Ist die einheitskasse das richtige rezept

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«Pseudo-Wettbewerb» bei

Ist die Einheit richtige R In der kommenden Abstimmung geht es um eine Grundsatzfrage: Soll das heutige System mit privaten Krankenkassen abgeschafft werden – zugunsten einer staatlichen Kasse? Der Hintergrund der

Diskussion sind stetig steigende Kosten. Und das heutige System leidet darunter, dass sich Kassen die «guten Risiken» abjagen. SonntagsBlick hat einen Gegner und einen Befürworter der Einheitskasse besucht.

«Auch ohne die Einheitskasse sinkt in den nächsten Jahren die Zahl der Krankenkassen»

Fotos: Stefano Schröter, Dominik Plüss, Keystone

S

tephan Wirz (32) ist Mitglied der Geschäftsleitung des Maklerzentrums, einer Beratungsfirma in Basel. Er weiss aus seinem Alltag, wie Krankenkassen versuchen, ihre Risiken möglichst klein zu halten. Zunächst überprüfen sie heute die Rechnungen sehr genau. Doch sie gehen noch einen Schritt weiter. «Bei günstigen Kassen ist es oftmals so, dass es keine Ansprechpartner gibt, keine Beratung oder telefonische Hotline.» Wenn eine Krankenkasse aber nur online erreichbar ist, dann ist diese für die älteren, oftmals teureren, Kunden weniger attraktiv. Das Krankenkassen-Spezialist Stephan Wirz (32): Er sieht die Defizite im System.

Gleiche passiert, wenn Kassen von ihren Kunden verlangen, dass sie die Arztrechnungen zuerst selber bezahlen – auch das schreckt teure Patienten ab. Genau dieses System wird derzeit stark kritisiert. Die Initianten einer Einheitskasse stören sich daran, dass sich die Kassen mit teuren Werbekampagnen die «guten» Risiken abwerben. Für Wirz aber ist der Schluss, dass es deshalb eine Einheitskasse brauche, falsch. Das System, dass jeder seine Kasse selber wählen könne, findet er grundsätzlich richtig. Doch auch er gibt zu: «Es braucht einen stärkeren Risikoausgleich zwischen Kassen mit teuren

und älteren Kunden und Kassen mit günstigen und jungen.» Mit der angekündigten Reform aus dem Departement Berset sieht er seine Forderungen erfüllt. Der neue Ansatz mit einem stärkeren Ausgleich führe automatisch zu einer Angleichung der Prämien. Wirz erwartet auch eine Bereinigung im Markt. Einige der heute 61 Anbieter der Grundversicherung würden verschwinden. «Auch ohne die Einheitskasse sinkt in den nächsten Jahren die Zahl der Krankenkassen.»

«Umbau des Systems wäre teuer»

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Einen weiteren Punkt, den die Einheitskassen-Befürworter anführen, stellt Stephan Wirz in Abrede: «Die Monopolisierung der Krankenkasse führt nicht zu tieferen Kosten, davon bin ich überzeugt.» Im

Gegenteil: Der Umbau des ganzen Krankenkassen-Systems sei teuer und aufwendig. Es bräuchte in so einem Fall mindestens zwei separate Policen: Eine für die staatliche Grundversicherung und eine für die Zusatzversicherung. Auch die Frage nach dem Datenaustausch zwischen der künftigen Grundversicherung und einer Zusatzversicherung sei noch völlig ungelöst.  l ANDREAS SCHAFFNER


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AKTUELL 7. September 2014

Andreas Schaffner Stv. Wirtschaftschef

den Krankenkassen

skasse das ezept? «Statt über die Probleme des Kindes rede ich mit den Eltern mehr über die Krankenkasse»

T

homas Schumacher (41) ist Kinderphysio­ therapeut. Immer wieder kämpft er gegen den bürokratischen Apparat der Krankenkassen. «Fast bei jedem Kind fängt es wieder ganz von vorne an», sagt er. Seine Praxis ist in einer früheren Chä­ serei in Schenkon LU am Sempachersee unterge­ bracht. In seinem Kapuzenpul­ lover wirkt Schumacher nicht wie eine Kämpfer­ natur. Aber er muss of­ fenbar einiges wegste­ cken. «Vier Berichte für ein einziges Kind muss ich häufig verfassen», erzählt er mit einem ironischen Lächeln. Auch dann würden die Kassen oft nicht einlenken. Die Eltern seien meist so verunsi­ chert, dass er sie beraten müsse. «Statt über das Kind reden wir über die Kasse.» Dabei scheint doch im Gesetz alles geregelt: Der Kinderarzt verordnet eine Therapie. Ist diese im Leistungkatalog aufge­ führt, muss im Normalfall die Krankenkasse zahlen. Die Reali­ tät sieht anders aus. Zeit und Energie gehen bei Schumacher verloren im Hin und Her zwi­ schen ihm, dem Kinderarzt, den Eltern und der Kasse. Auch eine junge Mutter, die mit ihrem Kind bei Schumacher in Behandlung ist, empfindet die­ sen Kampf mit der Kasse als «äus­

serst mühsam»: Physiothe«Ich telefoniere rapeut mir die Finger Thomas Schumawund: Kasse, cher bei der Arzt, Therapeut.» Arbeit mit Am Ende wisse einem sie doch nicht, ob Kind. die Kasse nun al­ les bezahle. Viele Familien würden da kapi­ tulieren, weiss die Mutter. «Den Ärger wollen sie sich nicht an­ tun.» Die Physiotherapie alleine sei schon eine grosse Belastung: Bis zu zwei Stunden täglich arbeite sie mit dem Baby zu Hause. Aufgeben wolle sie aber nicht. «Es kann doch nicht sein, dass ich zahlen muss, bloss weil ich bei der falschen Kasse bin.» Vor ein paar Wochen riss Thomas Schumacher der Geduldsfaden. An einem Anlass sprach er die Präsidentin des Dachverban­ des der Patientenstellen an, Erika Ziltener (59). Daraufhin unter­ suchte diese gemeinsam mit dem Verband der Kinderphysio­ therapeuten 20 ähnlich gelager­ te Fälle. «Es war rasch klar, dass die Kassen sich nicht an das Gesetz halten», so Ziltener. Nächste Wo­ che wird sie daher beim Bundes­

Kommentar

Ein Mail an meine Krankenkasse

K

ürzlich wechselte ich zu einer günstigeren Krankenkasse und Hausarztversicherung – damit ich mir nicht den Vor­ wurf gefallen lassen muss, das System noch mehr zu verteuern. Aber schon diese Woche musste ich meiner neuen Krankenkasse ein Mail schreiben. Es ärgerte mich massiv, dass ich zwei Rechnungen vom gleichen Spezialisten erhal­ ten hatte, aber nur eine be­ glichen worden war. Dabei lag für die ganze Behand­ lung eine Überweisung des Hausarztes vor. Noch mehr nervte mich, dass die neue Krankenkasse ausgerechnet die teurere Rechnung nicht begleichen wollte. Der Ver­ dacht lag auf der Hand, dass ich gepie­ Nie sackt wer­ fühlte den sollte.

«

ich meine Konsumentenrechte stärker»

amt für Gesundheit Beschwerde einreichen.

Patientenvertreter kritisieren Concordia

Ziltener zielt in erster Linie auf die Luzerner Krankenkasse Con­ cordia. «Es ist mehrheitlich diese Kasse, die bei dieser Leistung willkürlich entscheidet und das über den Kopf des Arztes hinweg.» In der Beschwerde geht es um ein Elternpaar, das von der Concordia die Kosten einer Phy­ siotherapie bezahlt haben wollte. Der Arzt hatte die Therapie ver­ ordnet. Die Kasse lehnte eine Be­ Bitte umblättern

So etwas war mir bei meiner we­ sentlich teu­ reren alten Kranken­ kasse nie passiert. Für die hatte ich auch nie Voraus­ kasse leisten und dann Rück­ forderungen stellen müssen. Ich setzte also das Mail auf. Mein Aufwand für den Papierkram inklusive Rück­ fragen beim Arzt: mehr als eine Stunde. Meine Rache als Konsument: dass ich wohl diesen Herbst wieder wech­ seln und dabei gleich die Franchise optimieren werde. Ob ich dadurch zum Anhän­ ger der Einheitskasse gewor­ den bin? Im Gegenteil: Nie fühlte ich meine Konsumen­ tenrechte stärker als in dem Moment, als ich die Kündi­ gung schrieb.


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Kämpft gegen den bürokratischen Leerlauf an: Thomas Schumacher.

teiligung ab. Das Kind wurde nicht behandelt, obschon der Arzt dies für nötig hielt – mit ungewissen Folgen. Die Concordia weist die Vorwürfe zurück. «Zu konkreten Fällen können wir nicht Stellung nehmen», sagt Jürg Vontobel (50), der als Arzt für die Concordia die Rechnungsprüfung leitet. «Aber wir verarbeiten jedes Jahr fünf Millionen Rechnungen. 99 Prozent davon können wir ohne weitere Abklärungen bezahlen, weil sie tarifkonform sind.» Sei man sich in einzelnen Fällen mit einem Physiotherapeuten uneinig, finde sich meist im Gespräch ein Kompromiss. Nur mit ganz wenigen Physiotherapeuten könne man sich in der Tariffrage nicht einigen.

«Kassen drangsalieren die Kunden»

Für Patientenvertreterin Ziltener legt der Fall Kinderphysiotherapie die perversen Mechanismen des heutigen Gesundheitssystems offen. «Die Kassen picken willkürlich Leistungen heraus. Dann drangsalieren sie ihre Kunden, um Kosten zu sparen. Am Schluss versuchen sie, mit tieferen Prämien neue Kunden anzuwerben.» Da würde die Einheitskasse Abhilfe schaffen. Gesundheitsökonom Heinz Locher (71) ist anderer Meinung. «Solche Fälle kämen leider auch mit einer Einheitskasse vor», sagt er. Die müsse schliesslich auch auf die Kosten schauen. «Nur kann dort der Kunde nicht weg, wenn er unzufrieden ist.» Die Vor- und Nachteile einer Einheitskasse ist auch ein Thema in der Praxis von Thomas Schumacher. Die junge Mutter ist skeptisch: «Was eine solche gigantische Umstellung bringen würde, weiss keiner mit Bestimmtheit.» Thomas Schumacher dagegen ist sich sicher, dass es unbedingt neue Ideen braucht – die Einheitskasse ist so eine Idee. «Sonst können wir unsere heutige Qualität nicht mehr lange halten.»  l NIKLAUS VONTOBEL

Bis 2022

Branchenverband warnt

«Uns fehlen 30 000 Informatik Der Bedarf an Informatik­ spezialisten ist riesig. Kann die Schweiz die Lücke nicht füllen, stehen unzählige Branchen vor grossen Prob­ lemen. VON CLAUDIA STAHEL

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chweizer Firmen suchen händeringend nach Computerspezialisten. Nun warnt der Branchenverband: Werden keine Massnahmen ergriffen, haben sie in Zukunft noch mehr Mühe, solche Stellen

zu besetzen – und zwar nicht nur Unternehmen der Informationsund Kommunikationstechnologie (ICT), sondern die gesamte Wirtschaft. Die Diskussion ist politisch brisant: Es geht auch darum, wie die vom Volk angenommene SVP-Einwanderungsinitiative umgesetzt werden soll. Die neuste Prognose des Berufsverbands ICT-Berufsbildung Schweiz liegt SonntagsBlick exklusiv vor. Demnach fehlen in der Schweiz bis zum Jahr 2022 rund 30 000 Fachkräfte in der Zukunftsbranche ICT. Bei der letzten Prognose ging man bis 2020 noch von einem Bedarf von 25 000 Fachleuten aus. Dabei wird schon heute viel unternommen: Seit 1999 hat die Wirtschaft über 1600 neue Lehrstellen im ICT-Bereich geschaffen. Auch Universitäten und Fachhochschulen bilden heute mehr solches Fachpersonal aus.

Doch das reicht bei weitem nicht. Andreas Kaelin (52), Präsident der ICT-Berufsbildung Schweiz: «Zwar ergreifen heute viel mehr Junge einen Informatikerberuf. Gleichzeitig hat aber der Bedarf nach Fachkräften stark zugenommen.» Die Zahlen des Bundesamts für Statistik belegen dies: Insgesamt zählt die Schweiz heute fast 200  000 Beschäftigte im Bereich ICT – das sind über 40 Prozent mehr als noch 2001.

Alle betroffen

Längst nicht alle sind Programmierer bei einer InformatikFirma. Zwei Drittel arbeiten in ganz anderen Branchen: In der öffentlichen Verwaltung, bei Banken oder im Detailhandel. So beschäftigt die Migros etwa 400 Informatiker in der Schweiz, beim Pharmamulti Novartis sind es 800, bei der Grossbank UBS sogar 3000.

Die neue «Coopzeitung» – bald wieder mit Preis

A

m Dienstag zeigte sich die «Coopzeitung» erstmals im neuen Kleid. Mit dem überarbeiteten Magazin will der Detailhändler vermehrt junge Familien ansprechen. Die Frischekur hat dem Hausblatt sichtlich gut getan. «Ein Kernanliegen ist die Nähe zu unseren Kundinnen und Kunden», schreibt Coop-Chef Joos Sutter

(50) im Editorial. Doch gerade bei seiner preissensiblen Kundschaft droht diese Nähe verloren zu gehen: Die Seite «Einkaufen & Profitieren» für Kunden, die auf den Preis schauen, fehlt ganz. Hier informierte Coop bisher regel­mässig über Preisentwicklungen. Auch der Preismonitor, der Vergleich eines Coop-Warenkorbs mit dem der Migros, ist entfallen.

Die «Coopzeitung» im neuen Look. Einstweilen aber ohne die beliebte Seite «Einkaufen & Profitieren».


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