GORKI #22 – Spielzeitheft

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Spielzeitheft #22: Januar – Juni/21

Durften auch Freund*innen kommen? Nur die Familie und nur fünf Personen auf einmal. Und ich hatte die Namen dreier Freundinnen angeben dürfen, die mich besuchen sollten. Aber zwei konnten nie kommen. Sie wurden von der Polizei gesucht. So hat mich in all den Jahren nur eine einzige Freundin im Gefängnis besucht. Werden wir jemals schöne Tage erleben? Wird es einmal eine Welt ohne Gefängnisse geben? Im Gefängnis braucht man diesen Glauben an die Zukunft. Dort hatte ich ihn und ich versuche, ihn mir zu bewahren. Ich bin sicher, dass unser System irgendwann einmal zerstört werden wird. Aber vielleicht wird es so lange dauern, dass ich es nicht mehr erleben werde. Blicken wir nur auf die Türkei, so glaube ich, dass es nicht so lange dauern wird, bis die Kurd*innen schönere Tage erleben werden. Aber ich werde sie nicht genießen können. Dazu sind auf dem Weg dorthin zu viele Menschen umgebracht worden … Also wird es keine schönen Tage geben? Objektiv gesehen vielleicht. Aber für mich wohl eher nicht. Wird die Türkei ihre Haltung gegenüber den Kurd*innen ändern? Als ich auf der Flucht vor der Polizei war und überlegte, nach Kurdistan oder nach Europa zu fliehen, sagte ein Freund zu mir: Wir verstecken Dich – das ist kein Problem. In 15 Tagen ist diese Verhaftungswelle vorbei und du kannst wieder raus. Erdoğan, das Regime ist von außen und von innen so unter Druck, sie werden nachgeben. Das war 2017, kurz vor meiner Verhaftung. Als ich wieder aus dem Gefängnis herauskam, witzelten wir und sagten einander: noch 15 Tage. Was meinen Sie? Ich glaube nicht, dass Erdoğans Ende auch das Ende der Unterdrückung der Kurd*innen sein wird. Als ich ein Kind war, war Tansu Çiller von 1993 bis 1996 Ministerpräsidentin der Türkei. Für die Kurd*innen waren das mit die schlimmsten Jahre. Zwei meiner Onkel wurden damals ermordet. Viele wurden umgebracht. Uns Kurd*innenkindern wurde an den Schulen Türkisch eingeprügelt. Zweimal die Woche mussten wir antreten und feierlich gemeinsam den Schüler*innen-Eid sprechen: »Mein Dasein soll der türkischen Existenz gewidmet sein. Glücklich derjenige, der sich Türke nennt!« Erdoğan ist nicht der erste und ich fürchte, er wird auch nicht der letzte sein, der die Kurd*innen zu vernichten versucht. Ich denke, Erdoğans religiöse Ansichten ruhen auf einem traditionsreichen nationalistischen Fundament. Ich glaube nicht, dass die kurdische Zukunft von Verhandlungen zwischen Parteien abhängen wird. Ich finde, es geht nicht um Regierungen und Institutionen, sondern jede*r einzelne Türk*in, sollte reif genug sein, um Verzeihung zu bitten für das, was geschehen ist. Ein Regierungswechsel wird wenig ändern. Die Mentalität, selbst die Gefühle, müssen sich ändern – auf beiden Seiten –, wenn es schöne Tage geben soll. Europa wird jetzt womöglich noch weniger helfen als vor der Ankunft der Geflüchteten? Die Konflikte in der Türkei haben Europa stets dabei geholfen, seine Rüstungsprodukte zu verkaufen. Jetzt nutzt Europa die »Flüchtlingsfrage« als Vorwand, um seine geopolitischen Interessen im Nahen Osten durchzusetzen.

Zehra Doğan

Will we ever see beautiful days? Will there ever be a world without prisons? This belief in the future is a necessity in prison. I had it there and I’m trying to maintain it. I am sure that our system will be destroyed at some point. But perhaps it will take so long that I won’t live to see it. When we just look at Turkey, I think that it cannot be that long until the Kurds see more beautiful days. But I won’t be able to enjoy them. Too many people have been killed along the way for that ... So there won’t be any beautiful days? From an objective perspective, maybe. But for me, probably not. Will Turkey change its position with regard to the Kurds soon? When I was on the run from the police and considered escaping to Kurdistan or Europe, a friend said to me: We’ll hide you – no problem. In 15 days this wave of imprisonments will be over and you can leave again. Erdoğan, the regime is under so much pressure, internally and externally, it will give in. That was 2017, right before I was arrested. When I returned from prison, we joked and said to each other: just 15 more days. What do you mean? I don’t think that the end of Erdoğan will be the end of the oppression of the Kurds. When I was child, Tansu Çiller was Turkish prime minister from 1993 to 1996. Those were some of the worst years for the Kurds. Two of my uncles were murdered during that time. Many were killed and thrown into watering holes. Turkish was beaten into us Kurdish kids at school. Two times a week we had to line up and solemnly declare: »My existence shall be dedicated to the Turkish existence. How happy is the one who says ›I am a Turk!‹« Erdogan is not the first, and I fear he won’t be the last, to try to destroy the Kurds. Erdogan’s religious views are based on a nationalist foundation that’s steeped in tradition. I don’t think that the Kurds’ future will depend on negotiations between parties. In my opinion, the Turkish people must be ready to ask for forgiveness. Not governments and institutions, but every single Turk should be prepared to ask for forgiveness for everything that happened. A change in government won’t change much. The mentality, even the emotions, must change – on both sides – if beautiful days are to come. If anything, will Europe help even less now than before the refugees arrived? The conflicts in Turkey and the Turkish government’s interest in solving them with the military has always helped Europe sell its weapons production. Now Europe is using the »refugee question« as an excuse to achieve its geopolitical interests in the Middle East.

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