden uns nur noch einen Stehplatz inmitten der dichtgedrängten Menge. Wir stehen so eng beieinander, dass wir uns zeitweise


unabsichtlich berühren. Und da geschieht das große Weihnachtswunder: Die Erinnerung an die bösen Feinde gibt mir plötzlich unverhofften Mut. Ich ermanne mich und traue mich zu meiner eigenen Überraschung, Reginas Hand zu ergreifen. Und o Jubel, o Freud: Sie entzieht sie mir nicht, schenkt mir ein unbeschreiblich süßes Lächeln, lehnt sich absichtlich gegen meine Schulter. Mein Herz schlägt wie das eines Skispringers, bevor er abhebt. Und ich glaube wirklich abzuheben und himmelwärts zu schweben. Meine Gedanken sind nicht mehr bei der heiligen Handlung, nicht mehr bei der Geburt des Erlösers, nicht mehr bei der Krippe, den Hirten und den himmlischen Heerscharen, sondern nur noch bei Regina und dem Zauber, den sie ausstrahlt. Und da geschieht des großen Weihnachtswunders zweiter Teil: Der Zauber wirkt. Ich ermanne mich abermals. Ich schlinge meinen freien Arm um Reginas köstlichen Leib, ziehe sie an mich, küsse sie. Und o Jubel, o Freud: Sie entzieht mir auch ihre Lippen nicht, im Gegenteil, sie erwidert meinen Kuss und blickt mich mit glückseligen Augen an; die Augen ihres Brüderchens im Angesicht des festlich geschmückten Lichterbaums können kaum glückseliger gestrahlt haben. Die frommen Menschen rund um uns scheinen zwar aufs Äußerste empört. Uns aber berührt das nicht, und jener erste Kuss ist bei weitem nicht der letzte, den wir während dieser Christmette tauschen. Und des großen Weihnachtswunders dritter Teil: Obwohl ich gerade jetzt schweigen sollte, weiß ich mit einem Mal unendlich viel zu sagen, das heißt, Regina zuzuflüstern. Zugleich weiß ich, dass soeben meine lang ersehnte Metamorphose vom Kind zum Mann stattgefunden hat. Und ich weiß nun endlich, warum man Weihnachten das Fest der Liebe nennt.


© Karl Plepelits - Wer ist Karl Plepelits? Karl Plepelits tat seinen ersten Schrei 1940 in Wien, plagte seine Lehrer in Melk an der Donau, ließ sich in der Vergangenheit unter anderem in München und in Graz von den Musen küssen und harrt ihrer Küsse jetzt in den Bergen der Steiermark, liebt Literatur, Musik und Frauen. Quälte nach dem Studium der Klassischen Philologie, Alten Geschichte und Anglistik selber Schüler (in Feldkirch und Graz), leitete in den Ferien Reisende (manchmal in die Irre) und übersetzte und kommentierte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Verlag Hiersemann, Stuttgart) und arbeitete auf dem Gebiet der Altertumswissenschaft, Byzantinistik und Patristik, u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Thesaurus linguae Latinae an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, ebenso als Autor zahlreicher wissenschaftlicher Abhandlungen. Als literarischer Autor ist Karl Plepelits Mitglied des Österreichischen Schriftstellerverbandes. Er gesteht, zahlreiche Kurzgeschichten geschrieben zu haben, die in bekannten Literaturzeitschriften und angesehenen Anthologien veröffentlicht wurden, desgleichen (bisher) elf Romane, zuletzt:      

"Der Glaube, die Berge und das Paradies" (Verlag Liber Libri, Wien 2006). "Die verbotene Frucht. Eine west-östliche Liebesgeschichte" (Verlag Liber Libri, Wien 2008). "Unterwegs in Ägypten. Reiseroman" (Iatros Verlag, Dienheim 2009). "Zu Gast bei Aphrodite" (Phantastischer Roman. Schweitzerhaus Verlag, Erkrath 2009). "Des Lebens ungemischte Freude" (Hörbuch, Roegelsnap Buch & Hörbuch Verlag, Schollbrunn 2010). "Unterwegs in Libyen" (Iatros Verlag, Dienheim 2010).

Im Facebook bin ich vertreten (weiß nur nichts Rechtes damit anzufangen). So viel für diesmal. Wenn Sie noch Wünsche, Grund zu Tadel oder Anregungen haben, so zögern Sie nicht, mir diese mitzuteilen. Übrigens würde mich brennend interessieren, wie meine erotischen Geschichten ankommen.


Opas wundersamer Weihnachtsbaum Andreas Seiller Robin sah traurig aus dem Fenster in den Garten hinab. Es war schon spät am Abend, die Sterne glitzerten am Himmel und spiegelten sich auf dem Pulverschnee, der seit wenigen Stunden die ganze Landschaft bedeckte. Der Junge war sehr unglücklich und dicke Tränen kullerten über seine Wangen. In zwei Tagen war Weihnachten. Ganz alleine, ohne Mama und Papa, würde er das Fest bei seinen Großeltern verbringen müssen. Schuld daran war die Krankheit von seiner Mutter. Sie musste plötzlich ins Krankenhaus und sein Vater wollte die ganze Zeit bei ihr bleiben. Etwas war mit ihrem Blut nicht ganz in Ordnung. Robin hatte mit seinen sechs Jahren nicht verstanden was der Arzt zu seinem Vater sagte, aber dessen besorgtes Gesicht beunruhigte ihn sehr. Bevor seine Mutter ins Krankenhaus gebracht wurde, drückte sie ihn noch einmal ganz fest an sich, gab ihm mit Tränen in den Augen einen dicken Kuss auf die Stirn. „Papa bringt dich zu Oma und Opa. Sie freuen sich sehr, dass du Weihnachten mit ihnen zusammen verbringen wirst. Wir kommen bestimmt bald nach mein Schatz.“ Noch am selben Tag packte sein Vater einen Koffer und brachte Robin zu Oma Karin und Opa Walter.


Robin war schon sehr lange nicht mehr bei seinen Großeltern gewesen, da Papa mit Opa einen ganz schlimmen Streit hatte und sich die beiden seit diesem Tag nicht mehr sehen und sprechen wollten. „So mein Großer. Bitte sei artig bei Opa und Oma. Wenn es Mama wieder gut geht, dann holen wir dich sofort wieder ab.“ „Wird Mama wieder ganz gesund?“ „Ganz bestimmt. Bald geht es ihr wieder gut. Schau, da kommt Oma schon aus dem Haus.“ Sein Vater hatte ihm bei diesem Satz nicht in die Augen gesehen. Oma und er drückten sich, sprachen aber nur wenige Worte und diese so leise, dass Robin sie nicht verstehen konnte. Opa Walter kam nicht aus dem Haus heraus. Er stand aber hinter dem Fenster. Robin hatte gesehen, wie sich der Vorhang ein ganz klein wenig bewegt hatte. Sein Vater fuhr wieder davon und Robin stand traurig mit einem Koffer in der Hand neben seiner Großmutter. Lange winkte er seinem Vater nach bis die Rücklichter des Wagens nicht mehr zu sehen waren. Opa Walter öffnete die Tür. Er war ein großer, breitschultriger Mann. Seine Haare waren bereits ergraut. Lächelnd sah er seinen Enkel von oben bis unten an. „Bist ganz schön gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, Robin.“ Robin lief ins Haus hinein. Hier drinnen war es schön warm. Im Kamin brannte ein loderndes Feuer, Funken sprühten in die Höhe. Oma half Robin seine Jacke und den Schal abzulegen. Im ganzen Haus roch es sehr weihnachtlich. Ein Duft von Zimt, Spekulatius, Vanille und Lebkuchen lag in der Luft. „Magst du ein Plätzchen essen, Robin?“ „Oma backt schon seit Tagen. Ich kann schon keine Plätzchen mehr sehen. Iss so viel wie du magst.“


Sein Großvater zwinkerte ihm zu, setzte sich in einen großen, braunen Ohrensessel und nahm die Zeitung in die Hand. In der Küche standen viele silberne Bleche, die alle mit Weihnachtsgebäck gefüllt waren. Nikoläuse, Engel, Tannenbäume, Stiefel, Sterne, Schafe und sonstige Weihnachtsmotive hatte Oma aus dem Teig gestochen und diese mit essbaren Farben angemalt. Robin aß einige davon und es schmeckte köstlich. Dazu trank er warme Milch. Oma und Opa plauderten noch eine ganze Weile mit ihm, fragten, wie es ihm in der ersten Klasse gefiel. Über Mama und ihre Krankheit sprachen sie nicht. Als es Schlafenszeit war zeigte Oma Robin das Zimmer, wo sein Vater als kleiner Junge geschlafen hatte. Es war sehr schön eingerichtet. An der Decke hingen kleine Flugzeuge und verschiedene Spielsachen lagen fein sortiert in den Regalen. Als sie das Zimmer wieder verlassen hatte, sah sich Robin einige davon an. Plötzlich wurde er aber sehr traurig, da er an seine Mutter denken musste. Er blickte aus dem Fenster und begann leise zu weinen. „Weinst du etwa?“, hörte er eine Stimme hinter sich. Opa hatte das Zimmer lautlos betreten. Er setzte sich auf das Bett, lächelte seinen Enkel an und hob ihn sich auf das Knie. Robin schniefte laut, wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich wünsche mir so sehr, dass meine Mama wieder gesund wird“, sagte er leise. Opa Walter schwieg für einen Moment, senkte seinen Blick zu Boden. Dann hob er den Kopf und sah Robin in die Augen. „Ja, das wünschen wir uns auch alle. Vielleicht kann ich dir sogar dabei helfen, dass unser Wunsch in Erfüllung geht. Wir gehen morgen in den Wald und suchen den Wunschbaum!“ Robin war überrascht. Was war ein Wunschbaum?


Er fragte seinen Großvater. „Es ist ein Weihnachtsbaum. Ein ganz besonderer Weihnachtsbaum der große Kräfte hat. Man kann ihn nur zu dieser Jahreszeit sehen und nur, wenn man einen ganz großen, ehrlichen Wunsch hat. “ Opa Walter stand auf. „Mehr darf ich dir aber nicht erzählen. Leg dich nun in dein Bett und versuche zu schlafen. Du musst morgen früh fit sein, damit wir uns auf die Suche machen können. Aber niemand darf etwas davon erfahren! Es ist unser beider Geheimnis!“ Robin lag noch lange wach im Bett, dann schlief er ein und träumte von dem Wunschbaum. Sehr früh am nächsten Morgen stand Opa Walter neben ihm am Bett und weckte ihn auf. „Robin, wir müssen uns auf den Weg machen, bevor Oma wach wird. Zieh dir warme Sachen an und vergiss deine Handschuhe und die Mütze nicht.“ Es war noch sehr dunkel draußen und der Großvater leuchtete mit einer Taschenlampe den Weg ab. Der Schnee knirschte bei jedem Schritt unter ihren Stiefeln. Im Licht der Straßenlaternen konnte man feine Schneeflocken erkennen, die noch immer vom Himmel fielen. Opa Walter zog einen langen Holzschlitten hinter sich her. „Da legen wir später den Wunschbaum drauf, damit wir ihn bei uns im Wohnzimmer aufstellen können. Wenn du magst, kannst du dich auch gerne auf den Schlitten setzen, ich ziehe dich dann ein kleines Stück.“ Doch Robin wollte lieber laufen. Gespannt sah er auf das Waldstück, welches vor ihnen auf einem Hügel zu sehen war. „Steht dort der Wunschbaum?“, fragte er leise. „Ich weiß es nicht, Robin. Doch ich bin mir sicher, dass wir ihn erkennen werden, wenn wir ihn sehen.“


Ohne ein weiteres Wort zu sagen, liefen Opa Walter und Robin nebeneinander her. Es war an diesem Morgen so eisig, dass sich die Kälte durch die dicken Jacken und durch die Handschuhe fraß. Robin hatte ganz rote Wangen und eine rote Nase bekommen. Er war froh, dass er seinen dicken Schal umgelegt und die warme Wollmütze aufgezogen hatte. Eine Krähe flog durch die Luft, landete irgendwo in den Gipfeln der Bäume die hoch in den Himmel ragten. Wie Riesen standen die Bäume des Waldes nebeneinander. Einige schienen den Schnee aus ihren Ästen zu schütteln. Viele Tiere hatten ihm Schnee ihre Spuren hinterlassen. Winzige Abdrücke von Vögeln und Mäusen, aber auch die Hufabdrücke von Rehen und Wildschweinen waren zu erkennen. Opa Walter erklärte Robin zu welchen Tieren die Abdrücke gehörten. Sie gingen tiefer in den Wald hinein. Robin bekam ein wenig Angst in der Dunkelheit. Aber Opa Walter hielt ihn an der Hand und so fasste er Mut. Sie liefen durch eine Tannenschonung, stiegen über umgefallene Bäume und kamen schließlich an eine Lichtung. Dort vorne stand er. Das musste der Wunderbaum sein! „Opa dort ist der Wunderbaum. Siehst nur. Dort vorne steht er.“ Tatsächlich. Mitten zwischen den großen, schneebehangenen Tannenbäumen stand eine kleinere Tanne. Auf ihr lag kein Schnee, stattdessen hingen viele bunte Weihnachtskugeln an ihren schimmernden, grünen Zweigen. Dazwischen konnte man bunte Figuren aus Teig erkennen, die mit einem Faden an die Äste gebunden waren. „Du hast recht, Robin. Das muss der Wunschbaum sein“, sagte Opa Walter zufrieden. „Nun darfst du dir etwas wünschen.“ Robin schloss die Augen, sagte leise seinen Wunsch. „Jetzt wird bestimmt wieder alles gut, Opa“, sagte er dann mit einem Lächeln im Gesicht.


An Heiligabend stand der Wunschbaum festlich geschmückt im Wohnzimmer von Robins Großeltern. Opa und Robin hatten noch etwas Lametta und Lichterketten angebracht und die Weihnachtsspitze auf den Baum gesetzt. Das prasselnde Kaminfeuer verbreitete eine angenehme Wärme und aus dem Radio klangen leise Weihnachtslieder. Dann nahm Opa das silberne Glöckchen und bewegte es hin und her. Ein helles Klingeln erfüllte das Zimmer. „Ich denke, es ist nun an der Zeit die Geschenke auszupacken“, sagte Opa gerade, als die Türglocke mehrmals erklang. „Wer kann das jetzt noch sein?“, sagte Opa Walter überrascht. Oma Karin sah ihn ratlos an. Langsam ging er durch den Flur, öffnete die Tür. Robin konnte nicht sehen, wer da draußen im Dunkeln stand. Für einen Moment war es ganz still. Dann sah er, wie Opa jemanden umarmte. „Komm herein. Frohe Weihnachten mein Sohn.“ Robins Vater kam ins Zimmer. Er wirkte sehr erleichtert. Als er seinen Sohn sah, schloss er ihn fest in die Arme. „Mama wird wieder ganz gesund, Robin. Sie darf schon bald wieder nach Hause.“ Das war das allerschönste Weihnachtsgeschenk für Robin. Sein Wunsch war tatsächlich in Erfüllung gegangen. Auch Opa und Oma freuten sich sehr über dies wunderbare Nachricht. Sie umarmten sich immer wieder und alle hatten Tränen in den Augen. Gemeinsam feierten sie an diesem Abend das Weihnachtsfest, dachten dabei an Robins Mutter und daran, dass sie im nächsten Jahr wieder alle gemeinsam feiern würden.


Robins Mutter wurde wieder ganz gesund und sie besuchten nun oft Oma Karin und Opa Walter. Sein Vater und sein Großvater hatten sich ausgesprochen und verstanden sich nun wieder so gut, wie sich beste Freunde verstehen. Erst viele Jahre später erfuhr Robin von seinem Opa, dass dieser den Wunschbaum noch mitten in der Nacht geschmückt und den ganzen Schnee von seinen Ästen herunter gefegt hatte. Doch das blieb ihr Geheimnis und niemand sollte davon je etwas erfahren.


© Andreas Seiller - Wer ist Andreas Seiller? Geboren bin ich 1967 in Esthal, einem kleinen Walddorf inmitten der Pfalz. Die kleine Bücherei in unserem Ort war damals mein zweites Zuhause. Fasziniert las ich die "Fünf Freunde", die "Drei Fragezeichen" oder träumte mich in das Internatsleben der "Jungen von Burg Schreckenstein". Ich beschloss selbst zu Schreiben. Schreiben ist für mich ein Stück Freiheit. Im Geiste wandere ich durch andere Länder, Welten und Zeiten hindurch. Ich entwickle dabei meine eigene Umgebung, Freunde, Feinde, Gegebenheiten. Begebe mich auf Abenteuer die ich anderen Menschen mitteile. Mal schreibe ich für Kinder, lasse dabei meine eigenen Erinnerungen einfließen, dann schreibe ich für Erwachsene, werde zum Protagonisten meiner erfundenen Story. Der Wechsel beider Anschauungsweisen ist das faszinierende daran. Weitere Infos finden Sie auf meiner Homepage: www.seillerbuch.de


David und der Stern Monika Baus Jeden Abend wenn dem kleinen David eine Geschichte vorgelesen wurde, über "Gott" und "Engel" und über das "Universum" zeigte ihm die Mutter immer die Bilder dazu. Eine Seite gefiel David besonders gut. Man sah darauf die tief dunkle Nacht, und zig tausend kleine Sterne. Und seine Mutter erklärte ihm alles ganz genau: den großen Bären, den kleinen Wagen, Orion; Kassiopeia, und die Schlange so weiter. Unter anderem, dass da oben die Engel von einem Stern auf ihn herabsehen würden, wenn er schliefe. Meistens, schlief er darüber ein, soo schön waren die Geschichten und er träumte wenn er die Augen schloss davon. Eines Tages, aber konnte er nicht schlafen und er beschloss nachdem die Mutter schon lange im Bett lag, sich das Buch noch einmal anzusehen. Ein Stern gefiel ihm besonders gut! Dieser Stern, war gross, so groß wie die Sonne und funkelte wie der Mond! Und als er so zum Kinderzimmer Fenster raus sah und noch einmal sich das Bild im Buch betrachtete, entdeckte er, dass da draußen alles genauso wie auf seiner Seite im Buch glich. Da, staunte er doch sehr!!!


Er dachte: "genau der selbe Himmel und genau dieselben Sterne!“ Da kam David die Idee! "Ach, ich mach meiner Mutti eine Freude!" Für das, das sie mir jeden Tag soo schön vorliest, besorge ich ihr den großen Stern! Ja, genau den großen soll sie haben! Seine Mutti sollte den schönsten und größten bekommen! Und da er wusste von den Erzählungen her, das auf jedem Stern ein Engel wohnt, dachte er so für sich dann bekommt sie auch gleich einen Engel dazu. Das hat sie sich verdient!!! Also, wollte er keine Sekunde Zeit verlieren: "Geschwind" zog er seine Söckchen an und ein Jäckchen! Und seinen Beutel damit er den Stern heimtrauen konnte, durfte er natürlich auch nicht vergessen. Gleich darauf machte er sich auf den Weg! Auf leisen Sohlen schlich er sich davon! Am Zimmer seiner Mutti vorbei, an der Küche, noch ein Stückchen bis er an der Haustüre war. Ganz vorsichtig öffnete er sie und geschwind war er draußen. Als er im Garten stand, sah er gegen Himmel. Der Junge staunte: "OH, wie schön und Oh, machte er so wunderbar war all dies. Zig tausend kleine Sternelein standen am Himmelszelt! Und auf alle diesen viele Engelein, dachte er so!


Der kleine kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Aber schnell, erinnerte er sich warum er hier war. Er wollte doch den Stern besorgen. David, dachte sich: "oh je, die Sterne sind soo weit weg und ich soo klein! Ach ja seufzte er: "Ich brauch etwas damit ich darauf steigen kann um ihn herunterzuholen. Es fiel ihm ein, dass im hinteren Teil des Gartens ein Hügel war, auf dem er im Winter immer rodelte. Ja, das wollte er machen von dort aus könne er den Stern mit samt Engel herunterholen. Also, machte er sich auf den Weg! Die Mutter, aber war während dessen aufgewacht und wollte noch einmal nach David schauen. So, wie sie es immer machte! Als sie ins Kinderzimmer blickte sah sie ein leeres Bett und erschrak fürchterlich. Rasch lief sie in der Wohnung umher und sagte: David, David wo bist du nur??? Voller Angst, ging sie weiter bis sie zu der Wohnungstüre kam, und sah dass diese offen war. Sie dachte: "Oh, weh er wird doch nicht in den Garten gegangen sein??? Oder, gar davongelaufen! Vor lauter Sorge um ihn lief sie in den Garten und rief: "David, sag doch was!" Besorgt sah sie sich überall um. Und tatsächlich, da stand der kleine David auf dem Hügel und streckte seine kleinen Hände empor Richtung Himmel. Als die Mutter auf ihn zuging und vor dem Hügel angekommen war, sagte sie: "David, David mach das bitte nicht (nie)mehr!"


Du hast mich erschreckt und ich hatte Angst und Sorge um dich. Warum in aller Welt hast Du das gemacht??? Da schaute David sie traurig an und sprach: "Aber Mama -ich wollte Dir doch nur den großen Stern mit den Engel darauf holen!" Außerdem, wollte ich dir eine Freude machen, weil du immer soo lieb bist zu mir. Da ging der Mutter ein Licht auf! Da nahm sie ihn in ihre Arme und drückte ihn ganz fest an sich und sprach: -"David, ja weißt Du denn "Nicht", dass ich meinen Engel schon längst habe??? Und den Stern auch noch dazu! Du mein Junge, bist (m)ein Engel, und ein Stern noch dazu! Da freute sich David auf einmal sehr! Nun, hatte er der Mutter doch noch ein solch schönes Geschenk gemacht. Und als die beiden dann endlich wieder in der Wohnung waren, und die Mutter David ins Bett brachte schlief er glückselig ein - wusste er doch er war wieder daheim. So das war die Geschichte vom kleinen David ...bis zum nächsten Mal eure


© Monika Baus – Wer ist Monika Baus? Monika Baus geb14.07.1970 in Dachau, das mittlere von 2 Geschwistern, wuchs in Frankfurt auf. Später zogen ihre Eltern und sie nach München. Schon in frühen Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Kreative,´sei es zeichnen, malen, Gedichte und Geschichten schreiben. Erste schriftstellerische Ergebnisse in der Grundschule : ihre Aufsätze wurden oft als beste der Klasse vorgelesen.Danach machte sie ihre Kreativität zum Hobby und schrieb sporadisch! Später entschied sie sich für den Beruf der Mediendesignerin /CA technische Zeichnerin! Sie folgte den Spuren ihres Onkels der leidenschaftlich gern schrieb Ölbilder malte. er weckte ihre Interessen zum Schreiben und wusste sie auch zu fördern. Auf der Suche nach einer neuen Tätigkeit entdeckte sie ihr Talent für leichtes und packendes Schreiben. Erste Lesungen erfolgten im privaten Bereich, dann öffentlich bei sozialen Einrichtungen /Verbände und Künstler Vereinigungen. Am liebsten schreibt sie Kurgeschichten und Gedichte für Kinder. Ihr großer Traum im Leben ist es einmal ein eigenes Buch für Kinder heraus zubringen.


Stille Nacht Helga Licher Missmutig saß der alte Bauer Hinnerk auf der Bank am Ofen und schaute durchs Fenster. Es regnete in Strömen, und seine Stimmung war alles andere als weihnachtlich. Für ihn war der Heilige Abend ein Tag wie jeder andere. Wie immer hatte er das Vieh versorgt und Holz für den alten Ofen hergerichtet. Seufzend erhob er sich und ging mit schlurfenden Schritten zum Fenster. Mit einem Ruck zog er die Vorhänge zu und griff nach der Tageszeitung. Nachdenklich vertiefte er sich in den Sportteil. Aus dem Radio ertönte ein Weihnachtslied, doch Hinnerk hörte die hellen Stimmen des Kinderchores nicht. „Süßer die Glocken nie klingen…“ Während die Bäuerin die vierte Kerze am Adventskranz anzündete, summte sie leise die Melodie mit. Dann holte sie eine große Schüssel aus der Anrichte und stellte die Zutaten für den Weihnachtsstuten bereit. Mit flinken Händen knetete sie aus Mehl, Butter, Eiern und duftenden Gewürzen einen Teig. „Wenn wir später nach Hause kommen, können wir den Stuten anschneiden“, sagte Meta und wandte sich nach dem Bauern um. Hinnerk blickte kurz von seiner Lektüre auf und griff nach einem der Honigplätzchen, die in einer Schale vor ihm auf dem Tisch standen. Nur kurz streifte sein Blick den Tannenbaum, der im hinteren Teil der Stube stand und darauf wartete festlich geschmückt zu werden.


Längst war es dämmerig geworden. Das trübe Licht der alten Straßenlaternen schien durch die geschlossenen Vorhänge und warf lange Schatten auf die Bretter des Holzfußbodens. „Du solltest dich umziehen Hinnerk, die Christmesse fängt gleich an.“ Die Bäuerin band ihre Schürze ab und schob den Stuten in den Backofen. Sie legte noch einige Holzscheite nach und schaute zu ihrem Mann hinüber. Hinnerk seufzte, schob die Zeitung beiseite und erhob sich. „Du kommst noch früh genug in die Kirche“, murmelte er, warf seiner Frau einen mürrischen Blick zu und ging hinüber in die Schlafkammer. Meta schüttelte den Kopf. Sie verstand den Bauern nicht mehr. Er hatte sich in den letzten Jahren zu einem alten Brummbär entwickelt, der oft missgelaunt war. Sie hatte es wirklich nicht leicht mit ihm, nichts konnte sie im Recht machen. Dabei war ihr Mann früher ein fröhlicher Mensch gewesen. Häufig kamen Bauern aus der Nachbarschaft zu einem Schwätzchen vorbei, man wusste, bei Hinnerk gab es den besten Korn weit und breit. Schon oft hatte Meta überlegt, welches Ereignis ihren Mann so verändert haben könnte. Er hatte sich vor einigen Jahren heftig mit seinem älteren Bruder gestritten, aber Hinnerk war nun mal ein Hitzkopf, das wusste auch sein Bruder. Solche Streitereien kamen unter Geschwistern ab und zu vor. Der Bauer war inzwischen aus der Schlafkammer gekommen, hatte sich auf die Ofenbank gesetzt und zog nun seine Stiefel an. Die Bäuerin legte Schal und Handschuhe bereit. Dann nahm sie ihre Handtasche von der Garderobe und öffnete die schwere Dielentür. Stumm gingen sie neben einander her. Auf dem Kopfsteinpflaster hatten sich große Pfützen gebildet. Noch immer war der Himmel nebelverhangen und kein einziger Stern war zu sehen. Nur langsam schob sich der Mond hinter einer Wolke hervor und erhellte mit seinem milden Schein die dunkle Christnacht.


Es war schon spät, als Hinnerk und seine Frau schließlich den schmalen Kiesweg zur Kapelle hinauf schritten. Die meisten Kirchenbesucher hatten bereits ihre Plätze eingenommen. Hinnerk fand gerade noch zwei freie Stühle in der hintersten Reihe der festlich geschmückten Kirche. Zwei große Tannen, mit roten und goldenen Kugeln verziert, standen neben dem Altar. Flackernde Kerzen tauchten den Raum in ein unwirkliches Licht. Der Schulchor sang „Oh du fröhliche...“ und der Pastor predigte von Nächstenliebe und Rücksichtnahme. Die Bäuerin faltete ihre Hände zum Gebet, während Hinnerk den Kopf senkte und seine Hände an die Schläfen legte. Mit finsterer Miene starrte er vor sich auf den Boden. Sollte der Pastor doch reden… Hinnerk wusste es besser, es gab keine Nächstenliebe mehr unter den Menschen. Für ihn hatte das Weihnachtsfest seine Bedeutung verloren. In seinem Herzen trug er nur noch Verbitterung… Der Wind war eisig, als der Bauer und seine Frau einige Zeit später das Gotteshaus verließen. Die Bäuerin zog ihre Handschuhe an und ging rasch einige Schritte die Straße hinunter. Die Messe hatte länger gedauert als gewöhnlich, sie musste unbedingt nach dem Stuten schauen. Ungeduldig sah sie sich nach ihrem Mann um. Der Bauer stand noch immer an der Kirchentür und blickte angestrengt zum Wald hinüber. „Komm Hinnerk“, sagte Meta leicht gereizt „wir müssen den Stuten aus dem Ofen holen, er brennt sonst an.“ Doch Hinnerk reagierte nicht. Stumm stand er da und starrte zum Wald hinüber. Endlich drehte er sich langsam um, und sah seine Frau nachdenklich an. „Geh schon vor“, sagte er leise „ich komme gleich nach. Ich habe noch etwas zu erledigen.“ Die Bäuerin schüttelte verständnislos den Kopf. Zögernd machte sie sich auf den Heimweg.


Der Bauer steckte seine Hände tief in die Taschen seines Mantels und zog den Hut in die Stirn. Schnellen Schrittes ging er auf den Wald zu. Er spürte den kalten Wind nicht, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Sein Blick war starr auf einen unsichtbaren Punkt in der Ferne gerichtet. Erst als plötzlich vor ihm eine schmale Brücke aus dem Nichts auftauchte, blieb er stehen. Unsicher betrat er die knarrenden Holzbohlen, die unter seinem Gewicht leicht schwankten. Das morsche Geländer ächzte bei jedem seiner Schritte. Er war diesen Weg schon sehr oft gegangen, aber an eine Brücke, die über einen Weg führte, konnte er sich nicht erinnern. Beunruhigt sah er sich um. Kein Mensch war weit und breit zu sehen, auch die hellerleuchtete Kirche mit ihren kupfernen Türmen war verschwunden. Langsam ging er weiter. Immer tiefer in den Wald hinein… Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, aber dennoch sah er die alte, baufällige Bauernkate erst, als er unmittelbar vor ihr stand. Ebenso wie die Brücke war sie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht. Durch eines der Fenster fiel ein schwacher Lichtschein, und Hinnerk trat zaghaft näher. Vorsichtig späte er durch das trübe Glas des Fensters. Er erblickte eine ärmlich eingerichtete Stube, die nur vom lodernden Feuer des Kamins erhellt wurde. Am Tisch, mit dem Rücken zum Fenster, saß ein alter Mann, der den Kopf in seine Hände gestützt hatte. Etwas an der Haltung des Alten kam Hinnerk bekannt vor, aber er konnte nicht sagen, was es war. Sein Herz klopfte heftig, und auf seiner Stirn sammelten sich Schweißtropfen. Er wusste ganz genau, dass es in dieser Gegend keine Bauernkate gab. Auch eine Brücke hatte er hier noch nie gesehen. Was hatte das alles zu bedeuten? Erschöpft lehnte er seine Stirn an die kühle Fensterscheibe und starrte ins Innere des Hauses.


Der alte Mann hatte sich inzwischen von seinem Stuhl erhoben und ging gebückt zur Feuerstelle. Sein Rücken schien sehr zu schmerzen, denn immer wieder blieb er stehen und verschnaufte. Dann legte er etwas Holz in den Kamin, drehte sich langsam um und kam auf das Fenster zu. Hinnerk erschrak. Taumelnd trat er einen Schritt zurück und lehnte sich schwer atmend gegen die Hauswand. „Das kann nicht sein…“, murmelte er immer wieder. „Nein, das kann nicht sein…“ Stöhnend legte er beide Hände auf sein Herz. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. War das alles nur ein Traum? Bestimmt würde er gleich aufwachen und vergessen was er gerade gesehen hatte. Doch Hinnerk träumte nicht… Schweißüberströmt stand er vor dem Fenster der alten Kate und blickte auf den Mann, der durch die verschmutzten Scheiben in die Dunkelheit starrte, Hinnerk aber offensichtlich nicht sah. Der Bauer konnte das alles nicht verstehen. Das Haus und die Brücke gab es nicht wirklich, und auch der alte Mann, den er sehr wohl kannte, hatte in dieser elenden Hütte nichts verloren. Offensichtlich war der Alte schwer krank und schon sehr alt... Warum lebte er hier, in dieser baufälligen Hütte? Plötzlich fiel Hinnerks Blick auf einen vergilbten Kalender an der Wand der Stube. Auf dem Kalenderblatt stand ein Datum - 24. Dezember 2030. Und plötzlich wusste der Bauern warum er hier war. Das was er hier scheinbar sah – war die Zukunft - die Zukunft seines Bruders. Denn er war der alte, kranke Mann in der Bauernkate. Hinnerk zerriss es das Herz. Er dachte an den hässlichen Streit vor vielen Jahren. Es war höchste Zeit sich endlich mit seinem Bruder zu versöhnen. Viel zu lange hatte er diese Last mit sich herum getragen.


Heute war Weihnachten, das Fest der Liebe. Meta hat sicher nichts gegen einen Gast einzuwenden, dachte Hinnerk und setzte seinen Hut auf. Als er sich umwandte, um noch einmal durch das Fenster zu schauen, war die alte Bauernkate verschwunden. Dort, wo noch vor wenigen Minuten eine baufällige, windschiefe Hütte stand, hatte der andauernde Regen den schweren Waldboden vollkommen aufgeweicht und in eine Morastlandschaft verwandelt. Verwundert stand der Bauer am Waldrand und blickte sich suchend um. Nicht weit entfernt schloss der Pastor gerade die Eingangstür der kleinen Kapelle und die letzten Kirchgänger machten sich auf den Heimweg. „Frohe Weihnachten, Hinnerk“, sagte der Pastor und winkte zu ihm herüber. Der Bauer erwiderte den Gruß freundlich. Ungläubig überquerte er den Kirchplatz und beobachtete das rege Treiben um ihn herum. Im Schein der Straßenlaterne glitzerte das nasse Kopfsteinpflaster wie flüssiges Silber. Der Regen hatte aufgehört und der Wind legte sich. Die dunklen Wolken rissen auseinander und machten einem sternenklaren Nachthimmel Platz. „Hinnerk, so komm doch endlich. Was stehst du denn hier herum? Der Stuten brennt an.“ Die Bäuerin kam ungeduldig auf ihn zu und zupft an seinem Ärmel. Lächelnd legte der Bauer seinen Arm um die Schultern seiner Frau und sagte leise: „Wir müssen noch einen kleinen Umweg machen. Ich kenne da jemanden, der sich bestimmt über einen Besuch freut. Unser Weihnachtsstuten reicht doch auch für Drei.“ Die Bäuerin drückte Hinnerk fest die Hand, und eine Träne der Freude lief über ihre runzeligen Wangen. Sie wusste genau, wem der Bauer einen Besuch abstatten wollte.


Später, als drei glücklichen Menschen vor dem Kaminfeuer saßen und von früheren Zeiten sprachen, begann es sachte zu schneien. Dicke, weiße Schneeflocken taumelten vom Himmel und überzogen die Landschaft mit einer Decke aus Zuckerwatte. In der Küche duftete es nach frischem Stuten und Glühwein, die Bäuerin zündete die Kerzen am Weihnachtsbaum an und im Radio sang ein Kinderchor: „Stille Nacht, heilige Nacht…“


© Helga Licher - Wer ist Helga Licher? Als Autorin wird man ja häufig gefragt, wie man zum Schreiben gekommen ist. Meine Mutter sagte stets: "Das Kind hat zu viel Fantasie." So lange ich zurückdenken kann, habe ich immer irgendwelche Geschichten erfunden. Manche habe ich für mich behalten, einige habe ich meinen Geschwistern erzählt. Kritisch wurde es immer dann, wenn meine Schwester, die meine Geschichten heiß und innig liebte, einen bestimmten Text noch einmal hören wollte. In meinem Kopf gab es inzwischen viele neue Ideen, so dass ich mich an die gewünschte Geschichte nicht mehr erinnern konnte. Was blieb mir anderes übrig, als diese Geschichten aufzuschreiben? So begann meine Laufbahn als Schriftstellerin... Heute schreibe ich immer noch Geschichten. Die Protagonisten sind zwar keine Riesen und Prinzessinnen mehr, doch die meisten meiner Leser sind ja inzwischen auch schon den Kinderschuhen entwachsen. 2005 erschien das erste Kurzgeschichten-Sammelbändchen „Papa kocht italienisch…“, und kurz darauf der zweite Band „Reich mir mal die Kombizange…“. Ich nehme an vielen Anthologien teil und veröffentliche u.A. auch Kindergeschichten. Die längste und wohl auch spannendste Geschichte wurde im Jahr 2007 als Roman veröffentlicht und trägt den Titel „Dünenwind“ Zurzeit schreibe ich für verschiedene Zeitungen Kolumnen und Artikel und arbeite an meinem zweiten Roman, der voraussichtlich 2011 erscheinen wird.


Der letzte Flug Andreas Böttger Die acht alten Rentiere: Sauser / Dasher Tänzer / Dancer Springer / Prancer Füchsin / Vixen Komet / Comet Cupido /Cupid Donner / Donder Blitz / Blitzen

Zwei Tage vor Weihnachten. Der zerbrochene Schlitten lag schwer im Schnee des Nordpols. Viele große und kleine Geschenkpakete hatten sich in alle Himmelsrichtungen verstreut. Einige waren durch den Aufprall aufgegangen. Eine kleine Armee Nussknacker lag wie nach einer Schlacht verstreut um ein aufgerissenes Geschenkpaket, während davon etwas entfernt eine Babypuppe Geschrei abspielte.


Schwach und traurig glomm das Licht in seinen Augen, als Blitz sich diese schöne Bescherung anschaute. Er war ein stolzes großes Rentier, das Geweih noch voll und stark, auch wenn das ehemals braune Fell langsam Grau wurde. Aber das Aussehen täuschte. Die Gelenke taten Blitz weh, nach diesem Flug pochte sein Herz zu schnell in seiner Brust und er konnte nicht mehr so gut sehen wie früher. Er wusste, was dieser Vorfall bedeuten würde. Er konnte die anderen Rentiere hinter sich reden hören. „Das ist das zweite Mal, dass wir wegen ihm einen Testflug vergeigt haben!“, sagte Sturm, das größte Rentier in der Herde und seit ein paar Weihnachten das Alphatier, „Er muss weg!“ Blitz konnte ihn nicht leiden. Nicht nur weil Sturm Blitz aus der Herde haben wollte, sondern weil er auch zu risikofreudig war. Er hatte keinen Respekt vor den Fluggeräten der Menschen, mutete der Herde zu viel zu, probte zu viele Kunststücke, anstatt sich auf das Wesentliche, den Transport der Geschenke, zu konzentrieren. Wir liefern keine Flugshow ab, wir sind Transporttiere, verdammt noch mal! Eine Träne lief Blitz über die bereits ergraute Wange herunter. Auch wenn er Sturm nicht leiden konnte, dieser Unfall zeigte eindeutig, dass seine Tage vorbei waren. Wie die von Sauser, Tänzer, Springer und den anderen seiner alten Herde. Sauser hatte ihm gesagt, dass es Zeit für eine neue Generation sei, aber Blitz hatte es nicht akzeptieren wollen. „Aber es ist Blitz!“, sagte Spike, das jüngste und kleinste Mitglied der Herde, welches nur zur Reserve gehörte, das einsprang, falls ein anderes Rentier ausfiel, „Blitz ist eine Legende! Selbst die Menschen singen über ihn.“ „Pah.“, Sturm schnaubte angewidert, „Er wird auch nur unter falschem Namen besungen und dann leuchtet in diesem unsäglichen Song auch noch das falsche Körperteil.“


Furie stellte sich neben Spike. „Auch wenn er eine Legende ist, Legenden sind Teil der Vergangenheit, nicht der Gegenwart. Seine Zeit ist um. Auch Blitz muss das akzeptieren. Wir können froh sein, dass niemand verletzt wurde. Aber was ist, wenn wir beim nächsten Mal nicht so viel Glück haben? Soll dann Weihnachten ausfallen?“ Hufgetrappel ertönte. Die Herde drehte sich um und sah wie Blitz in den Himmel stieg und davon galoppierte. „Das habt ihr nun davon! Er hat alles gehört.“ Spike wandte sich ab und schaute sich das Chaos im Schnee an. Ein großer Schlitten mit Weihnachtselfen erreichte den Unfallort. Furie stellte sich neben ihn. „Sieh es doch positiv, Kleiner. Du wirst seinen Platz am Schlitten einnehmen.“ „Aber nicht so. Seit ich ein kleines Kalb war, war Blitz mein Vorbild. Der, der den Schlitten durch den dichtesten Nebel führen konnte, der noch nie eine Ladung verloren hatte! Er ist mein Held.“ „Er ist alt geworden. Man kann nicht für immer den Schlitten ziehen. Man muss wissen, wenn es Zeit ist, aufzuhören.“ Ein paar der Weihnachtselfen begannen, die Geschenkpakete einzusammeln, während der Rest sich um den zerbrochenen Schlitten scharte und anfing, sich zu beraten, wie sie ihn am besten bergen sollten. Blitz landete vor dem Stall. Gelächter drang heraus. Er wollte noch nicht reingehen. Sich noch nicht seiner Schmach stellen, so setzte er sich hin und schaute in die sternenklare Nacht hinein und versuchte sich damit abzufinden, nie wieder den Schlitten zu ziehen.


„Sei nicht betrübt.“ Blitz schaute auf. Er hatte nicht bemerkt, dass Cupido sich zu ihm gesellt hatte. Cupido war etwas kleiner als Blitz, sein braunes Fell war komplett ergraut, das Geweih war brüchig, die Augen trüb. Doch seine Stimme war klar und fest. „Für jeden von uns geht es einmal zu Ende. Du hast fast 200 Jahre lange den Schlitten gezogen, länger als jedes andere Rentier. Sei stolz darauf.“ Blitz schnaubte wütend, verzweifelt. „Ich bin Blitz! Ich gehöre an den Himmel! Wenn ich nicht mehr fliegen kann, was bin ich dann noch?“ „Komm mit.“ Cupido erhob sich, doch Blitz machte keine Anstalten ihm zu folgen. „Jetzt komm schon, du alter Sturrkopf.“ Widerwillig erhob sich auch Blitz. Man kann hier nicht mal in Ruhe in Selbstmitleid versinken. Er folgte Cupido in den Stall. Lärm schlug Blitz entgegen, als er den Stall betrat. Drei kleine Kälber trabten um Komet herum, der mit ihnen fangen spielte. Eine ganze Gruppe von Kälbern lag ehrfürchtig vor Füchsin, die ihnen eine spannende Geschichte erzählte, während Springer mit ein paar Kälbern die ersten Flugübungen absolvierte. „Schau dich doch um. Überlass den Jungtieren das Schlittenziehen. Wir haben diese Pflicht mir Bravur erfüllt, Blitz. Jetzt dürfen wir es ruhiger angehen lassen, unsere Erfahrungen an die Kälber weitergeben. Akzeptiere das Älterwerden und genieße es.“


Blitz schaute runter, als ihn ein kleines Kälbchen mit der Nase anstupste. „Ja?“, fragte er. Auch wenn er deprimiert und wütend war, an den Kälbern würde er es nie auslassen. „Duuu, Onkel Blitz?“, fing das Kälbchen fragend an und schaute ihn aus großen Augen an, „Kannst du uns die Geschichte von dem großen Nebelflug erzählen?“ „Kann das nicht Füchsin machen?“ „Sie meinte, du kannst das viel besser als er.“ Blitz schaute zu Füchsin, die offensichtlich mit ihrer Geschichte fertig geworden war und jetzt zu Blitz schaute. Die ganzen Kälber, die ihm vorher ehrfürchtig gelauscht hatten, schauten jetzt neugierig und erwartungsfroh zu Blitz. Füchsin blinzelte und lächelte Blitz verschwörerisch zu, dann flüsterte sie dem nächsten Kalb etwas ins Ohr, welcher ganz aufgeregt es dem nächsten Kalb ins Ohr flüsterte, welcher dem nächsten Kalb ins Ohr flüsterte, bis alle Kälber miteinander flüsterten. Dann stürmten sie alle auf einmal auf Blitz zu. „Bitte, Onkel Blitz, erzähl uns die Geschichte.“ „Bitte, bitte, bitte.“ Die ganzen Kälber redeten bei dem Versuch ihn zu überzeugen auf ihn ein. Schließlich konnte er ihren flehenden Blicken nicht lange widerstehen. „Okay. Ich werde euch die Geschichte erzählen.“ Er ging zu Füchsin während die ganze Meute kleiner Kälber aufgeregt um ihn herum tobte und jedes Kalb versuchte, einen guten Platz zu ergattern. „Das zahl ich dir irgendwann heim.“, flüsterte Blitz Füchsin zu. „Gewiss doch.“, erwiderte Füchsin mit einem Lächeln und ging davon.


Blitz schaute auf die Kälber vor ihm, die immer noch ganz aufgeregt hin und her wuselten und nicht still sitzen konnten. „Ruhe jetzt und hinsetzen!“, befahl Blitz mit seiner tiefsten Stimme und die Kälber erstarrten und ließen sich nieder, wo sie sich grad befanden. „Es war eine Weihnachtsnacht vor 60 Jahren. Alles war ruhig, zu ruhig …“, begann Blitz die Geschichte zu erzählen, während ihm die Kälber mit vor Staunen offenen Mündern zuhörten. Cupido und Füchsin liefen in den hinteren Teil des Stalles, zu einem Heubett, auf dem ein uraltes Rentier mit schneeweißem Fell lag. Es hob den Kopf, als es die beiden Anderen näherkommen hörte. Sehen konnte es mit den milchig weißen Augen nichts mehr. Das Geweih war durchzogen von lauter kleinen Rissen. „Wie verkraftet er es?“, fragte Sauser, die Stimme alt und kratzig. „Er wird es überstehen.“, meinte Füchsin, „Er ist ein Kämpfer, er wird sich nicht aufgeben.“ „Aber er wird es schwieriger haben als wir.“, ergänzte Cupido. Sauser nickte Weise. Er war fast hundert Jahre lang das Alphatier in der Herde gewesen. Er kannte Blitz. „Helft ihm so gut ihr könnt. Es war für jeden von uns hart, aber für ihn war Fliegen immer alles, die größte Ehre.“ Cupido und Füchsin nickten. Ach, wir vermissen doch alle das Fliegen. Als Cupido und Füchsin gingen, stützte Sauser wieder seinen Kopf an und schwelgte in Erinnerungen an die guten alten Tage. Ein Tag vor Weihnachten


Spike galoppierte so schnell wie noch nie in seinem Leben durch die Luft. Er musste sich beeilen, schnell zurück zum Weihnachtsdorf. Das Herz pochte hart in seiner Brust, die Füße taten weh, doch er durfte nicht nachlassen. Nicht jetzt. Da, die Schornsteine! Spike setzte zur Landung an, flog immer tiefer. Als seine Hufe den Boden berührten, wirbelten sie den Schnee auf, der auf dem großen Platz des Weihnachtsdorfes lag. Er blieb stehen und holte tief Luft. „Alarm! Es gab wieder einen Unfall!“ Die Elfen stürmten aus ihren Häusern, die Rentiere aus ihren Ställen. Es war chaotisch, es wurde laut durcheinander geredet, viele redeten auf Spike ein. „Was, ist Blitz etwa wieder geflogen?“, wollte einer der Weihnachtselfen wissen. Ein anderer Elf stupste ihn und deutete nach hinten, wo Blitz gerade aus dem Stall getrabt kam. „Ruhe!“, erklang eine tiefe laute Stimme. Schlagartig verstummten alle Laute. Alles schaute auf eine Stelle. Ein großer Mann stand dort. In seinen schwarzen Stiefeln trat er nach vorn, die Menge teilte sich vor seinem großen, unter einem roten Wollmantel versteckten, Bauch. Er blieb vor Spike stehen, beugte sich zu dem Rentier runter und strich sich besorgt durch den dichten weißen Rauschebart. „Spike, was ist passiert?“ „Weihnachtsmann, der Schlitten ist mit einem Fluggerät der Menschen zusammengestoßen. Hunderte Kilometer südlich von hier. Es hat viele Verletzte gegeben, ich war der einzige, der noch in der Lage war zu fliegen. Dem Menschending ist aber nichts passiert.“ Der Weihnachtsmann richtete sich wieder auf. „Okay, ihr habt es gehört! Meine guten Elfen, stellt eine Rettungsmannschaft zusammen. Holt unsere Rentiere da weg!“


Die Elfen setzten sich in Bewegung, von dem vorherigen Chaos war nichts mehr zu spüren. Spike blieb auf dem Platz stehen, wusste nicht, was er jetzt noch tun sollte. Mit einem Nicken seines Geweihs, bedeutete Blitz Spike, dass er zu ihm kommen sollte. Beide gingen in den Stall zurück und suchten sich eine ruhige Ecke, während die anderen erwachsenen Rentiere versuchten, die Kälber zu beruhigen. „Was ist passiert?“ Spike schaute auf den Boden. „Spike, was ist passiert?“ „Sturm wollte mit dem Herde und dem vollen Schlitten einen Looping um das Fluggerät machen.“ „Ist er wahnsinnig? Das hat er jetzt von seiner tollkühnen Art. Man darf die Fluggeräte der Menschen nicht unterschätzen!“ Spike liefen Tränen herunter. „Ach, weine doch nicht, es ist doch nicht deine Schuld.“ „Wird Weihnachten dieses Jahr ausfallen müssen? Außer mir sind alle verletzt … und bis morgen …“ „Weihnachten wird nicht ausfallen! Wir haben hier eine ganze Schlittenmannschaft.“ Erstaunt schaute Spike ihn an. „Du willst mit der alten Herde fliegen?“ „Versammle sie alle. Ich werde mit dem Weihnachtsmann reden.“ Die Zuversicht die Blitz ausstrahle, flößte Spike Mut ein. Er nickte und tat wie ihm gesagt wurde.


Blitz verließ den Stall und ging zu dem kleinen Haus in der Mitte der Weihnachtsmannsiedlung. Er klopfte an die Tür. „Herein.“, ertönte die tiefe Stimme des Weihnachtsmannes. Blitz betrat das Haus. Der Weihnachtsmann saß an seinem Tisch, über ein paar Papiere gebeugt. Er schaute auf, als Blitz hereinkam. „Was kann ich für dich tun, Blitz, ich habe aber nicht viel Zeit, ich muss diesen Schlamassel irgendwie ausbügeln.“ „Lass uns fliegen.“ „Wen?“ „Sauser, Tänzer, Springer, Füchsin, Komet, Cupido, Donner und mich! Wir können deinen Schlitten ziehen, so wie wir es schon über hundert Jahre gemacht haben!“ Der Weihnachtsmann schaute Blitz mit seinen eisblauen Augen nachdenklich an. Er konnte die Entschlossenheit in den Augen des Rentieres sehen, die Leidenschaft und den Willen. Es konnte klappen. Und mit etwas weihnachtlicher Magie war alles möglich. Der Weihnachtsmann nickte. Als Blitz zurück in den Stall kam, standen die anderen alten Rentiere, abgesehen von Sauser, der noch in seinem Bett lag, aufgereiht da. Die Kälber saßen oder lagen brav und ruhig an den Seiten des Stalls. Alle schauten Blitz an. „Wir werden fliegen!“ Unter den Kälbern brach Jubel aus, doch Cupido trat vor und es wurde wieder Still im Stall. „Wir sind alt, gebrechlich. Glaubst du wir können das noch?“ „Ich glaube, dass wir das noch können.“


Alle drehten sich um. Sauser war aufgestanden. Vorsichtig setzte er einen Huf vor den anderen. Die blinden Augen starr auf Blitz gerichtet trat er noch vorn. Die anderen Rentiere machten ihm Platz. Sauser war seit dem Sommer nicht mehr aufgestanden. Alle hatten gedacht, er würde es nicht mehr lange machen. Doch jetzt stand er da in ihrer Mitte und sprach. „Wir sind die stolzen Renntiere des Nordpols! Haben wir jemals Weihnachten ausfallen lassen?“ Seine Stimme war klar und kräftig. Die anderen Rentiere murmelten leise „Nein“. „Wie bitte? Ich habe euch etwas gefragt: Haben wir jemals Weihnachten ausfallen lassen? Haben wir jemals den Weihnachtsmann im Stich gelassen? Gab es irgendwann eine Zeit, in der wir nicht geliefert haben?“ „Nein!“, antworteten die Rentiere jetzt lauter. Blitz schaute begeistert zu, mit wie viel Energie sich Sauser noch bewegen konnte. Er hatte es nicht ertragen können, einen alten Freund so hinvegetieren zu sehen. „Wir dachten alle, wir müssten nie wieder fliegen! Aber dieses Weihnachten braucht uns der Weihnachtsmann! Brauchen uns die Kinder dieser Welt! Wollt ihr sie im Stich lassen?“ „NEIN!“, riefen die Rentiere. „Dann werden wir am Heiligen Abend fliegen!“ Es brach wieder Jubel im Stall aus, unter den Kälbern, unter den alten Rentieren. Blitz trat zu Sauser. „Danke.“ „Danke mir, in dem wir Morgen gut fliegen.“


„Du willst mitfliegen?“, fragte Blitz entsetzt. Sauser war eindeutig zu alt und zu gebrechlich. Sauser drehte seinen Kopf und obwohl seine Augen blind waren, schien sein Blick Blitz zu durchbohren. „Natürlich werde ich auch fliegen.“ Blitz wusste, dass er Sauser nicht davon abbringen konnte. „Okay.“ Kurz vor dem Heiligen Abend Sturm und seine Herde wurden auf Tragebahren von den Elfen in das Weihnachtsdorf gebracht. Er war tief geknickt. Er hatte es vergeigt. Er hatte Weihnachten ruiniert. Das erste Mal überhaupt war keine Rentierherde da, um den Schlitten des Weihnachtsmannes zu ziehen. Diese Erkenntnis überschattete sogar den Schmerz, den er durch die Wunden des Zusammenpralles hatte. Er wusste nicht, was der Weihnachtsmann machen würde, keiner der Elfen wollte oder konnte es ihm sagen. Die Elfen, die seine Bahre trugen, hielten am großen Platz des Dorfes. Sturm schaute auf, er hatte in seinem Selbstmitleid gar nicht gemerkt, dass sie schon angekommen waren. Doch dann konnte er seinen Augen nicht trauen. Der Schlitten des Weihnachtsmannes stand bereit. Neun Renntiere waren davor gespannt. Vier in zweier Reihen und ganz vorne stand ein großes, prächtiges weißes Rentier. War das Sauser? Sturm blinzelte, vielleicht war das ja alles ein Traum. Sauser war seit über einem Jahrzehnt nicht mehr geflogen, er konnte ja kaum noch laufen.


Doch dort stand er. „Sturm, sieh zu und lerne die Weisheit des Alters zu schätzen.“, brüllte Blitz von seiner Position rechts hinter Sauser. „Ich wünsche euch viel Erfolg und danke euch, dass ihr Weihnachten rettet.“, flüsterte Sturm. Blitz hatte Recht gehabt, ich war zu Tollkühn gewesen, habe die Gefahr der Fluggeräte der Menschen unterschätzt. „Mache es nächstes Jahr besser, dann wird das Dank genug sein.“, sagte der Weihnachtsmann, der sich neben Sturm gestellt hatte. Sturm blickte auf und der alte Mann lächelte ihm zu und tätschelte ihm den Kopf. Dann ging der Weihnachtsmann zu seinem vollbeladenen Schlitten, setzte sich und ergriff die Zügel. „Spike! Donner! Cupido! Komet! Füchsin! Springer! Tänzer! Blitz und Sauser! Auf geht es!“ Der Schlitten setzte sich in Bewegung und hob ab. Sturm schaute ihnen hinterher, sah, wie der Schlitten am Mond vorbeizog. Ein weiteres glückliches Weihnachten begann und die Kinder daheim ahnten nichts, das dieses eine Mal, ohne die Hilfe der Alten Weihnachten ausgefallen wäre. Sauser führte seine Herde wieder zum Nordpol zurück. Es gab keine Zwischenfälle, alle Geschenke wurden ausgeliefert. Nur noch eine Landung und dann war für dieses Jahr wieder alles vorbei. Sauser genoss den Flug, auch wenn ihm die Gelenke schmerzten, die Lunge brannte und das Herz zu zerspringen drohte. Es war so lange her, dass er die herrliche Flugluft gespürt hatte, so lange her, diesen Rausch, diese Freiheit zu erleben.


Und nur noch eine Landung und er konnte wieder Stolz auf die vollbrachte Arbeit sein. Sauser setzte mit den Füßen auf, konnte spüren, wie ihm die anderen Tiere folgten und einer nach dem anderen sicher auf dem Weihnachtsdorfplatz aufsetzte. Wir sind wieder zu Hause. Jetzt spürte Sauser die Müdigkeit, die er so während des Auslieferns so erfolgreich verdrängt hatte. Die willkommene Müdigkeit. Er legte sich glücklich schlafen, mitten auf dem Platz. Und in Glückseligkeit eingeschlafen, wachte er nie mehr auf. Blitz übernahm das Schlittentraining der Jungtiere in der Herde, doch nach diesem letzten Flug, flog keiner mehr der alten Acht. Es war die Zeit für eine neue jüngere Generation an Rentieren gekommen, die den Schlitten des Weihnachtsmannes ziehen durften. Doch keiner der Jungtiere ließ es jemals wieder an Respekt vor den Alten mangeln, denn so hatten diese doch das Weihnachtsfest gerettet. Die acht neuen Rentiere: Sturm Wind Hüpfer Furie Astor Amor Knall


Spike


© Andreas Böttger - Wer ist Andreas Böttger? Andreas Böttger, geboren 1986 in Berlin, studiert zur Zeit Kulturwissenschaften mit den Schwerpunkten Kulturgeschichte und Literaturwissenschaften. Er lebt im Moment in einer kleinen WG mit Hund in seiner Lieblingsstadt Berlin. Am liebsten schreibt er Fantastische und Science Fiction Geschichten. Auf seinem Blog (http://nysap.eu/wordpress) kann man sich über seine neusten Werke informieren und ein paar Kurzgeschichten durchlesen.

Twitter: http://twitter.com/Autor_A_B Blog: http://nysap.eu/wordpress


Winters Wunder Sophie Garbe Dicke, weiße Flocken rieselten hinab, als sich die schmale Gestalt ihren Weg durch das abendliche Schneegestöber bahnte. Langsam, fast bedächtig stapfte der junge Mann durch den Schnee, ohne auf den eiskalten Wind zu achten, der ihm scharf ins Gesicht blies. Wer genauer hingesehen hätte, der hätte bemerkt, dass die vielen Flocken um den Mann herum noch dichter zu fallen schienen, als würden sie sich um einen Platz an seiner Seite streiten, um seine helle Haut zu liebkosen. Doch in der kalten Jahreszeit hasten die Menschen meist mit eingezogenen Köpfen an einander vorbei und wollen nichts sehen außer der warmen Stube, die ihnen ein wenig Behaglichkeit verspricht. Der Mann ließ sich auf einer der Bänke nieder, welche die schmalen Wege säumten, die sich wie graue Schlangen durch den Park zogen. Seufzend strich er sich die schwarzen Locken aus dem blassen Gesicht, das sich kaum von der Farbe des Schnees abhob und schloss die Augen. Er spürte, wie die Flocken eine warme Decke über seinen Körper legten und ihm leise ihre Geschichten zuflüsterten, die ihn in eine angenehme Ruhe wiegten. Plötzlich hörte er, wie Schritte sich näherten und schließlich verstummten. Blinzelnd öffnete er ein Auge und sah einen verschwommen-roten Fleck, der sich von der Farblosigkeit der Landschaft abhob. Als er auch das zweite Auge öffnete, erkannte er ein junges Mädchen, das vor ihm stehen geblieben war und ihn mit großen Augen musterte. Wie runde Murmeln blitzten sie in ihrem Gesicht und er fragte sich, wann er das letzte Mal in Kinderaugen geschaut hatte. „Hallo“, meinte der Mann und versuchte möglichst freundlich zu klingen. Seine Stimme fühlte sich eingerostet und rau an, aber Kommunikation war noch nie seine Stärke gewesen. Das Mädchen


starrte ihn weiter an und versuchte mühsam das Erstaunen, das in ihren Zügen lag, in Worte zu fassen. „Der … Schnee“, flüsterte sie leise und betrachtete staunend die Flocken, die den jungen Mann umkreisten. Der Mann runzelte die Stirn und richtete sich auf, sodass die dünne Schneedecke auf seinem Körper zu Boden rieselte. Das Mädchen erwachte aus ihrer Starre und musterte erstmals den Mann, den der Schnee so gierig umkreiste. Seine Haut war fast unwirklich weiß und umso stärker war der Kontrast zu seinen dunklen Haaren und Augen, welche die Farbe der Baumgerippe hatten, denen der Wind erbarmungslos ihr Blätterkleid entrissen hatte. Gekleidet war er in einen dunklen, zerschlissenen Mantel, der seine schmale Gestalt um flatterte. Unbehaglich zwirbelte der junge Mann eine seiner Locken, während er versuchte, sich von den durchdringenden Blicken des Mädchens nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „Wer bist du?“, durchbrach sie schließlich die Stille. „Ich habe keinen Namen“, murmelte der Mann und sah sie aus seinen dunklen Augen an. „Jeder hat einen Namen.“ „Na ja, manche nennen mich den Kältebringer, Weißmacher oder Flockenflüsterer.“ „Das sind doch viele Namen“, antwortete das Mädchen. Der Mann lächelte nur traurig. „Und wie ist dein Name?“, fragte er schließlich. „Victoria. Aber du kannst mich Vica nennen“, lächelte sie und strich sich die blonden Strähnen aus den Augen. „Vica.“ Leise ließ er sich den Namen auf den Lippen zergehen. „Was ist das für ein Trick mit den Flocken?“, fragte Vica und sah ihn neugierig an. Er lachte auf und wusste nicht, ob er belustigt oder traurig sein sollte, dass selbst die Kinder in diesen Zeiten begonnen


hatten, ihre Augen vor Wundern zu verschließen. Es müsste mehr Wunder auf der Welt geben, dachte er bei sich. „Vielleicht mögen mich Eis und Schnee einfach“, antwortete er. „Papa sagt immer, dass ich Fremden mit Zaubertricks nicht trauen soll. Das sind Betrüger. Die lenken nur ab und dann klauen sie plötzlich alles, was du hast“, meinte sie und trat einen Schritt zurück, wie um ihr Misstrauen zu bestätigen. „Dein Vater scheint ein kluger Mann zu sein.“ „Mama findet das nicht. Die meint, dass er selbst ein Betrüger ist“, murmelte sie schulterzuckend. Schweigend betrachtete er Vica, die in dem immer dunkler werdendem Park so klein und verloren wirkte. „Machen deine Eltern sich keine Sorgen, wenn du noch so spät alleine unterwegs bist?“, fragte er schließlich. „Mama merkt das gar nicht und Papa ist weg“, flüsterte sie mit zitternder Stimme und kleine Tränen kullerten über ihre Wangen. Verlegen stand der junge Mann auf und streckte unbeholfen eine Hand aus, um ihr über das Haar zu streicheln. Er hatte keine Ahnung, was man mit weinenden Kindern machte. „Soll ich dir etwas zeigen?“, versuchte er sie abzulenken. Das Mädchen sah ihn nur misstrauisch aus ihren geröteten Augen an. „Was denn?“, fragte sie und zog geräuschvoll die Nase hoch. „Einen … ähm … Zaubertrick.“ Vica schob die Unterlippe hervor, als müsse sie erst darüber nachdenken und nickte dann. Er holte tief Luft, sah sich in dem leeren Park um und murmelte dem Schnee zu, dass er doch für sie tanzen solle, wie er es sonst nur für ihn tat. Leise raunte er verführerische, lockende Worte, bis der Schnee


langsam, fast zögernd sein Eisballett begann. Mit offenem Mund folgte Vica den Flocken, die sich träge zu Kreisen und Spiralen formten, wie kleine Wirbelstürme in der Luft. Immer schneller begannen sie zu kreisen, flogen auf und ab, tollten um einander herum wie bei einem Spiel, das nur sie verstanden. Unwillkürlich musste er lächeln, als er Vicas blaue Augen sah, die verblüfft dem einzigartigen Schauspiel folgten. Kindersorgen ließen sich so leicht fortblasen, es genügte nur ein winziger Lufthauch. Sie hatten noch nicht gelernt, sich daran festzuklammern, wie es die Erwachsenen taten. Lachend lief sie durch die Schneeflocken, ließ sich von ihnen umkreisen und versuchte sie mit ihren kleinen Händen zu fangen. Er beschloss noch ein kleines Stück weiter zu gehen. Er hatte das Gefühl, dass Vica die Richtige war, um ein kleines Wunder zu schätzen. Also befahl er den Flocken eine Gestalt anzunehmen und beobachtete, wie sie sich in Windeseile zusammenzogen. Als große, zartverästelte Schneeflocke schwebten sie vor Vicas Gesicht, die sie mit leuchtender Miene betrachtete. Zögernd streckte sie eine Hand aus, doch als ihre Fingerspitzen die Eisblume berührten, zerfiel sie in ihre Bestandteile und vermischte sich mit dem pulvrigen Neuschnee, der den Boden bedeckte. Lachend klatschte Vica zwei Mal in die Hände. „Du bist der beste Schneezauberer, den ich kenne“, strahlte sie und er lächelte zurück. In seinem Bauch hatte sich ein wohliges Gefühl von Wärme ausgebreitet, das ihm eigentlich fremd war. Es lag nun mal nicht in seiner Natur, Wärme zu empfinden und dennoch klopfte sein kaltes Herz ein wenig schneller als sonst. „Jetzt muss ich aber gehen“, meinte Vica zögernd und sah sich besorgt in dem menschenleeren Park um. Er nickte. „Ich begleite dich noch ein Stück.“ Vica lächelte ihr breites Lächeln und griff wie selbstverständlich nach seiner Hand. Doch er zog sie schnell zurück. „Meine Hände sind zu kalt. Du könntest dich an ihnen verbrennen“, murmelte er entschuldigend. „Aber an Kälte kann man sich doch nicht verbrennen.“ Vica runzelte die Stirn.


„Manchmal sind sich Kälte und Hitze gar nicht so unähnlich“, antwortete er nur und stapfte durch den Schnee voran. Schweigend bahnten sie sich ihren Weg durch den verlassenen Park, der nur hier und da von dem grellen Licht einer Laterne erhellt wurde, die die weiße Landschaft magisch glitzern ließ. Wie eine Decke aus Stille hatte sich der jungfräuliche Schnee über den Park gebreitet, nur durchbrochen von ihren leise knirschenden Schritten. Schließlich gelangten sie zu dem großen Eisentor, das den ruhigen Park von dem Rest der hektischen Welt trennte. Unwillkürlich blieb der junge Mann stehen und betrachtete die Straße, die dahinter lag. Viele der Häuser, von denen sie gesäumt wurde, waren mit bunten Lichterketten und Tannenzweigen verziert. Fast meinte er den zimtigen Duft nach Lebkuchen, Tee und Schokolade aus den warmen Häusern wahrzunehmen. Er hatte ganz vergessen, dass Weihnachten schon an der nächsten Straßenecke stand und auf seinen Einsatz wartete. „Freust du dich auf Weihnachten?“, fragte er gedankenverloren. Vica seufzte. „Eigentlich schon. Aber Mama liegt immer nur im Bett. Ich glaube sie hat vergessen, dass bald Weihnachten ist.“ Er wandte sich zu dem kleinen Mädchen um, das hinter ihm stand und in seinem roten Mantel immer noch so verloren wirkte. „Magst du Weihnachten?“, fragte sie und sah zu ihm hoch. „Ach, Weihnachten ist nicht unbedingt mein Gebiet.“ „Aber die Geschenke mag doch jeder, oder?“ Der junge Mann lächelte und antwortete leise: „Ich bekomme selten Geschenke. Eigentlich nie.“ Vica kniff die Lippen zusammen und dachte kurz nach. Dann hellte sich ihre Miene auf. „Weißt du was? Ich schenke dir etwas. Einen Namen. Einen richtigen Namen, das wolltest du doch, oder? Ab jetzt heißt du Noah.“


„Noah?“ „Gefällt dir der Name?“ „Ich weiß nicht“, antwortete er ehrlich. „Ich finde ihn schön. Vica und Noah, das klingt doch gut“, meinte sie und strahlte ihn an. „Ja, da hast du Recht“, lächelte er. Vica setzte eine selbstzufriedene Miene auf und stapfte an ihm vorbei auf das Tor zu. „Jetzt muss ich aber wirklich los.“ Er nickte. „Auf Wiedersehen, Vica“, flüsterte er. „Tschüss Noah“, antwortete sie und trat durch das Tor. Reglos blieb er stehen und sah dem immer kleiner werdenden, roten Punkt hinterher, bis er schließlich um die nächste Straßenecke verschwunden war. Noah. Noch einmal ließ er seinen neuen Namen über die blassen Lippen perlen. Beim zweiten Mal gefiel er ihm doch. Erst da fiel ihm auf, dass er sich gar nicht bedankt hatte. Verschlafen rieb Vica sich die Träume aus den Augen, als sie am nächsten Morgen aufwachte. Plötzlich war sie sich gar nicht mehr sicher, ob sie Noah und seinen tanzenden Schnee wirklich getroffen hatte. Der Schlaf kann einem manchmal böse Streiche spielen. Leise seufzend stieg sie aus dem Bett und lauschte, ob ihre Mutter schon wach war. Doch aus dem Nebenzimmer konnte sie ihr knarrendes Schnarchen vernehmen. Also beschloss sie, Brötchen zu holen. Früher hatten sie samstags immer ausgiebig gefrühstückt, vielleicht würde ihre Mutter das ja zum Aufstehen bewegen. Nachdem sie sich angezogen hatte, schlich sie durch den Flur und streifte ihren roten Mantel über. Doch als sie die Haustür öffnete, stockte sie. In dem kleinen Vorgarten, der das Haus umgab, stand ein riesiger Schneeweihnachtsmann, dessen langer, weißer Bart genau dieselbe Farbe hatte wie die Haut seiner Hände, die er ihr einladend entgegen reckte. Vica lachte verblüfft auf und stolperte auf den Schneemann zu. Für einen kurzen Augenblick hatte sie das Gefühl, er würde ihr zublinzeln, so lebensecht sah er aus mit seiner Schneemütze und dem weiten Mantel, der sich um seinen


ausladenden Bauch spannte. Erst als Vica direkt vor ihm stand, bemerkte sie das Herz aus Eis, das in den ausgestreckten Händen des Schneemanns lag und in der Wintersonne glitzerte. Aufgeregt drehte sie sich um und rannte zurück ins Haus. Polternd stieg sie die Stufen zum Schlafzimmer ihrer Mutter hinauf und betrat den dämmrigen Raum, der sie mit einem Schwall stickiger Luft empfing. Ihre Mutter lag in dem großen Doppelbett und die schmale Gestalt wirkte ganze verloren zwischen all den Decken und Kissen. „Mama, Mama!“, rief Vica und sprang auf das Bett. Stöhnend öffnete Vicas Mutter die trüben Augen und betrachtete verständnislos ihre Tochter, die aufgekratzt an ihrer Schulter rüttelte. Als Vica das leblose Gesicht ihrer Mutter sah, spürte sie, wie sich ihr Herz zusammenzog und traurig fragte sie sich, wann sie ihre Mutter das letzte Mal hatte lachen sehen. Doch als ihr Vater gegangen war, schien er auch das Lachen ihrer Mutter mitgenommen zu haben. „Was ist denn los? Ist was passiert?“, murmelte ihre Mutter und richtete sich ein wenig im Bett auf. „Du musst dir das ansehen, Mama! Komm, schnell!“ Vicas Mutter setzte ein besorgtes Gesicht auf und erhob sich langsam und unsicher aus dem Bett. Ihre Tochter warf ihr den hellblauen Morgenmantel zu, der an der Tür hing und zog dann ihre Mutter mit sich. „Ist es was Schlimmes? Was hast du angestellt, Vica?“, fragte sie, während sie hinter Vica die Stufen hinunter stolperte. „Nein, es ist etwas Wunderbares!“, antwortete Vica und riss die Haustür auf. Atemlos blieb ihre Mutter hinter Vica stehen und sah sich verwirrt um. Dann keuchte sie erstaunt auf, als sie die riesige Schneefigur erblickte. „Aber das ist doch unmöglich“, murmelte sie und ging ein paar unsichere Schritte auf den Schneemann zu. „Keiner kann so einen Schneemann bauen.“


„Noah kann das“, antwortete Vica und lächelte stolz, während sie beobachtete, wie ihre Mutter mit großen Augen den Schneeweihnachtsmann betrachtete. „Wer ist Noah?“ „Ein Schneezauberer!“, rief Vica und hüpfte um den Schneemann herum, der mit seinem breiten Lachen die Szenerie zu beobachten schien. Verständnislos schüttelte ihre Mutter den Kopf, während sie die Augen noch immer nicht von der Schneeskulptur wenden konnte, die plötzlich ihren Garten schmückte. Vica stellte sich neben sie und ihre Mutter legte sanft einen Arm um ihre Schultern. Zusammen betrachteten sie den Weihnachtsmann und als Vica das blasse Gesicht ihrer Mutter betrachtete, meinte sie ein kleines Lächeln zu sehen, das ihre Lippen umspielte.


© Sophie Garbe – Wer ist Sophie Garbe Sophie Garbe wurde 1994 in Berlin geboren und lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in Tübingen, wo sie im Moment die Oberstufe des Gymnasiums besucht. Schon von klein auf schreibt sie Kurzgeschichten und vor allem Gedichte, von denen einige schon in verschiedenen Anthologien veröffentlicht wurden. Im Web ist sie unter www.sophiegarbe.jimdo.com zu finden.


Schneegestöber Dirk Ganser 1 Dicke Wolken, bereit ihre weiße, schwere Last abzuwerfen, glitten durch den gräulichen Winterhimmel. Engelskissen kurz vor dem Ausklopfen. Der kalte Hauch des Windes gefror jeden Atemzug des alten Mannes zu einer dichten Dampfwolke vor seinem Gesicht. Er wirkte wie ein altes Dampfschiff auf Kurs durch die eisigen Nordmeere, als er sich seinen Weg durch einen kleinen Park in Köln erkämpfte. Mit jedem Schritt schwankte er ein wenig zur Seite, um seine Füße aus der kalten Umklammerung des pulverigen Neuschnees zu befreien. Ein alter Seebär auf dem Deck seines Schiffes in rauer See. Bei diesem Gedanken zogen sich die buschigen Brauen des Mannes zusammen wie zwei Raupen vor dem Paarungstanz. Die Falten in seinem wettergegerbten Gesicht wurden noch etwas tiefer und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Sein langer, weißer Bart zuckte verdächtig. Aus der Ferne hörte er das typische Rauschen der Straßenbahnlinie Eins. Sie befand sich auf ihrem eigenen Weg durch den verschneiten Parkgürtel, der Köln wie eine schützende Mauer umgab. Der Mann drehte sich um. Einfach mal schauen ob es sich nicht doch gelohnt hätte zu warten und dann mit der Bahn nach Hause zu fahren. Das Rauschen wurde lauter und, na klar musste ja so kommen, die Bahn fuhr ausgerechnet in Richtung Merheim! Sehnsüchtig schaute der alte Mann der Bahn nach. Die hellen, warmen Lichter, die aus ihren Scheiben drangen, wirkten wie Tore zu einer anderen Dimension. Dort drinnen saßen Menschen mit ihren eigenen Träumen und Hoffnungen, gefangen im Käfig ihrer eigenen kleinen Welt, und froren beim Blick nach draußen. Die meisten besaßen nicht mehr Glauben oder gar einen


Blick für die Wunder des Lebens. Sogar die Jüngsten unter ihnen hatten keinen Platz in ihren Herzen für den Glauben an die großen und kleinen Wunder der Welt. Würde man einem dieser Kinder sagen, dass man die Engel Plätzchen backen sah, wenn der Winterhimmel glutrot leuchtete … Unglaube und Gelächter wäre die Antwort. Der alte Mann seufzte eine dicke Atemwolke um sein Gesicht. Da stand er nun. In der linken Hand einen Adventskranz, der wirkte wie der Lorbeerkranz eines gebeutelten Preisboxers. In der Rechten einen nicht mehr ganz so schweren Sack, der aussah wie ein schlaffer Sack voll Diebesgut. Achselzuckend drehte der Mann sich um, und setzte seinen Weg durch die Kälte fort. Traurig, traurig diese modernen Zeiten. Erfreut erblickte er eine Parkbank am Wegrand. Sie war ein wenig von den Ästen eines Baumes vor dem Schnee geschützt. Er hatte zwar heute noch eine ganze Menge zu erledigen, aber ein Päuschen in Ehren würde ihm wohl niemand verwehren. Ächzend setzte er sich. 2 Weihnachten. Eigentlich eine Zeit voller Spannung, Glück und Vorfreude. Für Manni nur eine Zeit der Qual. Papa arbeitslos, Mama nur am Nörgeln, seine Schwester … na ja, wie kleine Schwestern eben so sind. Nervend. Lustlos, die kleinen Hände in den Taschen seines Parkas vergraben und den Kopf mit der idiotischen Mütze tief zwischen die Schultern gezogen, schlurfte er durch den Schnee. Oh Mann! Er hasste diese Zeit! Manni wusste genau, was wieder ablaufen würde. Erst eine Bockwurst mit Kartoffelsalat, dann die erste Flasche Bier für den Alten, anschließend so was wie eine


Bescherung. Kurz darauf würde seine Mutter wieder meckern sie sollten das Geschenkpapier nicht so zerknüllen, damit man es wiederverwenden könne, während Papa auf der Couch schnarchen würde. So laut, dass Manni glaubte, es würde irgendwann den Wohnzimmerschrank zersägen. Irgendwo im Kino von Mannis Gedanken riss Bugs Bunny die Tür einer kleinen Hütte auf, und rief MERRY CHRISTMAS. Schnee wehte an dem Trickfilmhasen vorbei in den kleinen behaglich warmen Raum. Dort waren alle Freunde des Hasen versammelt und erwarteten voller Spannung die Bescherung. Verbittert schnaufte Manni durch die Nase, was ihn mit einer kleinen Nebelwolke ums Gesicht belohnte. Bescherung. Welch ein Wort. Ohne Geld keine Geschenke. Nur Frust. Ja, Geld müsste man haben. So wie die Eltern seiner Schulkameraden. Das Bild in seinem Gedankenkino wechselte. Ein verschneiter Schulhof in der großen Pause. Mit leuchtenden Augen wurden Geschenke präsentiert. Die neue X-Box, MP3-Player, teure Turnschuhe … und dann der Blick aus tausend neugierigen Kinderaugen auf ihn. Sein betretener Blick nach unten. Auf ein paar Alditreter aus dem Angebot. Die Stimme eines Klassenkameraden. Der meinte es wäre weltbewegend, dass Manni genau diese Schuhe unter dem Weihnachtsbaum liegen hatte. Untermalt wurde diese Bemerkung natürlich vom vielstimmigen Gelächter der anderen Kinder. Bilder und Geräusche, die in seine Seele schnitten wie ein Skalpell durch Fleisch. Weiter und weiter trugen ihn seine Kinderfüße durch den jungfräulichen Schnee der die Merheimer Heide mit seinem unschuldig glitzernden Mantel bedeckte. Er war zwar schon zehn Jahre alt und klug, aber trotzdem … manchmal wünschte er sich … Quatsch! Für so etwas war er schon viel zu erwachsen! Seine Faust kam langsam aus der Parkatasche zum Vorschein. In ihr lag sorgsam zusammengefaltet ein kleines Blatt Papier.


Nein, es war mehr als ein einfaches Blatt Papier. Es war Mannis Wunschzettel an den Weihnachtsmann. Beschrieben in unsicheren, kindlichen Buchstaben war er eher eine magische Spruchrolle. Ein Job für Papa, ein neues Kleid für Mama, eine schöne Puppe für Steffie, und vielleicht eine von diesen tollen neuen Carrerabahnen für ihn? Wäre das zuviel verlangt? Eine einzelne Träne rann über sein kaltes Gesicht. Kinderkram. Den Weihnachtsmann gab es nicht. Nicht für Kinder von Hartz IV-Beziehern. Die Wolken wurden immer dichter, schienen bereit sich ihrer weißen Last zu entledigen. Der Wind wurde auch kräftiger. Würde wohl einen kräftigen kleinen Wintersturm geben, so mit Schneegestöber in dem man alle möglichen Gestalten zu sehen glaubte. Zeit in Richtung Heimat zu gehen fand Manni. Den Zettel in seiner Hand ließ er achtlos fallen. Er bemerkte die Windböe nicht, die den Wunschzettel davontrug wie das kleinste Segelflugzeug der Welt. Den Mann auf der Parkbank sah er auch nicht. Seufzend, mit dichten, schwarzen Gedanken in seinem kleinen Kinderkopf machte er sich auf den Heimweg. Unbewusst sang er leise ein Lied. Fröhliche Weihnacht überall. 3 Erschrocken schlug der Mann die Augen auf. Hatte er geschlafen? Verdammt, das Zwielicht des winterlichen Nachmittags wich langsam der Dunkelheit des Abends! War da ein Schatten vor ihm? Angestrengt schaute der Mann in das beginnende Schneegestöber. Eine leise Stimme wehte durch die Dunkelheit. Sang sie ein Lied? Da war etwas Vertrautes in dieser seltsamen Stimme, etwas kindliches, das zugleich unendlich traurig klang. Ein Klang, der den alten Mann an einem längst schon vergessenen Ort in seinem Herzen, berührte. Langsam schloss der alte Mann die Augen wieder und lauschte auf die Stimme aus dem Dunkel. Erinnerungen stiegen in ihm auf.


Das Aroma noch warmer Plätzchen aus dem Ofen, der harzige Duft einer frisch geschlagenen Tanne … und seine Stimme. Seine Stimme, wie er als Kind vor dem reich geschmückten Baum ein Lied sang und die Bescherung erwartete. Das Schneegestöber wurde dichter, wie auch die Erinnerungen an eine schönere Zeit in den Träumen des alten Mannes. 4 Leise fiel die Wohnungstüre hinter Manni ins Schloß. Endgültig in Klang, so wie das Verschließen einer Gruft. Aus der Küche drangen typische Kochgeräusche. Im Wohnzimmer dudelte die alte Stereoanlage "White Christmas" von Bing Cosby vor sich hin. Natürlich im vertrauten Rauschen und Knacken das nur eine uralte, oft abgespielte Schallplatte ihr von sich gibt. Durch das Brausen der Dusche klang die Stimme seines Vaters, der seine eigene Version dieses Liedes schmetterte. Die ganze Wohnung war mit Weihnachtlichen Wohlgerüchen erfüllt … Manni stutze. Bing Cosby? Mama kocht und Papa singt? Es roch mal nicht nach kaltem Rauch und Armut? Hier konnte doch irgendwas nicht stimmen! Wo blieb das Genörgel seiner Schwester, die sich lautstark darüber beklagte, dass ihre Windel mal wieder prall gefüllt war und dringend der Auswechslung bedurfte? Warum meckerte seine Mutter nicht rum, dass das Geschenkpapier sich langsam aber sicher auflöse und sie dringend neues bräuchten? Zögernd ging Manni ins Wohnzimmer. Was er sah ließ ihm den Atem anhalten! Ein riesiger, vollbehangener Weihnachtsbaum nahm fast die halbe Fensterfront für sich ein. Unter dem Baum stapelten sich bunt verpackte Kartons in allen möglichen Größen, Formen und Variationen umhüllt von glitzerndem von Geschenkpapier. Seine Schwester saß bei Onkel Ludwig auf dem Schoß und brabbelte vergnügt vor sich hin. "Hi Männi. Merry Christmas."


Außer einem gehauchten "Ääääh … hallo Onkel Ludwig. Ich dachte du bist in Amerika?", brachte Manni nichts heraus. Onkel Ludwig, so erfuhr Manni später an diesem Weihnachtsfest, hatte erst vor kurzem davon erfahren, dass sein Bruder arbeitslos war. Ein Dipl. Ing. und seit zwei Jahren ohne feste Anstellung! Onkel Ludwig sprach bei seinem Chef vor der sich sofort bereit erklärte seinem Bruder eine Stelle in der deutschen Niederlassung des Unternehmens anzubieten. "Well, und gleischzeitich dachte isch mir, dass ihr wohl kaum genug Money for Geschenke haben würdet. Also habe isch heute Morgen nach meiner Ankunft noch schnell something gekauft", sprach Onkel Ludwig und lehnte sich genüsslich zurück um das Fest zu genießen. Ein Job für Papa, ein Kleid für Mama, eine Puppe für sein Schwesterchen … und für Manni gab es auch eine Carrerabahn. Eine von den ganz neuen, mit denen man richtig überholen konnte. Draußen heulte der Wind sein eisiges Lied. Die Schneeflocken tanzten ihren Tanz. Es war Weihnachten. In der Ferne war ein seltsames Gelächter zu hören. 5 Am nächsten Tag fand ein Spaziergänger die erfrorene Leiche eines alten Mannes. Er saß auf einer Parkbank in der Merheimer Heide. Neben ihm lagen ein zerzauster Adventskranz und ein alter geflickter Leinensack. Offenbar war der Mann ein einsamer Rentner gewesen, der vom Schneesturm der letzten Nacht überrascht worden war. In seinen Händen hielt er ein kleines Blatt Papier, das sorgfältig mit bunten Buchstaben, in unsicherer Kinderschrift gefüllt war. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln.


© Dirk Ganser - Wer ist Dirk Ganser? Dirk Ganser wurde am 02.06.1967 in Köln geboren, wo er heute auch wieder mit seiner zweiten Frau lebt und arbeitet. Nach einer Ausbildung zum Fleischer wollte er sich zum Lebensmittelchemiker weiterbilden, wechselte dann aber aufgrund Familiengründung in den besser bezahlten Job eines Triebfahrzeugführers eines öffentlichen Verkehrsbetriebs. Nach einem tödlichen Unfall mit einem Selbstmörder nahm er sich eine Auszeit mit einigen anderen Jobs, bevor er die Ausbildung zum Industriekaufmann erfolgreich absolvierte und mehrere Jobs im Bereich der Logistik und des Vertriebs annahm. Die Lust am Fabulieren entdeckte der Autor im Alter von zwölf, nachdem er zu Weihnachten Tolkiens "Der Herr der Ringe" geschenkt bekommen hatte. Später gab er für seine Rollenspielgruppe das Fanzine "Drachenei" heraus. Eine Reihe von Kurzgeschichten konnte er bisher in Anthologien von Kleinverlagen veröffentlichen. Für 2011 ist die Veröffentlichung seines Romans "Der Pate der Verlorenen" (Genre Science Fiction) geplant und liegt bereits einem Verlag vor. Dort sollen 2011 ebenfalls eine Science-Fiction Kurzgeschichte mit dem Titel "Das Leuchten in der Ferne" in einer Anthologie zum Thema "Prototypen und andere Unwägbarkeiten", sowie die Novelle "Der ewige Sucher" in einem geplanten Band mit Erzählungen veröffentlicht werden.


Adventio Stephanie Wilhöft „Psst“, zischte Bennet seinem Vater zu, der gerade anhob etwas zu sagen. Dieser schaute ihm irritiert in die blassblauen Augen. „Was ist los?“ „Hörst du es denn nicht?“ fragte Bennet aufgeregt. „Es klingt wie ein Schnaufen, ganz leise.“ Der Kamin knisterte im Hintergrund und die züngelnden Flammen ließen ab und an das trockene Holz, wie Pistolenschüsse knallen, doch ansonsten war da nichts Außergewöhnliches. Kein Schnaufen oder Ächzen. Der Vater strich sich das schwarze, strähnige Haar aus der Stirn und beobachtete, wie sein Sohn konzentriert in die leere Luft horchte. Er verzog fragend das Gesicht, doch plötzlich hörte er es auch. Es klang wie eine schwere Eisenlock, die sich schnaufend auf den Schienen ihren Weg bahnte. Aber sie schien noch sehr weit entfernt zu sein. „Ein Zug?“ fragte der Junge und runzelte ungläubig die Stirn. „Seit wann gibt es hier einen Bahnhof, geschweige denn Schienen?“ Sein Vater überlegte kurz, doch auf einmal zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. Er hatte da so eine Ahnung. Dieses Geräusch war ihm mittlerweile mehr als vertraut. „Ich glaube nicht, dass dieser Zug Schienen braucht, Bennet. Und was den Bahnhof angeht, so hat er wohl seinen ganz eigenen Fahrplan.“ sagte er geheimnisvoll. Jetzt war es an dem blonden Jungen, eine fragende Miene aufzusetzen. Sein Vater lachte auf.


„Weißt du was wir heute für ein Datum haben?“ fragte er fröhlich. Bennet überlegte kurz. „Den ersten Dezember, wenn ich mich nicht irre.“ Sein Vater nickte. „Richtig! Den ersten Dezember.“ raunte er erinnerungsselig. „Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Naja, ich sollte es wohl eher eine Legende nennen, denn Legenden sind wahr und Geschichten…nun ja sind einfach nur Geschichten.“ Er räusperte sich vernehmlich, bevor er mit tiefer Stimme zu erzählen begann.“ Vor langer, langer Zeit, gab es einen Mann, mit dem Namen Faik. Er war ein junger, tatkräftiger und gut aussehender Bursche, der Arbeit keinesfalls scheute. Aber zur Sorge seiner Eltern, war er auch ein Träumer. So warf er zum Beispiel, bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Blick in die Ferne, und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich dem Horizont zu nähern, den er nur von weitem sah. Eines Tages, beschloss er seine Träumereien in die Tat umzusetzen. Es begann damit, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit Eisen kaufte, oder es mühevoll von bereits vorhandenen Gegenständen seiner Eltern abtrennte. Zum Beispiel stach er sich in den Finger, sodass es in dicken Tropfen blutete und trennte das flüssige Eisen vom Rest des wertvollen Lebenssaftes. Er ging sogar soweit, dass er sämtliche Nägel aus den Stühlen und Tischen entfernte. Als sich seine Eltern dann auf einen Stuhl setzen wollten, krachten sie mit einem lauten Rumms auf den harten Boden.“ sagte er und hob vergnügt die Augenbrauen. „Das muss ich mir merken!“ kicherte Bennet. „Dann solltest du dich auch an das Folgende gut erinnern.“ sagte sein Vater mit scharfer Stimme und zwinkerte ihm lustig zu. „Denn das war der Zeitpunkt, an dem sein Vater ihn im hohen Bogen hinauswarf. Aber Faik hatte mittlerweile genügend Eisen gesammelt, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Tag und Nacht hämmerte, schraubte und schweißte er an dem Eisen, fügte in mühevoller Kleinstarbeit die einzelnen Teile aneinander, bis er eine tiefschwarze Lock vor sich stehen hatte, in der genügend Platz für sich und einen kleinen Kohleofen war. Denn am schnellsten reiste man damals noch mit Feuer, Dampf und Schienen. Erschöpft betrachtete Faik sein Werk. Seine Reise konnte losgehen. Die Reise zum Horizont. Es fehlte nur noch eine Kleinigkeit. Ein Name ! Aber auch der war schnell gefunden. Mit schneeweißer Farbe schrieb er in großen Lettern <Adventio> auf das rabenschwarze Eisen der Lock.“


„Adventio?“ fragte Bennet. „Das bedeutet doch Advent, oder nicht?“ „Genau. Denn der Tag, an dem Faik seine Lock vollendete, war der erste Dezember und zugleich, der erste Advent. Der junge Mann brach noch in derselben Nacht auf. Mit seiner Schaufel hievte er pausenlos Unmengen an Kohlestücke in den kleinen Ofen und schürte so das glutheiße Feuer. Schnaufend und ächzend glitt die schwarze Lock durch die Nacht. Allein die weißen Rauchkringel, die sie aus ihrem Schornstein hinausbließ, säumten ihren Weg. Das einzige, was Licht und Orientierung gab, waren die vielen Sterne, die am dunklen Nachthimmel hinabglitzerten. Faik genießte seine neu gewonnene Freiheit und schoss immer schneller in die Ferne. Hin und Wieder begegneten ihm Dörfer, deren Bewohner ihm Brot und Obst zuwarfen oder dessen beleuchtete Hüttenfenster ihm aus der Ferne fröhlich zuzwinkerten. Die Geschichte von dem Mann mit seiner Adventio, der wie ein Verrückter durch das Land reiste, machte schneller als ein Lauffeuer die Runde und schon bald jubelten ihm die Menschen zu, oder schenkten ihm im Vorbeifahren Glück.“ Bennets Vater schwieg für einen Moment und schaute gedankenverloren in die Flammen des Kamins, die sanft um das Holz leckten und es gierig verschlangen. „Eines Tages änderte sich alles.“ sagte er leise. „Ein gewaltiger Schneesturm brach los. Einer, der in kürzester Zeit sämtliche Wege mit Meterhohem, dickem Schnee füllte. Faik konnte nicht einmal mehr die Hand vor Augen erkennen und eine genaue Orientierung anhand der Sterne, war durch die wattige Wolkenwand, längst unmöglich. Selbst das schwerfällige schnaufen und rattern seiner Adventio konnte er durch das tosende Schneegestöber nicht mehr vernehmen. Die ganze Nacht fuhr der junge Mann blind durch das Land. Am nächsten Morgen legte sich der Sturm. Von Faik und seiner rabenschwarzen Lock, war jedoch nichts mehr zu sehen. Sie waren spurlos verschwunden. Als hätte der Schneesturm sie verschluckt und mit sich gerissen, hinauf in den Himmel. “ „Man hat also keine Ahnung was mit ihnen passiert ist?“ drängte Bennet. „Bis heute?“ „Tja, manche Leute vermuten, dass die Schienen vereisten und Faik mit seiner Lock verunglückte. Aber da stellt sich dann die Frage, warum man nie etwas von ihnen gefunden hat, nicht wahr? Einem anderen Gerücht nach, ist Faik schlussendlich an seinem Ziel angekommen. Er soll den Horizont erreicht haben und seit dem mit seiner Adventio jedes Jahr dieselbe Strecke fahren. Dabei soll er


angeblich die Menschen einsammeln, die wie er den Horizont erreichen wollen. Doch am rätselhaftesten ist wohl der Tag, an dem Faik selbst verschwand.“ „Warum ?“ „ Tja“, sagte sein Vater, „es war der vierundzwanzigste Dezember!“ Bennet keuchte auf. „An Weihnachten? Ausgerechnet an Weihnachten verunglückte der? Na das nenn ich mal Ironie des Schicksals.“ „Du glaubst also er ist im Sturm entgleist?“ fragte sein Vater neugierig. „Was denn sonst ? Das andere ist doch absoluter Humbug.“ lachte Bennet. „Hm, dann verrat mir doch mal woher das Geräusch von vorhin kam, wenn nicht von der Adventio, Bennet?“ fragte er sanft. Bennet klappte den Mund auf, schloss ihn dann wieder und schüttelte hilflos den Kopf. Sein Vater nickte zufrieden. „Manche Leute behaupten, man höre noch heute, wie Faik mit seiner Adventio durch die Nacht reist. Am ersten Dezember ist das Schnaufen und rattern nur sehr leise zu hören, doch mit jedem Tag wird es deutlicher, bis es am 24. wieder völlig verstummt. Ich höre es jedes Jahr aufs Neue und zähle, wie du bei deinem Adventskalender, die Tage bis Weihnachten.“ Gemeinsam starrten Bennet und sein Vater, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend, auf das mittlerweile heruntergebrannte Feuer. Stumm lauschten sie auf das knacken und knistern der matten Glut. Doch da war auch noch ein anderes dumpferes Geräusch im Hintergrund, das in ihren Ohren nachklang. Nämlich das leise und gleichmäßige Rattern der schwarzen Eisenlock, das mit jeder verstrichenen Sekunde lauter zu werden schien.


© Stephanie Wilhöft - Wer ist Stephanie Wilhöft? Beschreibung: Ein Kiwi grüßt aus Neuseeland. Mein Name ist Stephanie Wilhöft, ich bin 20 Jahre alt und zurzeit für sieben Monate in Neuseeland unterwegs. Dort arbeite und reise ich quer durch das Land. Schaue mir die Natur an, die sowohl eine gewaltige Gebirgskette, als auch flaches Land mit glasklaren, bläulich schimmernden Flüssen und urige Wälder bereithält. Jeden Tag bin ich damit beschäftigt, 24000 Kilometer entfehrnt von der Heimat und 4400 Kilometer vom Südpol, etwa 1600 Kühe zu melken. Mich beschreibt man wohl am besten, als allgemeines geordnetes Chaos. Ich liebe die Natur, spiele mit meiner Kreativität und finde partout nichts wieder, wenn ich aufräume. Seit zwölf Jahren, bin ich Pfadfinderin und bringe Kindern nützliche Fertigkeiten bei. Auch trainiere ich eine kleine Karategruppe und bereite mich selbst auf die Schwarzgurt Prüfung vor. Meine Lust zum Schreiben, hat schon sehr früh begonnen. Um ehrlich zu sein, ab dem Moment, wo ich in der ersten Klasse meine ersten Buchstaben Gehversuche gestartet habe. Immer wieder schrieb ich kleinere Geschichten, die ich dann stolz meinen Eltern vorließ. Wirklich veröffentlicht habe ich vor meiner Weihnachtsgeschichte "Adventio" jedoch noch nichts. Am faszinierendsten beim Schreiben finde ich, wie man mit der Sprache spielen kann und wie wichtig der klang eines Wortes für eine Geschichte ist. Wenn ich das Wort "Donnergrollen" lese, höre ich es krachen, als würde der Himmel förmlich explodieren. Bei dem Wort "Kaminfeuer" hingegen, höre ich es leise knistern und gemütlich prasseln. Es ist spannend zu sehen, welche Wirkung ein paar Worte, zusammengestellt aus wirren Buchstaben, auf den Leser haben können. Sie bringen ihn zum Weinen, zum Lachen und zum Nachdenken, oder lassen Adrenalinschübe frei. Diese Weihnachtsgeschichte ist ein Teil eines Adventskalenders, den ich für meine Eltern gebastelt habe. Denn, was ich am Schönsten am Schreiben finde ist, dass man seine Geschichten mit Menschen teilen kann.


Ein ganz besonderer Tag Claudia van Es Heute sollte er also sein. Die kleine Maus war sehr aufgeregt. Sie hatte es von den Menschen gehört, schon vor einiger Zeit. Sie hatte es nicht glauben können und die Katzen im Garten belauscht. Doch es schien zu stimmen: Heute war Weihnachten! Jesus wurde geboren. Das fand sie ein bisschen merkwürdig, denn wenn sie sich recht erinnerte, wurde Jesus schon einmal geboren. Bestimmt hatten die Katzen das falsch verstanden. Sicher meinten sie, dass Jesus Geburtstag hatte. Ja, so musste das sein! Genau wie die kleine Maus. Sie hatte auch schon einmal Geburtstag gehabt und wenn alles gut ging, konnte sie im März ihren zweiten Geburtstag feiern. Jesus war in einem Stall geboren worden. Das fand die kleine Maus nun nicht sonderlich aufregend, schließlich war sie auch in einem Stall geboren worden und niemand fand diese Tatsache besonders wichtig. Jesus war aber wichtig. Die Menschen sprachen schon seit einiger Zeit über das Weihnachtsfest. Das erzählten sich jedenfalls die Katzen, und die mussten es wissen. Gern hätte die kleine Maus mehr über Jesus erfahren, aber die Katzen konnte sie ja schlecht fragen. Deshalb war sie zu Großvater Rake gegangen. Er war schon sehr alt und deshalb wusste er auch sehr viel. Viel über Möhren. Und über Getreide. Das war wichtig für eine Maus. Aber er wusste auch viel über die Menschen. Und so hatte er auch schon einmal etwas von Jesus gehört. Er soll ein guter Mensch gewesen sein. Er half den Armen und den Kranken. Er half all Jenen, denen sonst niemand half. Und deshalb erinnern sich die Menschen jedes Jahr an seine Geburt im Stall.


Also wurde Jesus doch nicht heute geboren, sondern die Menschen feierten nur seinen Geburtstag, um sich an ihn zu erinnern. Denn Jesus war gestorben, hatte Großvater Rake erzählt. Zuerst verstand die kleine Maus gar nichts mehr: Wie konnte man Geburtstag feiern, wenn man doch gar nicht mehr lebte? Aber Jesus war wieder auferstanden. Das war alles ziemlich verwirrend für die kleine Maus; sie stand auch wieder auf, sogar jeden Morgen, und niemand fand das besonders wichtig. Sie auch nicht. Bei Jesus war das aber ganz besonders wichtig. Das feierten die Menschen auch, eben weil es so wichtig ist. Das war aber ein anderes Fest und hatte etwas mit Eiern zu tun. Und weil der kleinen Maus so langsam der Kopf schwirrte von Großvaters Ausführungen konnte sie sich nicht alles merken. Sie merkte sich aber die vielen schönen Wörter, von denen die Menschen laut Großvater Rake sprachen, wenn sie an Jesus dachten. Sie sprachen von Liebe und Nächstenliebe, von Hilfsbereitschaft und Füreinanderdasein, von Verzeihen und Versöhnen, von Wärme und Nähe, von Stille und Besinnlichkeit. Daran wollten die Menschen denken und sich ein Beispiel nehmen an Jesus. An Jesus, der für die Menschen da war. An Jesus, der den Armen half. Und den Schwachen. Und den Kranken. Seit einigen Tagen hatte sich die kleine Maus immer wieder ganz mutig bis auf den Hof geschlichen. Wenn die Katzen nicht im Garten zu finden waren, saßen sie häufig hier herum. Sie stritten sich oder kuschelten miteinander, sie putzen sich und unterhielten sich über die Menschen. Sich so nah an die Katzen heranzuschleichen war natürlich gefährlich für die kleine Maus. Aber sie war so neugierig und wollte auf keinen Preis Weihnachten verpassen. Großvater Rake hatte erzählt, dass die Menschen sich gegenseitig besuchten und sich Geschenke machten. Von den Katzen hatte sie in den letzten Tagen erfahren, dass die Vorbereitungen schon begonnen hatten. Die Katzen freuten sich schon sehr auf das Fest. Sie sprachen von Extraportionen Futter und lauter Schleckereien, von denen die kleine Maus noch nie gehört hatte. Vor einiger Zeit hatte sie staunend beobachtet, wie die Menschen ein Stück Wald in ihr Haus geschleppt hatten. „Weihnachtsbaum“, hatten die Katzen gesagt. Sie freuten sich schon ganz besonders auf den Weihnachtsbaumschmuck. Das konnte die kleine Maus überhaupt nicht verstehen. Sie hätte sich am meisten über ein Stück Käse gefreut. Sie hatten zwar immer genügend zu essen; schließlich musste man nur in den Stall gehen, eine Kuh geschickt von vorn erschrecken und schon stand einem der Weg zum Kraftfutter frei, doch so ein Stück Käse war schon etwas Besonderes. Außerdem musste man bei der ganzen Erschreckerei immer gut aufpassen, dass


man nicht die Aufmerksamkeit der Katzen auf sich zog. Die Kühe muhten manchmal schrecklich laut, wenn man sie erschreckte. Aber die Katzen waren in letzter Zeit gar nicht mehr so aufmerksam. Das musste an den Extraportionen Futter liegen. Und heute war es so weit! Das hatten die Katzen erzählt. Und die kleine Maus hatte einen Plan! Sie wollte ins Haus huschen und sich Weihnachten ganz aus der Nähe ansehen. Und vielleicht konnte sie ein Stückchen Käse ergattern. Bei dem Gedanken lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Die kleine Maus wollte auch Weihnachten feiern! Was für ein wunderschönes Fest! Und da saß sie nun. Im Dunkel der alten Eiche nahe am Haus. Aufgeregt. Es war dunkel. Leicht fielen ein paar Schneeflocken vom Himmel. Sanft fielen sie auf den Hof und hinterließen keine Spuren, sondern verschmolzen mit den anderen Flocken zu einem glitzenden Weiß. Still war es, ganz still. Keine Katze war zu sehen, sie waren in der warmen Stube. Bei den Menschen. Die kleine Maus witterte. Leise zog ein zarter Duft aus dem Haus und bog geschmeidig um die Häuserecke. Ein Duft nach warmen Gebäck und Heiterkeit. Leise Töne folgten dem Duft, schwebten leicht und ließen sich treiben. Mal hierhin. Mal dahin. Unsichtbar verwoben mit dem Duft. Sanfte Töne, die Ahnung eines Klaviers und die Erinnerung zarter Kinderstimmen. Wie eine weiche warme Decke der Chor; ein Hauch von Weihnachtsliedern. Die kleine Maus erschauderte. Das war also Weihnachten! Sie seufzte wohlig. Langsam schlich sie sich näher. Das Küchenfenster stand einen kleinen Spalt auf. Und schon war die kleine Maus hineingehuscht. Der Duft war betörend. Die leisen Klänge deutlicher, aber noch immer sanft wie eine Umarmung. Jetzt konnte sie die Lieder verstehen. Lieder vom Christkind, von Maria und Josef und von einem Stern. Lieder von Hirten und Königen.


Lange hockte sie dort unten auf dem Boden in der Küche, lauschte der Musik und genoss die Wärme der Küche. Dann schlich sie weiter. Schnell fand sie, was sie suchte: ein riesiges Stück Käse! Schnell klemmte sie es sich unter den Arm, malte sich schon aus, wie es wohl schmecken würde und leckte sich bereits die Lippen. Sie würde es in die Scheune schmuggeln, schnell und heimlich, ungesehen und allein. Dann würde sie sich ein schönes sicheres Plätzchen suchen und sich ihr kleines Bäuchlein mit dieser Köstlichkeit vollschlagen. Mehr dachte sie nicht. Als sie gehen wollte, zog es sie zurück in den Raum. In den Flur, immer näher zur Musik. Sie umklammerte das Stück Käse, während sie langsam weiterschlich. Leises Lachen kam ihr entgegen, um sie im Wohnzimmer zu begrüßen. Die kleine Maus staunte. Dort stand der Baum in all seiner Pracht. Grün und stark und nadelig und funkelnd. Er war geschmückt mit Rot und Gold. Kleine Lichter ließen das Gold glitzern. Darunter Geschenke. Bunt eingepackte Pakete. Mit Schleifen und kleinen Schildern mit Namen darauf. Es waren nicht viele, aber um sie zog der Duft der Liebe. Die Familie saß am Tisch. Sie aßen. Wie das duftete! Die Menschen unterhielten sich leise, sie lächelten. Sie lachten und scherzten. Sie berührten sich häufig am Arm oder am Kopf. Sie waren sich ganz nah und warm. Es war wunderschön! Die Freude und die Liebe umhüllten sie wie eine schützende Wolke. Leise drehte sich die kleine Maus um. Sie hielt inne. Sie war ganz still. In ihr war es ganz ruhig und warm. Aber sie war auch ein bisschen traurig. So viel Wärme und so viel Liebe und so viel Nähe... Das hätte sie auch gern. Und da fasste sie einen Entschluss. Das Stück Käse wollte sie nicht mehr allein verspeisen. Keine Heimlichkeit und kein Geschmuggel. Sie wollte es mit ihrer Familie teilen. Ja, das war eine gute Idee! Schützend hielt sie das Käsestück im Arm, war es doch nun noch wertvoller. Leise und langsam schlich sie aus dem Wohnzimmer, durch den Flur bis in die Küche. Begleitet vom sanften Lachen der Familie und den tröstenden Klängen der Musik, empfangen vom feinen Küchenduft und der Ahnung auf einen schönen Weihnachtsabend.


Unbemerkt huschte sie durchs Fenster und plumpste draußen in den kühlen Schnee. Kühl und still war es, der Schnee kitzelte in der Nase, ganz weit hinten, wo es nach Winternacht riecht und dabei ein bisschen kratzt. Schnell rappelte sie sich auf, verstaute das Stück Käse sicher unter ihrem Arm und war bald darauf verschwunden, erst in der Dunkelheit der Eiche und dann im Schutz der Stallmauer. Zwei Katzen saßen in der warmen Stube am Fenster und schauten auf den verschneiten Hof. Als nicht mehr die kleine Maus, sondern nur noch ihre Spur im Schnee zu sehen war, sahen sich die beiden Katzen an. „Es ist doch schließlich Weihnachten“, sagte die braune Katze. Die schwarze Katze war sehr stolz, schmiegte sich an die andere und schnurrte zufrieden. Gerade als die kleine Maus um die Ecke sausen wollte, ein wenig atemlos und voll Erwartung, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung war. Sie konnte gerade noch bremsen, als ihr eine andere Maus entgegenkam. Rasch versteckte die kleine Maus ihr Stückchen Käse hinter ihrem Rücken. „Pass doch auf!“, sagte sie laut. Nicht, dass man ihr noch den Käse stahl! Sie kannte die andere Maus schließlich nicht. Diese senkte den Kopf und machte sich ganz klein. „Entschuldigung. Das tut mir Leid, ich habe nicht richtig aufgepasst“, stammelte sie. Die kleine Maus entspannte sich etwas und betrachtete die andere Maus etwas genauer. Sie war sehr klein, aber sie war auch sehr dünn. Zottelig. Eher struppig. Sie zitterte in der Kälte. Ein Häufchen Elend. Der Geruch von Hunger umwaberte sie. Den Hunger konnte man auch hören, laut grollend und fürchterlich rumpelnd aus ihrem kleinen Bauch. Die kleine Maus dachte an Weihnachten. Und an Jesus. An Jesus, der den Armen half. Und den Schwachen. Und den Kranken. Und bestimmt auch den Hungrigen. „Du hast Hunger“, sagte sie. Das war eine Feststellung. „Komm mit!“


Und sie lud die hungrige Maus ein, Weihnachten mit ihr und der ganzen Familie zu feiern. Genügend Käse hatte sie ja. Wenn jeder etwas weniger aß, wurden trotzdem alle satt. Und so feierten die Mäuse Weihnachten. Zart, ganz zart und rosa wurden sie eingeschlossen von einer leichten und warmen Wolke. Schützend legte sie sich um die Mäusefamilie und manchmal, wenn die kleine Maus ganz fest lauschte, hörte sie die leisen Klänge der Weihnachtsmusik und nahm den weichen Duft von süßem Gebäck und Liebe wahr. Und wann immer Großvater Rake nach dem Weihnachtsfest gefragt wurde, konnte er nun eine ganz besondere Geschichte erzählen: Die Geschichte, wie die kleine Maus etwas von den Menschen lernte. Es passiert schließlich selten genug, dass man etwas Gutes von den Menschen lernen kann. Und das weiß auch jede Maus.


© Claudia van Es - Wer ist Claudia van Es? Claudia van Es wuchs in einem kleinen Städtchen in Nordrhein-Westfalen auf. Als Kind wollte sie eigentlich „Umweltverschönerer“ werden. Besonders die bunte Gestaltung der damals noch grauschwarzen Einheitsmülltonne lag ihr sehr am Herzen. Ihre Eltern waren jedoch schon von der ersten Umsetzung des Projektes (an der eigenen Mülltonne) nur mäßig begeistert. Langweilige Toilettenbrillen und -deckel waren ihr ebenfalls ein Dorn im Auge, doch in diesem Bereich war jemand anderes schneller als sie. Erwachsen geworden studierte sie nach dem Abitur Lehramt Primarstufe und arbeitet heute als Lehrerin an einer Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Ein Traum aus ihrer Kinderzeit hat sie jedoch bis ins Erwachsenenalter begleitet und einen wichtigen Teil in ihrem Leben eingenommen: Geschichten und Gedichte zu schreiben. So verfasste sie zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte - sei es aus gegebenen Anlass oder einfach aus einer unbändigen Schreiblust heraus. "Ein einzelnes Wort, ein einzelner Gedanke, der Blick aus dem Fenster - und man weiß nie, welch spannende Geschichte sich hieraus entwickelt..." Bisher hat Claudia van Es sechs Kurzgeschichten für Erwachsene in dem Taschenbuch „Der traurige Elch – und andere Geschichten“ zusammengefasst und veröffentlicht, sowie die Kinderbücher „Quidelana sucht Freunde“ und „Quidelana ist mutig“. Aus dieser Reihe („Die kleine Maus“) sind weitere Bücher geplant.


Meine Weihnachtsgeister Michael Saraska Heute ist Weihnachten. Wieder einmal! Ich sitze hier inmitten von Kisten in denen meine ganze Habe verpackt ist. Müde und erschöpft fühle ich mich. Dabei bin ich gestern schon knapp vor 22.00 Uhr im Schlafsack gelegen. Die Möbel sind bereits vor einigen Tagen abgeholt worden. Ich habe sie verkauft, da ich keinen Bedarf mehr für sie habe. Die Wohnung wird mit Ende des Jahres aufgelassen, die Schlüssel werde ich nach Weihnachten an die Nachmieter übergeben. Die Kisten werden erst nach Weihnachten abgeholt und bis auf weiteres in einem Lager untergestellt. Geblieben sind mir eine Matratze und ein Schlafsack für die letzten Tage bis zur Abreise. Noch nicht verpackt sind ein paar Bücher, die ich über Weihnachten lesen will. Es ist später Vormittag, den Kaffee habe ich mir vorhin bei Starbucks ums Eck geholt. Gedankenversunken sitze ich auf der Matratze schlürfe ich Schluck um Schluck den heißen Kaffee durch das kleine Trinkloch. Jeder Abschied, so sagt man, ist ein neuer Anfang und ich hoffe, dass das auch für mich gilt. Momentan fühle ich nur den Abschied, der Neubeginn scheint mir ewig weit weg und unwirklich. Mein Magen fühlt sich schwer an, als wäre er mit angerührtem Zement gefüllt. Ich greife nach einem Buch und beginne zu lesen, es ist Lemprière’s Wörterbuch von Norfolk. Es ist ein schwierig geschriebenes Buch, der Autor gefällt sich in einer komplizierten Sprache, nicht-linearem Handlungsstrang mit häufigen Zeit- und Perspektivenwechsel. Das Lesen verlangt Konzentration und die kann ich heute nicht aufbringen. Ich lege das Buch wieder zur Seite und versinke wieder in meinen Gedanken. Weihnachten habe ich noch nie gemocht. Diese Zeit der angestrengten Besinnlichkeit und Gefühlsduselei kombiniert mit dem irrwitzigen Einkaufs- und Geschenkestress waren noch nie meines. Aus jedem Lautsprecher dröhnt dir irgendein Weihnachtslied entgegen und mahnt die Stille


Zeit ein. Dabei handelt es sich doch glatt um die größte Lüge überhaupt oder kann wirklich irgendjemand ernsthaft behaupten, dass die vier Adventwochen tatsächlich eine besinnliche Zeit sind? Es dreht sich doch alles nur um Geschenke und Einkaufen wie zu keiner anderen Zeit des Jahres. Der Konsum wird in die Jahresendphase gepeitscht. Für mich hingegen sind die Osterfeiertage die schönste Zeit, da beschleicht einem unweigerlich eine fröhlich, frühlingshafte Aufbruchsstimmung. Ich komme aus einer – wie man heute sagen würde – Patchwork Familie und da ist Weihnachten immer doppelt anstrengend. Die kinderverbundenen Patchworker, die sich meinem Erleben nach nur bedingt bis gar nicht mögen, versuchen, ihre meist nicht verarbeitete Beziehungsvergangenheit bestmöglich zu verbergen, treffen sich beim Christbaum, tauschen höflich Geschenke aus und versuchen, den Abend irgendwie hinter sich zu bekommen. Seit ich denken kann, bin ich Weihnachten aus dem Weg gegangen. Mit Abschluss der Schule bin ich aus meinem Geburtsort weggezogen und meide diesen bis heute so gut wie möglich. Die meisten meiner unangenehmen Erinnerungen an die Kindheit haben mit Weihnachten zu tun. Als mein Vater vor 25 Jahren starb war es dann vorbei mit dem Patchwork. Er starb wenige Tage vor Weihnachten bei einem Unfall, also völlig unerwartet mitten in den Weihnachtsvorbereitungen. Er war auf dem Weg von einer Weihnachtsfeier nach Hause mit dem Auto verunglückt und hatte sich auf diesem Weg dem Fest und allen zukünftigen Festen entzogen. Für mich war das die Zeit des endgültigen Bruches mit dem Patchwork und dem gehasstem Patchwork Weihnachten. Es war das erste Mal, das ich Abschied feierte und die Brücken hinter mir verbrannte. Tatsächlich habe ich meinem Geburtsort den Rücken gekehrt und meine Familie seither nicht mehr gesehen. An genau diese Familie und meinen Vater musste ich jetzt denken. Noch heute fühle ich mich manchmal wie ein kleines Kind, das seinen Vater braucht und Weihnachten versetzt mich ab und an in diese hilflose Stimmung. Auch deswegen mag ich Weihnachten nicht. Die Geister der alten Weihnachten sollen mich auch heute nicht einfangen und in ungeliebte Erinnerungen entführen. Ich schlürfe wieder ein paar Schlucke aus meinem Kaffeebecher und überlege, wie ich den Tag bis zum Abend anlegen sollte. Punsch- und Glühwein schieden aus, das Lesen, sonst eine Leidenschaft von mir, auch. Eher noch kam der Besuch in meiner Stammkneippe in Betracht. Dort trafen sich


alljährlich am Nachmittag die Weihnachtsflüchtlinge, die sich für den bevorstehenden Abend Kraft holten. Irgendwie musste man dort den Eindruck gewinnen, dass es kaum erwachsene Menschen gibt, die sich auf Weihnachten freuten. Sobald wir den Kinderschuhen und dem Glauben an das Christkind entwachsen sind verliert der Zauber dieser Zeit offensichtlich seine Anziehungskraft und verkehrt sich ins Gegenteil. Irgendwo habe ich gelesen, dass es auch eine schwierige Zeit für Beziehungen ist. Kein Wunder bei all dem Stress. Wieder schweifen meine Gedanken ab, diesmal hin zu meinen Kindern und meiner Frau. Ich habe leider den Weg meiner Altvorderen fortgesetzt und mich vor wenigen Wochen nach langem und beiderseitigem Leiden von meiner Frau getrennt. Als Grund dafür könnte man wohl am ehesten mit der sattsam bekannten Phrase der nachhaltigen Zerrüttung benennen. Für mich hatte Ehe ohnehin nie den Sinn einer Liebesgemeinschaft, sondern den einer festen Partnerschaft und Heimat. Liebe ist vergänglich aber Partnerschaft kann überdauern, dachte ich. Meine Frau war anderer Meinung und hat letztlich die Konsequenzen gezogen. Gut, das ist zu akzeptieren und verdient sogar Respekt. Die zwei Kinder sind schon fast erwachsen und können damit wahrscheinlich gut umgehen. Jedenfalls denke ich, dass für die beiden noch-immer-Kids eine klare Trennung besser ist als diese quälenden Spannungen. Meine Frau und die Kinder haben sich eine neue Wohnung hier gleich um die Ecke genommen. Heute Abend werden wir, so ist es beschlossen, Weihnachten gemeinsam in ihrer neuen Wohnung feiern. Danach würde ich aufbrechen und nach London gehen, wo eine neue berufliche Herausforderung auf mich wartete. All diese Gedanken kreisen durch meinen Kopf als mich die Geister der vergangenen Weihnachten wieder abholen und meine Erinnerung zurück in meine Kindheit führen. Eine der Stationen des jährlichen Feierns war bei meinen über alles geliebten Großeltern. Dort herrschten strenge Rituale, was das Feiern etwas erträglicher machte. Zunächst die Begrüßung in der großen Küche mit selbst gemachtem Punsch. Irgendwann verabschiedete sich mein Opa und kurz danach hörten wir das leise Läuten der Weihnachtsglocken aus dem Wohnzimmer. Wir übersiedelten also, versammelten uns um den toll aufgeputzten Christbaum, sangen Stille Nacht, Heilige Nacht und warteten auf die Geschenkeverteilung durch unseren Opa. Danach ging es wieder ab in die Küche zu Kalbsnierenbraten mit Erbsenreis. Die Choreografie hat sich bis zum Tod meines Opas nie verändert. Das war die Weihnachtskonstante in all den Patchwork-Jahren. Alles andere wechselte häufig, die


Partner, die Lokationen, die Inszenierungen und vor allem die Stimmung. Weihnachten bei meinen Großeltern blieb immer gleich. Aber wenn ich tief in mich hineinhöre, dann hat mir Weihnachten auch damals nicht wirklich gefallen. Meine Großeltern waren mir ohne Weihnachten lieber. Mir scheint, als würden die familiäre Dynamik stets jedes ungezwungene Weihnachtsfest verhindert haben. Ich bin 46 und mit diesem Alter starb mein Vater vor 25 Jahren. Wie mag er sich damals gefühlt haben an Weihnachten? Was es für ihn ebenso eine lästige Pflicht oder sah er darin jenen Sinn, den alle Menschen diesem Fest nach außen hin unterstellen wollen? Sein Gesicht taucht vor meinem geistigen Auge auf. Ich sehe ihn so vor mir, wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe und werde wieder Sohn. „Schade, dass du nicht da bist“ höre ich mich sagen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Gespräche mit meinem Vater führe. Das hat mir schon oft geholfen, wenn ich mich verloren glaubte – meist an Weihnacht. „Wir könnten jetzt auf ein Glas Punsch gehen und uns gemeinsam auf den Abend vorbereiten“ meine ich weiter und muss dabei lachen. Mein Vater und ich, wir waren wohl sehr verschieden aber zuletzt gute Freunde gewesen. Er war mit Leib und Seele Familienmensch, hat aber nie Glück mit seinen Frauen gehabt. Seine Kinder hat er abgöttisch geliebt und daher viel Patchwork erduldet. Wer mir eine gut funktionierende Patchwork Familie zeigt, dem schulde ich einen Gefallen. Patchwork ist gelebtes Leiden, denke ich. „Was meinst du dazu mein alter Herr?“ frage ich die Erinnerung an meinen Vater. Es geht mir nach dieser kurzen Unterhaltung besser. Der Kaffee ist leer getrunken und die Sonne scheint jetzt durch die großen Fenster in Wohnzimmer. Der helle Parkettboden zwischen den Schachteln glänzt und auch meine Stimmung hat sich aufgehellt. Ich stehe auf und wandere durch das Kistenensemble. Alles was ich bin, das scheint in diesen Kisten verpackt zu sein und wird demnächst irgendwo gelagert sein. Die Bücher, die ich gelesen habe, die Musik, die ich gehört und die Filme, die ich gesehen habe. Auch meine Notizbücher sind für die Einlagerung verstaut. Es bleibt mir also gar nichts anders übrig, als neu zu beginnen und mich neu zu erfinden. Jetzt, wo mein altes Leben in Kisten verpackt und weggesperrt sein wird. Dieser Gedanke fühlt sich gut an, langsam verdrängt die hoffnungsvolle Erwartung über das vor mir Liegende die Melancholie über das zu Ende Gehende.


Ich werde heute mit dem neuen Leben beginnen, mit dem heutigen Weihnachtsfest. Irgendwo, fällt mir ein, muss hier in den Schachteln Die Weihnachtsgeschichte von Dickens liegen. Ich werde das Buch suchen und lesen. Und ich werde mir noch eine Weihnachtsglocke besorgen und damit heute am Abend die Bescherung einleiten. Es muss doch möglich sein, den Geist von Weihnachten abseits der eingetretenen Pfade für mich zu entdecken. Ich habe sogar die plötzliche Sehnsucht, die Geburt Jesu in der Bibel nachzulesen. Nicht, dass ich besonders gläubig bin aber die Bibel ist ein tolles Buch. Ein neues Leben sollte mit alten Gewohnheiten brechen. Ich verspüre den unbedingten Drang, den Geist der alten Weihnachten zu verdrängen. Jetzt sofort, vielleicht als Symbol für ein neues, erfüllteres Leben. Noch einmal lacht mir die Erinnerung meines Vaters entgegen bevor ich nach Dickens und meiner Bibel zu suchen beginne…


© Michael Saraska - Wer ist Michael Saraska? Ich bin 1968 in Berlin geboren aber bereits in früher Kindheit nach Wien übersiedelt. Ich bin also ein leidenschaftlicher Berliner, der großteils in Wien wohnt, arbeitet und schreibt. Schreiben ist für mich eine große Leidenschaft, die ich hege und pflege. In der Stadt von Freud würde man meiner Schreiberei auch psychologische bzw. therapeutische Gründe unterstellen, was vielleicht auch richtig ist. Tatsächlich verarbeite ich viele persönliche Erlebnisse bzw. Erlebnisse von Freunden in meinen Geschichten. Die neuen Tummelplätze wie Facebook oder Twitter meide ich derzeit noch, da ich in erster Linie eben für mich schreibe. Aber wer weiß schon, was die Zukunft bringt?


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