Das Leben auf NTSIO in der DR Kongo // Hanns Seidel Stiftung

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LEBEN AUF NTSIO EIN AGROFORSTPROJEKT DER HANNS-SEIDEL-STIFTUNG IN DER DEMOKRATISCHEN REPUBLIK KONGO RALF VANDAMME / MANUEL DORN


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WER DIE DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO BETRITT, …

… wird von Brandgeruch empfangen. Dieser entstammt den Holzkohlefeuern, die für die meisten Haushalte die einzige Möglichkeit bieten, Nahrung zuzubereiten, wie etwa das über Stunden hinweg gekochte Pondu, ein an Spinat erinnerndes Gericht aus Maniokblättern. In diesen Geruch mischt sich von Zeit zu Zeit der beißende Rauch der am Straßenrand brennenden Müllhaufen und der zahllosen gelben Kleinbusse und PKW, die als Taxis den rudimentären öffentlichen Nahverkehr ersetzen. LKW aus den 70er und 80er Jahren stoßen dichte Rußwolken aus, neben allerneuesten SUV mit abgedunkelten Scheiben. Insbesondere in den großen Städten wie der Hauptstadt Kinshasa prallen die Gegensätze aufeinander: krasser Reichtum, hoffnungslose Armut und unzumutbare Lebensbedingungen.


Der Bedarf, Armut zu lindern, ist offensichtlich. Ebenso offensichtlich ist, dass jede punktuelle Hilfe sofort wie der vielzitierte Tropfen auf den heiĂ&#x;en Stein verdampfen wĂźrde. Entwicklung und Entwicklungszusammenarbeit, die mehr als ein solcher Tropfen sein will, muss daher immer einen langen Atem haben, Strukturen aufbauen, Bildung bereitstellen, Geduld haben, anderen Verantwortung Ăźbertragen und sie ihren Weg gehen lassen. Ntsio ist die Geschichte eines solchen langen Atems, der Eigeninitiative und des ehrlichen Stolzes der Farmerinnen und Farmer auf das, was sie erreicht haben.


Vorwort

KLAUS LIEPERT Leiter des Referats Afrika südlich der Sahara

FRANK GOLLWITZER Auslandsmitarbeiter DR Kongo

Durch die lange Zeit, die sie mit ihnen verbrachten, gelang es ihnen, Ntsio und seine Menschen so darzustellen, wie sie sind: mit Kinshasa NTSIO ihren Sorgen und ihrem Stolz auf ihre ökonomische Unabhängigkeit. Innenansichten wiederzugeben bedeutet immer auch, subjektive Wahrnehmungen und Anekdotisches aufzugreifen und darin, wie in einem Brennglas, allgemeine Prinzipien erkennbar zu machen. Daher erläutern die hier wiedergegebenen Interviews immer auch die Funktionsweise der Agroforstwirtschaft, sind also von übergeordnetem Interesse. Wir haben dem Wissenschaftler und dem Fotogarafen in der Erstellung dieser Publikation in jeder Hinsicht vollkommen freie Hand gelassen. Alle Interviews, die Auswahl der Motive und Bewertungen entstanden frei von Vorgaben durch die Stiftung. Wir freuen uns sehr darüber, in welch hohem Maße es den beiden gelungen ist, die Intensität des Lebens auf Ntsio einzufangen. Wir wünschen dieser Publikation deshalb eine weite Verbreitung.

Klaus Liepert Kinshasa/München im Sommer 2019

Frank Gollwitzer

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Obwohl schon viel über Ntsio geschrieben wurde, haben wir im Februar 2019 den Politologen Ralf Vandamme und den Fotografen Manuel Dorn gebeten, Innenansichten vor Ort einzufangen und damit für andere ein profundes Verständnis dessen zu ermöglichen, was auf Ntsio entstanden ist. Beide verbrachten zehn Tage mit den Farmerinnen und Farmern, aßen bei ihnen, besuchten ihre Versammlungen und befragten sie zu ihrer persönlichen Situation, zu den aktuellen Schwierigkeiten, Wünschen und ihren persönlichen Zukunftsaussichten. Sie lernten die Verantwortlichen für das Nachfolgeprojekt Muti Idwini in ihren Büros und die Facharbeiter in ihren Werkstätten kennen und konnten so die Zusammenhänge der Produktion, der Vermarktung und der Gemeinschaft in ihrer ganzen Komplexität nachvollziehen.

Demokratische Republik Kongo


Inhalt ÜBERBLICK

6 – 7

DAS PLATEAU BATÉKÉ

8 – 9

AKAZIEN MAMPU GEWINNUNG VON HOLZKOHLE

10 – 11 12 – 13 14 –15

NTSIO

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WICHTIGE PRODUKTE VON NTSIO

18 – 19

DAS ROTATIONSPRINZIP

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IDEE UND KONZEPT

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DIE CHEFS COUTUMIER DIE SCHULEN

24 – 28 29

DIE VERSAMMLUNGEN DER VEREINIGUNGEN

30 – 31

DIE LEITUNG DER VEREINIGUNGEN

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PORTRAITS

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JULIENNE NGOYA

36 – 37

MAMIE NSIMBA

38 – 39

MARTIN MUNZIAMI JEAN-CLAUDE MUKOLONGO BELLY KIMWANGA-NAKAFWAKU BERNADETTE LUMINGU PRÄSIDENT MARCELLIN MAKABI TATY TANDALA-KAKENZA ARBEIT AUF NTSIO

40 – 41 42 – 43 44 – 45 46 – 47 48 – 51 52 – 53 54 – 55

PERSPEKTIVEN UND AUFGABEN

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PRINZIPIEN OPERATIVER ENTWICKLUNGSARBEIT

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EIN ZEITLICHER ÜBERBLICK DIE AUTOREN

58 – 59 59

IMPRESSUM RÜCKSEITE

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DER NÄHRSTOFFARME SANDBODEN DER SAVANNE STELLT DIE AGROFORSTWIRTSCHAFT VOR BESONDERE HERAUSFORDERUNGEN.


Überblick Mwe

MAMP

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Kingawa

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NTSIO KINSHASA Mbankana

Ntsio startete 2013 als Projekt der Hanns-SeidelStiftung und wurde im Dezember 2018 in die Eigenständigkeit entlassen. Auf 260 Farmen wird dort fast alles produziert, was die Familien für ihre Selbstversorgung benötigen. Mit ihren Erzeugnissen sowie den Erträgen aus Obst- und Maniokverkauf unterstützen die Farmerinnen und Farmer bereits jetzt ihre Familien in Kinshasa. Ab 2022 können die ersten Akazien zu Holzkohle (Makala auf Lingala) verarbeitet und vermarktet werden, was zu einem Einkommenssprung der dort Ansässigen führen wird. Ntsio (in der Sprache der Téké, also der autochthonen Einwohner, «Savanne») ist bereits das 3. Agroforstgebiet der Stiftung, nach Mampu (ebenfalls auf dem Plateau) und Gungu (ca. 300 km weiter im Osten gelegen).

Wenn alle Flächen bepflanzt sind, beginnt die Rodung des ersten Streifens, dessen Holz zu Makala verarbeitet und der anschließend sofort wieder mit neuen Akazien sowie – in den ersten beiden Jahren – auch mit Mais und Maniok bepflanzt wird. Land- und Forstwirtschaft befinden sich so in permanenter Rotation. Auf Ntsio konnte viel von Mampu, dem 1997 gestarteten Vorgängerprojekt, gelernt werden. Inzwischen läuft der Erfahrungsaustausch in beide Richtungen.

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Agroforstwirtschaft ist die Verbindung von Land- und Forstwirtschaft. Alle Farmerinnen und Farmer bewirtschaften 2 Ha Ackerland zur Selbstversorgung mit Obst und Gemüse. Daran angrenzend kultivieren sie 15 Ha Akazienwald, aufgeteilt in zehn Streifen à 1,5 Ha. Pro Jahr waren 1,5 Ha anzupflanzen, nach zehn Jahren hat jede Farm die ihr zur Verfügung stehende Fläche vollständig bepflanzt (wobei nicht alle Farmen gleich schnell vorgehen konnten).

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Ntsio ist ein Agroforstgebiet auf dem Plateau Batéké. Es liegt 200 Kilometer oder, je nach Fahrzeug und Zuladung, ca. 3 – 5 Autostunden im Nordosten von Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo.

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Mongata

Seit 2019 nutzt die Hanns-Seidel-Stiftung die Bürogebäude auf Ntsio für das Projekt Muti Idwini, in dem vier Resultate angestrebt werden: Begleitung der letzten Pflanzkampagnen auf Ntsio; Versorgung von Gungu (einem weiteren Agroforstgebiet) mit Bäumen; Einbezug und Schulung der zahlreichen Bauern, die sich rund um das Projektgebiet von Ntsio niedergelassen haben sowie schließlich der Versuch, mit Akazien und anderen Baumarten die für die Holzkohlegewinnung und den Maniokanbau gerodeten Stellen in den Urwäldern an den Hängen des Kwango wieder aufzuforsten. (Der Fluss Kwango grenzt im Osten an das Agroforstgebiet.)

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Das Plateau Batéké … … IST ÜBER DAS STRASSENDORF MBANKANA ZU ERREICHEN, DAS MIT SEINEM BEDEUTENDEN MARKT AN DER ASPHALTIERTEN FERNSTRASSE VON KINSHASA NACH KIKWIT LIEGT.


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Von Kinshasa aus überquert man zunächst die Schlucht des Mayi Ndombe (Schwarzes Wasser) und erreicht dann auf dieser unfallträchtigen Strecke Mbankana. Von dort aus führt eine unbefestigte Sandpiste auf die Hochebene. Nach ca. 20 km trifft man auf die Grenze des Agroforstgebietes von Ntsio, welches sich selbst wiederum über 16 km in der Länge und bis zu viereinhalb km in der Breite ausdehnt. Das Plateau steigt von Südwesten aus allmählich an und wird im Osten von den steil abfallenden Hängen des Flusses Kwango begrenzt. Dabei liegt es auf ca. 700 Höhenmetern, was dazu führt, dass dort, anders als im Kongobecken, die Temperaturen nachts teilweise bis auf angenehme

20 Grad und darunter absinken, während sie tagsüber häufig bei stechender Sonne auf über 30 Grad steigen. Das Plateau ist dünn besiedelt, was durch den kargen, sandigen Boden der Savanne und die schlechte Straßenanbindung wohl noch begünstigt wird. Doch dieser Umstand brachte in der Vergangenheit nicht nur Nachteile mit sich. Während der Kolonialzeit blieben die Téké weitgehend unbehelligt auf dem Plateau. Der einzige Missionar, der sich hier heraufwagte, wurde erschossen. Und auch von den Plünderungen in den Jahren 1991 – 93 in Kinshasa und Umgebung war Mampu nicht betroffen. In direkter Nähe zu den beiden Agroforstgebieten Mampu und Ntsio liegen die Dörfer Mongata, Kingawa und

Mwe (sprich wie das Französische «moins»). Während in Kingawa hauptsächlich Angehörige der Volksgruppe der Badigidigi (dem Clan des dortigen Chef Coutumier) wohnen, sind es auf dem übrigen Plateau vor allem Angehörige der Téké – daher der Name des Plateaus. Deren Sprache ist leider im Verschwinden begriffen. Die Einheimischen sprechen zunächst Lingala (wie in der Hauptstadt Kinshasa) und, wenn sie eine Schule besuchen oder studieren, belgisches Französisch. Die Hanns-Seidel-Stiftung bemüht sich, an die Tradition der Téké anzuknüpfen und gab ihren Aktivitäten Namen aus deren Sprache: Ntsio («Savanne») und Muti Idwini («kühle Luft/Schatten unter dem Baum»).


Akazien 10

AKAZIEN SIND SCHNELLWACHSENDE UND IN DER SAVANNE NICHT INVASIVE NEOPHYTEN. Sie verdrängen also keine einheimischen Arten durch eine unkontrollierbare Ausbreitung. Grund hierfür ist, dass der Akaziensamen mehrere Faktoren braucht, um zu keimen, die in der Savanne nicht gleichzeitig gegeben sind. Hinzu kommt, dass Akazien nicht feuerresistent sind. Feuer aber kommen in der Savanne häufig vor und gehören – unabhängig von menschlicher Einwirkung – zu ihrem Ökosystem. Die Pflanzen der Savanne sind gut an Feuer angepasst, wenn diese in der Trockenzeit ausbrechen. Manche Vogelarten (wie Vanellus Lugubris) brauchen sogar Asche, um ihre Nester zu bauen. Akaziensamen keimen, wenn sie Hitze und Feuchtigkeit ausgesetzt sind. In der Baumschule und auf den Farmen von Ntsio erreicht man dies, indem Wasser in einem Topf zum Sieden gebracht, dieser dann vom Feuer genommen wird und anschließend die Akaziensamen in das Wasser gegeben werden. Nun wird der Topf mit einem Deckel abgedeckt und die Samen über Nacht im Wasser gelassen. Bis zum Morgen sind die Samenkapseln aufgeplatzt und können zum Keimen in Blumentöpfchen ausgesät werden. Damit Ntsio auch ohne finanzielle Unterstützung von außen bestehen kann, ist es wichtig, Akazienpflanzen eigenständig zu

produzieren. Akazienfelder sind nach ihrer Rodung voll mit Akaziensamen. Doch wie kann es gelingen, sie zum Keimen zu bringen? Auf Mampu beobachteten die Agraringenieure, dass dies auf manchen Feldern nach der Rodung gelang, auf anderen nicht. Sie fanden heraus, dass die Akaziensamen zum Teil unter einer dichten Mulchdecke aus heruntergefallenem Laub lagen. Wenn die Bauern nun, so wie sie es von Alters her gewohnt waren, die Felder abbrannten, um damit die vorhandenen Beikräuter zu entfernen, kam es auf den Zeitpunkt an: Legten sie die Feuer während der Trockenzeit zwischen Mai und September, verbrannten sie die Mulchdecke und die darin enthaltenen Samen unwiederbringlich mit. Warteten sie aber bis nach dem Beginn der Regenzeit, waren die Samen von einer unbrennbaren, feuchten Mulchdecke geschützt – ganz ähnlich also, wie in dem Topf der Baumschule. Wenn die Bauern nun als erste Kultur Mais in die frisch abgebrannten Felder aussäen, keimen die Akaziensamen und der Mais gleichzeitig. Dabei darf man sich die Maisfelder auf dem Plateau nicht vorstellen wie in einer industrialisierten Landwirtschaft; hier

sind die Reihen deutlich breiter und unregelmäßiger, so dass die Akazien ausreichend Raum haben. In den drei Monaten, die von der Aussaat bis zur Ernte des Mais vergehen, gehen die Bauern mehrfach durch die Maisreihen und jäten die Beikräuter – ebenso wie jene Akazien, die sie nicht brauchen. Es bleiben nur die stehen, welche genau in den Reihen wachsen, in denen auch schon in der vorangegangenen Kultur die Elternpflanzen standen. Im Laufe der drei Monate werden schließlich auch in diesen Reihen nur die Stärksten stehen gelassen, so dass eine natürliche Auslese und Zucht stattfindet. Der Abstand der Akazienreihen zueinander beträgt einige Meter. Die Akazien haben nach drei Monaten etwa eine Höhe von 30 – 40 cm, nach einem halben Jahr etwa 50 cm. Nach der Maisernte kann dort Maniok in mehreren Reihen angebaut werden, der als Setzling gepflanzt wird. Auf diese Weise wird der Raum zwischen den Baumreihen in den ersten beiden Jahren auch landwirtschaftlich genutzt. Nach zwei Jahren sind die Akazien jedoch schon so hoch, dass sie den Boden zwischen den Baumreihen vollkommen beschatten.


Akazienkeimlinge

Maisfeld kurz vor der Ernte


Mwe

MAMP

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ango Kw

MAMPU

Kingawa

NTSIO

NTSIO WÄRE NICHT DENKBAR OHNE DAS VORLÄUFERPROJEKT MAMPU. Mbankana

Seine Geschichte beginnt 1977, als das staatliche Forstzentrum KINZONO mit verschiedenen Akaziensorten experimentierte, um herauszufinden, welche sich besonders gut an den sandigen Boden der Savanne anpassen, damit aus ihnen Holz zur Energiegewinnung produziert werden kann. 1987 überließ der Staat (damals Zaire) in Übereinstimmung mit den Chefs Coutumier und mit Unterstützung durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft unweit des Forstzentrums auf dem Plateau Batéké dem niederländischen Unternehmen HVA 8000 Ha Savanne zum Anbau von Akazien. Doch das Vorhaben stand unter keinem guten Stern. Aufgrund von Unruhen gegen die Regierung Mobutu fanden zwischen 1991 und 1993 immer wieder Plünderungen in Kinshasa und Umgebung statt, so dass die HVA sich 1993 schließlich gezwungen sah, das Land zu verlassen (siehe auch Zeittafel im Anhang). Zwei Jahre später, 1995, schloss die Hanns-Seidel-Stiftung einen Vertrag mit dem Umweltministerium, um die Plantage vor Plünderungen zu schützen und sie auszubauen. Nico den Hollander, ein Mitarbeiter der HSS in Kinshasa, hatte trotz der Unruhen den Kongo nicht verlassen und begann 1997 damit, Bauern aus der Region anzuwerben und auszubilden, um die inzwischen erntereifen Akazien zu Holzkohle zu verarbeiten. Dabei konnten sie zunächst in den Häusern wohnen, die für die Arbeiter der niederländischen HVA errichtet worden waren und die nun nach und nach zum Zentrum von Mampu ausgebaut wurden.

Mongata

1997 wurde Präsident Mobutu durch Laurent-Désiré Kabila gestürzt. Kabila konnte zwar in der Hauptstadt Reformen durchsetzen, im Osten und Süden des Landes hingegen kämpften rivalisierende Milizen um die Bodenschätze. Die Nachbarländer Uganda, Burundi und Ruanda bekämpften diese Milizen auf kongolesischem Boden, nicht ohne sich an den Bodenschätzen zu bereichern. Diese Zeit andauernder militärischer Auseinandersetzungen währte von 1997 bis 2002 und wird auch als der große afrikanische Krieg bezeichnet. Trotz zerstörter Infrastruktur, gesprengter Brücken und erheblicher Gefahren blieb Nico den Hollander auf dem Plateau. Dieser Einsatz kann nicht hoch genug gewürdigt werden. Er hatte sich ganz und gar der Entwicklung dieses Landes verschrieben. Bis er im Februar 2008 plötzlich verstarb. Ein Jahr noch, insgesamt also von 1997 bis 2009, begleitete die Hanns-Seidel-Stiftung Mampu mit Unterstützung durch die Europäischen Union und in Kooperation mit einer NGO aus Mbankana (CADIM), die sich die regionale Entwicklung zum Ziel gesetzt hatte. Im Februar 2009 schließlich konnten die Geschicke von Mampu in die Hände der dortigen Siedlergemeinschaft (UFAM) übergeben werden. Seit nunmehr zehn Jahren ist dieses Agroforstgebiet also eigenständig.


Nach einer groben Schätzung deckt Mampu ungefähr 10% des Holzkohlebedarfes der Hauptstadt Kinshasa und bremst damit das Abholzen der Urwälder. Die Farmer auf Mampu dürften dort je nach Ernte ungefähr 700 $ im Monat einnehmen, was selbst abzüglich der anfallenden Kosten weit über dem Verdienst beispielsweise eines Taxifahrers in der Hauptstadt liegt. Mampu war daher zu recht Beispiel für Nachfolgeprojekte, und auch die Konzeptionen von Gungu und Ntsio sind aus den Erfahrungen von Mampu gespeist. Das Besondere an Gungu, welches von Kinshasa aus etwa 500 km im Landesinneren liegt, ist, dass dort die Bauern in ihrem Dorf wohnen blieben und dessen Infrastruktur weiter nutzten. Allerdings haben sie aufgrunddessen weitere Wege zu ihren Feldern zurückzulegen. Das Besondere an Ntsio, welches nur 15 km von Mampu entfernt liegt, ist hingegen die Nähe der Farmerinnen und Farmer zu ihren Feldern und das hohe Maß an Eigenverantwortung und Selbstverwaltung in den Vereinigungen. Seit Dezember 2018 wurden auch auf Mampu neue Selbstverwaltungsstrukturen eingeführt, durchaus an den Erfahrungen auf Ntsio orientiert. Den Verantwortlichen auf Mampu ist bewusst, dass großer Handlungsbedarf hinsichtlich der Verbesserung der Infrastruktur besteht. Mampu hat keine Brunnen mit Trinkwasserqualität, es mangelt an Strom, die Sandstraßen sind ausgewaschen und voller Pfützen, die die Gefahr einer Malariainfektion steigern. Hier wäre aus den Erfahrungen von Ntsio heraus zu überlegen, wie Eigen- und Gemeinschaftsinitiative intensiviert werden können. Denn die technischen Mittel zur Trockenlegung der Straßen und damit der Eindämmung von Malaria sind durchaus vorhanden. Ein weiterer Aspekt kann anhand der Honigproduktion verdeutlicht werden. Diese ging auf Mampu in den letzten drei Jahren kontinuierlich zurück, ausgehend von 10 t auf zuletzt 6 – 7 t im Jahr. Damit sind für die Imker erhebliche finanzielle Einbußen verbunden. Grund für den Rückgang ist, dass die Bienenstöcke aus Holz nach und nach verwittern oder von Tieren auf der Suche nach Honig zerstört werden. Neue Bienenstöcke kosten in Kinshasa jedoch ca. 40 $, was für die Bauern unerschwinglich ist. Einer der Bauern kam daher auf die Idee, aus Bäumen von Mampu vom örtlichen Schreiner Bretter anfertigen zu lassen und daraus Bienenstöcke zu bauen. Kosten: ca. 15 $ pro Stück. Sein Beispiel hat jedoch keine Nachahmer gefunden. Ntsio steht im Grunde vor der gleichen Problematik. Dort kaufen jedoch die Vereinigungen Bienenstöcke in Kinshasa ein und geben sie für 8 $ an die Farmer weiter. Die Vereinigungen reinvestieren also das Geld, das sie über die Mitgliedsbeiträge erhalten und subventionieren damit die Tätigkeiten ihrer Mitglieder.

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Gewinnung von Holzkohle 14

DER «GERUCH DES GELDES» LÄSST DIE HERZEN ALLER FARMER HÖHER SCHLAGEN: DER GERUCH DER KOHLEMEILER, WENN DIE ZUVOR SORGFÄLTIG AUFGESCHICHTETEN HÖLZER LANGSAM ZU HOLZKOHLE VERGLIMMEN.

Die Meiler werden direkt auf den Feldern errichtet, wo das Holz zuvor mit Macheten geschlagen wurde. Sie werden parallel aufgeschichtet, mit möglichst wenig Zwischenraum. Anschließend wird das Holz mit Palmstroh abgedeckt und von allen Seiten mit einer ca. 40 cm dicken Erdschicht eingepackt. Dicht über dem Boden werden zahlreiche Löcher für die Sauerstoffzufuhr in die Erdschicht gebohrt. Weitere vier Löcher kommen als Abzug in das «Erddach» des Meilers. Nach dem Anzünden ist sorgfältig darauf zu achten, dass nicht durch zu hohe Sauerstoffzufuhr ein Brand im Meiler entsteht, erkennbar an blauem Rauch. Nur weißer Rauch zeigt eine vollständige Verkohlung an. Beim Anbau der Akazien gilt ebenso wie bei anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen, dass eine große Menge an Pflanzen nicht gleichbedeutend mit einem hohen Ertrag ist. Wer viele Akazien dicht stehen lässt, hat zwar mehr Bäume als ein anderer, aber nur dünne Stämmchen, die in der Verarbeitung mehr Zeit kosten und so die Produktivität senken. Auch die Qualität sinkt.



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NTSIO

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A

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Das Agroforstgebiet Ntsio ist in drei Linien aufgeteilt, A, B und C, wobei die Linie A die kleinste ganz im Osten ist, B in der Mitte liegt und C im Westen. Linie A war die erste, die realisiert wurde. In dieser Linie befinden sich daher neben einem der beiden Brunnen die Baumschule, die Bürogebäude und die Modellfarm ebenso wie auch Wohngebäude. Jede Linie besteht aus einer Reihe von Camps.

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Brunnen 1

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Äquator

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Brunnen 2

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LEGENDE Begehbare Wege

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Grenze zwischen den Vereinigungen

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B

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V

Camp mit vier Häusern Grundstück einer Vereinigung mit Versammlungshaus, Wasserturm, und Warenlager Modellfarm Wasserentnahmestelle

Ein Camp wird aus vier Häusern gebildet, die im Plan grün eingezeichnet sind. Sie sind mit Fußpfaden verbunden und liegen 500m auseinander. Genau in der Mitte zwischen zwei Camps liegen die blauen Wasserentnahmestellen. Die Farmerinnen und Farmer müssen also 250m bis dorthin zurücklegen. Genau oberhalb des zweiten Brunnens (Forage 2) und zwischen -1 und 1 verläuft der «Äquator», der das Gebiet in eine nördliche und eine südliche Hälfte teilt. Jede Farm ist auf diesem Plan eindeutig identifizierbar über ihre Adresse. Nehmen wir die Farm von Bernadette Lumingu, die wir auch in den Interviews kennenlernen. Sie hat die Farm NC1 J. Die Farm liegt also im Norden (N), in der Linie C (ganz im Westen) in Camp 1. Die Balken Ihrer Veranda sind gelb gestrichen, also Jaune (J), nicht Bleue (B), Vert (V) oder Rouge (R), sie befindet sich also links oben oder im Nordwesten des Camps. Diese einfache Identifzierungsmöglichkeit ist hilfreich bei den Versammlungen der Vereinigungen, weil sehr platzsparend in einer Tabelle dargestellt werden kann, welche Farm wie gewirtschaftet hat. (s. a. Interview mit Präsident Marcellin Makabi) Das Gebiet ist in vier Teilgebiete aufgeteilt: Mudiankulu im Norden, Wolimbwa, Muthio sowie Dwale ganz im Süden. Dies sind zugleich die Namen der vier Vereinigungen, die sich selbst verwalten. Daher befindet sich auf jedem dieser vier Territorien auch je ein Gemeinschaftsgrundstück mit Versammlungshaus, Warenlager sowie einem Wasserturm.


Die beiden Brunnen von Ntsio sind jeweils 200 m tief. Das Wasser wird aus ca. 115 m Tiefe gefördert und hat beste Trinkwasserqualität, was in der Region einzigartig ist. Betrieben werden die Brunnenpumpen mit Solarenergie. Nur im Notfall oder bei extrem lang anhaltender Bewölkung wird ein Generator zugeschaltet. Das Wasser wird über viele Kilometer in die insgesamt fünf Wassertürme gepumpt. Für die Baumschule wird darüber hinaus ein Vorratsbehälter gefüllt. Direkt neben dem Brunnen in Linie A befindet sich die Baumschule. Obwohl die Farmerinnen und Farmer inzwischen ihre Akazien selbst aus Samen ziehen, herrscht hier weiterhin Vollbetrieb. Pierre Matungulu, der Leiter der Baumschule, lässt Bäume für das Projekt Muti Idwini vorziehen. Dabei ist die Baumschule auch sozial engagiert, denn sie nimmt einige Heranwachsende aus einem Zentrum für Straßenkinder in Kinshasa auf, damit sie hier eine Ausbildung absolvieren. Zur technischen Ausstattung von Ntsio gehören auch die Traktoren, die vor jeder Pflanzkampagne die zu bestellenden Felder pflügen. Mehrere Traktoristen und Mechaniker sind dann im Einsatz. Wenn alle Felder einmal mit Akazien bepflanzt sein werden, müssen sie nicht mehr gepflügt werden. Dann werden die Traktoren vornehmlich dazu benötigt, die Straßen und Wege frei von Unkraut zu halten oder sie auszubessern. Auch die Grünstreifen rund um das Aufforstungsgebiet können mit ihnen gemäht werden. Drei Reihen Pinien und ein breiter Grasstreifen schützen die Akazien vor den häufigen Bränden der Savanne. In der Hauptsache übernimmt diese Arbeit jedoch sehr gerne eine kleine Rinderherde, die eigens dafür angeschafft wurde. Auch ein Schreiner zählt zur Infrastruktur auf Ntsio.

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Wichtige Produkte von NTSIO 18

Das Hauptnahrungsmittel in der Demokratischen Republik Kongo ist Maniok, dessen Blätter zu einem spinatähnlichen Gemüse («Pondu») verarbeitet werden und dessen Wurzeln einen nahrhaften Teig ergeben, der entweder pur («Chikwangue») oder mit Mais

MANIOK

gemischt («Fufu») als Beilage gegessen wird, ähnlich wie Klöße in Europa. Zur Ernte der Wurzeln werden die Maniokpflanzen meist nach 15 Monaten gerodet, die Wurzeln geschält und dann für drei Tage in Wasser eingelegt, um ihnen die Säure zu entziehen.

Anschließend werden sie auf Holzgestellen in der Sonne getrocknet und dann entweder in motorbetriebenen Mühlen oder in Holzmörsern zu Mehl verarbeitet. Dieses Mehl wird in kochendes Wasser gegeben und zu Klößen geformt.


Nach Maniok ist Mais das wichtigste Grundnahrungsmittel. Mbwengi (auf Lingala) oder Niébé (auf Französisch) ist die wichtigste Hülsenfrucht auf Ntsio und erinnert im Geschmack stark an europäische Bohnenarten.

MBWENGI

Voandzou ist ein zarter, niedriger Strauch, der in Größe und Habitus Erdnüssen ähnelt. Genau wie diese bildet er an den Wurzeln kleine, schmackhafte Knollen, die zum Verzehr gekocht oder gegrillt werden.

MAIS

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SESAM

VOANDZU


Das Rotationsprinzip DIE UNTENSTEHENDE BANDEROLE ERKLÄRT SCHLÜSSIG DAS ROTATIONSPRINZIP DER AGROFORSTWIRTSCHAFT AUF NTSIO. WIR LADEN ZU EINEM SELBSTVERSUCH EIN: GELINGT DIE EIGENSTÄNDIGE DEKODIERUNG?

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Die Farmen auf Ntsio produzieren jährlich etwa

1.300 t Maniok

260 t Hülsenfrüchte

130 t Getreide

Für die Freunde der Schriftkultur hier die Auflösung (von links nach rechts) : Das Grasland der Savanne wird im Rahmen jeder Pflanzkampagne von Traktoren gepflügt. Anschließend pflanzen die Farmerinnen und Farmer Akazien und dazwischen zwei Reihen Maniok. Wenn die Akazien nach ca. neun Jahren erntereif sind, werden sie in Meilern zu Holzkohle verarbeitet, in Säcke verpackt und vermarktet. Danach kann das Feld (wie im Kapitel «Akazien» beschrieben) abgebrannt werden. Wenn dies zum richtigen Zeitpunkt geschah, keimen die Akazien

und treiben bald in großer Zahl durch die schwarze Schicht verkohlter Pflanzenreste. Mit der Hacke werden die überzähligen Pflänzchen gelichtet und es kann Mais zwischen ihnen gesät werden. Nach der Maisernte, die ca. drei Monate nach der Aussaat erfolgt, werden Manioksetzlinge ausgebracht und nach 12 bis 20 Monaten gerodet, was eine sukzessive Ernte nach Bedarf und Vermarktungsmöglichkeit erlaubt. Die neuen Akazien sind dann bereits so hoch, dass zwischen ihnen eine erneute landwirtschaftliche Nutzung nicht mehr möglich ist.


Idee und Konzept … … von Ntsio stammen von Franck Bisiaux, der zuvor auf Mampu tätig war und gemeinsam mit Nico den Hollander Erfahrungen auf dem Plateau Batéké sammeln konnte. Dort reifte in ihm die Überzeugung, auf Ntsio von Anfang an Selbstverwaltung konsequent anzulegen, strenge Regeln aufzustellen und deren Einhaltung von den Teilnehmenden selbst durchsetzen zu lassen. Franck Bisiaux scherzt und diskutiert mit den Bauern auf Lingala, seine Kenntnisse der Kultur und Tradition erlaubten ihm, vor Projektbeginn das Vertrauen der Chefs Coutumier zu gewinnen. Dies lässt sich daran ablesen, dass sie ihn bald, jeweils in ihrem Dorf, beim Essen an ihrem Tisch akzeptierten. Franck Bisiaux war von 2013 bis Ende 2018 Projektleiter auf Ntsio und setzt nun seine Tätigkeit im Rahmen des Programmes Muti Idwini fort. (siehe auch «für den schnellen Überblick») Gegenüber den Farmern, Handwerkern und anderen Angestellten genießt er hohe Autorität und Sympathie. Diese Autorität ist von entscheidender Bedeutung, denn sie motiviert die Menschen, sich an die Vorgaben der Fachleute zu halten, anstatt nach eigenem Gutdünken und damit zu ihrem eigenen Nachteil zu wirtschaften. Fachliche Autorität

und die allmähliche Übergabe dieser Autorität an die von Anbeginn an bestehenden Selbstverwaltungsstrukturen gehören zu den Erfolgsgeheimnissen von Ntsio. Aufbau und Weitergabe von Autorität kann nur durch operative Entwicklungszusammenarbeit hergestellt werden – dadurch also, dass die Experten vor Ort leben, die Landessprache(n) sprechen, die Sorgen der Menschen wirklich kennen, ihre Bräuche respektieren, ihre Familien besuchen, mit ihnen essen und lachen und sich so allmählich ihr Vertrauen verdienen. Dieses Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit ist zwar theoretisch unumstritten, in der Praxis aber nicht leicht zu finden. Daher rechnet es Franck Bisiaux der Stiftung besonders hoch an, dass sie ihn genau dies hier auf Ntsio realisieren ließ.

Léonard, das Maskottchen der Projektleitung, hört alles und stattet bei Bedarf Bericht ab.

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Raphael Mateka Mbuta ist Chef Coutumier von Kingawa, einem langgezogenen Dorf, das genau zwischen Mampu und Ntsio an einem Flusslauf liegt und aufgrund dieser zentralen Lage zunehmend an Bedeutung gewinnt. Unten: Der Wald von Muthio Rechts: Insignien der Macht


Die Chefs Coutumier WER IN DER DEMOKRATISCHEN REPUBLIK KONGO LAND BEWIRTSCHAFTEN WILL, KANN DIES NUR MIT DEM EINVERSTÄNDNIS DER CHEFS COUTUMIER.

Sie verwalten das Land ihrer Vorfahren und führen die traditionellen Zeremonien, wie z. B. den Regentanz, durch. Damit bilden sie, je nach Größe und Bedeutung der Siedlung, der sie vorstehen, die Schnittstelle zwischen moderner Verwaltung und Tradition. Zu unterscheiden sind Dörfer, deren Chefs keine offizielle Rolle im Staatsaufbau haben, und Groupements, die mit Landkreisen vergleichbar sind und deren Chefs vom Staat Aufgaben übernehmen und dafür auch ein Salär von umgerechnet ca. 80 $ im Monat beziehen.

Einzig Salongo, das Fegen der Höfe mit Besen aus Palmblättern oder Reisig, ist erlaubt. Der Chef Coutumier von Kingawa, Raphael Mateka Mbuta, wendet sich an diesem Tag in das nahegelegene Wäldchen Muthio, um Kontakt zu den Geistern (Bisimbi) aufzunehmen, durch welche hindurch die Vorfahren sich ihm gegenüber äußern. Für die Téké offenbaren sich Geister an besonderen, baumbestandenen Orten, wie an Quellen oder besonderen Felsformationen. In dem Wäldchen Muthio darf daher selbstverständlich kein Baum gefällt werden, so dass es gut erhalten ist.

Das Aufforstungsgebiet von Ntsio liegt im Einflussbereich dreier Chefs Coutumier: dem von Mwe (Groupement), Kingawa (Dorf) und Mongata (Groupement). Alle drei gaben der Hanns-Seidel-Stiftung Land für 25 Jahre. Nach Ablauf dieser Zeit sind die Vereinbarungen zu erneuern.

Im Aufforstungsgebiet von Ntsio dürfen auch freitags alle Arbeiten durchgeführt werden, denn die drei Chefs haben es aus ihrem Einflussbereich entlassen.

Jeden Freitag ruht auf dem Plateau Batéké die Arbeit, nicht einmal Pondu (ein Gericht aus Maniokblättern) darf in den Holzmörsern gestampft werden, da die Vorfahren durch die Erschütterung gestört würden.

An diesem Detail kann man ermessen, wie groß ihr Entgegenkommen gegenüber den Projektverantwortlichen war. Im Gegenzug bekamen sie eine wichtige Einflussmöglichkeit: Sie durften der Stiftung vorschlagen, welche Personen Farmen auf Ntsio erhalten sollten. Zwar achtete die Stiftung darauf, dass die ausgewählten Personen auch fachlich hinreichend

kompetent waren, doch in der Wahrnehmung der Farmerinnen und Farmer waren es allein die Chefs, die ihnen die Höfe gegeben hatten. Auch die Chefs bekamen jeweils eine Farm, die sie allerdings nicht selbst bewohnen, sondern mit Arbeitern besetzten, denn das Arbeiten in der Erde ist mit der Würde eines Chefs Coutumier nicht vereinbar. Darüber hinaus bekamen Familienmitglieder, insbesondere die Ehefrauen der Chefs, eigene Farmen. Eine Übersetzung von Chef Coutumier ins Deutsche ist schwierig. «Häuptling» wird im wissenschaftlichen Kontext gemieden, weil es zu sehr an Wild-West-Phantasien erinnert, «traditioneller Chef» ist kein selbsterklärender, eindeutiger Begriff. Daher wird in dieser Publikation die landestypische Bezeichnung «Chef Coutumier» übernommen. Auch wenn es weder vom Staat noch von den christlichen Kirchen anerkannt wird, kommt es vor, dass Männer, und insbesondere die Chefs, mit zwei oder mehr Frauen Ehen nach traditionellem Brauch schließen. Damit sind die drei gleichzeitig nebeneinander

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existierenden Ordnungssysteme der Demokratischen Republik Kongo benannt: Der Staat, die Kirchen und das Brauchtum. Dadurch, dass die Chefs ebenfalls auf Ntsio wirtschaften, identifizieren sie sich stark damit. So unterstrich Raphael Mateka im persönlichen Gespräch, dass er durch Ntsio viel gelernt habe, auch für seine Landwirtschaft außerhalb des Aufforstungsgebietes, am Ortsrand von Kingawa, wo er unter anderem Fischteiche unterhält, Ziegen züchtet, Colanüsse und eine Lorbeerart anbaut, die zur Zahnpflege genutzt wird. Oben: Martin Munziami Darunter: Traditionelle Hütten in Kingawa Rechts: Ständige Bedrohung durch Buschfeuer Unten: Fertigung von Gewehren für die Jagd

Die Chefs Coutumier bauen in der Ausübung ihres Amtes auf Vertraute, mit denen sie sich in schwierigen Fragen beraten. Diese so genannten Notabeln (Ehrenleute) werden nicht notwendigerweise durch Familienbande bestimmt. Unter ihnen nimmt der Kapita als Stellvertreter des Chefs eine besondere Stellung ein. Auch diese Notabeln erhielten eigene Farmen. Einer von ihnen, Martin Munziami, stellte sich für ein Interview zur Verfügung. (s. Portrait S. 50/51) Die Frauen des Chefs und die Notabeln zahlen, wie alle anderen Mitglieder auf Ntsio, ihre Abgaben an die Vereinigungen. Da es in der strengen Hierarchie der Clans undenkbar wäre, dass einfache Clanangehörige die Chefs dazu zwingen könnten, diese Abgaben zu entrichten, hat die Projektleitung in weiser Voraussicht die Chefs Coutumier von vorneherein

davon ausgenommen. Zugleich erhöhen sich damit die Chancen, nach Ablauf der 25 Jahre, für die die Vereinigungen von Ntsio die Nutzungsrechte besitzen, selbige zu erneuern. Die Privilegien des Chefs sind bei den Téké, also der autochthonen Bevölkerung des Plateaus, nicht direkt vererbbar. Stirbt ein Chef Coutumier, geht sein Amt keinesfalls auf seinen Sohn, sondern auf den ältesten Sohn einer seiner Schwestern über. Ist dieser, etwa aus gesundheitlichen Gründen, ungeeignet, geht das Amt auf den nächsten über. Die Nachfolge geschieht also matrilinear. Chefinnen sind bei den Téké möglich, aber selten. Wenn kein Neffe vorhanden ist, der das Amt übernehmen kann, übernimmt die älteste Nichte. Bekannt und geschätzt ist bei den Téké Ikara, eine homosexuelle Chefin, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelebt haben muss (die mündlichen Berichte hierzu sind an dieser Stelle ungenau). Im Februar 2019 konnte leider nur mit einem Chef Coutumier gesprochen werden. Die Nachfolge des verstorbenen Chefs von Mongata war noch nicht geregelt, der Chef von Mwe war zum Zeitpunkt der Interviews krankheitsbedingt nicht vor Ort. Raphael Mateka, Chef von Kingawa, beurteilt die Lage seines Dorfes positiv. Im Gegensatz zu Mwe wächst es. Das liegt unter anderem an der verkehrsgünstigen Lage und an der Nähe zum Aufforstungsgebiet Ntsio.


Mwe hingegen schrumpft, weil es schlechter an das Netz aus Sandstraßen angebunden ist und weil es allmählich seine Lebensgrundlage, den Wald, aufbraucht, so dass die Dorfbewohner weiterziehen. Allerdings wünscht sich Raphael Mateka, wie dies auf Ntsio der Fall ist, auch für Kingawa einen Trinkwasserbrunnen und weitere Verbesserungen an der Infrastruktur. Der Begriff «Dorf» ist durchaus erklärungsbedürftig: Es handelt sich hierbei um Streusiedlungen mit un-

befestigten Pfaden zwischen den weit auseinander liegenden Hütten. Diese sind aus Holzstreben gefertigt, ihre lehmbeworfenen Wände und Palmdächer sind luftig und damit gut an die Hitze angepasst. Wenn sie im Laufe der Zeit zu sehr unter Sonne und Regen gelitten haben, können ohne großen Aufwand neue Hütten direkt daneben gesetzt werden. Die Fertigkeiten dazu sind allgemein vorhanden, was dazu führt, dass sich alle Familien Behausungen leisten können, dass sich andererseits aber kein spezialisier-

tes Handwerk herausbildet. Im gesamten Dorf gibt es nur einen Handwerker: einen Schmied, der Macheten sowie aus einfachen Rohren Gewehre für die Jagd auf Antilopen anfertigt. Von Zeit zu Zeit kommen auch Korbflechter vorbei und ziehen dann weiter. In Kingawa dominiert dagegen, wie im gesamten Land, eine informelle Mikroökonomie, die, zumeist am Straßenrand, Produkte und Dienstleistungen feilbietet, welche ohne großen Aufwand anzufertigen sind. Auf ökonomischer Ebene spiegelt sich also, was auch

Oben links: Die Gemeindekirche, eine der zahlreichen Pfingstkirchen im Kongo Oben Mitte: Straßenszene in Kingawa Rechts: Ein nur wenige Meter tiefer Brunnen Unten links: Der Dorfschmied Unten Mitte: Schulrektor MOPASAN

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Oben: Krankenstation in Kingawa Rechts: Papa Maya-Nzama ist ein Kind des Dorfes Kingawa, in das er nach seinem Studium in Kinshasa zurückkehrte, um dessen Entwicklung voranzubringen. In den Gesprächen mit akademisch gebildeten Menschen hört man sehr häufig diese Verpflichtung gegenüber dem eigenen Heimatdorf. Unten: Schwester im Kreißsaal und eine Mutter mit ihrem Neugeborenen

auf der staatlichen zu beobachten ist: Es gibt keine starken Institutionen, die in der Lage wären, die Ressourcen der Bevölkerung zu bündeln oder in Infrastrukturen und Bildung zu reinvestieren. Aus Garküchen am Straßenrand lassen sich keine relevanten Steuereinnahmen erzielen – von wandernden Händlern schon gar nicht. Das macht es so schwer, Trinkwasserbrunnen (wie auf Ntsio) zu finanzieren, obwohl sie so dringend nötig wären. Hier, also im Aufbau von stabilen und potenten Selbstverwaltungsstrukturen, besteht erheblicher, vielleicht der entscheidende Entwicklungsbedarf. Zugleich ist dies ein Punkt, an dem man die eigene europäische Sicht auf Staatlichkeit neu bewerten könnte, indem man sich mit dem Historiker Wolfgang Reinhard darauf besinnt, dass die Staatenbildung in Europa keineswegs selbstverständlich ist, sondern einem Wunder gleichkommt. Selbstverwaltung als grundlegende Ebene von Staatlichkeit braucht sichere Rahmenbedingungen, Infrastrukturen und Ressourcen. Eine wichtige Infrastruktur bilden Gebäude. Daher hat die Hanns-SeidelStiftung sowohl in Kingawa als auch in Mwe je eine Schule und eine Krankenstation errichtet, die wiederum jeweils mit einem Krankenpfleger und mehreren Schwestern besetzt sind. Zugleich sind die Krankenstationen und Schulen die Orte, an denen sich die «Rückkehrer» sammeln, die in Kinshasa studierten und nun hier die Lage ihrer Angehörigen verbessern wollen. So ist der Rektor der Schule zugleich Vorsitzender des Entwicklungskomitees, einer Art ehrenamtlichen Gesundheitsbehörde. Ihre Mitglieder führen Dorfbegehungen durch und mahnen die Bevölkerung, Pfützen (Malariabrutstätten) zu beseitigen und Hygieneregeln einzuhalten. Damit bilden sie eine der wenigen Keimzellen von Staatlichkeit im Dorf. Im Gegensatz dazu sind die Vereinigungen auf Ntsio mit ihren Vorständen und Kontrollorganen hochkomplexe Gebilde.


Die Schulen ZU DEN AM LIEBEVOLLSTEN HERGERICHTETEN GEBÄUDEN VON NTSIO GEHÖREN DIE BEIDEN SCHULEN, … … welche die Hanns-Seidel-Stiftung im Norden und im Süden des Agroforstgebietes erbauen ließ. Der Schulhof der im Norden gelegenen Schule wird von weißem, sauberen Sand geschmückt, vor den Klassenräumen ist Rasen angepflanzt, der von rotblättrigen Zierpflanzen eingerahmt wird. Sechs Lehrer, ein Rektor und sein Stellvertreter sowie zwei Arbeiter kümmern sich um die knapp 80 Schülerinnen und Schüler. Inzwischen sind die Schulen so stark nachgefragt, dass die Räume nicht mehr ausreichen. Die Schülerinnen und Schüler wurden daher in zwei Gruppen eingeteilt: Die Jüngeren kommen am Vormittag, die Älteren am Nachmittag in den Unterricht. Den Weg über die Sandpisten zurück zur Farm legen sie meist zu Fuß in kleinen, fröhlichen Gruppen zurück, von Weitem schon erkennbar an ihren weiß-blauen Schuluniformen, die jegliches Statusdenken einebnen. Auch in den beiden Dörfern Kingawa und Mwe stellte die Stiftung je ein Schulgebäude zur Verfügung, um die Lebensqualität für die ortsansässige Bevölkerung zu verbessern. Bisher hat das staatliche Schulamt es allerdings noch nicht vermocht, die Schulen auf und neben Ntsio zu akkreditieren. Sie arbeiten daher auf eigene Initiative und Kosten, d.h. die Farmer zahlen Abgaben an die Schulverwaltung, damit die Lehrer ihrer Aufgabe nachgehen können. Deren Einkommen ist in der Praxis also davon abhängig, dass die Farmer ihren Beitrag zuverlässig zahlen und kann daher starken Schwankungen unterliegen. Er dürfte weit unter dem liegen, was die Farmer erwirtschaften werden, wenn sie in die Holzkohleproduktion einsteigen. Nicht verwunderlich also, dass auch Lehrer gerne eine Farm übernehmen würden.

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Oben: Lehrer mit ihren Schülern vor dem Gebäude der im Norden von Ntsio gelegenen Schule. Links: Das Schulgebäude mit einem von den Schulkindern liebevoll gestalteten Vorgarten. Unten: Unterricht im vollen Klassenzimmer und überbordende Freude auf dem Pausenhof.


Analphabetismus stellt in Gesellschaften mit Schriftkultur ein echtes Handycap dar. Darüber kann leicht in Vergessenheit geraten, dass orale Kulturen selbstverständlich Formen der Kommunikation und des sozialen Erlebens praktizieren, die auch in Gesellschaften mit Schriftkultur wertvoll sein können.

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Die Versammlungen der Vereinigungen

Dazu gehört das einprägsame Wiederholen von wichtigen Dingen, auch das gesellschaftlich anerkannte mehrfache Erleben uns berührender Geschichten (Reste davon leben in den Märchen fort, die wir Kindern erzählen, in Theaterbesuchen oder in Fankulturen.). Dazu gehört aber auch das gemeinsame Lernen. Was das heißt, kann man in den Versammlungen der Vereinigungen auf Ntsio erleben. Einmal pro Woche kommen die Vereinigungen zur Versammlung zusammen. Die Teilnehmenden tragen ihre beste Kleidung, die Frauen sind geschminkt. So geben sie der Sitzung eine hohe Bedeutung und Würde. Der Präsident oder einer seiner Stellvertreter eröffnet die Versammlung zunächst mit einer Begrüßung und einem Gebet. Schon hier, wenn die Anwesenden alle in das abschließende Amen einstimmen, wird die Gemeinschaft sinnlich erfahrbar. Die Versammlung der Vereinigung von Dwale, an der wir teilhaben durften, begann mit der Berichterstattung. Der Bewirtschaftungsbeauftragte trug den derzeitigen Kassenstand vor und nannte die Preise, die aktuell in Kinshasa für Maniok, Voandzou, Mais usw. zu erzielen sind. Nach dem Bericht bittet er um Nachfragen. Ein Bauer rügt, dass die Kasse nicht aktualisiert wurde. Die Zahlen stammten von der vergangenen Woche. Der Bewirtschaftungsbeauftragte nimmt die Kritik gefasst entgegen und erklärt, dass die Kassiererin erkrankt ist und deshalb die Kasse nicht aktualisieren konnte. Nachdem alle einverstanden sind, dass dies bis zur nächsten Versammlung nachzuholen ist, kann der nächste Punkt aufgerufen werden, die Ausgabe von Bienenstöcken.


Die Vereinigung hatte beschlossen, Bienenstöcke zu subventionieren, so dass sie diese für umgerechnet 8 $ statt für den Einkaufspreis von mehr als 40 $ an die Bauern ausgeben kann. Ein Bauer beschwert sich, dass er immer noch keinen bekommen habe.

Nun gibt Taty Tandala-Kakenza dem Versammlungsleiter ein Blatt, auf dem die untenstehende Zeichnung zu sehen ist und bittet ihn, diese zu erklären. Dieser besinnt sich kurz und beschreibt anschließend den Zusammenhang zwischen zu dichter Bepflanzung und mangeln-

Andere stimmen zu, die Versammlung wird laut. Der Versammlungsleiter ergreift das Wort, die Teilnehmenden hören aufmerksam zu wie er erklärt, wann die Vereinigung wieder genug Geld haben wird, um weitere Stöcke zu kaufen und wie die Verteilung vonstatten gehen wird.

dem Ertrag. Wer erklärt es noch einmal? Mamie Nsimba, die in der ersten Reihe sitzt, erhebt sich, hält das Blatt trotz aufkommendem Wind würdevoll hoch und erklärt den Zusammenhang zwischen zu dichter Bepflanzung und geringem Maniok- und Holzertrag. Als sie fertig ist, erhebt sich ein Mitglied der Kontrollkommission und erklärt das Papier ein weiteres Mal. Anschließend erhebt sich, und das ist aus den Gewohnheiten einer Schriftkultur heraus nicht zu begreifen, auch der ehemalige Präsident der Vereinigung, um das Blatt zu erklären, ein weiterer Farmer und noch einer. Dabei lauschen alle aufmerksam, als hörten sie es zum ersten Mal. So verfestigt sich in der Gruppe die Botschaft, dass jene, die zu viele Reihen Maniok zwischen den Akazien pflanzen, sich selber schaden, und dass sie sich künftig besser an die Empfehlungen der Agraringenieure halten sollten.

Der nächste Punkt ist das Pflügen. Zweimal im Jahr finden die sogenannten Kampagnen statt, also Pflügen, Ausgabe der Setzlinge (sofern diese nicht von den Bauern selbst produziert werden) und Pflanzung. Nur die Farmen, die mit allen sonstigen Tätigkeiten im Plan sind, bekommen ihre Äcker von einem der Traktoristen gepflügt. Der Versammlungsleiter bittet um Kritik an der vergangenen Kampagne. Ein Bauer meldet sich zu Wort und beschwert sich, dass der Traktorist seinen Acker beim letzten Mal krumm und schief gepflügt hat. Die Baumreihen laufen nun entsprechend unübersichtlich, was ihm die Pflege der Bäumchen und die Anpflanzung von Maniok zwischen den Akazien erschwert. Die Versammlung beginnt wieder, laut zu werden. Taty Tandala-Kakenza , Mitglied der Projektleitung von Muti Idwini, die ebenfalls auf Ntsio angesiedelt ist und den Bauern von Ntsio beratend zur Seite steht, erhebt sich und erklärt, dass die Reihen bei anderen Bauern gerade sind. Dort waren die Bauern erstens während des Pflügens anwesend und zweitens wurden die zu pflügenden, über 200 Meter langen Reihen zuvor übersichtlich mit Pflöcken markiert. Die Kritik des Bauern fällt auf ihn selbst zurück – er hätte rechtzeitig auf seiner Farm sein und den Traktoristen unterstützen sollen.

Der Bewirtschaftungsbeauftragte beendet die Versammlung, indem er fragt, wer das abschließende Gebet sprechen möchte. Ein älterer Herr erhebt sich und spricht es. Nach dem gemeinschaftlichen Amen geht die Versammlung in Gespräche und Gelächter über.


Die Leitung der Vereinigungen 32

AUF NTSIO GIBT ES VIER VEREINIGUNGEN, DIE DAS LEBEN UND WIRTSCHAFTEN REGELN. GANZ BEWUSST WURDE DER BEGRIFF DER VEREINIGUNG DEM DER «KOOPERATIVE» VORGEZOGEN, DA JENER ZU SEHR DAS REIN WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENWIRKEN BETONEN WÜRDE. Die Vereinigungen werden von einem Vorstand und einer Kontrollkommission geleitet. Beide werden jeweils für zwei Jahre gewählt. Eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Nach vier Jahren ist keine weitere Wiederwahl in dasselbe Amt möglich.

Der Vorstand setzt sich aus 8 Personen für 7 Ämter zusammen: 1. Der Präsident repräsentiert die Vereinigung nach außen. Er hat keine Entscheidungsbefugnis, diese obliegt allein den wöchentlichen Vollversammlungen. (siehe Interview Makabi) 2. Der Sekretär verwaltet alle Angelegenheiten der Vereinigungen. 3. Der Kassierer führt die Kasse der Vereinigung und gibt wöchentlich einen Bericht über den Kassenstand. Diese Aufgabe ist besonders sensibel und in der Tat gab es zu Beginn Schwierigkeiten, wenn Kas-

sierer sich selbst eigenmächtig Kredite gewährten. Hier haben die Kontrollkomitees jedoch erfolgreich gegengesteuert. 4. Der Wasserbeauftragte – lädt die Chipkarten der Farmer für die Wasserentnahmestellen auf, sammelt das Geld ein und kauft dafür bei der Projektleitung wieder neue Einheiten ein. 5. Die Vermarktungsbeauftragten 5.1 Der Depotbeauftragte beaufsichtigt das Depot, in dem die gesamte Ernte der Farmen abgegeben werden muss, um registriert zu werden. Nach ihrer statistischen Erfassung können die Farmer sie wieder zu sich nehmen und verkaufen. Allerdings bleiben zwei Sack Maniok pro Hektar als Mitgliedsbeitrag für die Vereinigung im Depot. 5.2 Der Percepteur (Empfänger/Verwalter) unterstützt den Depotbeauftragten bei seiner Tätigkeit und nimmt die vorgeschriebenen zwei Säcke Maniok

Mitgliedsbeitrag pro geerntetem Hektar entgegen, in Naturalien oder in finanziellem Gegenwert. 6. Der Bewirtschaftungsbeauftragte ist der verantwortliche Agronom der Vereinigung. Er hat im Blick, welche Mengen die Farmen erwirtschaften, ob sie jeweils mit den erforderlichen Arbeiten im Plan sind und spricht Farmer an, wenn sie beispielsweise zu dicht pflanzen und damit ungewollt ihre Erträge minimieren. Seine Funktion birgt das größte Konfliktpotential; und er erhält als einziger eine nennenswerte Aufwandsentschädigung. (s. Portrait auf Seiten 42/43 ) 7. Der Solidaritätsbeauftragte vermittelt bei Konflikten, organisiert Hochzeitsfeiern, sensibilisiert für die Gemeinschaftsarbeiten wie zum Beispiel das Entfernen der Unkräuter auf den Gemeinschaftsplätzen, sammelt bei Trauerfällen Geld bei allen Mitgliedern für die Betroffenen und führt die Bevölkerungsstatistik.


Vollversammlung einer Vereinigung

Die Inhaberinnen und Inhaber der Ämter erhalten eine minimale Aufwandsentschädigung; nur der Bewirtschaftungsbeauftragte erhält etwas mehr, da seine Aufgabe sehr zeitaufwändig ist.

Darüber hinaus gibt es ein Beratungskomitee, das sich alle sechs Monate zusammensetzt, und in dem die Chefs Coutumier, die vier Präsidenten und Sekretäre der Vereinigungen, ein Repräsentant der Kommune Maluku (zu dessen Territorium Ntsio gehört) sowie, laut Statuten, der leitende Ingenieur des Projektes, der Geschäftsführer der Stiftung und ein Repräsentant der EU zusammenkommen. So werden die Verantwortlichen und Geldgeber in die Entwicklung des Gebietes eingebunden. Obwohl die finanzielle Förderung von Ntsio 2018 auslief, wurden die Statuten nicht geändert, so dass das Beratungsgremium weiterhin seinen Beitrag zur Stabilität der Vereinigungen leisten kann.

2x

1x

Die Vereinigungen treffen sich regelmäßig einmal in der Woche (!) um die Mittagszeit zum Austausch. Ein gemeinsames Treffen aller Vereinigungen findet nicht statt. Der Austausch zwischen den Vereinigungen wird lediglich durch die Treffen des Beratungskomitees hergestellt. Einmal im Monat trägt die Kontrollkommision ihren Bericht vor. Sie besteht aus drei Personen, einem Vorsitzenden und zwei Mitgliedern. Diese Kommission hat zwar keine Befugnisse gegenüber dem Vorstand, kann aber mit anhaltend negativen Berichten dessen Reputation und Chancen auf eine Wiederwahl beeinflussen.

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Nur eine Stimme pro Farm!

Be wirts ng chaftu

Solid arität Kassierer

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Sekretär Präsident


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Portraits Die nachfolgenden Interviews mit Farmerinnen und Farmern auf Ntsio entstanden zwischen dem 11. und 21. Februar 2019 auf dem Plateau Batéké. Sie wurden überwiegend auf Französisch, teilweise auch auf Lingala geführt. Die Fotografien wurden während der Interviews aufgenommen und spiegeln die große Offenheit der Befragten ebenso wie die Dichte, um nicht zu sagen Intimität der Gespräche wider. Um das Geschenk, das mit diesen Gesprächen verbunden ist, ermessen zu können, muss man wissen, dass kein Fremder im Kongo Einheimische fotografieren kann, ohne die Wut derjenigen zu spüren, die sich die eingesetzte Kamera wohl niemals werden leisten können und erwarten, dass man ihnen für die gemachten Fotografien Geld gibt. Wir danken den Interviewten aufrichtig für ihre – selbstverständlich kostenlose – Unterstützung und Taty Tandala-Kakenza für seine geduldigen Übersetzungen.



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Julienne NGOYA NÄHERT MAN SICH DEM HOF VON JULIENNE NGOYA, FÄLLT ZUERST DIE PENIBLE SAUBERKEIT INS AUGE.


Zwei kleine Katzen spielen auf der Veranda, und in der guten Stube leben zwei Meerschweinchen hinter einer niedrigen Pappbarriere. Ebenso wie die Tiere liebt Julienne Ngoya die Pflanzen. Überall wachsen Gartenkräuter wie Chicota oder Chilabene. Zwischen den Palmen hat sie Pueraria angepflanzt, um damit den Boden zu verbessern. Landwirtschaft auf dem Sandboden der Savanne steht vor großen Problemen: fehlende Nährstoffe, das schnelle Absickern des Regenwassers und die große Hitze des Sandes bei direkter Sonneneinstrahlung. Durch die bodendeckenden Pueraria, die Schatten spenden und an ihren Wurzeln Stickstoff sammeln, kann sie dem entgegenwirken. Für die Bananenpflanzen hingegen hat sie Löcher von ca. 60 cm Tiefe und einer Kantenlänge von über einem Meter ausgehoben. Zur Verbesserung der Bodenqualität werden nun die in großen Mengen anfallenden Rindenstücke der Maniokwurzeln oder auch die Schalen der Palmölfrüchte mit Sand gemischt und in die Löcher gefüllt. Einen bewundernden Blick quittiert sie mit den Worten: Wir haben hier ständig Fortbildungen! An der Rückseite des Hauses stehen Hohlblocksteine. Sie wurden auf Ntsio aus Sand und Zement gefertigt und kündigen das nächste Projekt an: Hier entsteht ein Stall für drei Schweine, die Julienne Ngoya im Alter von ca. 6 Monaten kaufen möchte und die den Grundstein für eine kleine Zucht bilden sollen. Später will sie ihre drei Monate alte Schweine für ca. 50 $ verkaufen. Auf die Frage, wer denn die Schweine schlachten wird, sagt sie: Das kann ich doch wohl selber, ich bin ja schließlich Farmerin!

Julienne Ngoya ist, so sagt sie, in den 40er Jahren geboren und hat 6 Kinder, die in Kinshasa leben. Der schönste Platz ihres Anwesens ist für sie die leicht erhobene Veranda, von der aus sie den Platz und die Wege zwischen den anderen drei Häusern des Camps überblicken kann. Sorgen bereiten ihr vor allem die Transporte der von ihr produzierten Güter. Während der vergangenen Erntesaison hatte es ein Laster nicht rechtzeitig zum Markt in Kinshasa geschafft, so dass die gesamte Lieferung an Voandzou, einer Frucht, die ähnlich wie Erdnüsse an den Wurzeln einer zierlichen, niedrigen Pflanze wachsen, verdarb und die dafür kalkulierten Einnahmen verloren waren. Eine weitere Sorge sind für sie die hohen Kosten und die weiten Wege in das nächste Krankenhaus. Wenn sie ins Dorf fährt, um ihre Ananasfrüchte zu verkaufen und anschließend das Geld in den Händen hält, spürt sie eine große Zufriedenheit und Bestärkung. Sie kann sich dann Kleidung kaufen oder das Geld ihren Kindern geben. Von denen wünscht sie sich, dass sie einmal das Potential von Ntsio erkennen und ihren kleinen Hof weiterführen werden. Mit einem Lächeln sagt die studierte Pädagogin: Das ist mein Testament hier und zeigt dabei mit einer weiten Bewegung ihres Arms auf das üppige Grün des Gartens und der Akazien im Hintergrund.

Oben: bodendeckende Pueraria Darunter: Palmöl wird traditionell aus den Früchten der Ölpalme gewonnen, indem zunächst die faserige, schwarze Schale entfernt und anschließend die essbare, leuchtend orange Frucht in Wasser gekocht wird. Das Wasser entzieht den Früchten das Öl. Nach einer Ruhezeit kann das Öl abgegossen und als Speiseöl verwendet werden. Auf Ntsio wird Palmöl im Rahmen einer nachhaltigen Landwirtschaft gewonnen.


Mamie NSIMBA 38

ALS NTSIO 2013 ALLMÄHLICH KONKRET WURDE, HATTE MAMIE NSIMBA GROSSE BEFÜRCHTUNGEN.

Sie lebte damals in einer bescheidenen Hütte auf dem Plateau Batéké und baute großflächig Maniok an. Seit dem Jahr 2000 war sie geschieden und kämpfte sich als Bäuerin durch. Wenn nun das Projekt ihre Felder zerstören würde, wäre alles aus.

Fufu zu. Ihre Kinder haben Schulabschlüsse in Marketing, Betriebswirtschaft, sind Schneiderinnen oder Elektriker. Alles das konnte sie mit ihrer Farm ermöglichen – noch bevor die erste Holzkohle produziert wurde.

Doch Mamie bekam ein Haus auf Ntsio inmitten der damals von ihr bewirtschafteten Felder und fasste bald Vertrauen. Die Agraringenieure erklärten ihr und den anderen angehenden Farmerinnen und Farmern in mehreren Fortbildungen, wie sie durch eine Verbesserung des Bodens und durch das Nebeneinander von Akazien und Maniok trotz einer Reduzierung der Ackerfläche deutlich mehr Ertrag produzieren würden. Heute baut Mamie in dem Garten hinter dem Haus u. a. Pommes Rouges (Syzygium Malaccense) an, Ananas, Avocados und Safu, eine Frucht, die an Avocado erinnert und mit Pilipili (Chilicreme) gegessen wird. Neben dem Haus sitzt ihre Mutter und bereitet

Der schönste Platz auf der Farm ist für Mamie Nsimba ihr künftiger Rasen. Unter einer schattenspendenden Akazie hat sie Gras gepflanzt, das sich wie Quecken nach und nach netzartig ausbreiten wird. Zu ihren größten Sorgen zählt derzeit, dass der Brunnen seit ein paar Tagen ausgefallen ist. Normalerweise hat sie 250 Meter zur Wasserentnahmestelle, jetzt sind es 750. Alle hoffen, dass die Batterie in den nächsten Tagen ersetzt werden kann. Ein weiteres Problem ist, dass ihre Einkünfte sehr unregelmäßig fließen; je nachdem, was wann geerntet

und verkauft werden kann. Maniok braucht von der Pflanzung bis zur Ernte ca. 12 – 20 Monate, so dass im Prinzip eine kontinuierliche Ernte möglich ist. Früchte sind hingegen am Ende der Trockenzeit kaum verfügbar, so dass die Farmen dann nur wenig Einkommen generieren können. Mehr fällt Mamie zu der Frage nach Schwierigkeiten nicht ein. Stattdessen ist sie stolz auf ihre kleine Baumschule, in der sie selbst Coeur de Boeufs (Annona Muricata) herangezogen hat und auf ihre Akazien, die in zwei Jahren geerntet und zu Holzkohle verarbeitet werden dürfen. Für diese Arbeit wird sie Hilfsarbeiter anstellen. Und von dem Ertrag wird sie später einmal ein Haus für ihre Kinder in Kinshasa kaufen. Ntsio, das wird einmal mehr deutlich, ernährt nicht nur seine Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch deren Angehörige in der Stadt. Und es ist ein Wirtschaftsfaktor für die Dörfer in der näheren Umgebung.


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Martin MUNZIAMI

DAS KNOW-HOW DER WASSER-, AGRARINGENIEURE UND VETERINÄRE KONNTE AUF NTSIO EBENSO WIE DAS INVESTIERTE KAPITAL NUR DESHALB SEINE VOLLE WIRKUNG ENTFALTEN, …


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… weil es Menschen gab und gibt, die die moderne Technik mit dem traditionellen Brauchtum versöhnen, indem sie beides leben. Zu ihnen zählt der Notable Martin Munziami. Martin Munziami wurde 1952 in Mwe geboren und ging in Kinshasa zur Schule. Er ist der kleine Bruder des aktuellen Chefs Coutumier und zählt zu seinen Vertrauten (Notable), die er in unregelmäßigen Abständen zu sich ruft, um sich mit ihnen zu beraten. Mit dabei ist auch die erste Frau des Chefs Coutumier, die sich in diese Beratungen einbringt und ihren Mann während seiner Abwesenheit teilweise vertritt. In Mwe hat Martin eine Hütte, in der er sich regelmäßig aufhält. Den Weg über die Sandpisten zu seiner Farm auf Ntsio legt er mit seinem Motorrad zurück. Auf der Farm fällt ein Unterstand auf, der zentral vor dem Haus platziert ist: In ihm befindet sich eine motorbetriebene Mühle. Mit ihr können Maniok und Mais zu Mehl verarbeitet werden. Von diesen Mühlen gibt es aktuell nur drei auf Ntsio. Traditionell wird das Mehl in Holzmörsern hergestellt, indem die Maiskörner oder Maniokstücke dort mit großen, schweren Holzstangen zerstoßen werden. Für die Herstellung von großen Mengen qualitativ hochwertigen und homogenen Mehles sind Mühlen jedoch besser geeignet. Jene Farmer, die Mehl produzieren wollen, müssen sich also an die stolzen Mühlenbesitzer wenden und gegen eine Bezahlung mahlen lassen. Auf dem Hof von Martin ist daher immer wieder viel Betrieb, so dass er meist als einer der ersten mitbekommt, wenn es Neuigkeiten gibt. Martin ist zu recht stolz auf seine Mühle, denn sie läuft bei ihm seit Jahren zuverlässig, weil er sie stets gut pflegt und nicht, wie andere es taten, aus überzogenem Gewinnstreben überlastete. Martin ist zufrieden mit seinem Leben. Diese Zufriedenheit ist deutlich spürbar und überträgt sich auf die Kinder, die ruhig in der Hütte sitzen, während wir miteinander sprechen. «Womit soll ich unzufrieden sein? Ich arbeite, ich habe gut zu essen – was soll mir fehlen?»


Jean-Claude MUKOLONGO

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DAS SCHLIMMSTE ERLEBNIS IN SEINER AMTSZEIT ALS BEWIRTSCHAFTUNGSBEAUFTRAGTER WAR, DASS EIN ERBOSTER FARMER IHN BIS NACH HAUSE VERFOLGTE UND MIT GEWALT BEDROHTE. Der Farmer hatte die von der Vereinigung vorgeschriebenen Arbeiten nicht rechtzeitig erledigt – daher hatte die Vereinigung beschlossen, seine Äcker nicht pflügen zu lassen. Der Entzug des Rechts auf das Pflügen ist (bis der erste Aufforstungszyklus abgeschlossen ist) die schärfste Sanktionsmöglichkeit der Vereinigungen. Aber nur so können sie sich die erforderliche Autorität verschaffen. Aus Sicht des Farmers war dies jedoch ungerecht. In den wöchentlichen Ver-

sammlungen echauffierte er sich, dass er die vorgeschriebenen Arbeiten gar nicht hatte erledigen können, denn schließlich hatte er einen Leistenbruch. Zum Beweis riss er sich die Hose herunter und zeigte vor der gesamten Versammlung sein Leiden. Nach diesem Vorfall wollte Jean-Claude Mukolongo keinesfalls eine zweite Amtszeit als Bewirtschaftungsbeauftragter absolvieren, sondern nach zwei Jahren aufhören. Mukolongo hatte nach seinem Studium zunächst in Lubumbashi als Veterinär gearbeitet und war dann noch zu

Zeiten Laurent-Désiré Kabilas Angestellter in einem staatlichen Landwirtschaftsinstitut in Kinshasa gewesen. Aufgrund der politischen Unruhen nach der Ermordung Kabilas verlor er 2001 seine Anstellung. Später arbeitete er fünf Jahre lang auf Mampu (Beschreibung siehe S. 12). Aufgrund dieser räumlichen Nähe hatte er früh von Ntsio erfahren, sich bei dem Chef Coutumier von Mwe als Farmer beworben und anschließend den erforderlichen Test leicht bestanden.

Als Mukolongo nicht mehr für das Amt des Bewirtschaftungsbeauftragten kandidieren wollte, versuchten die Mitglieder der Vereinigung ihn zu überreden und baten ihn, dies trotz des oben beschriebenen Vorfalls dennoch zu tun. Doch er wollte nicht. Schließlich packten ihn einige Farmer während einer Versammlung, trugen ihn nach vorne, stellten ihn vor den Mitgliedern auf und präsentierten ihren vermeintlichen Kandidaten. Doch Jean-Claude Mukolongo hatte Angst um seine Kinder und brach in Tränen aus. Die


Jean-Claude mit seiner Frau Mafuta Yama Mukolongo

Versammlung erkannte ihren Fehler und tröstete ihn. Sie mussten eine andere Lösung finden. Die kam von unerwarteter Seite: Der Chef Coutumier von Mwe suchte Jean-Claude auf und besprach mit diesem lange die Lage, bis er schließlich doch einwilligte und ein zweites Mal kandidierte. Heute ist Jean-Claude zufrieden mit der Vereinigung und ihren Fortschritten. Doch im Rückblick wird klar, dass viele Sitzungen nötig gewesen waren, bis wirklich alle Mitglieder die Selbstdisziplin und die Kenntnisse hatten, um eine

konstruktive Gruppendynamik in Gang zu bringen, anstatt die Sitzungen in Streit und Chaos untergehen zu lassen. Genau dieser gemeinsame Lernprozess aber macht das Besondere des Zusammenlebens auf Ntsio aus: Die Vereinigungen sind unter Schwierigkeiten zusammengewachsen, und gerade deshalb tragfähige solidarische Netzwerke. Man spürt das sofort, wenn die Nachbarn zusammenkommen; sei es, weil einer einen Reifen flicken muss, das Werkzeug nicht hat und sich dann selbstverständlich auf der Terrasse

desjenigen, der das Werkzeug besitzt, einrichtet; sei es, wenn jemand eine Runde Palmwein ausgibt und alle, die zufällig vorbeilaufen, eingeladen werden im Schatten der Akazien Platz zu nehmen, welche den geräumigen Hof der Mukolongos umsäumen. Über den Hof huschen Hennen mit ihren Küken, eine Katze döst in der Mittagssonne, hinter dem Haus steigt der säuerliche Geruch des Maniok auf, der in blauen Fässern drei Tage lang in Wasser liegt, um seine Säure abzugeben, bevor er auf Holzgestellen zum

Trocknen ausgelegt wird. Zuckerrohr schaukelt im Wind, umgeben von Kürbispflanzen, deren junge Blätter ebenfalls gegessen werden, dahinter vier verschiedene Bananensorten, Zitronen, Pampelmusen, Orangen, Mango und Feigen. Jean-Claude Mukolongo möchte seine Farm und das Leben hier gegen nichts anderes eintauschen – mit Nachdruck sagt er: «Unsere Kinder sind kerngesund, denn wir haben hier das beste Essen – alles frei von Chemie!»


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DER SCHÖNSTE ORT SEINER FARM IST FÜR IHN DER STREIFEN AKAZIEN, DEN ER 2016 GEPFLANZT HAT.


Wer aus dem gleißenden Sonnenlicht in den Schatten dieses lichten Waldes eintritt, fühlt sich seltsam beschützt und aufgenommen von dem Dach aus bizarr gebogenen Akazienästen. Der Boden darunter ist bereits von einer dichten Blätterschicht bedeckt, die den Sand der Savanne in fruchtbaren Waldboden verwandelt. Hier siedeln sich Insekten und Vögel an, die aufgrund der schwindenden Urwälder selten geworden sind, und Antilopen verbergen sich darin. «Hier spüre ich den Wald wachsen», sagt Belly. Seine Familie sieht er alle zwei Wochen für vier Tage. Dann fährt er nach Kinshasa, wo seine älteren Kinder zur Schule gehen. Die Ferien jedoch verbringen sie hier draußen bei ihm. Mit dem, was der 40jährige auf Ntsio verdient, kann er ihnen eine gute Ausbildung ermöglichen. Begeistert zeigt er auf seiner Farm die verschiedenen Obstbäume und deren Größenunterschiede. An einem besonders großen Safu-Baum erklärt er schmunzelnd, dass hier früher sein Toilettenhäuschen stand. Nun wandert es allmählich weiter und hinterlässt seinen Segen. Seit 2013 ist der schmale, blitzgescheite Mann der Finanzbuchhalter von Ntsio: Nach seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre in Kinshasa war er unter anderem

Assistent der Leitung auf Mampu, von wo er nach Ntsio wechselte. Er ist begehrt, aber das steigt ihm nicht zu Kopf, im Gegenteil. Eines Abends fragt er uns, ob wir etwas aus dem Dorf bräuchten, er müsse schnell dort hin. Wir brauchten nichts und er sprang davon. Am nächsten Tag erzählte er, dass er eine Farmerin mit einem der zwei auf Ntsio befindlichen Autos zur Entbindung in die Krankenstation von Kingawa gebracht hatte. Drei Minuten nach ihrer Ankunft kam das Baby gesund zur Welt. Wäre das unterwegs passiert, würde es heute wohl (aus Dankbarkeit) seinen Namen tragen. Es wäre nicht das erste Mal … Belly Kimwanga-Nakafakwu muss lange nachdenken, bevor er etwas findet, was ihm auf Ntsio missfällt. «Vielleicht das Unkraut, das ständig wächst, auch wenn man regelmäßig jätet.» Lieber schaut er auf das Positive und nach vorne: Er könnte sich gut vorstellen, irgendwann noch ein Masterstudium dranzuhängen. Ob er nach Europa wolle? Ja, vielleicht. Der Städtebau dort würde ihn interessieren. Seine Kinder hingegen sollten durchaus in Europa studieren – und dann zurückkommen, um dieses Land hier aufzubauen.


Bernadette LUMINGU 46

DIE FRAU MIT DEN LEBENSFROHEN AUGEN RINGT MIT SICH: SEIT VIER JAHREN IST SIE DAS EINZIGE WEIBLICHE MITGLIED IN DER KONTROLLKOMMISSION IHRER VEREINIGUNG.

Eine Wiederwahl ist für die gelernte Informatikerin laut den Statuten nicht möglich. Daher spielt sie mit dem Gedanken, für das Amt der Präsidentin der Vereinigung zu kandidieren. Sie kann nicht gut von der Arbeit für die Vereinigung loslassen. Sie ist einfach zu stolz darauf, diese von Anfang an mit aufgebaut zu haben. Noch ist sie am Zweifeln. In den vergangenen Monaten konnte sie nicht auf der Farm arbeiten, weil sie krank war. Nun hat sie viel aufzuholen. Ihr Sohn ist mit aus Kinshasa auf die Farm gekommen, um sie zu unterstützen. Je mehr Hände in den Familien mit anpacken, desto mehr Geld bleibt ihnen. Jene Farmer hingegen, die viele Arbeiten fremdvergeben, zahlen am Ende drauf. Doch es ist schwer, die Kinder um Hilfe zu bitten, denn sie sollen

schließlich ihre eigenen Wege gehen. Ihre Tochter beispielsweise studiert Medizin im 300 km entfernten Kikwit. Ausgeschlossen, dass sie ihr helfen könnte. Ihr Sohn aber könnte vielleicht irgendwann selbst Farmer werden. Bernadette Lumingu ist schon viel herumgekommen in ihrem Leben, hat lange bei Unilever (Palmölproduktion) in der Finanzverwaltung des Unternehmens gearbeitet, damals, noch unter Mobutu, als das Land Zaire hieß. Nun wird sie bald ihr eigenes Palmöl ernten können, an dem es auf Ntsio allgemein noch mangelt. Zu ihren aktuellen Sorgen zählt, dass ihr Chip für die Wasserentnahme defekt ist, und sie immer den Nachbarn darum bitten muss, den seinen ausleihen zu dürfen. Außerdem hat sie in der Vergangenheit Pech gehabt, dass der Traktor zum Pflügen bei ihr erst gegen Ende der Kampagne (Pflanzsaison) ankam, was sie erheblich unter Zeitdruck setzte.

Diese Sorgen sind aber nichts gegen die Freude, die ihr die Imkerei macht – was sie spontan dadurch unterstreicht, dass sie uns eine Whiskey-Flasche schenkt: randvoll mit bestem Akazienhonig gefüllt. Die Anzahl ihrer Bienenstöcke würde sie gerne erhöhen. Sie wird daher den Gedanken in die Vereinigung einbringen, dass die Vereinigungen den Farmern Kredite geben sollten, um den Kauf derselben zu erleichtern. Ansonsten wartet sie, wie alle hier, auf die erste Ernte Holz. Von dem Geld will sie dann Tiere kaufen, erst Hasen, später auch Schweine. Hühner hat sie schon. Und die Mobilität erhöhen; zuerst mit einem Motorrad, später vielleicht sogar mit einem Auto. Auf jeden Fall, das ist leicht auszurechnen, wird sie bald mehr verdienen als ihr Mann als Lehrer in Kinshasa. Und vielleicht die erste Präsidentin einer der vier Vereinigungen werden? Wer weiß. Spaß hätte sie daran, allen Zweiflern zu beweisen, dass Ntsio auch ohne Unterstützung von außen funktionieren wird.


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Präsident Marcellin MAKABI DER PRÄSIDENT DER VEREINIGUNG VON WOLIMBWA IST EIN NACHDENKLICHER, ZURÜCKHALTENDER MANN.

Seit dem Beginn der Selbstverwaltung 2014 hat er dieses Amt nun inne, ist also der erste gewählte Präsident der Vereinigung. Im April ist dann Schluss. Es werden Neuwahlen stattfinden, eine Wiederwahl ist für ihn nicht möglich.

geklaut! Viel günstiger wäre es, wenn ein Laster nach Ntsio käme, im Depot alle Säcke vorsortiert vorfinden würde und sie dann laden könnte, ohne erst von Farm zu Farm fahren und diese mühsam einzusammeln zu müssen.

Marcellin Makabi ist stolz auf das, was sie in der Vereinigung erreicht haben. Aber er sieht auch klar die Herausforderungen, die vor ihnen liegen.

Noch besser wäre es, wenn die Vereinigungen von Ntsio ein eigenes Label hätten und normierte Säcke. Dann würde sich die hohe Qualität des hier produzierten Manioks oder besser noch des Mehles herumsprechen und die Nachfrage erhöhen. Zugleich würden dadurch auch die Vereinigungen an Bedeutung gewinnen, weil die Farmer durch sie finanzielle Vorteile in der Vermarktung hätten. Im Moment aber bringen die Farmer ihre Säcke nur für die Statistik in das Depot, holen sie gleich wieder ab und vermarkten sie selbst,

Da ist an erster Stelle die Vermarktung. Diese findet derzeit noch zu 100% durch die Farmer selbst statt. Jeder fährt auf eigene Rechnung mit zwei Sack Maniok in die 250 km entfernte Hauptstadt Kinshasa oder gibt sie einem LKW mit. Wenn der Wagen eine Panne hat, verschimmelt die Ware oder wird vom Laster

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weil sie dringend Geld benötigen. Marcellin Makabi hofft, dass sich das ändert, wenn die Farmer durch die Produktion von Holzkohle ein dickeres finanzielles Polster haben werden. Doch er denkt noch viel weiter in die Zukunft: Wir sollten hier Markttage organisieren, an denen die Bevölkerung aus Kingawa zu uns kommt, unsere Produkte kauft und vielleicht auch selbst Marktstände aufbaut. Dann werden wir Transportkosten sparen, weil die Leute zu uns kommen und hier einkaufen. An dieser Stelle bringt sich André Mantwidi, einer der beiden Vermarktungsbeauftragten von Wolimbwa, in das Gespräch ein. Er erklärt, wie der Teil der Ernten, der nicht zuvor durch den Eigenkonsum aufgebraucht wurde, statistisch erfasst wird und wie die Mitgliedsbeiträge eingenommen werden. Die Vereinigungen sind vollkommen transparent. Auf großen Schautafeln kann jeder nachvollziehen, welche Farmerinnen und Farmer ihre Pflanz- und Aussaatkampagnen absolviert haben, wer seine Beiträge in Form von Maniok oder Geld bezahlt hat und wer noch welche Rückstände offen hat. Die vollkommene Transparenz ist eine große Stärke der Vereinigungen, ist Ansporn und soziale Kontrolle zugleich. Weitere Betätigungsfelder der Vereinigungen sieht Marcellin Makabi insbesondere im Brandschutz. Auf Mampu ist es vorgekommen, dass in wenigen Stunden

1.300 Ha Akazien niederbrannten. Auf Ntsio sollten deshalb die Feuerschneisen zwischen den Farmen verbreitert und mit den Traktoren das vertrocknete Gras untergepflügt werden. Auch den Analphabetismus würde er gerne bekämpfen. Und eine Krankenstation bauen. Derzeit fahren die Frauen zur Geburt über die holprigen Sandstraßen in das Dorf Kingawa; nicht immer kommen sie dort rechtzeitig an, sondern bekommen ihre Kinder unterwegs. Würde Marcellin Makabi seine Farm denn für eine Farm auf Mampu eintauschen wollen, wo es diese bessere Infrastruktur bereits gibt und die Farmen 25 statt 17 Ha groß sind? «Nein, auf keinen Fall. Hier haben wir immer Wasser in nur 250m Entfernung. Wasser ist Leben! Auf Mampu ist es während der Trockenzeit wirklich schwierig. Außerdem ist das große Plus von Ntsio, dass wir hier die Vereinigungen haben. Die Vereinigungen besitzen die Farmen, nicht wie auf Mampu, wo die Farmer zugleich die Eigentümer sind. Dadurch müssen wir zusammenhalten, und das tun wir auch. Wer alleine ist, ist schwach.» Ntsio gibt es schon seit 2013, er selbst ist seit 2014 hier. Bereits jetzt, obwohl die Farmer doch in der Hauptsache nur Maniok für den Verkauf produzieren, haben sie schon viel erreicht. «Wenn wir erst Makala hergestellt haben, werden wir Ntsio noch viel weiter entwickeln.»


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André MANTWIDI, ein Vermarktungsbeauftragter von Wolimbwa, zwischen Manioksäcken und neuen Bienenstöcken

In einer Gesellschaft mit schwachen staatlichen Strukturen und geringem Rechtsschutz ist der Druck enorm, alles, was zu Geld gemacht werden kann, möglichst schnell zu vermarkten – bevor ein anderer es raubt, ohne belangt werden zu können. Dieser Reflex, möglichst viel möglichst sofort zu kommerzialisieren, setzt sich bis in die Anbaumethoden fort: Wenn zwei Reihen Maniok zwischen den Akazien gut gedeihen, warum dann nicht auch drei oder gar vier? Wenn Akazien nach zehn Jahren gefällt werden sollen, warum dann nicht schon nach neun oder nach acht Jahren? Die Vereinigungen versuchen dieser Logik entgegenzusteuern und die Qualität der Produkte ebenso wie die Produktivität der Farmen zu erhöhen.

Ein Beispiel: Je dichter Maniokpflanzen gesetzt werden, desto mehr Pflanzen passen auf ein Feld. Allerdings werden die Wurzeln dadurch kleiner. Viele kleine Wurzeln bringen aber nicht mehr Erntegewicht als wenige große. Im Gegenteil – kleinere Wurzeln kosten in der Weiterverarbeitung mehr Zeit: Es müssen mehr Pflanzen gerodet, mehr Wurzeln geschält werden und es entsteht mehr Ausschuss, weil zu kleine Wurzeln gar nicht verwendet werden können. Am Ende haben jene, die weniger Pflanzen gesetzt haben, mehr Ertrag in kürzerer Zeit erwirtschaftet. Leider sehen nicht alle Farmer diesen einfachen Zusammenhang ein. Für die Vereinigungen ist es aber

unerlässlich, dass ihre Mitglieder ungefähr auf dem gleichen ökonomischen Niveau arbeiten, damit nicht langfristig Neid und Missgunst Einzug erhalten. Daher beschließen die Vereinigungen in den wöchentlichen Vollversammlungen immer wieder Maßnahmen, um alle Mitglieder zur Einhaltung der Regeln zu bewegen. Dazu können auch Sanktionen dienen, etwa, dass bestimmte Farmen keine Samen, Pflanzen oder keine Bienenstöcke erhalten, dass ein Verbot der Maniokernte oder der Holzverkohlung verhängt wird, dass die Felder nicht gepflügt werden oder, als härteste Maßnahme, dass die Farm entzogen wird. Dies ist aber bisher auf ganz Ntsio insgesamt erst zehn Mal vorgekommen.


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Taty TANDALAKAKENZA


«ZEIGE IN DEM HEFT, DASS DIE FARMER HIER EINE GROSSE WERTSCHÄTZUNG FÜR DIE STIFTUNG EMPFINDEN! SIE HAT EINE GANZE GENERATION AUF DEN WEG GEBRACHT. WAS WÄRE ICH OHNE SIE? ICH HÄTTE NICHT STUDIERT. NUR DURCH DIE STIFTUNG KONNTEN DIE LEUTE MAMPU WIEDER NUTZEN. SIE IST ABSOLUTES VORBILD.»

Taty Tandala-Kakenzas Vater war Brückenbau- und Straßeningenieur auf Mampu, wo Taty aufgewachsen ist. Schon früh erkannte sein Vater dessen Liebe für Tiere und überließ ihm die Verantwortung für jene auf der Farm. Taty studierte dann in Kinshasa Tiermedizin und kehrte anschließend nach Mampu zurück, bis er schließlich auf Ntsio in das Team der Projektleitung kam. Dort übernahm er in den Anfangsjahren von Ntsio u. a. die inzwischen eingestellte Schweinezucht. Inzwischen arbeitet er in der Leitung des Nachfolgeprojektes Muti Idwini. Der stets zu Scherzen aufgelegte Mann liebt die Herausforderung und hat ein sagenhaftes Gefühl für Flora und Fauna. Es gelang ihm, eine Bambusart anzupflanzen, die eigentlich nicht mit dem Boden auf Ntsio zurecht kommt. Die von ihm gezogenen Maniokwurzeln schlagen alle Größenrekorde und seine Akazien fallen auch dem Laien sofort ins Auge, weil

sie extrem gerade wachsen. «Ich bin ein Kind der Akazien», sagt er, und das gilt in doppeltem Sinne. Zum einen konnte sein Vater durch die Erträge der aus den Akazien von Mampu gewonnenen Holzkohle das Studium seines Sohnes finanzieren. Daher rührt auch die tiefe Loyalität Kakenzas zu Mampu. Zum anderen aber lernte er von klein auf den Umgang mit diesen Pflanzen und hat dadurch eine ökologische Intelligenz entwickelt, die ihn erfolgreich und zum Vorbild für andere macht. «Als wir hier anfingen, waren Stallhasen unbekannt. Doch die Farmer brauchten Proteine. Also schlug ich ihnen vor, Hasen zu halten. Doch die kannten sie nicht und ekelten sich davor, weil sie die Hasen für eine Rattenart hielten. Also schlachtete ich ein paar und machte eine große Verkostungsaktion.» Inzwischen sind auf fast allen Farmen Hasen zu finden. Taty Tandala-Kakenza will anderen Vorbild sein und sie anspornen. Mit Bernadette Lumingu diskutiert er

lange die Frage, ob sie Präsidentin ihrer Vereinigung werden will. Den Farmerinnen und Farmern sagt er immer wieder, sie sollen ihre Kinder nicht nur in die Stadt schicken zum Studieren, sondern herholen und arbeiten lassen. Je mehr Familienmitglieder auf der Farm helfen, desto weniger Geld fließt an die Leiharbeiter und kann reinvestiert werden. Außerdem lernen die Kinder nur so die Landwirtschaft von innen kennen und können vielleicht motiviert werden, selbst eine Farm zu übernehmen. Schickt die Kinder nicht in die Stadt und in die Büros, holt sie her und lasst sie hier leben. Würde er gerne nach Europa? Ja, um dort die Schweinezucht kennenzulernen sowie – darauf legt er besonderen Wert – Rezepte für deren gesunde Zubereitung. Auf die Frage, ob er sich denn vorstellen könne, in Europa zu leben, reagiert der stets bestens über das politische Geschehen in Afrika und Europa Informierte geradezu empört: «Was soll ich da? Ich will doch kein Sozialfall werden!»

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Arbeit auf NTSIO TRADITION UND MODERNE REICHEN SICH AUF NTSIO DIE HAND.

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Maniokmehl wird entweder in Holzmörsern gestampft oder in einer der drei motorbetriebenen Mühlen gemahlen. In Wasser gekocht wird es zu Chikwangue geformt und in Bananenblätter «eingenäht», um anschließend vermarktet zu werden. Wasser ist zwar reichlich vorhanden, doch gleichwohl kostbar. Es muss an den Wasserentnahmestellen zu Fuß geholt und mithilfe eines USB-Sticks bezahlt werden. Noch werden die Akazien aus den Plantagen nicht gerodet. Dort, wo einzelne Exemplare jedoch an den Rändern der Höfe stören, werden sie mit der Axt gefällt. Dabei verlangt das harte Holz, das in etwa mit dem von Buchen zu vergleichen ist, den Arbeitern viel ab. Eine der begehrtesten und angesehensten Arbeiten ist das Pflügen mit den Traktoren. Bald jedoch werden alle Flächen von Ntsio zum ersten Mal mit Akazien bepflanzt worden sein. Danach muss nicht mehr gepflügt werden, weil der Boden reich mit Akaziensamen bedeckt sein wird.

WER TUT WAS AUF NTSIO?

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Godéfroid BASEKA NTUMBA Techniker Wasserversorgung

Martin NKOY MALEMBE Fahrer und Ausbilder

Olivier NKEBI NGOMA Chefmechaniker

Glody MABIALA DWAMA Mechaniker

Pierre MATUNGULU LUPAMBWA Leiter Baumschule


Links: Getrockneter Maniok wird zu feinem Mehl verarbeitet. Oben: Herstellen von Chikwangue – das zu einem Kloß verarbeitete Maniokmehl wir in ein Bananenblatt eingewickelt und mit einem Lianenfaden fixiert. Mitte rechts: Der Savannenboden wird umgepflügt. Mitte unten: Roden einer einzelnen Akazie, um mehr Platz auf einem Hof zu schaffen. Rechts: Wasser holen an der Wasserentnahmestelle.

Chançard KIFU HAMBA Agronom

Serge MABANZA KUYUNZA Wachmann Tag

Camille MUBA IBAKALI Wachmann Nacht

Belly KIMWANGA NAKAFUAKU Buchhaltung

Benjamin „Taty“ TANDALA KAKENZA Projektkoordinator

Dally MUPEPE NGANZOBO Traktorist


und Aufgaben 56

NTSIO IST SEIT JANUAR 2019 FINANZIELL EIGENSTÄNDIG UND SELBSTVERWALTET

Im April 2019 fanden in allen vier Vereinigungen die Wahlen der Vorstände statt. Alle Ämter konnten besetzt werden, die Selbstverwaltung funktioniert. Gleichwohl könnte es in Zukunft sinnvoll sein, Beratung oder Fortbildungen zu Gruppenmoderation oder Konfliktmediation anzubieten. In der Baumschule von Ntsio werden auch Jugendliche ausgebildet, die in Kinshasa auf der Straße lebten und dort von einer caritativen Organisation betreut wurden. Im Rahmen des Projektes Muti Idwini werden gerodete Flächen in den Urwäldern an den Hängen des Kwango aufgeforstet. Diese Flächen können sich nicht oder nur sehr langsam regenerieren, weil sie nach der Rodung abgebrannt und mit Maniok bepflanzt wurden, so dass die Samen und Schößlinge der Urwaldbäume konsequent vernichtet wurden. Hier müssen Maßnahmen sehr gezielt ansetzen, um dem Wald erneut eine Chance zu geben. Der gute Ruf von Ntsio hat dazu geführt, dass sich rund um das Gebiet Bauern ansiedelten, die – ohne profunde Kenntnisse landwirtschaftlicher Zusammenhänge – darauf vertrauten, dass Maniok vom Plateau Batéké zwangsläufig eine herausragende Qualität haben müsse. Dies ist natürlich nicht der Fall, da der karge Boden der Savanne nicht die erforderlichen Nährstoffe beinhaltet. Diesen Bauern sind die elementaren Kenntnisse des Ackerbaus zu vermitteln. Darüber hinaus ist das Zusammenwirken mit den Farmern auf Ntsio zu regeln, um Spannungen vorzubeugen. Weitere Aufgaben, die allerdings nicht notwendig externe Expertise erfordern, sind die Entsorgung von Müll, der mit zunehmender Kaufkraft der Farmerinnen und Farmer anwachsen wird und die gemeinsame Vermarktung der Produkte von Ntsio, deren Standardisierung, die Entwicklung einer eigenen Marke und die Verbesserung des Transportes zu den Märkten und in die Hauptstadt.


Prinzipien operativer Entwicklungsarbeit OPERATIVE ENTWICKLUNGSARBEIT HEISST, SELBST VOR ORT TÄTIG ZU SEIN UND MIT DEM EIGENEN KNOW-HOW, DER EIGENEN AUTORITÄT UND …

… gemeinsam mit lokalen Partnern direkt zu wirken. Diese Partner können staatliche Organisationen sein, Unternehmen und Verbände oder Einzelpersonen. Die Hanns-Seidel-Stiftung ist auf allen drei Ebenen aktiv; sie kooperiert u. a. mit dem Umweltministerium, mit NGOs aus der Region und mit Einzelpersonen, die sie z. B. ausbildet und in die Projektarbeit integriert. Damit kommt ein Höchstmaß der eingesetzten Mittel auch tatsächlich vor Ort an. Entwicklungsarbeit darf diesem Verständnis zufolge niemals eindimensional sein, sondern muss mindestens auf drei Ebenen wirken: ökonomisch, sozial und weiterbildend. Die Farmerinnen und Farmer von Ntsio betonen immer wieder, dass sie keine Bauern (Paysans) sind sondern Farmer, weil sie ausgebildet wurden. Sie sind schon jetzt, bevor die erste Makala (Holzkohle) vermarktet werden konnte, der Armut entkommen und finanzieren ihre Familien in der Hauptstadt. Und sie bilden in den Vereinigungen Solidargemeinschaften, in denen sie Verantwortung übernehmen und Eigeninitiative entwickeln. So geht allmählich die Autorität der Projektleitung auf die Vereinigungen über, und der gewiss nicht immer ganz einfache Prozess des Loslassens beginnt. Eine vierte Ebene der Entwicklungsarbeit auf Ntsio liegt auf der Hand: die ökologische. Das Aufforstungsgebiet ist inzwischen Rückzugsgebiet zahlreicher Vogelarten geworden und bietet unter anderem Antilopen Schutz. Das Holz der ersten Akazien wird in Kürze zu Holzkohle verarbeitet werden und damit einen aktiven Beitrag dazu leisten, dass weniger Urwälder zur Versorgung von Kinshasa mit Brennmaterial gerodet werden müssen.

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Ein zeitlicher Überblick POLITIK

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MAMPU

Gründung von Zaire

POLITIK

Ermordung des 1. Gewählten Präsidenten, Patrice Lumumba,durch amerikanische und belgische Geheimdienste

30. Juni 1960

17. Januar 1961

MAMPU

Die niederländische HVA erhält 8000 Ha Land zur Bepflanzung mit Akazien.

1965

POLITIK

POLITIK

Unabhängigkeit des Kongo

Die HVA schließt ihre Büros in Kinshasa und gibt die Plantage auf dem Plateau auf.

Putsch und Machtübernahme durch General Mobutu

1971

1977

1987

1991 bis 1993

1993

POLITIK

Laurent Desirée Kabila durchquert von Ruanda aus mit Kindersoldaten den Kongo und vertreibt Mobutu. Zaire wird zur Demokratischen Republik Kongo.

1995

MAMPU

MAMPU

Staatlich initiierte Versuche zur Züchtung von Akazien, die auf dem Plateau Batéké wachsen können.

Plünderungen in Kinshasa und Umgebung aus Protest gegen die politischen und sozialen Verhältnisse

MAMPU

Die HSS unterzeichnet mit dem Umweltministerium einen Vertrag zur Erhaltung der Plantage.

1997


NTSIO

Ntsio geht im Dezember in die Selbstverwaltung über.

POLITIK

POLITIK

2006

Die für Dezember vorgesehenen Wahlen finden nicht statt.

2009

POLITIK

Ermordung Kabilas durch einen ehemaligen Kindersoldaten. Sein Sohn Joseph tritt interimsweise an seine Stelle.

Die Wahlen finden zunächst nicht statt, werden auf den 30.12. verschoben.

POLITIK

Wahl von Joseph Kabila zum Präsidenten

2001

2011

2013

NTSIO

Start von Ntsio

MAMPU

Übergabe von Mampu in die Hände der Siedlerorganisation.

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POLITIK

Wiederwahl von Joseph Kabila

GUNGU

Start von Gungu II

2016

2017

2018

2019

2019

NTSIO/GUNGU

POLITIK

Muti Idwini dockt an beide Projekte an.

Nicht aufgeklärte Ermordung zweier UNErmittler. Die für Dezember vorgesehenen Wahlen finden nicht statt.

POLITIK

Felix Tshisekedi wird zum Präsidenten ernannt

GUNGU

Start von Gungu I

BESUCH

auf Ntsio und Beginn der Arbeit an dieser Broschüre.

Manuel Dorn Fotograf und Filmemacher

Prof. Dr. Ralf Vandamme Politikwissenschaftler, lehrt an der Hochschule Mannheim


Unterstützt von: Herausgegeben von: Hanns-Seidel-Stiftung e. V. Lazarettstraße 33 80636 München Telefon: +49 89 1258-0 www.hss.de


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