I Convegno

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Nach wie vor aber gibt es Zusammenhänge – Kontexte –, in denen wir auch heute noch von Natur so sprechen, als hätte sich der neuzeitliche Mensch niemals von seiner Natürlichkeit verabschiedet. Kontexte also, in denen ein älteres Denken nach wie vor gegenwärtig ist. Der Begriff ‚Natur‘ hat seine Bedeutung im wesentlichen dadurch, dass ihm etwas aus dem Bereich des spezifisch Menschlichen entgegengesetzt wurde: Zivilisation und Technik, Setzung und Erziehung, Kunst und Kultur sind oder scheinen das Gegenteil der Natur und sind damit das, wodurch Natur bestimmt wird als deren Negation. Damit aber bezeichnet Natur auch den Bereich des Inhumanen, die Sphäre dessen, das der Mensch sich noch nicht angeeignet und anverwandelt hat, sei es technisch oder ästhetisch, intellektuell–theoretisch oder politisch–praktisch. Und so ist Natur das dem Menschen immer Äußere, das Andere und Fremde; bald dann auch das Wilde und Gefährliche, das Ungezähmte, das noch gezähmt werden muss. Der status naturalis wird den Philosophen der neuzeitlichen Aufklärung ganz selbstverständlich zum status belli, der verlassen werden muss, indem das Recht und die Satzung den status civilis heraufführen. An diesem Gegensatz aber zeigt sich bereits die kritische und als solche notwendige Funktion des Naturbegriffs: Die Unterscheidung von Natur und Satzung dient ja nicht nur dazu, die Gesetzesübertretung zu rechtfertigen – wie Platon es den Sophisten einseitig unterstellt, die positives Recht durch (scheinbar) natürliches Recht kritisieren –, sondern wichtiger scheint, dass hier einer von Menschen gesetzten Ordnung eine natürliche Ordnung entgegengesetzt wird. Damit ist dann auch eine Instanz angesprochen, von der aus das willkürliche positive Recht kritisiert werden kann. Diese Funktion des Naturbegriffs hat über die frühneuzeitliche Diskussion des ius naturalis schließlich zur Formulierung der Menschenrechte geführt: Von Natur sind wir alle gleich geschaffen, erst die Zivilisation hebt den „l‘état d‘animalité“ auf und führt zur „l‘inégalité parmi les hommes“, wie wir bei Rousseau lesen – aber auch schon bei dem Sophisten Antiphon 8. Gerade in den säkularen westlichen Gesellschaften scheint die Natur die einzige Verbindlichkeit stiftende Instanz geblieben zu sein. Das knappe Beispiel zeigt auch, dass ein integrativer Naturbegriff zu den Grundlagen unserer Kultur gehört und dass wir es uns keineswegs leisten können, ihn über Bord zu werfen. Selbst wenn er uns durch und durch fraglich geworden ist, müssen wir aus pragmatischen Gründen daran festhalten. 8. Denn von Natur sind wir alle in allen Beziehungen gleichgeschaffen, Barbaren wie Hellenen. H. Diels–W. Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker. Zürich–Berlin 1964, 87 B 44; zu Rousseau vgl. den Discours sur l‘origine et les fondements de l‘inégalité parmi les hommes, Amsterdam 1755.

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