„Borderline ist extrem verbreitet“ Dr. Daniel Kaufmann, Stationsführender OA für die Station E2 mit Schwerpunkt Subakut/ Forensik und Leiter der Borderline Ambulanz am LKH Rankweil im Gespräch mit WANN & WO über das Borderline-Syndrom. WANN & WO: Worum handelt es sich beim Borderline-Syndrom genau? Dr. Kaufmann: Das Borderline-Syndrom – genauer: Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typ (BPS) – zählt zu den Persönlichkeitsstörungen und entspricht grob gefasst einer Einschränkung im Erleben und Verhalten von alltäglichen sowie Konfliktsituationen. An BPS Leidende haben Schwierigkeiten mit der Gefühlsregulation (heftigeres Gefühlserleben, teils unerträgliche innere Anspannung, emotionale Taubheit,…), im zwischenmenschlichen Bereich (häufig wechselnde, intensive, aber instabile Partnerschaften, Angst verlassen zu werden, etc.) und im Bereich des Selbstbildes (negatives Körpergefühl, das Gefühl „anders, nicht liebenswert“ zu sein, etc.). WANN & WO: Wo liegen die Gefahren für Menschen mit BPS? Dr. Kaufmann: BPS ist extrem verbreitet – man geht davon aus, dass vier bis sechs Prozent der Gesamtbevölkerung davon betroffen sind – und führt zu einem ausgeprägten, kaum erträglichen Leidensdruck. Dieser mündet allzu oft in selbstschädigendem Verhalten (Alkohol, Drogen, Medikamente, Promiskuität, Hochrisikoverhalten, Selbstschädigung). Rund 60 Prozent der Klienten unternehmen Suizidversuche, bei bis zu sieben Prozent kommt es leider zum Selbstmord. WANN & WO: Ist die Krankheit behandelbar? Dr. Kaufmann: Grundsätzlich ist BPS behandelbar. Ich bin sogar überzeugt, dass es unter den Persönlichkeitsstörungen zu den am besten behandelbaren Krankheiten zählt. Pharmakologische Ansätze werden dabei zunehmend in ihrer langfristigen Wirksamkeit angezweifelt und von psychotherapeutischen Verfahren (z.B. Schematherapie, TFT, MBT, DBT) abgelöst. Letztere wurden in Österreich aber noch viel zu wenig berücksichtigt. Eine spezifische Ambulanz (Richtung DBT) entsteht gerade am LKH Rankweil.
14 Sonntag, 13. Juni 2014
WANN & WO
Tischtennis und Schreiben als Selbsttherapie
Samira hat zwei Leidenschaften, die ihr helfen, ihren Alltag zu meistern: Tischtennis spielen und schreiben. Die 33-Jährige konnte für ihren Verein IKADES bereits einige Erfolge einfahren, unter anderem Gold im Doppel sowie Bronze im Tischtennis-Einzel bei den Special Olympics 2014 in Klagenfurt (Foto: Bewerb 2011 in Villach). Derzeit arbeitet sie an einem Buch mit dem Titel „Gefangen in meinem eigenen Ich“, in dem sie von ihren Erfahrungen als Borderlinerin berichtet.
„
Zahllose Narben bedecken Samiras Arme. Samira: „Je krasser ich mich geschnitten hatte, desto besser ging es mir. Ich schnitt mich am ganzen Körper – wo ich eben Platz fand.“ Die letzte Selbstverletzung soll aber schon lange zurück liegen. Zu den Narben steht sie: „Die gehören nun einfach zu mir.“
Aufgeben gibt es für mich nicht. Auch wenn man hinfällt – egal, wie oft – ist es gut und wichtig, wieder aufzustehen. Samira Mulalic, Borderlinerin
“ Fotos: HK; handout/Mulalic, LKH Rankweil – Kaufmann
KURZINTERVIEW
„Ich wollte einfach nicht mehr“
Mit 14 wurde bei Samira Mulalic (33) das Borderline-Syndrom diagnostiziert. Mit WANN & WO spricht sie über ihre Krankheit, Selbstmord und den unbändigen Willen, ein normales Leben führen zu können.
Seit ihrer Kindheit kämpft Samira gegen ihren größten Feind – sich selbst. In früher Jugend wurde bei ihr das Borderline-Syndrom festgestellt. Selbstverletzung, Selbsthass und tiefe Verzweiflung verfolgten sie jahrelang. Ihre innere Stimme sagte ihr immer wieder, sie wäre nichts wert, sie müsse alleine durchs Leben kommen, niemand würde sich für sie interessieren. Beziehungen scheiterten immer wieder. Ihr letzter Partner war drogenabhängig, saß den ganzen Tag nur zu Hause, kiffte und spielte am Computer. „Die Beziehung hat mich mehr hinuntergezogen, als mir geholfen. Er hatte nur die Drogen und sein ‚Call of Duty‘-Spiel im Sinn. Es war wirklich schlimm.“ An einem Tag im April 2004 nahm das Schicksal seinen Lauf. Samira versuchte, sich mit einem Sprung von einem Balkon das
Leben zu nehmen. Sie erinnert sich zurück: „Ich habe mich immer mehr selbst fertig gemacht. Habe mich am ganzen Körper geschnitten – bis zu vier Mal in der Woche. Irgendwann wollte ich einfach nicht mehr. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich auf den Balkon gekommen bin. Plötzlich stand ich auf dem Geländer, sah nach unten und sprang.“ Den Sturz aus mehreren Metern Höhe überlebte sie mit zertrümmerten Beinen. „Ich habe selbst die Rettung gerufen. Meine Knochen waren zerbröselt. Es folgten mehrere OPs, die Ärzte gingen davon aus, dass ich nie mehr laufen würde können“, erzählt sie mit einem Zittern in der Stimme.
Psychologische Betreuung und Sport Was nun folgte, war jahrelange Physiotherapie und Dutzende Besuche in psychiatrischen Anstalten. In der Lebenshilfe, wo sie lange Zeit mitarbeitete und wohnte, fand sie neue Freunde. Und auch im Sport, genauer im Tischtennis, fand sie wieder neuen Lebensmut. Samira lächelt: „Durch die Physiotherapie kam ich im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine. Ich habe zwar noch hin und wieder Schmerzen, aber ich bin
sehr glücklich, dass ich wieder laufen kann.“
Neustart Mit Hilfe von Vertrauenspersonen, Ärzten und Freunden bei der Lebenshilfe und im Kinderdorf, fand Samira neue Kraft, neuen Antrieb: „Ich möchte mich bei allen, die mir geholfen haben, herzlich bedanken. Ich würde mich auch sehr freuen, wenn ich wieder Kontakt zu meiner Mutter und meinen Schwestern hätte.“ Auch wenn sie hin und wieder noch an sich selbst zweifelt, klammert sich Samira an das Positive im Leben. Auch hat sie einige Ziele, die sie unbedingt noch erreichen möchte: „Ich arbeite an einem Buch, das meine Geschichte erzählt. Ich bin Muslimin, würde mich aber gerne taufen lassen. Zudem habe ich eine eigene Wohnung in Aussicht und möchte die Kathi-Lampert-Schule in Götzis besuchen, um meine Erfahrungen später an andere weitergeben zu können. Aufgeben gibt es für mich nicht. Auch wenn man hinfällt – egal, wie oft – ist es gut und wichtig, wieder aufzustehen.“ HARALD KÜNG harald.kueng@wannundwo.at