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Editorial

Die Reichen gefährden die Armen – nicht nur durch Corona

Liebe Leserinnen und Leser,

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selten war die Produktion des medico-rundschreibens so von der Aktualität geprägt wie bei dieser Ausgabe. Eigentlich sollten Zeitschriften langfristige Themen im Blick haben, aber die dramatische Situation der Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen, insbesondere in Griechenland, hatte uns schon vor Corona dazu gezwungen, alle ursprünglichen Planungen über den Haufen zu werfen. Deshalb berichten wir im zweiten Teil des Heftes ausführlich über die Situation in Syrien, in Marokko und in Griechenland. Was in den Reportagen aus den Frauenhäusern in Rabat, den Übergangslagern in Rojava oder dem Frauenzentrum in Idlib aufscheint, ist die Tatsache, dass es unter fast allen katastrophalen Bedingungen die Möglichkeit gibt, sich zu entscheiden: Entweder für das bloße eigene Überleben oder für eine menschliche Haltung, die in konkreter solidarischer Praxis mit denen mündet, deren Menschenrecht verletzt wird. Eine solidarische Praxis also auch und sogar mit jenen, die wir nicht kennen und vielleicht nicht einmal verstehen. Das Drama zeigt sich insbesondere im Al-Hol-Lager in Rojava, das vom Kurdischen Roten Halbmond fast allein versorgt wird, und in dem unter anderem Frauen und Kinder der IS-Kämpfer untergebracht sind. Obwohl die Welt die lokalen Strukturen komplett im Stich lässt, tun die Helfer*innen unter schwierigsten Umständen ihr Bestes.

Den ersten Teil des Heftes bestimmt die Corona-Pandemie. Für medico als globale Gesundheitsorganisation ist dies die Zeit, die gesammelten Erfahrungen zu sichten und mit dem weltweiten Gesundheitsnetzwerk, über das wir seit Jahren verfügen, in intensiven Austausch zu treten. Die

Texte hier im Rundschreiben sind nur ein Anfang: eine Lagebeschreibung in Ausschnitten. Wir werden die Zeit nutzen, aus der Erfahrung und dem gesammelten Denken und Wissen haltbare Vorschläge für eine solidarische globale Gesundheitspolitik zu entwickeln. Denn nur das kann eine angemessene Antwort auf diese Gesundheitskrise sein. Das Gemeingut Gesundheit, das an soziale und politische Determinanten des Menschenrechts gebunden ist, ist dabei der Horizont, der nun nicht mehr utopisch erscheint. Dass wir im rundschreiben die Abwägung zwischen Gesundheit und Freiheit in mehreren Texten thematisieren, heißt nicht, dass wir die Gefahren verharmlosen. Auch wir befolgen die Maßnahmen der Kontakteinschränkungen und sprechen in Telefonkonferenzen miteinander statt in Sitzungszimmern. Und doch steht die Frage im Raum, welche Maßnahmen des Ausnahmezustands, der weltweit in unterschiedlicher Form herrscht, drohen fortzudauern. Das wäre ein dystopischer Ausgang.

Katja Maurer ist Chefredakteurin des medico-rundschreibens.

Provoziert wurde die Pandemie davon, dass die globalen Eliten das Virus in der Welt verbreitet haben. Das kommt einem Treppenwitz der Geschichte gleich, weil das Denken der globalen Gesundheitspolitik in Teilen noch immer in der kolonialen Denktradition des „Cordon Sanitaire“ steht: Nur eine komplette Segregation der Kolonialherr*innen gegenüber der einheimischen Bevölkerung kann die Gesundheit der Siedler*innen schützen. Nun aber gefährden die Reichen die Armen. So wurde in Chile die Abriegelung der Nobelviertel gefordert, weil nur dort Corona-Fälle bekannt waren. Und als die Oberschicht am Wochenende mit ihren SUVs in ihre Ferienhäuser auf dem Land fahren wollte, blockierten einige Dörfer den Zugang. In gewisser Weise entspricht Corona der Klimazerstörung und allgemein der ökologischen Krise: Auch für sie ist der globale Norden verantwortlich. Es steht zu hoffen, dass das in diesen „traumatischen Zeiten“ (Slavoj Žižek) auch in den privilegierten Gesellschaften verstanden wird und Veränderungen möglich macht.

medico stellt mit dem rundschreiben, seinen Online-Medien, dem Newsletter und neuen Formen der Online-Debatte mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine Plattform für nötige globale Diskussionen zur Verfügung. Dass dies die Zeit von globaler Solidarität sein muss, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Was unsere Partner*innen im Konkreten unternehmen, finden Sie auf den folgenden Seiten und in fortlaufender Berichterstattung im Internet.

Bleiben Sie solidarisch und gesund! Ihre