Come As You Are

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Der abwesende Kรถrper in der Kunst

COME AS YOU ARE



Der abwesende Körper in der Kunst

COME AS YOU ARE 6. August – 28. November 2010

Zeppelin Museum Friedrichshafen –

Technik und Kunst



3 Come As You Are Der abwesende Körper in der Kunst

Frank-Thorsten Moll und Ursula Zeller

Frank-Thorsten Moll und Ursula Zeller

Museen als verstaubte Stätten, wo sich über Jahre nichts verändert, kommen nur noch in Märchen aus vergangenen Tagen vor. Heute wird das Museum als lebendiger Ort begriffen, der sich ständig hinterfragt, neu bestimmt, an dem überkommene Sammlungskonzepte auf den Prüfstand gestellt und Einblicke von außen nicht nur zugelassen, sondern gezielt gefördert werden – ansonsten, soviel steht fest, droht der museale Stillstand. Aus dieser Einsicht lädt das Zeppelin Museum nun in regelmäßigen Abständen unabhängige Ausstellungsmacher ein, um mit der Museumssammlung eigene Ausstellungsideen zu entwickeln oder international bestehende neue Konzepte in Friedrichshafen zu adaptieren. Sie sollen auf diese Weise den Museumsverantwortlichen helfen, den eigenen Blick auf die Sammlung zu schärfen, Überraschungen zu Tage zu fördern und Ausstellungen aus ungewöhnlicher Perspektive zu präsentieren, die aus eigenen Mitteln nicht möglich wären. Den Auftakt dieser Reihe bilden die beiden Kuratoren Martin Heus und Jacob Birken, die in Karlsruhe den unabhängigen Ausstellungsraum Morgenstrasse betreiben. In ihrer Ausstellung „Come As You Are“ nahmen sie im April 2010 das weltbekannte Turiner Grabtuch als Ausgangspunkt für eine Untersuchung zeitgenössischer Bildstrategien. Etwa zur selben Zeit erhielt das Zeppelin Museum von Friedrichshafener Stiftern eine Lithografie zum Thema „Schweißtuch der Veronika“. Die Schenkung führte auf die Spur der Ausstellung in der Morgenstrasse und zur Einladung nach Friedrichshafen. Der abwesende Körper Christi, der immer wieder von Künstlern ins Bild gesetzt wurde, bildet daher auch den thematischen Leitfaden, der sich durch die Ausstellung zieht.

Namhafte zeitgenössische Künstler und Newcomer, die bereits in Karlsruhe zu sehen waren, werden nun eigens für die Ausstellung im Zeppelin Museum Friedrichshafen mit Beständen der Sammlung konfrontiert. Dadurch entstehen sicher auch für viele Kenner der Friedrichshafener Sammlung überraschende Begegnungen. So wird die „Verkündigungsszene“ eines anonymen Bodenseemeisters aus der Zeit um 1460 frisch restauriert zum ersten Mal im Museum präsentiert und das geschenkte Blatt von Otto Dix mit thematisch ver­­wandten Grafiken aus dem Bestand gezeigt. Wir sind überzeugt, dass sich zwischen neuer und alter Kunst, zwischen Leihgaben und eigenen Beständen ein lebendiger und anregender Dialog entspinnt und danken den Künstlern wie den beiden Kuratoren der Ausstellung für ihre Ideen und die Bereitschaft, unsere Sammlungsbestände mit ihrem Ausstellungsentwurf zu hinterfragen.


4 Die heißeste Nadel. Zur Evidenz und ihrer Verweigerung. If you want to destroy my sweater / Hold this thread as I walk away / Watch me unravel / I‘ll soon be naked / Lying on the floor, lying on the floor / I‘ve come undone.

Die heißeste Nadel. Zur Evidenz und ihrer Verweigerung.

Weezer, Undone – The Sweater Song (1994) Als potentielle Witwe von Freiern bedrängt, ersinnt Penelope, Gattin des verschollenen Odysseus, eine List: Hei­raten wird sie erst, wenn sie einen Mantel fertig gestellt hat, der ihrem Schwiegervater Laertes „zum Leichen­ gewande bestimmt ist“ 1. Es mutet wie ein Todeswunsch an, einem Lebenden ein Leichentuch zu nähen, doch Penelope hat nichts weniger vor, als ihr Werk zu voll­ enden; jede Nacht trennt sie das Gewebe auf, so dass aus ihrem Handwerk ein Projekt für die Unendlichkeit – zumindest die Unendlichkeit der Hoffnung – wird. Des greisen Laertes Tod wäre auch kaum im Sinne Penelopes, denn gerade in seiner Funktion als Schwiegervater ist er zumindest symbolisch familienrechtliche Evidenz dafür, dass sie noch seines Sohnes Gattin ist (ihre List wird aufgedeckt werden, und Penelope wird noch eine weitere ersinnen, bevor schließlich Odysseus selbst wiederkehrt und den lästigen Heiratsanträgen ein blutiges Ende setzt). Das Leichentuch, das niemals fertig gestellt werden darf, entspricht der Logik der Antike, in der alles dramatisch und nur als Teil der schicksalhaften Erzählung bedeutend ist; ein anderer Ausgang der Geschichte wäre eben ein anderer Ausgang gewesen und sein Sinn in jedem Fall nur derjenige, seine Unausweichlichkeit und zugleich Willkürlichkeit vor Augen zu führen. Nichts könnte

Laertes‘ Leichentuch also ferner sein als das Turiner Grabtuch; ob nun als Teil des christlichen Mythos oder als rätselhaftes Artefakt aus der Vorzeit der technischen Reproduktion liegt es da als ein ominöser Beweis – für was, wird vielleicht nie geklärt werden, aber in jedem Fall ist dies eine ganz andere Art von Evidenz als diejenige, die Penelope mit ihrem Gewebe produziert, wenn sie damit symbolisch den Tod Odysseus’ in eine unendlich ferne Zukunft aufzuschieben versucht. Im Prinzip können alle Diskussionen, die über das Turiner Grabtuch geführt werden, auf den Kontext des Kunstwerks in dessen neuzeitlicher, europäischer Bestimmung übertragen werden: die Frage danach, ob ein Moment in einem Objekt überzeitlich festgehalten werden kann; ob dieses Objekt dadurch eine Qualität annimmt, die über seine materiellen Eigenschaften hinausgeht; schließlich die Frage danach, wie dieses Objekt zum Zeitpunkt seines Entstehens und vor allem im Jetzt in Verhältnis zu setzen ist zu der Person, die an seiner Entstehung maßgeblich beteiligt war. Natürlich sind die Dis­­­kussionen der Theologen einerseits und der Bildwissenschaftler und Künstler andererseits keineswegs identisch; dass aber letztere darin ebenso Ansprüche auf eine mythische Wahrheit stellen, zeigt sich im Aufruhr, den solche Fragen produzieren können – denken wir nur an den ebenso aufbrausenden, wie schnell vergessenen Sturm der Entrüstung angesichts des Aufkommens der Digital­ fotografie. Die neue Technologie wurde schnell zum Schreckgespenst deklariert, das eine essentielle Unwahrheit in die Welt brachte – ohne zu bedenken, dass auch die analoge Fotografie seit jeher Objekt der Bildmanipulation gewesen ist und, ganz wie die digitale, konkret ein Prozess, in dem Licht auf ein Trägermaterial trifft und dann auf die eine oder andere Weise gespeichert wird: Wissenschaftlichkeit


5 beweisbar ist, noch die faktische einer Leiche im Raum – sondern eine, die immer wieder aufs Neue in der Betrachtung und der Kontemplation des künstlerischen Projekts erfahren werden muss. Was die Kunst uns schließlich beweisen kann, ist vor allem, was es für uns selbst bedeuten könnte, sich ein wahres Bild zu machen – und wen oder was wir auf diesem Bild erkennen. Jacob Birken — 1 Homer: Odyssee – Zweiter Gesang, in der Übertragung von Johann Heinrich Voß

Jacob Birken

konnte man diesen Adepten eines sehr eigenen Wahrheitsanspruches jedenfalls nicht vorwerfen. Solche Scheingefechte dürfen dennoch nicht davon ablenken, dass die Suche nach der Wahrheit und nach den Methoden, diese zu erkennen, festzuhalten und – einmal festgehalten – wiederzuerkennen ein ausgesprochen förderungs­ würdiges Ansinnen ist. Es ist dabei eines der Potentiale der zeitgenössischen Kunst, dass sie aufgrund ihrer Freiheiten dazu in der Lage ist, die eigenen Produktionsbedingungen und Prozesse sichtbar zu machen und sie zur Diskussion zu stellen. Verstehen wir Kunst als Kommunikation, werden dies Prozesse sein, über die indi­viduelle Erfahrung – vielleicht eben: Wahrheit – in ein Projekt gefasst und vermittelbar gemacht werden kann. Im Vergleich zu anderen Formen der Kommunikation kann die Kunst aber das Scheitern einschließen, die Sprachlosigkeit und die Momente, in denen das dichte Gewebe der Beschreibungen der Welt an seinen Nahtstellen aufreißt. Dies kann komisch sein oder tragisch und unter Umständen dazu führen, dass Künstler und/oder Betrachter plötzlich nackt da stehen, willentlich oder auch schutzlos gegenüber unerwarteten Erkenntnissen und Erfahrungen. In Come As You Are haben wir künstlerische Arbeiten versammelt, in denen die Frage nach dem Zeigen und Nicht-Zeigen-Können des Wahren auf ein ganz grundsätzliches Objekt zurück­ geführt wird: Auf den Körper selbst – sei es der Körper des Betrachters, der in der Selbsterfahrung erst das Kunstwerk schafft, sei es die im technischen (oder spirituellen?) Medium kodierte Identität eines Abwesenden, oder schließlich das physische Objekt des Bildträgers selbst. Diese Arbeiten bringen ihre eigene Beweiskraft mit – es ist aber weder die einer absoluten Wahrheit, die nicht hinterfragbar und so letztendlich nicht


6 Die Sprache sehen. Der zerrissene Vorhang und die Folgen. Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. […] Und das Wort ward Fleisch Und wohnte unter uns

Die Sprache sehen. Der zerrissene Vorhang und die Folgen.

(Johannes 1.1 ff.) Als die Jünger zum Grab kommen, finden sie es leer. Der Leichnam Christi ist verschwunden und seine Absenz wird lediglich durch die liegen gebliebenen Leinentücher indiziert, die seinen Körper bedeckt hatten. Das hier anklingende Motiv des Tuches taucht im Passionstext allerdings bereits an früherer Stelle auf: Im Augenblick des Todes Christi zerriss der Vorhang im Tempel von Jerusalem, der den Blick auf das Allerheiligste verwehrte, in dem sich die Tafeln mit den zehn Geboten befanden. Dies ist die Schlüsselszene des Christentums: Der Gott des alten Bundes, der sich bis dahin nur im Wort offenbart hatte, war in Christus sichtbar und damit abbildbar geworden – ein Riss in den Fundamenten der jüdischen Schriftreligion war entstanden, durch den fortan eine unaufhaltbare Bilderflut in die Welt strömte, die diese mindestens so nach­ haltig veränderte, wie die Erfindung der Schrift. Die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Wort und Bild und dem Wahrheitscharakter von Bildern, die in der zeitgenössischen Medientheorie eine so zentrale Rolle spielen – sie stehen im Zentrum der Debatten um Simulation und Mimesis, um Illusion und virtuelle Realitäten – sind hier bereits vorgezeichnet. Sie bleiben also keineswegs der Moderne und ihren technischen Hilfsmitteln vorbehalten, sondern entsprechen vielmehr einer Struktur, die von Anfang an dem

Denken der christlich-abendländischen Gesellschaft inhärent war und tatsächlich sind die Ähnlichkeiten in der Theorie der Fotografie und der der Ikone frappierend: Der Fotografie wurde seit ihren Anfängen eine ikonische Qualität beigemessen. Schon Talbot sah in ihr einen Prozess, „durch den natürliche Objekte dazu gebracht werden, sich selbst abzubilden ohne die Hilfe des Stifts eines Künstlers“ (Talbot, 1893) und Roland Barthes setzte die Fotografie sogar in direkten Bezug zu den christlichen Ikonen: „Die Fotografie hat etwas mit Auferstehung zu tun: kann man von ihr nicht dasselbe sagen, was die Byzantiner vom Antlitz Christi sagten, das sich auf dem Schweißtuch der Veronika abgedrückt hat, nämlich, dass sie nicht von Menschenhand geschaffen sei, acheiropoietos?“ (Die Helle Kammer, S. 92) Beide werden hier nicht als Kopie, sondern vielmehr als Emmanation eines vergangenen Wirklichen verstanden, dessen Strahlen den Betrachter vermittelt durch das Medium erreichen. In jeder Kopie – jedem Abbild – wird dabei das Urbild aufs neue erinnert und in dieser Erinnerung „aktualisiert“. In beiden Fällen handelt es sich um Bilder, die versuchen, eine Brücke zwischen dem abwesenden Körper des Referenten und dem Betrachter zu schließen und selbst die Silberplatten, auf die die frühen Fotografien belichtet wurden erinnern noch an den Goldgrund der Ikonen. Die Mensch- und damit Bildwerdung Gottes, oder wie es bei Johannes heißt: die „Fleischwerdung des Wortes“, auch die Transsubstantiationslehre – all diese Elemente, die das Christentum zutiefst von der auf das geschriebene Wort fixierten jüdischen Religion unterscheiden, erscheinen in diesem Zusammenhang richtungweisend für ein Denken, in dem das Sehen über die anderen sinnlichen Wahrnehmungsweisen dominiert und zugleich die Frage nach Simulation und Wirklichkeit


7 Die vorliegende Ausstellung möchte Positionen der zeitgenössischen Kunst präsentieren, die oben angesprochenen Prozesse in den Mittelpunkt rücken und so die Möglichkeit der Spur eines Körpers oder einer Identität hinterfragen. Dabei treten nicht nur die Vorgänge des Übergangs vom Körper zum Bild zutage, sondern auch das magische oder poetische Denken, das es uns Betrachtenden erlaubt, im Abbild eine Identität oder gar Wahrheit zu erkennen. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Urbild und Abbild ist hier von zentraler Bedeutung, handelt es sich doch beim Turiner Grabtuch gerade um ein Bild, das vor dem „Sündenfall“ des „Verrats der Bilder” durch die Kunst entstanden ist – Rene Magrittes Diktum, dass das Bild einer Pfeife keine Pfeife sei, steht in diesem Zusammenhang genauso zur Diskussion wie das mosaische Bilderverbot. Martin Heus

Martin Heus

gestellt wird. Besonders virulent wird dieses Denken im europäischen Mittel­ alter: Die Legenden des Grabtuchs und des Schweißtuchs der Veronika als „wahre Bilder“ tauchen hier zum ersten Mal auf und die Frage nach dem Realitätscharakter von Bildern scheint sich als eine Art „implizite Medientheorie“ wie ein roter Faden durch viele Texte dieser Zeit zu ziehen. Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür sind die französischen Fassungen der Artuslegende, in denen die verbotene Liebe zwischen Lancelot und der Königin Guenièvre, Ehefrau des Königs Artus, eine zentrale Rolle spielen: Als Lancelot in Gefangenschaft gerät und zweieinhalb Jahre lang in einen Turm eingesperrt lebt, malt er Szenen von sich und der abwesenden Geliebten auf die Wand seiner Zelle. Die Abbildungen der Königin erscheinen hier wie eine Ikone, wie ein religiöses Kultbild, durch das hindurch das Urbild – oder die „wirkliche Person“ – herbeigerufen wird. Als Artus Lancelots Bilder zu sehen bekommt, glaubt er, was er bisher nicht glauben wollte: Dass die Liebe zwischen Guenièvre und Lancelot nicht platonischer Natur ist. Die Abbildungen lassen bei ihm alle Zweifel an der Wirklichkeit, für die sie stehen, verschwinden. In der Folge kommt es zum Krieg gegen Lancelot – ein Krieg, an dessen Anfang Bilder stehen und an dessen Ende beide, der Ehemann und der Geliebte, ihr Leben lassen werden. Auch diese abwesenden Körper wurden in der Folge durch Bilder ersetzt, die wiederum Bilder erzeugten und so zu einer stetig anwachsenden Bilderflut beitrugen, in der sich Bilder schon längst nicht mehr auf „reale“ Körper sondern in zunehmendem Maße auf andere Bilder beziehen und an deren Ursprung gewissermaßen ein zerrissener Vorhang und ein Tuch stehen, das dieses Jahr im Turiner Dom seit 10 Jahren zum ersten Mal wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.


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Verkündigung an Maria

Die Verkündigung des Abwesenden Der Altarflügel (um 1460) eines anonymen Bodenseemeisters zeigt jenen Moment auf, in dem der geflügelte Freudenbringer in die Betstube der Jungfrau eindringt und verkündet: „Fürchte dich nicht, Maria! du hast Gnade bei Gott gefunden. (…) Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen“. 1 Die Bibelgeschichte des Lukasevangeliums versucht von der wundersamen Verkündigung zu überzeugen. Die frohe Botschaft soll vom Gläubigen, jedoch in erster Linie von der andächtigen Jungfrau Maria verstanden werden. Von der göttlichen Nachricht bestürzt, zuckt sie zusammen und erhebt sich rasch aus kniender Position. Die am Betstuhl Weilende ist sichtlich erstaunt, dass sie zur Mutter des Heilands erwählt wurde. Sie führt ihre erhobene Hand nahe an ihren Körper heran, um ihrer Verwunderung Ausdruck zu verleihen, während ihre Linke auf dem Stundenbuch ruhen bleibt. Der gelockte Engel entgegnet ihrer Unwissenheit mit erhobenem Zeigefinger und klärt sie über den Willen Gottes auf. Die Nichtanwesenheit des Körpers Jesu wird im Bild durch Plastisches thematisiert. Die Rezeption der Prophezeiung wird für unsere Sinne durch das vom Künstler verwendete Material tastbar gemacht, so dass die göttliche Übermittlung (be-)greifbar wird. Es ist, als ob man die Hinweise zum Verstehen des Bildinhaltes ertasten könnte. Bereits Getastetes wird in unserer Erfahrung abrufbar. Neben dem Dargestellten in Öl, stimulieren der Vorhang aus Pressbrokat und das vergoldete Rankenwerk aus Pastigliamasse unseren sensiblen Tastsinn. Der hier mit Blicken zu „ertastende“ Brokatstoff wird seit Jahrhunderten in der christlichen Kunst als

Inkarnationsmotiv erkannt, was Jesu Geburt und Tod vorwegnimmt. Die Vorhangmetapher, die dank der auffälligen Stofflichkeiten dramaturgisch funktioniert, erklärt, dass der Messias Licht und Heil auf die Erde bringen wird, da er bereits durch ein verschlossenes Fenster auf die Welt kam, um dort Mensch zu werden. 2 Der Heilige Geist überträgt die göttliche Frucht auf die Jungfrau. Die Verkündigung Mariae hat die Aufgabe, Unsichtbares sichtbar und sinnlich vorstellbar auszuformulieren. Tastbare Bildelemente und bedeutungsschwangere Symbole werden repräsentativ dazu instrumentalisiert, die Vorstellung der Ankunft Jesu sinnvoll auszustatten, um Gläubigen das zu überliefern, was selbst Maria zunächst nicht glauben wollte. Anna Viktoria Pröbstle ­— 1  Lukas 1,30 – 38 2  Vgl. Lüken, Sven: Die Verkündigung an Maria im 15. Und frühen 16. Jahrhundert. Historische und kunsthistorische Untersuchungen, Göttingen 2000, S. 63.

Unbekannter Künstler, Bodenseemeister * erstes Drittel des 15. Jahrhunderts, Bodensee Weitere Informationen: Lüken, Sven: Die Verkündigung an Maria im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Historische und kunsthistorische Untersuchungen, Göttingen 2000.


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Unbekannter Künstler, Bodenseemeister

Unbekannter Künstler, Verkündigung an Maria, um 1460, Mischtechnik auf Holz, 108,5 × 85 cm © Zeppelin Museum Friedrichshafen – Technik und Kunst


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Self Portrait of Paul DeMarinis

Self Portrait of Paul DeMarinis In Bezug auf die religiöse Bildkunst war die Frage nach der Autorschaft stets eine Frage theologischer Machtverhältnisse: Der Künstler als Schöpfer originärer Bildwerke steht in Konkurrenz zur schöpfenden Gottheit; als Ausführender des göttlichen Willens wird er umgekehrt zu einem Instrument, adäquat oder unzu­ länglich wie in der nächsten Instanz das künstlerische Handwerkszeug wie Pinsel oder Farben. Spätestens mit dem Einzug der technischen Bilder verschiebt sich der Konflikt; das Spielfeld möglicher Kränkungen spannt sich nicht länger zwischen Künstlern und Gottheiten auf, sondern zwischen Künstlern und ihren Geräten. Die Medienkunst ist insofern eine Antwort auf diese Krise, als dass sie die technischen Produktionsbedingungen der Kunst selbst zum Thema macht. So ist es keineswegs ein rhetorischer Trick, wenn Jim Campbell seine Arbeit Self Portrait of Paul DeMarinis von 2003 eben als das Selbstportrait eines Anderen betitelt und gewissermaßen einen Teil der Autorschaft abgibt. Autor des Bildes, das wir gerastert erkennen können, ist DeMarinis selbst; es ist seine Stimme, die als Tonfolge die Helligkeit der einzelnen Bildpunkte bestimmt, aus denen sich schließlich das Bild – eine Fotografie des Klangkünstlers – zusammensetzt. Jim Campbells Autorschaft betrifft hingegen das Medium, die technische Plattform, auf der DeMarinis unaufhörlich sein Portrait einsingt – und natürlich auch die Idee, den Künstler in der ihm eigenen Ausdrucksform und sein Bild in einem Algorithmus und einem Feld aus Leuchtdioden zusammenzubringen. In diesem Sinne könnte man meinen, dass jeder Konflikt zwischen Autor(en) und Medium sich hier in friedlichem Zusammenspiel verflüchtigt; doch dann wäre Campbells Arbeit kaum mehr als ein Experiment, eine Übung zweier Künstler,

die ihre Techniken beherrschen. Aber wie jede Stimme ist DeMarinis Stimme flüchtig und dem Lärm, der willentlichen Unterbrechung durch Umgebungsgeräusche und vor allem den Stimmen des Publikums ausgeliefert; so ist auch das Bild, das wir von ihm sehen und das seine Stimme theoretisch mit technischer Perfektion übermitteln sollte, unzuverlässig oder zumindest fragil, dem Miss- oder Unverständnis ausgeliefert. Die Kritik an Künstler oder Medium, die Wahrheit – ob göttlich oder weltlich – nicht adäquat darstellen zu können, wird in diesem mehrfach gebrochenen Selbstportrait zu einer subtilen, keineswegs sentimentalen Kritik am Wesen der Kommunikation selbst. Jacob Birken

Jim Campbell * 1956 Chicago, Illinois 1978 Studium der Mathematik und Ingenieurwissenschaften am Massachusetts Institute of Technology, Cambridge; Bachelor of Science 1996 SECA Award, New York 1998 Ars Electronica, Linz 2003 – 2004 Guggenheim Fellowship Award Lebt in San Francisco. Weitere Informationen: www.jimcampbell.tv


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Jim Campbell

Jim Campbell, Self Portrait of Paul DeMarinis, 2003, Kabel, LEDs, Lautsprecher, Mikrofon, Maße variabel © Courtesy of the Artist


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Schweißtuch und Die Heilige Veronika

Schweißtuch und Die Heilige Veronika Das Schweißtuch der heiligen Veronika galt von jeher als „wahres“, weil nicht von Menschenhand geschaffenes Bild. Bekanntermaßen zeigt es ein Selbstportrait Christi und steht unter den Gläubigen im Ruf ein „heiliges“ Bild zu sein. Otto Dix schuf seit Ende der vierziger Jahre mehrere Grafiken und Lithografien mit diesem Bildthema, mit teilweise nur feinsten Unterschieden in Bildausschnitt und Komposi­ tion. Die vier Arbeiten aus der Sammlung des Zeppelin Museums teilen sich grob in zwei Bildtypen. Der eine stellt das Schweiß­tuch als Bildgegenstand dar, transformiert das Schweißtuch also zu einem Bild im Bild. Das Gesicht Jesus variiert dabei in der Darstellung des Mundes und der Augen als geschlossen oder geöffnet, wodurch sich verblüffende Steigerungen des Leidens vermitteln, die den Künstler Otto Dix, der sich selbst nicht als religiös bezeichnete, offenkundig auf Grund der psychologischen Effekte fesselten. Die zweite Bildtype zeigt Jesus, wie er das Kreuz tragend aus dem Bild strebt und die hinter ihm positionierte Veronika hinter sich lässt. Sie hält das gerade von Jesus mit Blut und Schweiß getränkte Tuch in den Bildvordergrund, dem Betrachter entgegen – als wollte sie im Stile eines Fotografen darauf verweisen, dass ihr Bild, das sie gerade vom Geschehen „aufgenommen“ hat, das Geschehen überlagern und zu dessen Stellvertreter werden wird. Dix, der zu diesem Zeitpunkt verstärkt über Rolle und Funktion des „Bildermachens“ mit aller damit verbundenen Bildmagie nachdachte, griff dabei auch ähnlich wie in Der Heilige Lukas malt die Madonna (1943) auf biblische Themen zurück. Wer es ist, der uns im Schweißtuch entgegenblickt und inwiefern sich Dix selbst im Portrait des Gekreuzigten sah, bleiben die spannenden und letztlich

nicht zu beantworteten Fragen der ausgestellten Serie. Frank-Thorsten Moll

Otto Dix * 1891 in Untermhaus, Gera 1905 – 1909 Lehre als Dekorationsmaler 1909 – 1914 Studium an der Kunstgewerbeschule in Dresden 1914 – 1918 Freiwillige Meldung zum Kriegsdienst in Frankreich und Russland, Fliegerausbildung 1919 Gründung der Secession Gruppe 1919 der Dresdener Secession 1927 – 1933 Professur an der Kunstakademie in Dresden 1933 Entlassung aus der Lehrtätigkeit durch die Nationalsozialisten 1936 Übersiedlung nach Hemmenhofen am Bodensee. 1937 Dix Werke werden von den Nationalsozialisten als „Entartete Kunst“ diffamiert 1939 Temporäre Verhaftung, er wird mit dem Hitler-Attentat in Verbindung gebracht 1945 Einzug zum Krieg; Kriegsgefangenschaft im Elsass 1959 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes † 1969 in Singen Weitere Informationen: www.otto-dix.de


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2 1 Otto Dix, Die heilige

Veronika I, 1948, Lithografie, 63 × 50 cm 2 Otto Dix, Die heilige Veronika II, 1948, Lithografie, 64 × 49,5 cm 3 Otto Dix, Schweißtuch der Veronika, 1948, Lithografie, 63 × 50 cm 4 Otto Dix, Schweißtuch II (Mund geöffnet), 1950, FarbLithografie, 62,5 × 49,5 cm Zeppelin Museum Friedrichshafen – Technik und Kunst © VG Bild-Kunst, Bonn 2010

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Otto Dix

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Shadow of your smile

Shadow of your smile Via Lewandowsky nimmt in Shadow of your smile (Schwarzes Quadrat, zentrifugal) von 2008 das historische Artefakt als Grundlage für eine humorvolle aber doch auch zutiefst poetische Auseinandersetzung mit der Spur des Sakralen; das „heilige Bild“, das er hier aufgreift, ist hierbei eines aus der Mythologie der Kunst selbst. Als Ikone der Moderne steht Kasimir Malevitschs Schwarzes Quadrat von 1915 heute für die Abkehr von einem rein mimetischen Abbild und gewisser­ maßen am Anfang des Mythos der von ihren repräsentativen Zwängen befreiten Malerei – einer Malerei, die nun in der absoluten Reduktion und Reinheit der Form endlich zu sich selbst findet. Durch seine Radikalität hat es einen Maßstab gesetzt, an dem sich nun jedes andere Gemälde messen lassen muss: Möchte man fragen, was dieses oder jenes Gemälde über die Malerei selbst aussagt oder über die Möglichkeit, mit Farbe auf Leinwand die Wahrheit oder Wirklichkeit abzubilden, wäre vielleicht einfach zu fragen, wie sich das entsprechende Gemälde im Vergleich zum Schwarzen Quadrat verhält. Das Schwarze Quadrat trägt heute somit eine zweifache Aura mit sich; zum einen diejenige der Geschichte, in der es eine neue Epoche einleitet, und zum anderen die Aura des mythischen Anspruchs, die Kunst zur Vollendung gebracht zu haben. Nicht zufällig hängte Malevitsch das Gemälde bei dessen erster Ausstellung in einer Ecke auf, wie es mit einer traditionellen Ikone der Orthodoxen geschehen wäre: Das Schwarze Quadrat war kein Bruch damit, das „Heilige“ Malen zu wollen, sondern vielmehr ein besonders konsequenter Versuch darin. So mag es auf den ersten Blick als Sakrileg erscheinen, wenn Via Lewandowsky die Reduktion der Ikone

noch auf die Spitze treibt, indem er das Schwarze Quadrat auf die Materialien seiner Herstellung herunterbricht: eine Leinwand mit weißer und schwarzer Farbe, 240° um eine Eckachse gedreht. Der Ewigkeitsanspruch des Schwarzen Quadrats wird zur Momentaufnahme der performativen Geste, zu einer Spur, die wieder auf eine durchaus romantische, uneindeutige Weise ganz malerisch wirkt – und die, als „Aufzeichnung“ der Handlung des Künstlers, darauf verweist, dass Malevitschs eigenes Werk selbst einst noch nicht Mythos war, sondern ein Arbeitsprozess, Farbe auf Leinwand. Jacob Birken

Via Lewandowsky * 1963 in Dresden 1982 – 1987 Studium an der Hochschule für Bildende Künste, Dresden 1988 Entwickelt die „reproduktive Malerei“ 1989 Lewandowsky verlässt die DDR 1991 – 1992 Stipendium des Berliner Senats P.S.1, Aufenthalt in New York 1992 Teilnahme an der Documenta IX, Kassel Lebt in Berlin. Weitere Informationen: www.vialewandowsky.de


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Via Lewandowsky

Via Lewandowsky, Shadow of your smile (Schwarzes Quadrat zentrifugal), 2008, Acryl auf Leinwand, Maße variabel Courtesy Galerie Cream, Berlin © VG Bild-Kunst, Bonn 2010


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How to Fake Stigmata

How to Fake Stigmata Als Stigmata werden Wundmale bezeichnet, die am Körper eines lebenden Men­­schen an jenen Stellen auftreten, an denen Jesus Christus bei seiner Kreuzigung verwundet wurde. Die Hintergründe einer solchen Stigmatisation sind bis heute ungeklärt. Die Mehrzahl der Mediziner und Theologen geht von einer natürlichen, psychogenen Ursache aus. Bewusste oder unbewusste Manipulation, verbunden mit einer starken Passionsfrömmigkeit können ausschlaggebend sein. Umstritten sind die genauen psychischen Mechanismen und ob sich alle Formen der Stigmatisation dadurch erklären lassen. Dorcas Müller zeigt uns in ihrer Arbeit, wie man das Auftreten der Leidensmale Christi auch ohne mentale Bewusstseinsveränderung hervorrufen kann. Mittels einer Videokamera hält sie den Vorgang fest, der dem Betrachter in ungewohnter Reihenfolge präsentiert wird: der fünf minütige Film läuft rückwärts. Möchte der Betrachter die Methode der Stigmatisation erfahren, ist er gehalten, sich das Schauspiel in ganzer Länge anzusehen. Ihre Handinnenflächen hält die Künst­ lerin dem Betrachter zugewandt über ein weißes Laken, das über ihre Beine gebreitet ist. Auf den Innenseiten ist jeweils eine Wunde zu erkennen, in die das Blut von roten Flecken im Laken scheinbar wieder in die Hände zurückläuft. Diese verharren nahezu regungslos. Erst als wie aus dem Nichts ein schwarzer Blutegel auf die linke Hand der Künstlerin zuzufliegen scheint und sich festsaugt, bewegt sie ihre Finger. Bald darauf folgt der Blutegel, der für das Wundmal in Müllers rechter Handfläche verantwortlich ist. Einen Moment noch ist zu sehen, wie sich die Egel saugend winden bis das Schauspiel endet. Dorcas Müller beschäftigt sich in ihren Werken mit den Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst, mit der Verbindung von

technischem und organischem Material. Blutegel sind für die Künstlerin „ein Symbol für Anfang und Ende zugleich, für Ewigkeit“ 1 – Assoziationen und Bedeutungen, die auch Jesus Christus und sein gekreuzigter Leib verkörpert. Müllers Arbeiten gleichen Forschungen, die Zeichen, Verweise und Vorstellungen hinter bestimmten Prozessen hinterfragen und künstlerisch sichtbar machen. Die Künstlerin erreicht dies, indem Irritationen in der vorgefertigten Bildwelt des Betrachters hervorruft. In How to Fake Stigmata bewirkt sie die Störung durch die rück­ wärtig ablaufende Bilderfolge. Was zunächst als eine Darstellung spiritueller Religiosität erscheint, wird am Ende als wissenschaftlich medizinischer Handgriff, als „Fake“ = Fälschung oder Schwindel, enttarnt. Maren Waike ­— 1 Vgl. Dorcas Müller, in: amende. Magazin zur Kultur der Endlichkeit, Nr. 1, Interview mit Harald Schwinger, S. 20.

Dorcas Müller * 1973 in Karlsruhe 1995 – 2002 Studium der Medienkunst an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe 2003 Arbeitsaufenthalt in Boston, MA; Kooperation mit dem Department of Neurosurgery Research der Harvard Medical School 2007 Medienkunstpreis Oberrhein 2007 2007 ZIF PhotoAward Lebt in Karlsruhe. Weitere Informationen: www.dorcasmueller.de


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Dorcas M端ller

Dorcas M端ller, How to Fake Stigmata, 2006, DVD, Loop, 5:00 min. 息 Dorcas M端ller


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Body Pressure

Body Pressure Seit Aristoteles galt das Sehen in der abendländischen Tradition als der „höchste“ der fünf Sinne, weil er der Rationalität am nächsten stehe. Der Tastsinn hingegen galt als der niedrigste, weil er auf Lust und Eros verweist. Gleichzeitig wurde der Tastsinn aber auch als der grundlegende aller Sinne betrachtet: als Basis für das Vorhandensein der anderen Sinne. In der abendländischen Geschichte des Eros spielt nun die Wechselbeziehung zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Sinn eine wichtige Rolle: Denn durch diese verband sich das Sehen – und mit ihm die Kunst – mit dem niedrigsten der Sinne, der Berührung. Denn bei Sehen und Tasten handelt es sich um Sinne, die sich im Extremfall gegenseitig ausschließen. Wirkliches Betrachten setzt die Entfernung vom Betrachteten, also die Aufhebung der Berührung voraus. Gerade diese Trennung von visueller und körperlicher Erfahrung lässt Bruce Naumans Arbeit Body Pressure (1974) nicht zu. Der „Betrachter”, mit einer weißen Wand und der Anweisung konfrontiert, seinen Körper in einer Performance, die Nauman selbst als „geistige Übung” bezeichnet, gegen die Wand zu drücken und damit gleichsam ein imaginäres Portrait von sich auf der „Projektionsfläche” zu erzeugen, wird zwangsläufig zum Teilnehmer einer (mentalen) Performance, der er sich nicht entziehen kann. Den erotischen Aspekt dieser Übung stellt Nauman dabei in der Anweisung explizit heraus. Im Transit vom niedergeschriebenen Konzept des Künstlers zum körperlichen Erleben bei seiner Ausführung zeigt sich dabei ein Verhältnis von Wort und Bild, das das christliche Motiv der Fleischwerdung des Wortes anklingen lässt – und allein in der Frage der Autorschaft durchaus vergleichbare hermeneutische Mysterien

wachruft. Aber auch die Exerzitien des Ignatius von Loyola, die es dem Gläubigen ermöglichen sollen, anhand einer schriftlichen Anweisung das Leben und die Passion Christi „nachzuerleben“ und zu aktualisieren, klingen hier an. Darüber hinaus bekommen die für den „Performer” zum Mitnehmen bereitliegenden Aus­ drucke der Handlungsanweisung eine reliquienähnliche Aufladung, die es dem Teilnehmer am Kunsterlebnis ermöglichen, die gemachte Erfahrung zu Hause zu „reproduzieren”. Martin Heus

Bruce Nauman * 1941 Fort Wayne, Indiana, USA 1960 – 1964 Studium der Kunst, Mathematik und Physik an der University of Wisconsin, Madison Bachelor of Science 1664 – 1966 University of California, Davis; Master of Fine Arts 1966 – 1968 Lehrtätigkeit am San Francisco Art Institute, San Francisco 1970 Lehrt an der University of California, Irvine 1972 Documenta V in Kassel, es folgt die Teilnahme an der Documenta VI,VII und IX 1989 Ehrendoktorwürde der Feinen Künste vom San Francisco Art Institute 1991 Max Beckmann Preis, Frankfurt a. M. 2009 Vertreter der USA auf der Biennale in Venedig Lebt in New Mexico, USA. Weitere Informationen: Sperone Westwater, New York www.speronewestwater.com


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Bruce Naumann

Bruce Nauman, Body Pressure, 1974, Holzwand, Text, MaĂ&#x;e variabel Friedrich Christian Flick Collection im Hamburger Bahnhof Š Friedrich Christian Flick Collection im Hamburger Bahnhof


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Ohne Titel und Scala Coop

Ohne Titel und Scala Coop Axel Philipps Schmirgelpapierzeichnungen erwecken den Anschein abstrakter, gegenstandsloser Bilder, die sich vor allem im Gestus des Farbauftrags unterscheiden, sich ansonsten aber jeglicher Abbildung einer äußeren Wirklichkeit verweigern. Man ertappt sich unwillkürlich dabei, sie als Zitate auf die Handschrift bestimmter Künstler oder Stilrichtungen zu deuten. Bei ihnen handelt es sich allerdings gerade nicht um Kompositionen im klassischen Sinne, sondern um Erinnerungsspuren, die der Künstler von Beutezügen aus seiner Umwelt mitgebracht hat. Darüber hinaus sind es Abbildungen von Philipps künstlerischer Arbeit im materiellsten Sinne: Beim Schleifen bleiben Teile des Werkstücks am Schleifpapier zurück. Abhängig vom Material, der Körnung des Papiers und dem ausgeübten Druck bilden sich Spuren der Farbe oder sogar der Form des bearbeiteten Objekts auf dem Papier ab. Im Gegensatz zu Max Ernst in seinen Frottagen, kommt Philipp in seinen Schmirgelbildern ohne ein zusätzliches Zeichenwerkzeug aus, da ja das beriebene Objekt selbst die Farbe liefert. Es sind also eigentlich gar keine Zeichnungen im klassischen Sinn und das Schmirgelpapier ist für Philipp auch nicht einfach eine unkonventionelle Leinwand. Vielmehr findet ein Austausch zwischen dem farbgebenden Objekt und dem Bildträger statt. Dabei werden, im Gegensatz zu herkömmlichen abbildenden Verfahren, beide in ihrer Substanz massiv verändert. Das Positiv – um einen Begriff aus der Fotografie zu bemühen – das sich auf dem Schmirgelpapier abbildet, und als indexikalische Spur auf sein Urbild verweist, hinterlässt seinerseits eine Negativspur auf dem beriebenen Objekt. Das Abbild hat also an der Materie seines Urbildes teil und verursacht und bezeugt dabei dessen materiellen Verfall. Gleichzeitig jedoch

erschließt es eine vollkommen neue Bildhaftigkeit, die sich in ihrem Sinnesreiz zu einer eigenständigen Größe manifestiert. Philipps Schmirgelpapierbilder sind damit mehr als Nachahmungen oder Abbildungen der von ihm bearbeiteten Dinge. Sie haben vielmehr Teil an ihnen, sind ihnen oberflächlich wesensgleich und werden so zu „Berührungsreliquien” ihrer Farbgeber. Martin Heus Axel Philipp * 1956 in Karlsruhe 1986 Studium der Bildenden Künste an der Staatlichen Akademie in Karlsruhe 1992 Diplom- und Meisterschüler 2004 – 2005 Vertretungsprofessur an der Staatlichen Akademie in Karlsruhe 2006 Stipendium Cité internationale des Arts, Paris Lebt in Karlsruhe. Weitere Informationen: www.axelphilipp.de

Axel Philipp, ohne Titel, 1999, Schleifpapier, 23 × 27,5 × 4,5 cm Axel Philipp, Scala Coop, 2000, Schleifpapier, 9-teilig, 39 × 48 × 4,5 cm © Axel Philipp


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Axel Philipp


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Visage

Visage Am technischen Bild ist oftmals der Augenblick seiner Entstehung von besonderem Interesse. Natürlich wird auch das handwerklich produzierte Bild Spuren seiner Entstehungszeit zeigen; die Entscheidung zum Farbauftrag ist ein vorübergehender, unwiederholbarer Augenblick, und der Verlauf der Zeit während der Produktion wird sich in das Objekt einschreiben (das Warten, bis die Farbe trocknet). Umgekehrt kann sich die Aufnahmedauer des technischen Bildes ins Zeitlose strecken, und der Start- und Endpunkt der Aufzeichnung nur noch von statistischer Relevanz sein. Nehmen wir an, dass es sich beim Turiner Grabtuch nicht um eine geschickte Fälschung, sondern tatsächlich um ein technisches Bild handelt, so ist der Augenblick seiner Entstehung maßgeblich; seine Existenz wäre so eine Frage der Anwesenheit des richtigen Bildträgers zum richtigen Zeitpunkt gewesen. Das es sich bei diesem Augenblick um die Grablegung des toten Jesus handelt, macht das Bild innerhalb der christlichen Logik als Portrait weitaus authentischer, als es sogar eine hypothetische Videoaufzeichnung eines persönlichen Interviews mit Jesus sein könnte: Schließlich ist Jesus als Leichnam, als lebloser Körper am absoluten Endpunkt seiner Fleischwerdung angelangt, bevor er durch seine Auferstehung wieder ins Göttliche zurückkehrt; das Bild des toten Christus fängt die für ihn essentielle ontologische Paradoxie ein. Tobias Trutwin hat in Visage (2001) das Gesicht vom Turiner Grabtuch mit weiteren Gesichtern überlagert. Es sind Gesichter, die wir von Fotografien aus dem 20ten Jahrhundert kennen könnten; darunter ein Vietcong im Augenblick seiner Erschießung 1968, und der enthauptete koreanische Soldat von einem Bild der brillanten US-amerikanischen Fotoreporterin

Margaret Bourke-White von 1952. Im (politisch aufgeladenen) Moment ihres Todes festgehalten, sind diese Leidenden und Opfer zu auratischen Figuren geworden, deren Referenz auf eine wirkliche Person zunehmend schwindet. Trutwins Arbeit zeigt so ein zusammengesetztes Gesicht, das nicht mehr das Gesicht eines Individuums ist, sondern eine Personifika­ tion des Leidens, des vergehenden Lebens zum Zeitpunkt seiner medialen Aufzeichnung. Jacob Birken

Tobias Trutwin * 1964 in Bonn 1990 – 1996 Studium Kommunikations design mit Schwerpunkt Fotografie an der Universität GH Essen 1994 – 1995 Austauschprogramm École Supérieure d‘Arts Graphiques et d‘Architecture Intérieure (ESAG), Paris, mit DAAD und der Europäischen Union 1997 – 2001 Studium und Meisterschüler an der Hochschule für Grafik und Buchdruck (HGB) in Leipzig 2003 – 2005 Aufenthalt in Paris Lebt in Berlin. Weitere Informationen: TRZ Galerie, Düsseldorf www.tzrgalerie.de


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Tobias Trutwin

Tobias Trutwin, Visage, 2001, Glas, ca. 50 Ă— 50 cm Privatsammlung Berlin Š Tobias Trutwin


Impressum Die Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung „Come As You Are – Der abwesende Körper in der Kunst“ 6. August – 28. November 2010 Zeppelin Museum Friedrichshafen – Technik und Kunst Herausgeber Ursula Zeller, Frank-Thorsten Moll im Auftrag des Zeppelin Museum Friedrichshafen – Technik und Kunst

ISBN-13: 978-3-86136-145-9 Printed in Germany

Dank Unser Dank gilt in erster Linie den Künstlerinnen und Künstlern und den beiden Kuratoren Jacob Birken und Martin Heus, ohne die diese Ausstellung nicht möglich gewesen wäre. Außerdem Danken wir Martin Borst für die Gestaltung dieser Broschüre.

Katalogkonzept Martin Borst Katalogredaktion Jacob Birken, Martin Heus, Frank-Thorsten Moll Lektorat Maren Waike, Anna Viktoria Pröbstle Layout und Umschlaggestaltung Martin Borst Fotografie S. 11, 15, 19, 21, 23 Jacob Birken Ausstellungskonzeption Jacob Birken, Martin Heus, Frank-Thorsten Moll Projektleitung Frank-Thorsten Moll Koordination und Organisation Frank-Thorsten Moll, Maren Waike, Sabine Mücke Gesamtherstellung Bodenseemedienzentrum © Zeppelin Museum Friedrichshafen – Technik und Kunst

Bilder rund um die Ausstellung finden sie unter: www.flickr.com/photos/zeppelin-museum Schauen sie mal vorbei und kommentieren Sie die dort gezeigten Fotos. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!



Unbekannter K端nstler 8

Jim Campbell 10

Otto Dix 12

Via Lewandowsky 14

Dorcas M端ller 16

Bruce Nauman 18

Axel Philipp 20

Tobias Trutwin 22


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