marx21 Ausgabe Nummer 35 / 2014

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Treue hielten. So gesehen war das zentrale Motiv des Putsches die Forderung nach Demokratie, denn die Abschaffung der Diktatur war die Voraussetzung für die Beendigung des Krieges.

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Catarina Príncipe ist aktiv bei Die Linke. SDS an der HumboldtUniversität in Berlin.

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Drei wichtige Faktoren machten aus dem Militärputsch einen revolutionären Prozess: Das war erstens die Tatsache, dass der Coup von den mittleren Rängen der Armee getragen wurde und unter den einfachen Soldaten große Unterstützung fand. Somit war die hierarchische Befehlskette durchbrochen und der wichtigste bewaffnete Teil des Staatsapparats lahmgelegt. Zweitens verwandelte sich ein beträchtlicher Teil der Streitkräfte selbst in eine politisch-militärische Bewegung. Und drittens schuf die daraus entstehende Schwächung der Staatsmacht den Raum für die Explosion sozialer und politischer Spannungen, die sich in den Jahren zuvor aufgestaut hatten. Die Anweisung des Militärs an die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben, verhallte ungehört. Der Durst nach Freiheit war stärker als alle Ängste. Tausende gingen auf die Straße, um dem Militär beizustehen, als es das Polizeihauptquartier besetzte, um die Abdankung des Diktators Marcelo Caetano zu erzwingen, der sich dort versteckt hielt. Die Menschen kauften rote Nelken und verteilten sie an die Soldaten, indem sie diese in die Gewehrläufe steckten. Die Blume wurde so zum Symbol der Revolution. Die MFA trat für die Öffnung der portugiesischen Wirtschaft nach westeuropäischem Modell ein, und nur wenige ihrer Soldatenmitglieder waren Sozialisten. Aber sie wurde zum Wegbereiter anderer gesellschaftlicher Kräfte. Der revolutionäre Dichter Ary dos Santos schrieb: »Niemand wird die Tore, die der April aufgestoßen hat, wieder schließen können.« Die Revolution von 1974/75 war eine der lebendigsten Erfahrungen in der gesamten Geschichte Portugals. Innerhalb von nur 19 Monaten missglückten zwei Putschversuche – diesmal um die Uhr wieder zurückzudrehen. Sechs provisorische Regierungen lösten sich ab, die Kolonien erlangten ihre Unabhängigkeit, es gab unzählige Demonstrationen, Tausende Hausbesetzungen und mehrere große Streikwellen. Eine tiefgreifende Landreform fand statt, Großgrundbesitz wurde besetzt, Arbeiterkooperativen gegründet, es entstanden Fabrikkomitees, Gewerkschaften und Stadtteilkommissionen. Arbeiter übernahmen ihre Fabriken und führten die Produktion in Selbstverwaltung fort. Dasselbe geschah auch in Geschäften, Büros, Zeitungsredaktionen und bei Rundfunksendern. Arbeiter und Soldaten gingen aufs Land, um den Bauern zu helfen. Kinder brachten Erwachsenen das Lesen bei, Volkskliniken und Kulturzentren blühten auf. Es entstanden sogar Volkstribunale, also von der Bevölkerung organisierte Gerichte. Es war die einschneidenste Transformation wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse in der modernen Geschichte des Landes. Die Menschen machten Erfahrung mit echter Demokratie, in der Tausende aufgefordert waren, sich in allen gesellschaftlichen Bereichen an den Entscheidungs-

prozessen zu beteiligen. Das Erbe der Revolution prägt bis heute auf vielerlei Weise den Staat sowie die gesellschaftliche und politische Landschaft. Portugal erlebte damals eine revolutionäre Bewegung für die Demokratisierung des Staats, in der vor allem die Massen die Initiative ergriffen. Sie waren es, die den repressiven Staatsapparat stürzten, die Hauptquartiere der politischen Polizei stürmten, die Freilassung der politischen Gefangenen erzwangen, die Zensurbehörde zerstörten. Es waren die Menschen in den Fabriken, Schulen, Betrieben und Verwaltungen, die die Handlanger des faschistischen Regimes vor die Tür setzten. Die Volksbewegung war es, welche die Meinungs- und Versammlungsfreiheit durchsetzte, lange bevor eine Regierung diese Grundfreiheiten gesetzlich festschrieb. Den Menschen wurde nichts geschenkt. Über Jahre hinaus verschob die revolutionäre Bewegung für soziale Gerechtigkeit das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital zugunsten der Arbeiterinnen und Arbeiter. Dies gelang, indem die Bewegung das Recht erkämpfte, zu streiken und Gewerkschaften zu gründen. Sie setzte den Mindestlohn, Arbeitszeitkürzungen, bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Subventionen für Lebensmittel durch.


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