medico-Report 26: Im Inneren der Globalisierung / Psychosoziale Arbeit in Gewaltkontexten

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den könnten durch einen politischen Wechsel geheilt werden. Wie wir gesehen haben, gibt es jedoch die gesellschaftliche sowie die individuelle Dimension eines Traumas. Abhängig von der Perspektive kann man den einen oder den anderen Teil überbewerten. Politische Aktivisten neigen dazu, das individuelle Ausmaß unterzubewerten. Obwohl ich starke Sympathien für diejenigen empfinde, die auf politischen Wandel und Entwicklung hoffen, glaube ich trotzdem, dass es sehr wichtig ist, nie die individuellen Bedürfnisse und die persönliche Lage der Menschen, die der gesellschaftliche Prozess zu Opfern gemacht hat, zu vergessen. Es ist zum Beispiel wichtig zu verstehen, dass man während des Kampfes für Veränderungen und Demokratie immer noch hoffen kann, alles würde sich ändern. Danach, wenn die Veränderungen begonnen haben, ist die Demokratie oft nicht mehr so fantastisch, wie man sie sich vorgestellt hatte. Der politische Wandel ist positiv, aber er heilt nicht alle individuellen Wunden. Normalerweise bekräftigt er, dass die Vergangenheit vergangen ist, und das nicht nur im positiven Sinne, sondern auch als Verlust, also als etwas, das Trauer und Verzweiflung auslösen kann. Trauma-Therapeuten neigen dazu, zu glauben, dass sich die Welt durch Therapien verändern lässt, oder dass zumindest die Individuen, mit denen sie arbeiten, »geheilt« würden. Genauso gefährlich wie der absolute Glaube an die Omnipotenz eines politischen Wandels ist das blinde Vertrauen in die Psychologie, in die Therapie, vielleicht sogar noch gefährlicher. Die gesellschaftliche und politische Ignoranz, die viele Gesundheitsinstitutionen, Therapeuten, Ärzte und Sozialarbeiter zu der Annahme verleitet, sie könnten den Opfern der gesellschaftlichen und politischen Katastrophen helfen, ist ziemlich beängstigend. Nichtsdestotrotz ist die Überzeugung wichtig, dass die individuelle Hilfe sehr nützlich sein kann, wenn sie im Bewusstsein der diesem Prozess inhärenten Grenzen geleistet wird. Täter neigen dazu, den Schaden, den sie verursacht haben, zu bestreiten, und fürchten sich normalerweise vor Rache. Wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, ist es logisch, dass er die negativen Konsequenzen für sich vermeiden will. Ein politischer Wandel impliziert möglicherweise Vergeltung, deren Ausmaß so furchtbar sein könnte, wie die begangenen Verbrechen. Dieses Problem löst sich nicht mit Hilfe des Versuchs, die Täter einfach zu vergessen, z.B. eine Amnestie auszurufen oder den berühmten sogenannten Schlussstrich zu ziehen. Allerdings löst sie sich auch nicht, indem auf einen »Auge-um-Auge«-Gerechtigkeits-Prozess bestanden wird. Es ist schwierig, Traumafolgen zu überwinden, wenn alles, was geschieht, von Machtstrukturen abhängig ist und eine tradierte Moral keine Geltung mehr besitzt. Opfer haben ein Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit, eine Gerechtigkeit, die die Logik der Täter überwindet und sie zwingt, Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen. Über die direkte Frage nach dem Umgang mit Tätern und Opfern hinaus, geht es hier natürlich auch noch in einem viel weiteren Sinne um das Problem, wie ein glaubwürdiges Justizwesen aufgebaut

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werden kann, und auch darum, wie eine Gesellschaft glaubwürdige moralische Grundlagen entwickeln kann, nachdem diese für viele Jahre außer Kraft gesetzt bzw. zerstört worden sind. ■ Im Zusammenhang mit Krieg und Verfolgung gibt es immer viele Menschen, die direkt in die Machtstrukturen eingebunden sind, und es gibt jene, die so erscheinen, als wären sie nur Zuschauer. Zuschauer neigen dazu, jeden einzelnen als Bedrohung wahrzunehmen, und sind die Hauptkonstrukteure der »Verschwörung des Schweigens.« Allerdings könnte eine Diktatur nicht existieren, wenn es die Zuschauer nicht gäbe. In den Zeiten nach einem Konflikt sind es wiederum die Zuschauer, die oft eine sehr negative Rolle in ihrer Gesellschaft innehaben. Einige kümmern sich einfach nicht um leidende Menschen in ihrer Umgebung. Aber die meisten Zuschauer haben Angst. Sie haben die Konfliktsituationen in einer Position der Passivität und Besorgnis durchlebt, darauf wartend, dass die Machthaber agierten. Viele von ihnen haben auch gelitten. Viele hofften darauf, sich aus dem Konflikt heraushalten zu können. Sie entschieden und entscheiden sich für das Schweigen und halten somit – häufig gegen ihre eigenen Interessen – die zugrunde liegenden Konflikte aufrecht. ■ Opfer laufen Gefahr, ihre Zerstörung eigenständig aktiv aufrechtzuerhalten – entweder durch das Verleugnen des gesellschaftlichen Kontextes ihres Leidens oder durch eine »Überpolitisierung«. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Opfer bedeutet oft, lebenslang zum Opfer gemacht zu werden. Opfer können zwar nicht vergessen, aber irgendwie müssen sie ihr Leben dennoch fortführen. Sie müssen nach den politischen Ursachen ihres Leidens suchen, aber sie müssen sich dennoch auch um ihre persönlichen Anteile kümmern, unter anderem um ihr Recht, auch eines Tages nicht mehr Opfer sein zu müssen.

5. Schwierigkeiten in der Trauma-Arbeit Unglücklicherweise muss die Liste der Schwierigkeiten noch auf einer anderen Ebene fortgesetzt werden. Auch im Bereich der Trauma-Arbeit selbst müssen wir verschiedene Probleme betrachten: ■

Trauma-Arbeit soll den Opfern helfen. Wer definiert die Kriterien, nach denen wir erkennen, wer tatsächlich zu den Opfern gehört? Ist es genug, wenn jemand sich selbst als Opfer betrachtet? Sollten Ärzte oder Psychologen oder Richter oder Politiker definieren, wer die Opfer sind? Hilft es einer Gesellschaft, wenn wir eine Art Wettbewerb darüber beginnen, wer am meisten gelitten hat? Tatsächlich herrscht keine Einigkeit darüber, was Trauma-Arbeit ist, wie sie ausgeführt werden soll und was sie erreichen soll. Weil Trauma-Arbeit sich mit

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