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Das größte Kapital der Stadt Mehr als jeder dritte Marburger studiert oder arbeitet an der Uni
n Marburg gehen die Uhren anders! So heißt es häufig, wenn die Stadt wieder einmal aus der Reihe tanzt. In Marburg werden Diskussionen geführt, die andernorts undenkbar sind. Es werden Projekte angestoßen, die bundesweit für Aufsehen sorgen. Und die Stadt wartet mit zahlreichen Superlativen auf: die meisten Kinogänger Deutschlands, die meisten Wohngemeinschaften und die älteste, heute noch bestehende protestantische Universität der Welt, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Grund, warum in Marburg oft anders gedacht und gelebt wird, ist die Hochschule. Sie ist bis heute das größte Kapital der Stadt. „Andere Städte haben eine Universität, Marburg ist eine“, lautet das häufig zitierte Bonmot. Ohne die Hochschule, so sagen heutige Kommunalpolitiker, wäre die Kommune nur ein „mittelhessisches Bergdorf“. Mehr als jeder dritte Einwohner studiert oder arbeitet an der Philipps-Universität, die mit ihrem breiten Fächerangebot ungewöhnlich viele Studierende aus der Ferne lockt. Die Stadt leert und füllt sich im Rhythmus der Semester. Die Studierenden haben in Marburg drei Kulturzentren und ein heraus-ragendes Kinoprogramm. Sechs Museen und 26 Sammlung0en unterhält die Universität, darunter das bundesweit einmalige Chemikum, ein Mitmachmuseum zum Experimentieren. Natürlich ist die Stadt auch politisch von der Universität geprägt: Dass die Grünen hier eine hessische Hochburg haben, dass die Linke in Fraktionsstärke im Stadtparlament sitzt, geht größtenteils auf das Konto der Studierenden. Diesen bietet Marburg kurze Wege, gute Betreuung und die Möglichkeit, sich voll auf das Studium zu konzentrieren. Selbst die einzige größere Industrie, die Nachfolge-Unternehmen der Behringwerke, hat die Stadt der Universität zu verdanken. Ohne sie hätte der Nobelpreisträger Emil von Behring sein Unternehmen nie in Marburg aufgebaut. 5000 Arbeitsplätze bieten die Pharma-Firmen bis heute.
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Aktuell verändert sich die Hochschule rasant: Rund um den Alten Botanischen Garten entsteht der neue Campus Firmanei, der einmal die Philosophische Fakultät mit ihren Türmen an der Marburger Stadtautobahn ersetzen soll. Einige geisteswissenschaftliche Institute – Orientwissenschaftler, Kulturwissenschaftler und Völkerkundler – sind bereits in die umgebauten ehemaligen Uni-Kliniken gezogen, die zwischen Elisabethkirche und Altem Botanischen Garten liegen. Auch der Deutsche Sprachatlas wurde in einem Neubau am Fuß der Oberstadt eröffnet. Herzstück des neuen Campus Firmanei wird jedoch die neue Universitätsbibliothek, die im Frühjahr 2018 eröffnet werden soll. Das „Jahrhundertprojekt“ steht bereits am Nordrand des Gartens. Der gut 200 Meter lange, leicht gebogene Neubau beherbergt neben 2,6 Millionen Büchern auch Leseterrassen und eine Cafeteria. Wer sich einen Überblick über die lange Geschichte und die zentralen Stätten der ehrwürdigen Hochschule verschaffen möchte, kann einen Stadtspaziergang rund um Universität, Studierende und Professoren unternehmen. Die Stadt hat dazu einen Flyer mit dem Titel „Uni-Route“ herausgebracht. Der Weg startet an der Alten Universität, wo sich die Gründertage der Hochschule erahnen lassen, führt über die einstigen Wohnhäuser der Brüder Grimm und der Schriftstellerin Bettina Brentano, die Weinstöcke der Universität und die historische Sternwarte bis zum neuen Uni-Campus und den Erinnerungen an die „rote Uni“. Sie endet an der Mensa, wo man gut und günstig essen kann. Die berühmteste Leiterin war übrigens Christine Brückner. Die spätere Autorin von „Jauche und Levkojen“ organisierte die Verpflegung der Studierenden im Hungerjahr 1946/47. Da war sie selbst erst 24 Jahre alt. „Unser Nahziel waren Kartoffelpuffer mit Apfelmus“, sagte sie später über diese Zeit.
Gesa Coordes