Melchior Nr. 1

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Melchior Auf der Suche nach dem Schรถnen, Wahren, Guten Erstausgabe 1/2014 melchiormagazin.com

Nr.1

Esther Maria Magnis | Die Aussteiger | Junge Ehe


Mel|chi|or [mεl.çiɔːr] 1 König des Lichtes. 2 Auf der Suche nach dem Schönen, Wahren und Guten. 3 Weggefährte, Begleiter, Freund

Wir sind junge Katholiken. Dieses neue Magazin ist inspiriert vom 2000 Jahre alten Glauben an Jesus Christus.


© Foto: Martin Iten

Die Maschine – ohne Die Arbeit von Raphael Dörfler (27) stellt ein menschliches Herz dar. Mittels vorgefundener Teile ist es reduziert auf seine Funktion und verweist auf das Immaterielle, das im Werk nicht Gezeigte. Mit seiner Performance stellt Dörfler Fragen zu Schaffen, Beleben, Inbetriebnahme, Zünden, Starten, In-Gang-Setzen, Fragen nach Schöpfer beziehungsweise Geschöpf, Nähren und Sterben.

DIE MASCHINE – ohne IN Betrieb SEHEN – Der Link dazu: youtu.be/JQGKYLrHKCA


Inhalt Magazin auf der Suche nach dem Schönen, Wahren, Guten

Editorial

Hallo Freunde! Ein historischer Moment: Ab sofort begeben wir uns gemeinsam auf die Suche nach dem Schönen, Wahren und Guten. Wir fangen am Anfang an – bei der Sehnsucht, die uns alle verbindet, der Sehnsucht nach einem glücklichen Leben. Niemand verkörpert diese Sehnsucht besser als Aussteiger; wir haben fünf getroffen und mit ihnen über ihren Alltag, ihre Hoffnungen und Ideale gesprochen. Gespräche mit inspirierenden Menschen sind auch sonst unsere Leidenschaft: etwa mit der Autorin Esther Maria Magnis, mit deren Gedankengewalt man gleich mehrere Melchior-Ausgaben füllen könnte, oder den drei jungen Ehepaaren, die uns von den Herausforderungen der ewigen Bindung erzählen. Nicht jedem ist aber der Luxus geschenkt, sorgenfrei in Sicherheit über das Leben zu sinnieren – Kunstfotograf Michael Fent zeigt uns in seiner Foto-Arbeit über verfolgte Christen aus dem Irak, wie schnell die Endlichkeit unseres Daseins greifbar werden kann.

SCHÖN/WAHR/GUT Was bedeuten schön, wahr und gut? Melchior hat nachgefragt Seite 6

EINE BADEWANNE, FRITTEN, DAS APFELBÄUMCHEN UND DIE SEHNSUCHT k o l u m n e | Seite 9

FREMDE MENSCHEN KENNENLERNEN s e l b s t v e r s u c h | Seite 10

HIMMEL

f o t o k o l u m n e | Seite 12

MOMENTAUFNAHME: VIOLETTA PARISINI Sängerin Violetta Parisini spricht mit Melchior über ihre Musik, ihr Leben und die ganz großen Fragen i n t e r v i e w | Seite 14

Auf das Leben! Paula, Hannes, Martin, Michi, Magdalena

BEICHTE EINES TEILZEITHIPSTERS k o l u m n e | Seite 16

ESSIG MIT DER PIPETTE Zu Besuch beim besten Foto Titelseite: M i cha e l F e n t

Essigfabrikanten der Welt e r f a h r u n g | Seite 17


DER AUSSTEIGER und DAS GUTE LEBEN

ZURÜCK ZUR WIRKLICHKEIT

Gut verpackt

Im Gespräch mit Esther Maria Magnis über

I L L U S T R A T I O N | Seite 66

ihr Leben und ihren Glauben. i n t e r v i e w | Seite 46

MARIENBILDER AUS ALLER WELT

MIT DER SCHEIBE UM DIE WELT

k u n s t | Seite 51

FÜR IMMER

r e i s e n | Seite 67

Drei junge Ehepaare erzählen ihre persönliche Liebesgeschichte

ein glückliches Leben? Fünf Aussteiger Port-

4x SCHWEINEREI

räts, ein Interview mit einem Kardinal und ein

u n t e r h a l t u n g | Seite 70

Wonach sehnt sich der Mensch? Wie lebt man

Gedankenprotokoll geben Aufschluss r e p o r t a g e | Seite 18

KANN EIN VERNÜNFTIGER MENSCH AN GOTT GLAUBEN? Eine Philosophin, ein Atheist und ein Theologe geben Antwort D I S P U T A T I O | Seite 32

r e p o r t a g e | Seite 52

DIE SCHMIEDE DES GLÜCKS

Gespräch mit Bestsellerautor Christoph Schwyzer über sein persönlichstes Buch a u t o r e n g e s p r ä c h | Seite 71

Die christliche Unternehmenspolitik des Messerfabrikanten Victorinox

AFTER SATURDAY COMES SUNDAY

MEHR ALS NORMAL

w i r t s c h a f t s k o m m e n t a r | Seite 58

IMPRESSUM Seite 72

EIN PERMANENTES WUNDER

WENN DER SCHUSS NACH HINTEN LOSGEHT Eine Nahaufnahme des Selfie-Wahns

Kunstfotograf Michael Fent dokumentiert

kolumne

das Schicksal verfolgter irakischer Christen in Jordanien f o t o d o k u m e n t a t i o n | Seite 34

Kurzbesuch bei einer jungen Klostergemeinschaft in Südfrankreich L E B E N | Seite 62

FREIE FEDER k o l u m n e n s a m m l u n g | Seite 44

DAS LETZTE WORT


Nachgefragt

WAS IST FÜR DICH SCHÖN, WAHR ODER GUT? Menschen in Wien, Zürich, München und unterwegs geben Antwort.

„Wenn ich zu Fuß unterwegs sein darf. Das Wandern gibt mir Bodenhaftung. Es hält mich innerlich in Bewegung und macht es möglich, dass ich besser erkenne, welche Dinge ich angehen soll.“ Mattia, 23, aus Treviso, in der Ausbildung zum Osteopath. Zurzeit einen Monat auf dem Jakobsweg.

„Ruhe.“

Tobias, 39, aus Wien, Beruf geheim.

„Verliebt sein.“ Maria, 25, aus Wien, studiert Geschichtsforschung, Historische Hilfswissenschaften & Archivwissenschaft und ist wahrscheinlich gerade verliebt.

„Charakter.“ Ahmed, 25, ursprünglich aus dem Irak, lebt seit 15 Jahren in München. Barkeeper.

„Ein Bier nach der Prüfung. In der Sonne.“ Johannes, 24, studiert Wirtschaft in Wien.

schön Was ist

„Meinen Traumberuf als Matrosin leben zu können. Ich bin in der Ausbildung als Binnenschifferin in Duisburg und neben 80 Männern eine von nur 3 Frauen.“ Tabea, 20, aus Zürich, Matrosin aus Leib und Seele.

„Dass ich arbeiten kann, was ich will, was ich gerne mache und auch gut beherrsche.“ Katharina, 38, seit 2009 selbstständige Näherin mit eigenem RucksackLabel. Arbeitet gerne mit handfesten Materialien. Aus Zürich.

„Viele kleine Dinge.“ Thomas, 44, fährt Bus in Wien.


„Wahr ist, dass ich von meinen Eltern geboren wurde. Wahr ist, was ich selber erlebe. Wahr ist, was ich selber empfinde. Alles andere kann wahr sein, muss aber nicht.“ „Obststandldidi“, 55, weltberühmter Obststandbesitzer in München.

„Wahr ist immer das, was zwischen den Ohrwascheln passiert, oder?“ Philipp, 23, studiert Psychologie, Wien.

„Wenn du lachst, ehrlich und spontan.“

Lisi, 20, studiert Musical und Germanistik

wahr

in Wien.

Was ist

„Kinder.“ Maria, 25, Wienerin, Mutter und Sozialpädagogin.

„Was meine innere Stimme sagt. Okay, manchmal gibt es mehrere Stimmen in mir, auch unwahre. Dann muss ich unterscheiden, gut hinhören und auch die bisherigen Erfahrungen meines Lebens miteinbeziehen. So kann man die Wahrheit finden.“ Honza, 25, Straßenmusiker aus České Budějovice. Das sei die Stadt, aus der das bekannte Budweiser Bier kommt.

„Literatur.“ Jana, 22, studiert Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien. Lieblingsbuch: Malina – Ingeborg Bachmann. „Etwas ist wahr, weil es ist.“ Sebastian, 21, studiert Fachtheologie und Philosophie.

„Es ist wahr, dass es Gott gibt.“

Adrienne, 23, aus Zürich. Studiert Mathematik.

„Dass eine Pizza nie länger als 15 Minuten im Ofen sein soll.“ Michael, 47, Friseur aus München. „Wenn es keine anderen Optionen mehr gibt, dann ist etwas wahr.“ ONDREJ, 20, aus Brünn. Überlebenskünstler.


gut Was ist

„Die Vorstufe von besser.“ Martin, 23, studiert in Wien Soziologie.

„Alles ist gut – im Moment!“ ALEX, 23, Wiener Barrista bei einer größeren Kaffeekette.

„Entscheidungen, die mit reinem Gewissen getroffen werden können.“ Amelie, 21, aus Rottenbuch, studiert PPE in Bozen.

„Anderen Menschen zu helfen. Wenn alle Menschen einander helfen, können wir erst gut leben.“ ewen, 19, aus Cannes, Schüler und auf Besuch bei seiner Großmutter in Zürich.

„Das Sozialsystem in Europa ist gut. Die Vereinigung Europas, die ist sehr, sehr gut.“ WERNER, 70, Clubbesitzer aus München.

„Eindrückliche und persönliche Erfahrungen mit neuen Freunden machen. So wie jetzt gerade.“ Rob, 25 aus Stafford UK, Fotograf. Nennt sich Rob Senior. „Menschen auf Fahrrädern sind gut. Und auch Musik und Kultur.“ SAMANTHA, 24 aus Stoke-on-Trent UK, Musikerin. Hat sich eben ein neues „Hang“ gekauft für 1400 Pfund und spielt das erste Mal darauf.

„Das was nicht schlecht ist.“ Dagmar, 22, Psychologie-Studentin in Wien.

„Wenn man sich für andere einsetzt und dabei über sich hinauswächst.“ Julia, 33, Chemikerin und Innovationsmanagerin. Polin aus Deutschland, lebt aber in der Schweiz.

„Gutes Essen für andere Leute zu machen.“ Stephanie, 25, aus München, Kommunikationsdesignerin.

„Dass ich am Leben bin. Gott ist gut.“ Filimon, 17, aus Eritrea, Asylsuchender in Zürich. Musste ohne seine Eltern aus Eritrea fliehen. Lebt seit 2 Jahren in der Schweiz.


Improvisations kolumne

M agdal e n a Ra u t e r

Eine Badewanne, Fritten, das Apfelbäumchen und die Sehnsucht

3 Begriffe 1 Thema und ein bisschen Kreativität

Der Auftrag an unsere Autorin: Schreib etwas über die Sehnsucht – und bau doch bitte diese Worte ein: Badewanne, Fritten, Apfelbäumchen. Eine Improvisationskolumne eben.

Illustration: Sarah Luger

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ch habe viele Talente. Der Orientierungssinn gehört nicht dazu. Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, bin ich regelmäßig heilfroh, dass es diese blecherne Stimme gibt, die mir inmitten von Kindergeschrei und Verkehrschaos mit unerschütterlicher Ruhe und Geduld den Weg weist. Egal, ob ich zum fünften Mal falsch abbiege – sie behält die Nerven und lotst mich unbeirrt in Richtung meines Ziels. Die Sehnsucht, habe ich gelernt, ist wie so ein Navi. Ihre Stimme ist im Chaos des Lebens mal lauter, mal leiser zu hören, aber nicht zu ignorieren. Egal, ob man ein Faible für „Abkürzungen“ über unwegsame Schotterstraßen hat oder der Typ für schnurgerade Autobahnen ist – sie zeigt, wie man zum Ziel kommt. „Wenn du deine tiefste Sehnsucht erkennst, erkennst du deine Berufung.“ Der Satz fiel zu einer Zeit, als ich hauptberuflich damit beschäftigt war, meinem Leben eine Richtung zu geben. Heute, fast ein Jahrzehnt später, ist diese ziemlich eindeutig und maßgeblich bestimmt von einem hüfthohen Sack Flöhe mit dem Befehlston eines Feldwebels und seiner kleinen Schwester, die mit ihrem Lächeln Polkappen zum Schmelzen bringt. Zugegebenermaßen sind die Sehnsüchte meines Alltags momentan nicht so tiefgründig, wie sie einmal waren. Eine Badewanne. Ein gutes Buch. Eine Stunde Zeit für mich, ohne Säuglinge, die nach der nächsten Mahlzeit schreien oder Dreikäsehochs, die in mein Refugium hereinplatzen, um mir ihre Kollektion von Plastiktieren als Gesellschaft in der Wanne anzubieten. Ein herrlich vor Fett triefender Cheeseburger mit Fritten, anstatt erzieherisch wertvolle, gesunde Vollwert-Mahlzeiten. Im Rückblick aber war es die Sehnsucht, die mich buchstäblich angetrieben hat, das zu finden, was ich heute als meine Berufung erkannt habe. Wer sich sehnt, sucht. Wahrscheinlich gibt es so viele Sehnsüchte, wie es Menschen gibt. Ich wage aber zu behaupten, dass der serienmäßig in uns eingebaute Suchinstinkt

KOLUMNE

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letztendlich bei allen auf das Gleiche ausgerichtet ist. Worauf, zeigt die Bekehrungsgeschichte eines großen Heiligen: Der junge Augustinus ist das Musterbeispiel eines antiken Partylöwen und intellektuellen Hitzkopfes und macht sich zwar viele Gedanken über Gott, aber nicht in Bezug auf sein eigenes Leben. Es ist aber die Sehnsucht, den Sinn des eigenen Daseins zu erfassen, die ihn nicht loslässt. Mitten in einer Sinnkrise legt er sich im Garten eines Freundes unter ein Feigenbäumchen (schade, dass es kein Apfelbäumchen war!) und weint. Da hört er ein Kind singen: „Nimm und lies!“ Er macht sich auf die Suche. Was er findet, fasst er in einem Satz zusammen, der für mich die Sehnsucht am besten definiert: „Ruhelos ist mein Herz, bis es ruht in dir.“

M agdal e n a Ra u t e r 32, ist studierte Betriebswirtin und Philanthropy-Expertin. Wenn sie nicht gerade bloggt oder für Melchior schreibt, ist sie Vollzeitmami in Zürich. Seite 9


melchior selbstversuch Wir haben unserer Autorin einen Auftrag gegeben

A n n e F l e ck

Fremde Menschen kennenlernen Der Stadt wird oft Anonymität vorgeworfen. Man eilt mit gebeugten Köpfen aneinander vorbei, grüßt nicht, weiß nicht einmal den Namen des Nachbarn. Deshalb der Auftrag an unsere Autorin Anne Fleck: Lerne sie kennen, die Menschen! Ihr Bericht für Melchior.

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ies hier ist ein Selbstversuch. Fremde Menschen kennenlernen. Nicht so, wie man ab und zu bei netten Abendessen noch unbekannte Freunde von Freunden kennenlernt, die das Gleiche studiert oder gelesen oder im Kino angeschaut haben, sondern richtige Fremde. Menschen, mit denen einen auf den ersten Blick nichts verbindet. Das habe ich ausprobiert und mich an Unbekannte herangepirscht, mit dem Ziel, möglichst unterschiedliche Exemplare zu sammeln, und bin dabei zu zwei interessanten Erkenntnissen gelangt. Erstens: Meine Großstadtignoranz, der Grund, wieso ich seit Jahren in den unterschiedlichsten Wohnungen von keinem Nachbarn den Namen kannte, ist bescheuert.

EXPERIMENT

Zweitens: Versuchsergebnis (profanerer Natur): Ich habe nur mittwochs und freitags jemanden kennengelernt. Das scheinen meine fremdenfreundlichsten Tage zu sein (oder die mutigsten). Ich weiß noch nicht, wie ich dieses neu erworbene Wissen in mein Leben integrieren werde, aber ich bin natürlich froh über diese Ausweitung meiner Selbsterkenntnis. Um einen objektiven Richtwert zu haben, dass ich jemanden kennengelernt habe, werde ich nach ihrem Glauben fragen. Und da man anständigerweise über Politik und Religion ja nicht spricht, außer in intimer Runde, ist damit dann auch gleich klar, meine neue Bekanntschaft und ich sind tatsächlich Freunde.

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Die Beweisfotos

Armand, der Albaner

Der junge Josef

Guilietta in der KLM Maschine

Meine erste neue Freundin ist Katharina, die in meinem Haus wohnt. Wir hatten einander bisher nur mit einem reservierten Grüß Gott bedacht. Seit kurzem aber sind wir Freunde. Katharina hat mir erzählt, dass die Hortensien in unserem Hof seit über 60 Jahren dort stehen. Die erste hat sie ihrer Mutter 1952 zum Muttertag gepflanzt. In den Jahren darauf sind weitere pinke Liebesbeweise gefolgt. Zu Katharinas religiöser Weltanschauung kann ich bisher leider nur sagen, dass neben ihrer Haustür ein ganzes Set von Rosenkränzen hängt. Das war ein Mittwoch.

Ich zwinge Lucica zum Selfie

Medjugorje vorzulesen. Das fand ich gut, wir planen uns zu treffen. Zwei Tage später dann habe ich drei Männer kennengelernt. Um genau zu sein, sogar vier. Aber einer hatte latentes Stalker-Potential. Da habe ich mich dann zügig zurückgezogen. Die anderen drei waren zauberhaft. Armand, der Albaner, Josef, der vorarlberger Vierpfoten Freund und Afan, der Attensam-Gärtner. Armand verkauft Mozartkonzerttickets an Touristen und hat sich voll gefreut, dass ich mich nicht für Karten, sondern für Albanien interessiert habe. Witzigerweise werden wir, der Armand und ich, uns nächste Woche zur selben Zeit am selben Ort in Montenegro befinden. Er ist römisch-katholisch, findet die byzantinisch-katholische Lösung bezüglich des Zölibats aber sinnvoller. Josef ist ein charmanter Teenager, Atheist und ungewollt katholischer (auf dem Papier eben) Tierfreund. Afan, der Dritte, war eigentlich mein Liebling. Ich wollte ihm Kaffee in den Hof bringen, aber eine Nachbarin ist mir zuvorgekommen. Afans Kinder wohnen in Deutschland in der Nähe meiner Heimatstadt. Nächstes Mal wird er meinen Kaffee trinken.

Freitags habe ich mit Lucica, die vorm Spar das Obdachlosenmagazin verkauft, gesprochen, am Flughafen drei Party-Franzosen kennengelernt (gepflegter Small Talk auf Französisch!), bin von einem Ehepaar mit besonders süßen Kindern bei McDonalds abgewiesen worden und habe mich dann eine ganze Stunde im Flugzeug mit einer spanischen EU-Juristin unterhalten. Die Lucica ist Christin. Allerdings spricht sie in erster Linie rumänisch und vielleicht hat sie meine Frage „Bist du Christ?“ auch nicht verstanden und hätte auf die Frage „Hast du ein blaues Pony?“ auch mit „Ja“ geantwortet. Vom Gefühl her würde ich aber schon sagen, wir verstehen uns. Sie hat dann nämlich auch auf den Himmel gezeigt und sich bekreuzigt. Bei Giulietta, der Juristin, war ich zu feige, zu fragen, also habe ich ihr erzählt, wie ich das so sehe. Sie hat so mitleidig geschaut, dass ich mich dann gar nicht mehr getraut habe, auf ihre religiösen Überzeugungen zu sprechen zu kommen. Mist.

Und jetzt? Ich werde mich in Zukunft mehr über Fremde freuen. Sogar die hektische Mutter an der Supermarkt-Kasse mit dem Baby Benedikt (der nicht nach dem Papst benannt ist) im vollgeladenen Buggy hat mich gefreut. Sie sind doch ziemlich gute Erfindungen, die Menschen. Das merke ich mir.

Eine interessante Erfahrung mittwochs darauf: eine Telefon-Bekanntschaft. Maria Anna, 77. Sie hat mich im Büro angerufen, um Überweisungsformulare von dem Schulernährungsprojekt, für das ich arbeite, zu bestellen. Irgendwann hat sie dann entschieden, mir die neueste Botschaft aus

EXPERIMENT

Katharinas Hortensien

A n n e F l e ck 3 1 , kümmert sich bei Mary‘s Meals darum, Kindern eine Mahlzeit auf den Tisch zu stellen. Damit sich ihre Wahlheimat ihrer nicht schämen muss, übt sie in ihrer Freizeit fleißig Wienerisch.

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Fotokolumne

Himmel Kunstfotograf Michael Fent fragte sich, worum es in seinem Leben 체berhaupt geht. Um den Himmel, war seine Erkenntnis. Seither fotografiert er ihn t채glich. Mittlerweile sind dabei 체ber 600 Polaroids entstanden. Hier eine Auswahl.

M i cha e l F e n t

kunst

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kunst

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Momentaufnahme

Gott als Ansprechpartner Manuel Burkard im Gespräch über Gott und die Welt.

Was wolltest du als kleiner Junge werden? Manuel Burkart – Ganz weit zurück, so im Kindergartenalter, habe ich immer gesagt, ich möchte Zorro werden. Ein richtiger Held, ein Bubenheld. Science Fiction Gestalten wie Superman oder Spiderman haben mich nie interessiert. Aber Zorro, der Cowboy mit Säbel, ein richtiger Handwerker, der hat mich schwer beeindruckt. Welche Lektüre liegt gerade auf deinem Nachttisch, falls dort eine liegt? Gerade jetzt, wo du fragst, liegt ausgerechnet eine dort. Das ist sehr selten der Fall. Ich bin ehrlich gesagt ein fauler Leser. Zur Zeit lese ich gerade „Chasch dänke“. Ein dünnes Büechli. Es ist die Geschichte einer Frau, die unter den misslichsten Umständen im hintersten Winkel in der Nähe von Erstfeld aufgewachsen ist. Ich bin nicht so der Romanleser. Ich mag Sachbücher, oder solche wahren Geschichten.

Als Komiker bringst du Menschen berufsmässig zum Lachen. Was für eine Bedeutung hat das Lachen für dich? Lachen ist in meinen Augen eine grosse Hilfe, um durch das Leben zu kommen. Ich würde nicht sagen, dass Lachen notwendig ist. Es gibt bestimmt auch Menschen, die ohne Humor ihren Alltag bestreiten. Ich behaupte aber, dass Humor manche Durststrecke im Leben erleichtern kann. Humor hat sicher auch einen Ablenkungsfaktor, aber wenn man es schafft, ihn in düsteren Phasen des Lebens nicht als Ablenkung sondern als Hilfsmittel einzusetzen, ist es umso schöner. Durch deinen Beruf musst du stark nach aussen leben. Hast du keine Bedenken, dass sich plötzlich auch dein Privatleben in eine Bühne verwandelt? Kinder helfen einem fest, das zu trennen... Jonny und ich hatten zum Glück nie Probleme damit.

INTERVIEW

Jonny erklärt es jeweils so, dass wir, obwohl wir in den letzten zehn Jahren bekannt geworden sind und man unsere Gesichter auf der Strasse erkennt (in diesem Augenblick ergreift ein unbekannter Mann vom Tisch nebenan, der das Gespräch offensichtlich mitgehört hat, die Chance freundlich herüberzulächeln und Manuel zu grüssen), immer noch dieselben Freunde haben. Das Showbusiness ist eine Scheinwelt, eine Glamourwelt, die ein Stück weit nicht real ist. Ich geniesse es, manchmal trotzdem in die Showwelt einzutauchen, aber ich bin auch sehr froh, möglichst schnell wieder auf den Boden der Realität zurückzukehren. Wenn das familiäre Umfeld und der Freundeskreis geerdet sind, |

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Manuel Burkart (*1977) bildet zusammen mit Jonny Fischer (*1979) das Cabaret Divertimento. Divertimento ist das zurzeit erfolgreichste Komikerduo der Schweiz. Wenn Manuel ein Feriengrüessli aus dem Jura auf Facebook postet, dann liken das sofort 4460 Leute und 282 fühlen sich veranlasst, die Erholung zu kommentieren. Das Duo wurde mehrfach mit dem Prix Walo in der Sparte Kabarett/ Comedy ausgezeichnet. Bis im Februar 2015 ist Divertimento mit dem Programm „Gate 10“ auf Tournee. Manuel Burkart lebt im Zürcher Oberland. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.


dann bleibt man auch selber gut auf dem Boden. Ihr habt eine ganz aussergewöhnliche Bühnenpräsenz. Woher nehmt ihr eure Kraft? Wie gehst du mit Situationen um, in denen du weder locker, motiviert, noch inspiriert bist? Hm. Ich glaube die Kraft haben wir, weil wir es immer noch sehr gerne machen. Natürlich sind wir oft todmüde. Manchmal hängen wir fünf Minuten bevor es losgeht vor Erschöpfung wie zwei Leichen hinter der Bühne herum. Das ist eigentlich ein schreckliches Bild für zwei Komiker, aber es kommt vor. Bei mir hat sich das ein wenig zugespitzt, seit ich Vater bin und nicht mehr den gleichen Schlaf und dieselbe Erholungseffizienz geniesse. Es kann wirklich anstrengend werden, schliesslich verbrauchen wir in zwei Stunden auf der Bühne gleich viel Energie wie ein Fussballer während einem 90 minütigen Match. Und das dreimal in der Woche... Das geht wirklich nur, weil unsere Spielfreude auch nach zwölf Jahren Auftreten immer noch da ist. Und wohl grösster Antrieb sind die Zuschauer, die scharenweise in die Theater strömen. Du hast soeben den mangelnden Schlaf erwähnt. Was hat sich für dich verändert, seit du Kinder hast? Kinder öffnen einem die Augen auf eine neue Art. Du befasst dich mit Themen, mit denen du zuvor nichts anfangen konntest. Die Welt mit Kinderaugen zu sehen ist ein tolles Geschenk, eine schöne Nebenerscheinung. Aber ich habe auch viele Grenzerfahrungen gemacht. Im Gegensatz zu meiner Frau habe ich ein dünnes

Nervenkostüm, wenn es brenzlige Erziehungssituationen gibt. Als Eltern macht man Fehler. Ich glaube, es ist wichtig sich einzugestehen, dass man auch Fehler machen darf. Man sollte keine überrissenen Erwartungen an sich selbst stellen, man ist ja immer zum ersten Mal Mutter oder Vater und muss zuerst hineinwachsen. Meine Frau und ich erleben beides – wunderschöne Momente und schwierige Momente, auch als Ehepaar. Alles in Allem geben einem die Kinder aber doch mehr Kraft als dass sie einem aussaugen. Obwohl ich den einen oder anderen Abend mit einem etwas zerknitterten Gesicht auf der Bühne stehe, habe ich doch mehr Pfupf. Und schlussendlich kommt auch eine Art Pflichtbewusstsein auf, eine Familie ernähren zu müssen. Was ist das Wichtigste, das du deinen Kindern mitgeben möchtest? Mir ist es wichtig, dass ich, obwohl ich den Humor im Alltag und in der Erziehung bewusst lebe und einsetze, meinen Kindern eine gewisse Seriosität und Tiefgründigkeit auf den Weg mitgeben kann. Das Leben ist kein Vergnügungspark. Gerade in der heutigen Konsumgesellschaft, in der ja vieles auf Unterhaltung, Fun und Spass ausgerichtet ist, finde ich es wichtig, dass man den Kindern auch die Ernsthaftigkeit des Lebens vor Augen hält. Ein anderes Anliegen ist mir, dass meine Kinder lernen die Dinge zu hinterfragen. Ich glaube, das Nicht-Hinterfragen ist auch eine Krankheit unserer oft oberflächlichen Gesellschaft. Man geht den Dingen nicht mehr auf den Grund, fragt nicht woher sie kommen und warum sie so sind. Ich muss

INTERVIEW

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mich da selber auch immer wieder an der Nase nehmen, ohne sich dabei den Kopf zu zerbrechen. Denn auch das Nicht-Hinterfragen kann in gewissen Situationen wohltuend sein. Und nun zur Gretchenfrage. Wie hast du es mit der Religion? Da ich mich beruflich in einer sehr lustigen, lockeren und auch oberflächlichen Welt bewege, suche ich im Privaten schon auch Tiefgründigkeit. Ich brauche den Anker der Ernsthaftigkeit, ohne deswegen in eine Verbissenheit oder Verbohrtheit hineinzugeraten. Der Glaube an Gott ist sicher auch ein Fundament, obwohl ich nicht stark religiös bin. Ich bin katholisch aufgewachsen und wurde auch durch meine Ausbildung am Lehrerseminar St. Michael katholisch geprägt. In den Jahren des Erwachsenwerdens habe ich aber meinen eigenen Glauben kreiert, der logischerweise auf dem Katholischen basiert, aber trotzdem anders geworden ist. In den Situationen von tiefem Glück oder Leid ist mir „mein“ Gott ein willkommener

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Ansprechpartner. Ich stelle ihm auch Fragen. Manchmal frage ich viel. Vor allem halt warum es so viel Elend gibt in unserer Welt. Das sind Fragen, auf die ich nicht immer eine Antwort bekomme, aber fragen ist auch schon spannend. Viele deiner Inspirationen entstammen deiner Beobachtung von den kleinen Merkwürdigkeiten des Alltags. Der Gang von jemandem, die Art sich zu kleiden, ein Stolpern, oder eine Bemerkung zur falschen Zeit. Passieren dir selber auch Missgeschicke? Ja, sogar viele. Ich würde hervorragendes Futter für einen anderen Komiker abgeben. Wenn wir mal ganz ehrlich sind: Schadenfreude ist doch eine der schönsten Freuden. Natürlich nur, wenn man sich nicht nur über die Missgeschicke der anderen amüsiert, sondern auch über sich selber lachen kann. Ich kann sehr gut über mich selbst lachen. Das Gespräch führte M agdal e n a H e ggl i n / Die Fotos sind von M I C H A E L F EN T


Momentaufnahme

Violetta Parisini Zart, klein und konzentriert sitzt sie da, vor ihrem MacBook im Wiener Café Ansari und wartet auf uns. Violetta Parisini, österreichische Singer-Songwriterin, Kuratorin des diesjährigen Popfestes und studierte Philosophin ist ein Ausnahmemensch, das merkt man gleich. Ihre Lieder erzählen Geschichten von Beziehungen, Begegnungen und von Gefühlschaos und sind dabei erstaunlich ehrlich. Ehrlich war auch unser Gespräch.


Du bist studierte Philosophin – wie kamst du zur Musik? Violetta – Ich wollt wohl immer schon Musik machen, aber habe es mir vielleicht nicht zugetraut oder wusste nicht, wie ich da einsteige. Philosophie war dagegen etwas, wofür ich mich immer interessiert habe und es war mir mit meinem Horizont auch möglicher, eine akademische Karriere einzuschlagen, als eine künstlerische – es hängt ja immer auch von der eigenen Umgebung ab. Während ich studiert habe, hab ich dann begonnen, bei ein paar elektronischen Projekten zu singen und es wurde immer realistischer, dass ich das als Karriere verfolgen kann. Beeinflusst dein Philosophiestudium deine Musik? Es ist nicht so, dass ich Themen übernommen habe – aber was das Philosophiestudium tatsächlich geschult hat, war eine Genauigkeit, was Begriffe betrifft. Ich bin eine wahnsinnige Pitzlerin in meinen Texten, da muss wirklich jedes Wort sitzen - mir ist es ganz wichtig, manche Dinge auf den Punkt zu bringen und auch die richtigen Worte zu finden und nicht nur ungefähr etwas zu sagen, sondern das, was ich meine, wirklich genau zu sagen. Ist für dich die Musik eine Art der Wahrheitssuche? Auf jeden Fall. Ich kann natürlich nur für mich sprechen – das ist etwas ganz Persönliches. Wenn ich ein konkretes Problem habe oder irgendeinen Stress, eine Ungereimtheit, dann fällt es mir manchmal am leichtesten, mich ans Klavier zu setzen und so dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Das ist eine sehr emotionale Art und Weise, Dinge zu verstehen. Manchmal ist ein Lied auch ein Prozess, der von Verwirrung oder Überforderung in

das, was mir mitgegeben wurde an Gaben und Talenten und Neigungen, verpflichtet. Es gibt dieses Gleichnis in der Bibel mit den Talenten, mit den drei Knechten. Dieses Gleichnis habe ich sehr oft gehört. Es ist so schwer darüber zu reden, weil es so persönlich und gleichzeitig nicht alles ist. Ich war immer umgeben von ganz liebevollen guten Menschen. Ich will nicht vermitteln, dass man nicht gut zu mir war, weil das stimmt ja nicht – es stimmt genauso wenig, wie zu sagen, ich war immer ein glückliches Kind, weil nein, ich war kein glückliches Kind.

Richtung Klarheit führt. Und manchmal ist es das auch für andere. Ein ideales Konzert ist so eine Art Purgatorium – da kommen die Leute und bringen ihre Emotionen mit und dann weinen sie ein bisschen und lachen ein bisschen und dann gehen sie raus und sind irgendwie reingewaschen. Oft sprichst du in deinen Liedern andere Menschen an... Das stimmt. Musik ist immer Kommunikation, idealerweise, und das kann sie natürlich auch in den Texten sein. Ich glaube je persönlicher oder je mehr ein Lied dich betrifft, desto spannender wird‘s und desto interessanter ist es auch zu singen. Das Schönste am Musikmachen ist die Kommunikation, ist dieses Gemeinsame.

In dem Lied ‚Portable Home‘ singst du, dass es keinen Ort gibt, keine Person gibt, zu der du gehörst... Lieder sind immer Ausdruck eines Moments. ‚Portable Home‘ ist ein klassisches Beispiel, weil es so Momente gab, in denen ich das Gefühl hatte, allein zu sein und auch allein sein zu wollen, und das ist dann gut so – ich habe dann überhaupt keine Lust auf Beziehungen, weil Beziehung immer Verantwortung bedeutet und das soll auch so sein. Und wenn man glaubt, die Verantwortung nicht tragen zu können, dann ist es eben gut, allein zu sein. Aus dem Gefühl heraus kam dieses Lied.

Gibt es auch Sachen, über die du nicht singen würdest? Ja. Ich habe aber schon Lieder geschrieben, die Dinge behandeln, die ich gerade einmal meinen allerbesten, engsten Freundinnen und Freunden erzählen würde. ‚Time for Silence‘, das mit dem Fahrrad, behandelt zum Beispiel so eine Beziehung, die ich nicht genau beschreiben wollen würde, also kommt in dem Lied nur das vor, was ich auch sagen will oder eben zu einem Lied machen musste. Was alles dahinter steht, kommt vielleicht durch, aber um die Emotion verständlich zu machen, braucht man nicht die ganze Geschichte.

Was ist für dich das Ziel, was sind die Prioritäten in deinem Leben? In den letzten Tagen habe ich ganz viel darüber nachgedacht... Wie ich jünger war, hätte ich es benennen können als ‚Gutes tun‘ oder ‚die Welt zu einem besseren Ort machen‘. Jetzt bin ich ein bisschen älter und weiß, dass das nicht so einfach ist und dass Gutes tun auch immer im Auge des Betrachters liegt. Wahrscheinlich glauben auch IS-Kämpfer, dass sie Gutes tun – das ist natürlich das extremste Beispiel, aber es

Auch ‚Memoirs of a Pleasant Child‘ ist ein sehr persönliches Lied. Hast du früher den Druck verspürt, ein bestimmter Mensch zu sein? Total. ‚Memoirs of a Pleasant Child‘ wraps it up, sozusagen. Tatsächlich hatte ich in meiner Kindheit und Jugend und lange Zeit meines Lebens das Gefühl, dass von mir viel erwartet wird und dass mich

musik

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ist halt auch ein Beispiel, das gültig ist, weil Gutes nicht objektivierbar ist. Dass heißt du glaubst nicht an etwas Gutes, das für alle gut ist? Ja. Nein. Jein. Na ja. Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Glaubst du an Gott? Nicht an einen persönlichen Gott, also nicht so wie ich es gelernt habe. Als Kind gab es ganz klar den lieben Gott, und Jesus. Es war alles logisch und verständlich. Ich glaub jetzt schon daran, dass wir Kräften ausgesetzt sind, die wir nicht fassen können, aber ich nenne sie nicht mehr Gott. Ich glaube, dass alle großen Religionen einen gemeinsamen und großartigen, für mich guten, Kern haben und wenn wir den wirklich leben würden, würde unsere Welt anders ausschauen.Aber tatsächlich wird Religion oft ganz ungut ausgelebt und das hat mich auch im Laufe der Zeit von ihr entfernt. Und dann gibt es noch diese Frage, die mich schon als Kind umgetrieben hat, wie kann das sein, dass Gott gut ist und die Welt so beschissen? Ist die Welt für dich ganz klar beschissen? Nein. Nein. Aber teilweise schon. Hast du aus deiner katholischen Erziehung auch etwas Positives mitgenommen? Die Nächstenliebe - egal wie kritisch man sie betrachtet, sie ist schlicht und einfach gut. Und Nächstenliebe beginnt ja bei dir selbst. Ein Wort zum Schluss? Man kann immer dankbar sein. Dankbarkeit ist das ultimative Gebet.

Das Gespräch führte P a u la T h u n / Foto M i cha e l F e n t


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isher konnte man gut nebenbei der Hipsterei frönen, während man sich hauptberuflich in einem ehrenhaften Gewerbe verdiente. Man versuchte, anders als die anderen auszusehen/zu handeln, nur um letztlich wieder gleich wie alle anderen auszusehen/zu handeln. Aber auch hiervor hat der Spezialisierungsdruck nicht Halt gemacht. Immer mehr Vollzeit-Hipster drängen auf den Markt und lassen unsereins alt aussehen. Was, dein Blog finanziert dir keine LOFT-Wohnung? Dein Fahrrad hat noch mehrere Gänge? Du verwendest Instagram wirklich noch, um Erinnerungen festzuhalten? Süß! #yolo! Dies und Ähnliches muss ich mir anhören, wenn ich mir wieder mal in meiner (zu kleinen) bunten Karottenhose einen ClubMate am (künstlichen) Zürcher Frachthafen gönne. Aber ich gebe zu, ich habe nicht die Zeit, um Vollblut-Hipster zu sein. Als Hipster muss man stets einen Schritt voraus sein, um sich von der langweiligen Masse abzuheben. Freitagabend noch unbekannte GuerillaCafés recherchieren, nur um am nächsten Morgen wieder neben den gleichen Gesichtern seinen peruanischen Hochland-Goat-Latte zu schlürfen (auch die anderen haben sich in Sachen Secret-Coffee-Place schlau gemacht). Am Wochenende aus Omas alten Vorhängen einen garantiert einzigartigen Schal nähen, nur um am Montagmorgen festzustellen, dass auch andere Großmütter ihre Vorhänge von Zeit zu Zeit wechseln. Daneben gilt es noch, die Grundbedürfnisse zu befriedigen: die Milch von der Bio-Kuh, deren Namen man kennt und für die man jährlich einen Patenbeitrag bezahlt, seit man sie vor dem Schlachthof gerettet hat. Das fair gehandelte, glutenfreie Artisan-Brot für 7 Euro aus der Eventbäckerei im alten Industriegebiet. Die veganen Seitansteaks für das geheime Rooftop-BBQ der #InstagroupZuerich vom… Lebensmittelchemiker? Naja, woher man die Dinger halt auch bekommt. Nur der Kopfsalat kann gleich am Balkon geerntet werden, wo er über Monate liebevoll in einem alten Benzinkanister großgezogen wurde. Das reicht für zwei Schüsseln Salat pro Jahr, aber das interessiert hier keinen. Man ist den anderen einen Schritt voraus und kann herablassend fragen „Was, du beziehst noch das vitaminlose Grünzeugs von ausbeuterischen Handelsketten? #lame!“. Ich habe darauf nur noch ein allerletztes As im Ärmel: „Was, du gehst nicht regelmäßig beichten? #yolo!?“. Ratet mal, wer am nächsten Tag neben mir vorm Beichtstuhl wartete…

#Trendkolumne T o b i as T hay e r

Beichte eines TeilzeitHipsters Tobias Thayer, über seine Mühen, nicht ins modische Abseits zu gelangen.

Männlicher Hipster, Symbolbild. Recherche Wikipedia KOLUMNE

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Der Experte M i cha e l F e n t

Essig mit der Pipette Erwin M. Gegenbauer produziert den besten Essig der Welt. Michael Fent hat ihn in seiner Essigfabrik in Favoriten besucht.

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igentlich bin ich ja nur zum Fotografieren aus der Schweiz nach Wien gekommen. Das einzig Berühmte, was ich mir in dieser Stadt aber gerne mal ansehen wollte, waren die Essigfässer auf dem Dach. Irgendwo in Wien wird der beste Essig der Welt hergestellt. Wo, weiß ich nicht. Durch lustige Umstände stehe ich nun aber doch vor einer unscheinbaren Tür mit der Aufschrift Gegenbauer. Wie komme ich nun da rein, frage ich mich. Gleich darauf höre ich hinter mir Schweizerdeutsch. Da kommt eine Gruppe Schweizer Weinbauern zu einer Führung bei Herrn Gegenbauer. Ich schließe mich an. Wir gehen in den Innenhof und hier sehe ich, was ich schon immer mal sehen wollte: Fässer auf dem Dach! Erwin M. Gegenbauer ist ein Genießer erster Güte. Und ein dynamischer Querdenker. Er hat vor gut 30 Jahren die von seinem Großvater 1929 gegründete Essigfabrik mit 600 Mitarbeitern übernommen und als Erstes gesagt: „Ihr könnt mich alle mal!“ Ihn interessiert dieses Großindustrielle nicht. Er will einfach nur guten Essig machen. Heute hat er mit acht Mitarbeitern die kleinste Essigbrauerei der Welt. Aber auch die Berühmteste. „Leute, ich hasse Uniformität!“ Ein Naturprodukt sei immer anders. Und jede Flasche Gegenbauer Essig ist anders. Ein Journalist vom Hessischen Rundfunk habe ihm mal erklärt, warum: Da gehen Leute

durch, es entstehen Energieflüsse, die auf den Essig einwirken. „Aber dieses Esoterikgesäusel interessiert mich nicht!“ Es gibt Dinge, die man sich nicht erklären kann. „Und ich habe aufgehört, es zu versuchen.“ Er will einfach Qualität. Keinen mit Erdöl gestreckten Balsamico und keinen Trüffelöl-Betrug mehr! Das, was uns die Natur schenkt, ist das Beste. Deshalb lässt er die Himbeeren für seinen Essig auch im Wald ablesen. Die kleinen Himbeerkerne presst er dann zu Öl. Acht Jahre hat er gebraucht, bis ihm das gelungen ist. Nun benötigt er eine Tonne Beeren für einen Liter Himbeerkernöl - dementsprechend der Preis. Wir probieren mit der Pipette. „Schmeckt gar nicht nach Himbeeren“, bemerkt einer. Das sei eben das, was die Natur uns gebe, meint der Patron. Keine Chemie. Wir gehen weiter in den Keller hinunter. Dort lagern die Herzstücke des Unternehmens. In jeder großen bauchigen Glasflasche ruht ein anderer Essig. Wir stellen uns auf, in Reih und Glied. Den Mund geöffnet, die Zunge an den Gaumen gepresst, warten wir, bis der Chef mit der Pipette vorbeikommt und uns eine Essigperle in den Mund fallen lässt. Ein herrliches GeschmacksErlebnis, nicht diese gewohnte ätzende Säure. Für seinen Essig hat er jahrelang an der Zucht von reinen Bakterienkulturen aus den besten Weinen der Welt gearbeitet. Zum Schluss fragt er uns, woher die Dickflüssigkeit eines 30 Jahre

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alten Modena-Balsamicos vom Fass komme? Vom Erdöl. Wegen derselben chemischen Grundverbindung kann man sie mischen. Kein Balsamico wird von selbst dickflüssig, jedes Fass würde reißen. Gegenbauer hasst den Betrug. Er will das Echte. „Das Ehrliche ist für mich gut,“ sagt er. Keinen Einheitsbrei, bitte! Jeder sei anders. Wir brauchen eine Streitkultur. Bevor ich gehe, frage ich ihn, was für ihn das Schöne sei. „Eine schöne Frau, ganz einfach!“ Und nachdem ich sein Hemd gesehen habe, finde ich das auch wirklich ehrlich.


Reportage und Portr辰ts

Die Aussteiger und das gute Leben Alle Menschen suchen das Gl端ck, manche radikaler als andere. Melchior hat f端nf Aussteiger getroffen, die ihr Leben auf den Kopf gestellt haben und damit nicht nur ihr, sondern auch unser Dasein in Frage stellen. Woraus besteht ein gutes Leben? Wonach sehnt sich der Mensch im Letzten? F端nf Portraits, ein Interview mit dem Kardinal und

Illustration: Veronika Kabas

ein Gedankenprotokoll geben Aufschluss.


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iese ersten Zeilen schreibe ich an einem verhangenen Sommertag im Wiener Prater, der grünen Lunge dieser Stadt, dem Naherholungsgebiet der auf Naturentzug lebenden Städter. An einem Samstag Nachmittag wäre ich von Radfahrern, Läufern und eiscremeverklebten Kindern umzingelt, doch heute an diesem trüben Mittwoch ist es hier ruhig, fast ausgestorben. Normalsterbliche sitzen um diese Uhrzeit noch im Büro, mit gerunzelter Stirn und verkniffenen Augen über ihren Computerbildschirm gebeugt. Er tut gut, dieser Ausbruch aus dem Alltag. Weit weg von allem fühlt man sich frei, unbeobachtet, mit seinen Gedanken seltsam allein. Ich denke an die Wagenburgbewohner, die ich gerade besucht habe. Ich wollte sie für diesen Artikel porträtieren, als Aussteiger, die hundert Meter von der Wirtschaftsuniversität, hinter der alten verfallenden Trabrennbahn ein kleines grünes Fleckchen Erde besetzen. Auf ihrer Homepage kann man nachlesen, dass sie „auf der Grundlage mobiler Lebens- und Arbeitsräume eine Kulturwerkstatt aufbauen und Raum erschließen“ wollen, „zur Bereicherung des gesellschaftlichen Lebens in der Stadt“. Die Stadt bekommt allerdings nicht viel von ihnen mit, denn wer nicht weiß, wo sie ihre ausgebauten Lkws, Wohnwägen und Anhänger aufgestellt haben, der würde sich in diese Ecke niemals verirren. Interview wollen sie mir keines geben, aber wir kommen ins Gespräch und sie erzählen von ihrer Motivation, in improvisierten Behausungen zu wohnen, die auf einem Grundstück stehen, das jederzeit geräumt werden könnte: Gemeinschaft, bewusster Umgang mit Ressourcen, Selbstbestimmung. Schlagworte, die in unseren Gesprächen mit Aussteigern noch öfter vorkommen sollen. Ich bedanke mich und spaziere zum ‚Alten Jägerhaus‘, wo ich jetzt sitze und an einem kühlen Cola nippe.

Auf der Suche nach dem guten Leben Aussteiger. Den Begriff gibt es nicht in allen Sprachen, oder nur annähernd. Im Englischen werden sie ‚drop-outs‘ genannt, auf Französisch ‚marginals‘ – aber beide diese Bezeichnungen umfassen nicht die Breite der deutschen Bedeutung des Wortes, ihnen fehlt die aktive Komponente. „Menschen, die sich durch ihr Verhalten von gesellschaftlichen Normen zu befreien versuchen, indem sie aus ihrer konkreten Lebenswelt innerlich oder äußerlich ‚aussteigen‘“, so beschreibt sie das allgegenwärtige virtuelle Gedächtnis unserer Generation: Wikipedia. Vielleicht kann der Begriff noch weiter gefasst werden und auch solche Menschen dazu zählen, die sich von selbst auferlegten Maßstäben lösen wollen. Was sie verbindet, ist die „Suche nach dem guten Leben“, wie es der Kabarettist Roland Düringer, derzeit Österreichs berühmtester Aussteiger, formuliert. Das ‚gute Leben‘ klingt schön und kann, je nachdem wen man fragt, alles bedeuten – doch es zielt immer auf eines von zwei Dingen ab: glücklich sein oder das ‚Richtige‘ tun. „Die meisten Menschen führen ein Leben in stiller Verzweiflung“, schreibt Henry David Thoreau, Vorreiter der modernen Aussteiger, in seinem Buch ‚Walden‘, in dem er sein einfaches Leben in einer selbstgebauten Holzhütte in den Wäldern Massachusettes beschreibt. Eine Beobachtung die auch einer seiner eifrigsten Leser und Nachahmer, Christopher McCandless teilt, dessen dramatisches Abenteuer in der Wildnis Alaskas durch die Feder des Journalisten Jon Krakauer als Buch ‚In die Wildnis‘ zu einem Bestseller wurde. Er führt den Gedanken noch weiter: „So viele Leute sind unglücklich mit ihrem Leben und Fortsetzung auf Seite 21

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DIE SELBSTVERSORGER

Entschleunigt: Vom Städter zum Selbstversorger Florian und Hannah sind seit elf Jahren ein Paar. Und wenn man durch ihren Garten spaziert, hat man den Eindruck, dass sie diesen schon ebenso lang bewirtschaften gepflegte rechteckige Gemüsebeete, die beeindruckende Auswahl bieten; wahrscheinlich die glücklichsten Hühner Österreichs, bei denen Freilandhaltung auch Freilandhaltung ist; sogar einen Bienenstock gibt es hier. Und doch sind Florian und Hannah erst vor knapp einem Jahr wieder von der Stadt in die Gegend ihrer Jugend zurückgezogen. „Wenn man die Kindheit am Land verbracht hat, steckt das Landleben in einem drinnen, die Erinnerungen an das Spielen in Wiesen und Wäldern. Man hat Sehnsucht danach.“ In ihren zehn Jahren in Wien haben sie zwar das vielfältige Kultur- und Freizeitangebot genossen, das diese Stadt zu bieten hat, das einzige was ihnen aber jetzt wirklich fehlt, ist das spontane Frühstück samstagmorgens in einem netten Café um die Ecke. Die langen Anfahrtswege am Land machen kurz entschlossene Ausflüge schwierig – dafür ist dann jedes Frühstück, jeder Ausflug, etwas Besonderes. Es herrscht nicht so ein Überangebot. Das Landleben kannten Florian und Hannah von klein auf, die Arbeit im eigenen Garten war aber für beide neu. Bis auf ein paar Basilikumpflanzen auf dem Fensterbrett, die regelmäßig eingingen, hatten sie wenig Ahnung. Erste Erfahrungen haben sie dann beim Wwoofen gemacht. WWOOF, World Wide Opportunities on Organic Farms, ist eine Organisation, der Bio-Bauernhöfe angehören, die die Möglichkeit anbieten, als Gast bei ihnen mitzuleben und so in die Landarbeit hineinzuschnuppern. Dieses Angebot nutzen viele Städter; manche um einfach einmal ihrem stressigen Alltag zu entkommen, andere, wie Hannah und Florian eben, um zu lernen, was es bedeutet sein eigenes Essen anzubauen, Tiere zu halten, Obst und Gemüse zu ernten. Das Paar hat gerade seine ersten eigenen Wwoofer zu Gast: Daniela, Vincent und

ihren Sohn Simon. Auch diese kleine Familie überlegt, aus Wien wegzuziehen. Vor allem für Simon, damit er einfach aus dem Haus ins Grüne laufen und frei spielen kann, nicht ständig unter Aufsicht stehen muss. In der Stadt geht das nicht, der nächste Park ist eine kleine Reise weit weg. „Tage hier vergehen viel langsamer - aber man erlebt viel mehr“, meint Vincent. Wieder fällt das Wort ‚Überangebot‘. „Wenn man sich um Haus und Garten kümmern muss, hat man einen klaren Lebensmittelpunkt.“ Es gibt nur ein Programmkino und das zeigt nur einen Film. Die Wahl ist klar, der Freizeitstress fällt weg. Vincent mag diese Entschleunigung. Und den Platz. Platz für eine Werkstatt, Platz für Ideen, Platz, den man sich in der Stadt nicht leisten kann. Trotzdem sind dem studierten Soziologen all die Schwierigkeiten, die ein Umzug mit sich bringen würde, bewusst. Mit seiner Ausbildung findet man schon in der Stadt nicht leicht Arbeit, am Land ist der Bedarf gleich null. Außerdem macht ihm sein Job beim OEAD Spaß. Die Arbeit im Garten fasziniert ihn aber auch. „Du baust einen Zaun und dann steht da ein Zaun. Sehr sichtbar, sehr wahr.“ Er hat große Sehnsucht nach einem bewussteren Leben, nach Verwurzelung, nach Gemeinschaft. Als Geisteswissenschaftler weiß er: In der Stadt spielt Beziehungsarbeit keine Rolle, nach zwei bis drei Jahren kennt man vielleicht zwei Nachbarn beim Namen - und dann hat man sich schon bemüht. Gemeinsam mit Daniela schaut er sich deshalb nach Gemeinschaftswohnprojekten um; auch Florian und Hannah sind eine große Inspiration für sie. Hannah ist momentan vor allem damit beschäftigt, sich auf den Winter vorzubereiten. Sie lernt im Selbststudium alles über Fermentieren, Einlegen und das Lagern von Obst und Gemüse. Ihr Tagesablauf wechselt stark mit den Jahreszeiten. Im Frühjahr war im Garten viel zu tun: Beete anlegen, Samen ziehen und anbauen, auspflanzen. Bei Wind und Wetter hat Hannah draußen gearbeitet, Sohnemann Jonathan in seiner ‚Gatsch‘-Hose stets an ihrer Seite. Er spielt zufrieden mit Stecken und Steinen und allem, was sonst noch

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so herum liegt. Im Sommer musste dann nur noch Unkraut gejätet und geerntet werden. Ihr Gemüsegarten bietet schon im ersten Jahr große Vielfalt: Tomaten, Zucchini, Karotten, rote Rüben, Kartoffeln, Salat und diverse Kräuter sind nur eine Auswahl. Trotzdem nimmt Hannah an, dass sie es diesen Winter noch nicht schaffen, nur von selbst angebautem Gemüse zu leben. Seit Anfang an notiert sie genau, wie viel sie wovon anpflanzt, wie sich die Pflanzen entwickeln, damit sie im nächsten Frühling die Mengen besser abschätzen kann. Im nächsten Jahr kommen dann Ziegen und Schafe dazu. Erstere für Milch, Letztere für Wolle. Vielleicht kaufen sie auch das eine oder andere Mangalitza-Schwein – für den Weihnachtsschinken. In Wien hat Hannah als Kindergärtnerin gearbeitet, Florian als Pflegedienstvermittler. Die Reaktionen ihrer Freunde auf den radikalen Lebenswandel waren gemischt – die meisten konnten den Wunsch nach einem Leben auf dem Land jedoch nachvollziehen, viele in ihrem Bekanntenkreis haben das Stadtleben satt. Die Umstellung war nicht ganz sorgenfrei; die Kombination von Hausbau, Neugeborenem und einer Jobkrise bei Florian hatte es in sich. Jetzt arbeitet Florian in den Lebensmittelbetrieben seiner Familie und genießt es, vor die Tür zu gehen und frische Luft einzuatmen. Er ist weniger erdrückt, alles ist ruhiger, entstresster. Auf Urlaub fahren sie nur selten. „Wenn wir nichts zu tun haben, ist es hier eh wie Urlaub.“ Und wenn man über das Maisfeld, das an ihren Garten anschließt, in die Ferne schaut, glaubt man das auch. Text P A U L A T H UN / Foto D a n i e la P o ck


» schaffen es trotzdem nicht, etwas an ihrer Situation zu ändern, weil sie total fixiert sind auf ein angepasstes Leben in Sicherheit, in dem möglichst alles gleichbleibt – alles Dinge, die scheinbar inneren Frieden garantieren. In Wirklichkeit wird die Abenteuerlust im Menschen jedoch am meisten durch eine gesicherte Zukunft gebremst. Leidenschaftliche Abenteuerlust ist die Quelle, aus der der Mensch die Kraft schöpft, sich dem Leben zu stellen.“ Der Psychologe und Philosoph Erich Fromm nennt diese Abenteuerlust Vitalität: „Die Vitalität selbst ist das Resultat einer Vision. Wenn es keine Vision mehr gibt von etwas Großem, Schönem, Wichtigem, dann reduziert sich die Vitalität, und der Mensch wird lebensschwächer.“ Dieses Große, Schöne, Wichtige, das suchen Aussteiger; sie sind die ultimativen Sinnsucher unserer Gesellschaft. Und in einer Zeit, in der es alles im Überfluss gibt, scheint Sinnhaftes Mangelware geworden zu sein. Jan Grossarth, Wirtschaftsredakteur der F.A.Z., schreibt über seine Teilnahme an einem Seminar im Ökodorf Siebenlinden (nachzulesen in dem Buch ‚Vom Aussteigen und Ankommen‘): „Zehn Menschen arbeiteten für zwei Mahlzeiten und zwei Kaffee am Tag und nahmen sich dafür sogar Urlaub. Das Bedürfnis nach sinnvoller Arbeit war groß, Sinn war ein Lohnsubstitut. Vielleicht verdienen die Trader bei den Banken deswegen so viel Geld, weil in der Arbeit keinerlei Sinn zu sehen ist, und nicht, weil diese spezialisierten Leute so rar sind, wie die Banker sagen.“

„Wenn wir nichts zu tun haben, ist es hier wie Urlaub.“

Uns geht es gut. Top ausgebildet, weitgereist und kultiviert leben wir das Leben der unbegrenzt Möglichkeiten; das beginnt in der Früh mit der Entscheidung zwischen Chai-Latte, Mocha-Frapucino oder doch dem klassischen Espresso und endet mit Dinner-Cancelling statt Sushi am Abend. Aber wir leben nicht, um zu essen, wir essen, um zu leben – das wusste schon Sokrates. Das ist die alte Mittel-zum-Zweck-Geschichte. Was aber ist dieser ewige Zweck?

florian & hannah

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DIE wanderer

Szenenwechsel: Das Wanderleben Resi und Huaman haben den Sommer in Europa verbracht – Huaman soll Resis Welt kennenlernen. Besser gesagt: ihre alte Welt. Denn seit Herbst 2013 lebt die Wienerin in Südamerika und reist mit Huaman von Dschungeldorf zu Dschungeldorf, an den Strand und in die Berge, niemals aber in die Stadt. Wo es ihnen gefällt, da bleiben sie, mieten sich ein Haus und bauen sich für ein paar Wochen oder Monate einen Alltag auf. Es ist ein entspannter Alltag, es gibt keine fixen Uhrzeiten, keine U-Bahn, die einem davonfahren kann. Das Kochen gibt den Takt an. Dreimal am Tag bereiten sie frische Mahlzeiten zu, oft gemeinsam. Einige Stunden pro Tag arbeitet Huaman, der Kunsthandwerker ist, an seinem Schmuck und Resi verkauft ihn. Ansonsten machen sie, was sich eben so ergibt: Wenn die Mangos reif sind, wird Marmelade eingekocht, am Nachmittag ist dann vielleicht ein Yoga-Kurs am Strand oder man liest ein Buch. Urlaub sei es aber keiner – das würde dann ja auch langweilig werden. Resi möchte vor allem glücklich mit der Natur verbunden leben. Vor ein paar Jahren sah ihr Lebensentwurf noch ganz anders aus. Mit zwanzig wollte sie Filme machen, nahm ihr gesamtes Erspartes und investierte es in einem Filmkurs an der angesehenen New York University. Trotz erster Erfolge geht sie wieder nach Österreich zurück; die Stadt die niemals schläft, ist ihr zu hektisch. Resi sieht das als Wendepunkt in ihrem Leben: „Wäre ich geblieben, wäre ich heute sicher woanders“, sagt sie und lächelt strahlend. Resi ist ein positiver Mensch, erzählt beigeistert und gestikuliert so engagiert, dass man ihr das mit der Hektik fast nicht glauben kann. In Wien geht Resi weiter dem Filmtraum nach; sie studiert Theaterwissenschaft, dreht Dokumentarfilme und arbeitet auf diversen Filmsets. 2012 sind die Dreharbeiten so dicht, dass ihr Körper sich wehrt. Ein Zahn stirbt ab, ihr Blinddarm entzündet sich – sie hat sich übernommen. „Der Film und ich, das ist keine gesunde Kombination. Ich kann mir selbst anscheinend keine Grenzen setzen“,

meint Resi dazu trocken. Und fängt gleich wieder an zu strahlen. Denn zu Weihnachten in diesem Jahr ist sie nach Ecuador geflogen um mit Freunden in Vilcabamba den Anfang des neuen Zeitzyklus der Maya zu feiern. Ihr Filmequipment ist zwar im Gepäck dabei, verwendet hat sie es aber nie. Plötzlich will sie die Dinge lieber miterleben als abbilden. In dem grünen Bergdorf begegnet sie auch Huaman, der in der Strohhütte nebenan wohnte. Über die nächsten Wochen bildet sich in diesen Hütten eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die kochen, tanzen und singen – Resi fühlt sich angekommen, wie in einer Familie. Doch nach zwei Monaten muss sie für ein Engagement als Fremdenführerin nach Wien zurück. Als sie dann im Tourbus rücklings auf den Kopf fällt und sich eine Gehirnprellung zuzieht, sagt ihr eine Bekannte: „Unfälle dieser Art hat man nur, wenn eine große Veränderung im Leben im Gange ist, wenn man nicht mehr das macht, was einem wirklich entspricht.“

Nach einem weiteren Südamerikabesuch verkündet Resi also ihren Eltern: „Nach dem Sommer zieh ich zu Huaman.“ Für ihre Familie ist das nicht einfach. Ihr Vater ist Anwalt und kann mit ihrer abstrakten Begründung, ‚mit der Natur‘ leben zu wollen, nichts anfangen und ihre jüngeren Schwestern vermissen sie. Von Freunden wird Resi gefragt, ob es nicht eine Flucht ist, dieses Wanderleben quer durch Südamerika. Sie sieht aber nicht, wovor sie fliehen sollte und Schwierigkeiten gibt es sowieso immer und überall. „Man kann sein eigenes Ego ja nicht einfach zurücklassen.“ Als nächsten Schritt will sie eine neue Beschäftigung finden. Nicht um Geld zu verdienen, aber weil Resi etwas braucht, woran sie wachsen kann. Das aufregende Bild der Filmregisseurin, dem sie so lange nachgelaufen ist, verblasst langsam. Text P a u la th u n / Foto M i cha e l F e n t

„…man kann sein eigenes Ego ja nicht einfach zurücklassen.“ resi


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Die Freude am Einfachen Ich trinke mein Cola aus und bestelle eine Fleischpalatschinke. Dass ich im Gasthaus sitze, ist Absicht, es ist mein kleiner Versuch, Aussteiger zu sein. Um wie die, die nach den idealen Lebensbedingungen suchen, mein gewohntes Arbeitsumfeld zu verlassen und nach dem besten Schreibumfeld zu suchen. Die Palatschinke wird serviert, schmeckt aber nicht. Eigentlich hatte ich auch gar keinen Hunger. Wahrscheinlich hat Günter Wamser Recht: „Wenn man noch nie richtig Durst hatte, weiß man das Glas Wasser nicht zu schätzen. Wenn man nie richtig fror, bedeutet einem der Sonnenschein am Morgen nicht so viel. Wenn man tagelang in nassen Klamotten rumläuft, begreift man, wie gut es tut, wieder ein trockenes T-Shirt anzuziehen. Diese kleinen Sachen empfinde ich als Bereicherung.“ Wamser ist seit mehr als 20 Jahren zu Pferd unterwegs. Von 1994 bis 2013 ist er von Argentinien bis nach Alaska geritten. Die Dinge wieder schätzen lernen, darüber spreche ich auch mit den angehenden Selbstversorger-Bauern Florian und Hannah (siehe S. 20). Am Land spaziert man nicht einfach einmal um die Ecke zum Bäcker und isst ein frisches Kipferl – jeder Weg ist ein Aufwand, der einkalkuliert werden muss. Dafür schmeckt das gelegentliche Frühstück außer Haus umso besser. Am Abend spielt es nicht in unmittelbarer Nähe zehn verschiedene Arthouse-Filme, sondern wenn man Glück hat, vielleicht einen. Da gibt es kein langes Hin- und Herüberlegen, die Entscheidung trifft sich von selbst. Das entspannt. Mir fällt ein Artikel ein, den ich vor kurzem gelesen habe: Der Journalist Alard von Kittlitz musste auf eine einsame Insel fahren, um wieder lesen zu lernen. Ohne Nachrichten, Updates, Messages und Kaufangebote im Sekundentakt, kehrt die Afmerksamkeit zurück: „Auf der Insel gab es kein Smartphone, und während der Phantomschmerz über dessen Abwesenheit sich über die erste Woche langsam legte, wurde mir wieder leben

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so bewusst, dass das Gehirn ein Muskel ist, den man trainieren kann, bis man Schwarzenegger ist.“ Er beschreibt seinen Alltag: „Ich habe dort in einer Hütte am Strand gewohnt. Ich wachte auf, wenn es hell wurde, und ging schlafen, kaum dass die Sonne ins Meer gefallen war. Das Leben war sehr einfach.“

In und mit der Natur Aufstehen mit der Sonne, schlafengehen mit der Sonne. „Wenn wir schon in der Natur leben, wollen wir auch mit ihr Leben“, so Neo-Selbstversorger Florian. Für seine Bienenstöcke hatte er anfangs Rat beim Imkerverein gesucht, aber deren konservative, auf Ertrag fixierte Ausrichtung entspricht nicht seiner biologisch-dynamischen. Auch das wandernde KunsthandwerkerPaar, Resi und Huaman (siehe S. 22), das zwar nicht vom Land lebt, sondern Gemüse ganz normal am Markt kauft, hat eine besondere Verbundenheit zur Natur. Huaman würde Resi unterstützen, wenn sie noch eine Ausbildung machen wollte – unter der Bedingung, dass diese Ausbildung nicht in einer Stadt stattfindet. Aufgewachsen ist er in den Weiten Argentiniens ohne Strom und fließendes Wasser – er braucht Luft zum Atmen, Freiheit, meint er. „Sie haben Unrecht, wenn Sie denken, die Freude im Leben werde hauptsächlich aus menschlichen Beziehungen erwachsen. Gott hat sie überall um uns herum angelegt“, schreibt Chris McCandless in einem Brief an seinen Freund Ronald Franz. Auch er sucht in der Natur die ultimative Freiheit. Mittlerweile habe ich mehrmals Ort gewechselt, auf der Suche nach einem idealen Schreibplatz. Vom ‚Alten Jägerhaus‘ in ein winzig kleines griechisches Café, von dort auf mein Sofa, dann unter freien Himmel bei einem Eis, am Abend in einer ruhige Bar, bei einem Glas Wein zur Inspiration. Meinen Laptop und

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DER SURFER

Den Wellen entgegen Christen (31) auszumachen, ist nicht einfach. Am Morgen kann er nicht, weil er dann draußen auf dem Wasser ist. Am Nachmittag kann er nicht, weil es dann besonders schöne Wellen geben könnte. Und natürlich sind da noch die acht Stunden Zeitverschiebung nach El Salvador einzuberechnen. Schließlich klappt es aber doch: abends um 22 Uhr mitteleuropäischer Zeit, bei Pascal ist es zwei am Nachmittag. Er sitzt lässig und mit einem breiten Lachen vor seinem Laptop. Oben ohne, durchtrainierte Brust, nur die Badehose an. Seine langen, braunen Locken schimmern im Sonnenlicht leicht goldig. Das Videobild ist schlecht und unterbricht dauernd. Pascal ist an einem abgelegenen Strand, nahe am Wasser. So wie meist. Am 1. Januar 2005, nach einer ausgiebigen Silvesterparty ist „Chrischte“, so wie in seine Freunde nennen, morgens mit dem ersten Zug nach Zürich gefahren und von dort mit dem Flieger nach Australien geflogen. Damals ist er ausgestiegen aus dem Rhythmus des bürgerlichen Alltags eines typischen Europäers. Aber erst nachdem er seine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen, den obligatorischen Militärdienst geleistet und „wie ein richtiger, braver Schweizer“ zuerst ein Jahr lang als Elektro-Installateur gearbeitet und Geld gespart hat. Geplant waren sieben Monate Reisen und Surfen in Down Under und Bali, geworden sind daraus inzwischen knapp zehn Jahre auf allen Kontinenten dieser Erde. Nur die Antarktis fehlt noch, aber dort sei es für Surfer ja auch nicht so gemütlich. Denn Pascal ist immer auf der Suche nach tollen Surf-Spots, nach der perfekten Welle. Er wisse zwar nicht, ob dies wirklich der Grund seiner Reisen sei, oder vielleicht doch eher eine Ausrede, meint er lächelnd, etwas verschmitzt und doch ernsthaft nachdenklich.

Pascal ist ein sogenannter Binnensurfer, aufgewachsen im schweizerischen Zugerland, 400 Kilometer vom nächsten Meeresstrand entfernt. In der Surfszene ist er so etwas wie ein äthiopischer Skirennfahrer, ein Exot. Im Schnitt reist und surft er etwa sieben bis neun Monate im Jahr, die restlichen drei bis fünf Monate kommt er nach Hause in die Schweiz und arbeitet, spart wieder für das nächste Abenteuer. Er ist also kein Profisurfer und verdient mit seiner Passion kein Geld. Als Binnensurfer sei das auch fast unmöglich, weil man niemals auf das Niveau der Weltspitze surfen könne, dazu habe er viel zu spät mit der Sportart angefangen. Zwar seien er und seine Schwester als Kinder mit den Eltern oft draußen in der Natur gewesen, im Bungalow-Urlaub in Italien zum Beispiel. Oder irgendwo im Wald beim grillen. Aber das Surfen, das hat er erst mit 18 Jahren ausprobiert: in Südfrankreich an der Atlantikküste, wo er mit Freunden hingefahren ist und ein Surfcamp besucht hat. Sie hätten in Zelten geschlafen, mit Gaskochern hantiert und tagsüber die ersten Wellen zu reiten versucht. Dieses einfache Leben mitten in der Natur und die sportliche Betätigung – Pascal hat das einfach gepasst. Jeden Sommer seien er und seine Freunde fortan ans Meer gefahren, der Surfertraum war geboren. Das mit diesem Traum sei aber gleichzeitig so eine Sache. Es gäbe viele Klischees zu Surfern und er sei sich natürlich bewusst, dass er diese auch perfekt bediene. Seine Haare seien lang und er trage selten ein T-Shirt. Aber man müsse wissen, dass sein Leben nicht nur so „chillig“ sei, wie es auf seinen Fotos auf Facebook oder seiner eigenen Homepage aussehen mag. Er spiele auch nicht jeden Abend am Lagerfeuer seine eigenen Songs à la Jack Johnson und sehe das Surfen auch nicht als quasi-Religionsersatz. Am Abend lese er vielmehr Bücher und denke über die großen Fragen des Lebens nach. Nur eher selten gehe er aus, kiffen tue er übrigens auch nicht. Dass viele Menschen Surfen praktisch mit einer eigenen Lebensphilosophie

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gleichsetzen, treffe auf ihn nicht zu. Natürlich diktiere es sein Leben zu großen Teilen, aber für ihn sei es einfach eine Sportart, die er gerne ausübe. Die Skype-Verbindung bricht ab. Ein neuer Versuch, diesmal nur Ton. Pascal erzählt jetzt Geschichten aus seinem Leben. Wie er zum Beispiel eine spezielle Beziehung zu Schildkröten hat. Immer wieder begegnen ihm welche im Wasser, an den unterschiedlichsten Orten. Sie scheinen ihn zu grüßen. Das sei für ihn immer ein schönes, positives Zeichen. Sozusagen eine Nachricht von irgendwoher, dass alles stimmt. Die weniger guten Zeichen sind die Begegnungen mit Haien. Mit einem dieser gefährlichen Fische hatte er ein besonderes Treffen. Er hätte Glück gehabt, dass er instinktiv richtig gehandelt habe und untergetaucht sei, sich dem Hai „gestellt“ habe. Der Raubfisch sei dann jedenfalls wieder von dannen gezogen. Es versteht sich von selbst, dass nicht jeder Surfer dieses Glück hat(te). Pascal sieht seinen Lebensstil durchaus auch kritisch und hinterfragt ihn. Besonders dann, wenn er wieder in Europa ist und seine alten Freunde, die inzwischen zum Teil verheiratet sind und Kinder haben, trifft. Oder dann, wenn der 5-jährige Sohn seines besten Freundes ihn nicht erkennt und seinen Namen nicht weiß. Dann realisiert er, dass er durch seine Abwesenheit viele schöne Momente im Freundeskreis und in der Familie verpasst. Die Sehnsucht danach, diese Momente mitzuerleben, sei manchmal schon groß. Aber die Sehnsucht nach dem Reisen und den Wellen sei bisher

www.thefreesurfer.com

Ein Interview mit dem Wellenreiter Pascal


immer noch stärker gewesen. Er habe sich für dieses Leben entschieden und treffe die Entscheidung fortlaufend immer wieder neu. Das sei gut so. Und ja, er sei glücklich. Und zwar deshalb, weil er sich dazu entschieden habe. Glück sei eben, wie so vieles im Leben, eine Entscheidung. Skype bröckelt nun definitiv. Pascal verabschiedet sich, bei ihm ist jetzt Nachmittag. Er gehe schauen, was die Wellen machen. Sie sind es schließlich, die ihn durch die letzten zehn Jahre seines Lebens getragen haben.

Seine Sehnsucht, besondere Momente im Leben seiner Freunde mitzuerleben ist groß – aber die Sehnsucht nach den Wellen war bisher immer stärker.

Text M a r t i n i t e n / Foto P ascal C h r i st e n

» mein Hirn, viel mehr brauche ich nicht zum Schreiben. Ich bin unabhängig, kann weiterziehen, wann ich will, kann Essen, wann ich will, pausieren, wann ich will. Meine Arbeitskollegen sitzen im Büro, ich bin ganz mir selbst überlassen.

Selbst ist der Mensch! Fast sich selbst überlassen ist der ehemalige McKinsey Berater Tom Putnam, ein Bekannter von mir. Aus einem Impuls heraus ist er mit einem Land Rover von London nach Nigeria gefahren, es war quasi ein drastischer Teilzeitausstieg aus der Sicherheit des Elfenbeinturms. Nach einer zweiten und dritten waghalsigen Autotour hat er gekündigt und ist nach Kenia gezogen. Hier arbeitet er zwar immer noch recht engagiert und auch recht kommerziell für ein Großunternehmen, aber er ist sein eigener Herr. Er trifft Entscheidungen, teilt sich seine Zeit selbst ein, gibt den Ton an. Nur einmal in der Woche bespricht er sich mit seinem Chef – und auch den wird es nicht ewig geben, wenn es nach Tom geht. Tom ist jung, alleinstehend und kinderlos. Letzteres sind viele Aussteiger, beobachtet F.A.Z. Redakteur Jan Grossarth. In einem Spiegel-Artikel lese ich gar: „Der Aussteiger ist selbstbezogen. Er kreist um sich, er nimmt sich wichtig, zu wichtig. Ihm geht es allein um sein Heil. Er feiert die maximale Freiheit als maximales Glück und verkennt, dass Ungebundenheit auch Bindungslosigkeit heißt – und Einsamkeit. Wer geht, wohin er will, wann er will, wie er will, übernimmt keine Verantwortung, weder für die Familie noch für die Gesellschaft. Er entsolidarisiert sich und gefällt sich in Systemkritik, dabei macht er es sich leicht, denn er verändert nicht die Welt, in der er lebt. Er flieht vor ihr. Er ist feige.“ Ich muss unwilkürlich an die Jünger denken, die alles verlassen haben, um Jesus nachzufolgen, auch Frauen und Kinder. Und da wären wir schon wieder bei der Sinnesfrage. Vielleicht gibt es etwas, dass diese Radikalität erlaubt?

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Der EREMit

Allein und doch nicht einsam Im südlichen Teil der Schweiz, nördlich von Lugano, dort, wo man auf die Berge „Denti della Vecchia“, auf die „Zähne der Alten“ sieht, befindet sich das kleine Dorf Roveredo. Ein winziger Kern und ein paar Häuser die oben am Hang kleben. Dort irgendwo im Wald, ein schmiedeeisernes Tor mit einem Holzschild – „Eremo St. Croce (der Einsiedler vom Heiligen Kreuz). Bitte drei Mal klingeln und dann warten.“ Nach einem angespannten Moment der Stille raschelt der Wald und eine hochgewachsene, graubärtige Gestalt im schwarzen Mönchsgewand erscheint am Tor. Pater Gabriel lässt seine Besucher herein und verwandelt den Ort der Einsamkeit in einen Ort der Begegnung. Für Pater Gabriel Bunge ist aussteigen (obwohl er ja selber nie so ein Modewort benutzen würde) vor allem eine Rückkehr zum Ursprung. In der Tat ist er keiner, der sich den Modetrends der Zeit unterwirft (obwohl er sich doch auch wie ein ganz gewöhnlicher Mensch über den Telefonanbieter ärgern kann), sondern er ist einer, der stets versucht, unter dem Blickwinkel der Ewigkeit zu leben. Seine Faszination für den Anfang hat nichts mit einem historischen Interesse zu tun. Den Ursprung müsse man kennen, um in der Gegenwart bestehen zu können. Die Nachfolge Christi, wenn man sie ganz ernst nimmt, bedeute immer, dass man aussteigen muss. Ins Kloster zu gehen, heißt, sich mit Christus in die Wüste zu begeben. Er selbst habe schon früh einen Ruf empfangen. Als er als junger Mensch wieder anfing, in die Kirche zu gehen, wurde an einem Sonntag das Evangelium vom reichen Jüngling gelesen. In diesem Augenblick hat der Kölner Ärztesohn, der selbst Arzt werden wollte, schlagartig begriffen, dass dieser junge, reiche Mann er selbst war. Und dass sich dieses Wort des Evangeliums sozusagen nicht anonym an die ganze Menschheit

richtete, sondern jetzt, heute, in dieser Kirche an ihn, und dass er eine Antwort geben musste. Er habe spontan Ja gesagt. Und obwohl er noch nie Mönche gesehen hatte, wusste er merkwürdiger Weise, dass er dieses Ja als Mönch verwirklichen solle. Die Umsetzung dieses Vorhabens war dann aber alles andere als einfach. Mit seiner Idee ist er besonders bei seinem Vater auf enormen Widerstand gestoßen. Ein Erdbeben sei harmlos dagegen. Zeit, an seiner Berufung zu zweifeln, hat Pater Gabriel jedenfalls in den gut fünfzig Jahren, die seither vergangen sind, nie gehabt, es gab ja so viele wichtige Dinge zu tun. Die Frage, ob sein Leben keine Flucht sei, scheint ihm typisch westlich und modern. Der Mensch werde nicht mehr durch das definiert, was er ist, sondern durch das, was er tut. Wenn man jung ist, meint er mit der ganzen Weisheit eines Vierundsiebzigjährigen, dessen stahlblaue Augen noch die Wachheit eines Jugendlichen versprühen, habe man noch die Neigung sich zu rechtfertigen. Jetzt verzichte er gänzlich darauf. Jeder Mensch, der lebt, der existiert, ist, was er ist und er muss nicht zusätzlich eine von der Allgemeinheit akzeptierte Existenzberechtigung vorweisen. Wer aber meint, dass Pater Gabriels Sicht auf den Menschen als immer schon angenommenes und gewolltes Kind Gottes dazu führt, dass er sich in seinem Sein gesonnt und das Tun vernachlässigt hätte, der täuscht sich gewaltig. Der russisch orthodoxe Priestermönch, ehemals Professor für Exegese, Ehrendoktor, Ehrenarchimandrit und in den Rang eines Abtes erhoben (seine Eremitage hat neuerdings die Rechtsform eines Klosters), hat die Hände nie in den Schoß gelegt, sondern er hat sich stets um sein Herzensanliegen, um den Ursprung bemüht. Weil im Ursprung, wie in einem Samen, alles schon angelegt ist. Dazu hat er zahlreiche Schriften der ganz frühen Mönche übersetzt und kommentiert. Er möchte sie aus der Versenkung holen und den

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Menschen zugänglich machen. Nach anfänglich großer Abgeschiedenheit, hat er auch seine Türen wieder weiter geöffnet für Menschen die Rat und Hilfe suchen. Die Besucher sind bisweilen so zahlreich, dass er seine Einsamkeit viel eher verteidigen muss, als dass er unter ihr leiden würde. Und schließlich sind Einsamkeit und Alleinsein bei Weitem nicht dasselbe. Einen Internetanschluss besitzt er nicht und ein Telefon hat er sich nur auf Ersuchen des Bischofs zugelegt. Er habe gehorcht und der Bischof bezahlt, schmunzelt Pater Gabriel in Erinnerung an diese Episode, wie über einen besonders gelungen Bubenstreich. Über seinen konkreten Tagesablauf sprechen mag er nicht, dazu ist ihm die Zeit zu schade. Er kann es nicht fassen, dass sich die Leute immer für solche biografischen Details interessieren. Das sei doch völlig nebensächlich. Seine Gedanken kreisen in der Tat um wesentlichere Inhalte. Seine Sätze zum Mönchtum, zur heiligen Schrift oder zum Weltgeschehen (er ist weit besser informiert als manch anderer Weltenbürger) sind sehr komplex, kommen immer auf den Punkt und könnten direkt als Vorlesungspapiere gedruckt werden. Nur die Frage, ob er glücklich sei, ist schnell beantwortet. Da reicht ihm ein Ja. Er habe niemals, kein einziges Mal bereut, Mönch geworden zu sein und er habe niemals bereut, hierhergekommen zu sein und dieses Leben gewählt zu haben. Er habe das nicht vorhersehen können, aber das gelte ja für das Leben jedes Menschen, was es da alles Schweres geben würde, zum Beispiel einen jüngeren Mitbruder zu haben, der dann schwer und tödlich erkrankt und mit 44 Jahren in seinen Händen stirbt und bis heute fehle. Es werde uns ja nie gesagt, was uns erwartet. Aber er bereue das nicht. Der liebe Gott irre sich nicht. Nie. Text magdal e n a h e ggl i n / Foto M i cha e l F e n t


» Der Eremit Pater Gabriel (siehe S. 26), der seit Jahrzehnten wie versteckt in den Schweizer Bergen lebt, kann bei der Frage, ob sein Leben eine Flucht sei, nur schmunzeln. Für ihn ist das eine typisch westlich moderne Fragestellung. Der Mensch muss sich nicht rechtfertigen, allein seine Existenz genügt. Außerdem: nicht alle Aussteiger wollen aus der Gesellschaft ausbrechen. „Ich will Teil des Systems sein. Ich will jedoch, dass sich das System in manchen Dingen ändert“, meint Michael Hartl, ein weiterer Selbstversorger, der gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin der Welt sein Lebenskonzept per Blog erklärt und damit schon über 65 000 Follower auf Facebook gesammelt hat. Auch Daniela und Vincent, die den Ausstieg ins Landleben als Gäste bei Hannah und Florian eine Woche lang ausprobiert haben, geht es nicht darum, einfach ihr eigenes Ding zu drehen. Im Gegenteil, sie sehnen sich nach Gemeinschaft, nach einem dichteren sozialen Netzwerk. Die Anonymität in der Stadt stört sie, deshalb schauen sie sich nach Gemeinschaftswohnprojekten um. Daniela und Vincent haben einen Sohn – womöglich ändert das die Perspektive.

Der Aussteiger, wie er im Buche steht

„Die Nachfolge Christi, wenn man sie ganz ernst nimmt, bedeutet immer, dass man aussteigen muss.“

Zwischendurch, wenn ich mich recht erinnere, war es im griechischen Café, werfe ich einen Blick in die deutsche Literaturgeschichte, denn auch hier sind Aussteiger zu finden. Der berühmteste unter ihnen, Siddharta, den Herman Hesse Siddharta Gautama, also Buddha, nachempfunden hat, möchte dem ewigen, leidvollen Kreislauf des Seins entkommen und macht sich auf die Suche nach der Erlösung. Als ihn im Alter sein Kindheitsfreund Govinda nach seiner Lehre fragt, antwortet Siddharta: „Die Liebe, o Govinda scheint mir von allem die Hauptsache zu sein.“ Ähnlich erzählt Stefan Zweig in ‚Die Augen des ewigen

p. gabriel bunge

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Der EX-PROFISPORTLER

Abschied vom Fußballplatz Es ist der 17. Mai 2010. Eine kurze Nachricht in der Neuen Zürcher Zeitung lässt aufhorchen: „Fußballtalent verlässt ‚Oberflächlickeit‘ – Lior Etter (20) löst Vertrag mit Luzern auf“. Im Artikel wird der frische Ex-Fußballer zitiert, dass ihn dieses Leben nicht erfülle. Statt weiter auf Fußball zu setzen, plane er nun eine Reise nach Südostasien. Punkt. Ein kühler Spätsommerabend in einem Vorort von Luzern. Lior Etter – inzwischen 24 – sitzt am Küchentisch in der Wohnung seines Vaters. An der Wand hängen Kunstwerke, die ebendieser, ein Luzerner Künstler, geschaffen hat. Auf dem Tisch steht eine gläserne Karaffe mit Leitungswasser. Darauf prangt ein blaues Logo mit dem Schriftzug „Wasser für Wasser“. „Für mich war es eine Befreiung. Ich konnte mich im Fußball innerlich einfach nicht entfalten. Ich hatte Lust nach mehr, wollte nichts mehr mit dem Fußball und seiner Struktur zu tun haben. Ich wollte einfach sein.“ Lior spricht überlegt, seine Aussagen sind differenziert, gut reflektiert. So sagt er, dass er nie den Anspruch gehabt hätte, das Fußballgeschäft ändern zu wollen. Und dass er mit der Fußball-Welt im Reinen sei. Er wolle keinem Fußballer den Wert seines Berufes absprechen. Immer wieder erwähnt er, dass sein vier Jahre älterer Bruder Morris für das Geschehene wohl andere Worte wählen würde, dass dies nur seine eigene, subjektive Sicht der Dinge sei. Lior ist der Jüngste von drei Fußballbegabten Etter-Brüdern. Und derjenige, der es bis weit nach oben, bis in die erste Mannschaft des Erstligisten FC Luzern geschafft hat. Den angebotenen Profivertrag hat er aber erst nach viermonatiger Bedenkzeit unterschrieben, er war sich damals schon unsicher, ob das wirklich sein Weg ist. Aber die Neugierde packte ihn doch und er dachte sich, dass es einen Versuch wert sei. Immerhin konnte er in diesem knappen Jahr als Profifußballer gutes Geld verdienen.

Lior lacht. Lange hat er noch von diesem Geld gelebt, jetzt ist er bei WfW angestellt. Diese Organisation hat er 2012 mit seinem Bruder Morris als gemeinnützigen Verein gegründet. Die Büroräumlichkeiten von WfW sind ebenfalls im Haus seines Vaters untergebracht, bald wird aber umgezogen, es braucht mehr Platz. Zusammen mit seinem Bruder Morris und weiteren Mitstreitern hat Lior ein gemeinsames Ziel: der Erfüllung des Menschenrechts auf Wasser einen Schritt näher zu kommen. Ein wahrlich großer Traum, Lior meint es aber ernst. Und die Idee ist im Grunde simpel: Gastronomiebetriebe verpflichten sich, Leitungswasser in Karaffen auszuschenken und den fixen Verkaufspreis an WfW weiterzuleiten. Bereits über 100 Gastronomiebetriebe machen mit, auch andere Wirtschaftsunternehmen beginnen, sich an der Aktion zu beteiligen. Mit dem gesammelten Geld finanziert WfW in Lusaka, der Hauptstadt Sambias, den Bau von kommunalen Abgabestellen für sauberes Trinkwasser. Zudem werden ebenfalls in Lusaka mit WfWs Unterstützung in lokalen Berufsschulen Sanitärinstallateure ausgebildet. Grundsätzlich sei wichtig, dass der ganze Wasserkreislauf betrachtet wird. Denn das Problem der Wasserversorgung gehe Hand in Hand mit dem Problem der Wasserverschmutzung, ohne funktionierende sanitäre Anlagen könne der Wasserkreislauf nicht funktionieren. Es brauche grundsätzliche Aufbauarbeit und ganzheitliche Ansätze, so Lior. Das sei ihm vor allem auf seinen Reisen nach seiner Fußballkarriere bewusst geworden. Die erste Reise führte ihn damals, nicht wie in der Zeitung angekündigt, nach Südostasien, sondern nach Südamerika. Ein halbes Jahr nach dem Ende seiner Profikarriere – Lior war gerade unterwegs in Buenos Aires – erfuhr er von einer drastischen Verschlechterung des Gesundheitszustands seines zweiten Bruders Basil. Basil hatte Krebs. Sofort brach Lior seine Reise ab, flog zurück in die Schweiz und stand keine 40 Stunden

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später am Bett seines Bruders. Dort blieb er praktisch ein halbes Jahr lang, bis zu Basils Tod, zusammen mit seiner Familie, oft auch allein. Das sei sein eigentlicher Ausstieg gewesen. Im Angesicht dieses Leides und des Todes seines Bruders hätten sich alle Dinge relativiert. So sehr, dass er sich damals fragte, was überhaupt noch Sinn mache. Dann, nach Basils Tod sind die Brüder Morris und Lior aufgebrochen auf eine große gemeinsame Reise, diesmal wirklich nach Südostasien. Unterwegs haben sie sich entschieden, „Wasser für Wasser“ zu gründen, auch, weil ihnen in Indien die Allgegenwärtigkeit der Wasserproblematik bewusst geworden war. Basil sei aber der wahre Grund gewesen, warum sie überhaupt den Mut gehabt hätten, diese Entscheidung zu treffen. Ja, Basils Tod habe in seinem Leben viel verändert.


» Bruders‘ die Geschichte des Suchenden Virata, der schuldlos leben möchte und zu diesem Zwecke in den Wald zieht, um nur von der Frucht seiner eigenen Arbeit zu leben. Als er erfährt, dass ein Familienvater ihn dabei nachahmt und dessen Kinder bei ihrer Mutter derweil, mangels eines Einkommens, verhungern, kehrt er in die Stadt zurück und bittet mit folgenden Worten den König in seinen Dienst aufgenommen zu werden: „Ich will nicht mehr frei sein meines Willens. Denn der Freie ist nicht frei und der Untätige nicht ohne Schuld. Nur wer dient, ist frei, wer seinen Willen gibt an einen andern, seine Kraft an ein Werk und tut, ohne zu fragen.“

„Ich wollte einfach sein.“ lior etter

Hinter dem Arbeitstisch an der Wand hängt ein großer Fotoprint mit lachenden sambischen Kindern. Lior hat das Bild selber gemacht. Daneben steht ein Regal, zuoberst eine ernste Büste als Bücherhalter. Sie zeigt Liors Urgroßvater Philipp Etter, den Schweizer Bundesrat und Bundespräsidenten während des Zweiten Weltkrieges. Eine markante, prägende Gestalt, der nachgesagt wird, dass sie klare Überzeugungen und Werte vertreten habe. Lior sitzt jetzt auf dem Bürostuhl, schaut hoch zum bekannten Vorfahren und grinst: „Ich habe meinen Rücktritt noch keine Sekunde bereut.“ Der Fußball ist in weite Ferne gerückt. Text M a r t i n i t e n / Fotos M i cha e l F e n t

Das erinnert mich an eines meiner liebsten Bücher, „Die Innere Freiheit“ von Pater Jacques Philippe. Einen Satz habe ich dick unterstrichen: „Die Freiheit gibt der Liebe ihren Preis.“ Ohne die freie Entscheidung, uns zu verschenken, können wir nicht lieben und wenn wir von dieser Entscheidung, keinen Gebrauch machen, verweigern wir unsere Freiheit. Und lieben bedeutet, dem Wohl des anderen dienen. Ist es das, was Zweig mit den Worten Viratas sagen möchte? Und ist das vielleicht eine Antwort auf die Sinnesfrage?

Zurück zum Ursprung In der Literaturgeschichte, wenn auch nicht in der deutschsprachigen, stößt man auf der Suche nach Aussteigern unweigerlich auf den viel zitierten Jean-Jacques Rousseau. Selbst zwar kein Aussteiger, trifft seine Philosophie aber einen Nerv, den ich in all meinen Gesprächen entdecken kann. Dieses ‚zurück zur Natur‘, zurück zum Ursprung, die Abkehr von der Verfremdung der Stadt hin zu kleinen Gemeinschaften, wie sie Rousseau für ideal hält, das sind Ideen, mit denen ich auf meiner Recherche permanent konfrontiert werde. Sie werden als Lösung für die Probleme der heutigen Gesellschaft propagiert, genauso wie Rousseau sie als Lösung für die Probleme des 18. Jahrhunderts empfand. So vieles hat sich seit Rousseaus Lebzeiten verändert und wir schleudern, neu verpackt, immer noch dieselben Ideen als bahnbrechende

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Kardinal Christoph Schönborn über die Sehnsucht und das gute Leben

Aussteiger gehen viele verschiedene Wege, doch eines verbindet sie: die Sehnsucht danach, ein gutes Leben zu führen. Woher kommt diese Sehnsucht? Kardinal Schönborn – Mir fällt sofort dabei ein Bild ein: Ich war damals zweiundzwanzig und habe in Wien Psychologie studiert und war sehr auf der Suche. Es gab die Frage, ob ich im Orden bleiben soll oder nicht, Dominikanerpriester werden oder nicht und ich hab dann meine Cousine in der Steiermark besucht. Wir sind in ein Bergtal hinaufgefahren, zum Spazierengehen und Reden. Das war ein wunderbarer Sommertag; durch das Bergtal ging ein Bach und wir haben uns ans Ufer gesetzt und die Füße ins Wasser hängen lassen. Das ist mir in Erinnerung als ein Moment von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl. Ich weiß gar nicht, warum, es war einfach so. Es hat alles rundherum gestimmt. Es war ein gutes Gespräch, das Bergtal war schön, es war still, das Plätschern des Baches, das Baumeln der Füße im Wasser... Es gibt solche Momente, wo alles zusammen stimmt und dann ist natürlich die

Sehsucht danach, dass so etwas bleibt. Und ich weiß, das kann so nicht bleiben, aber es kann einem nie mehr genommen werden. Die Erinnerung an solche Momente sind die Zusage ‚Es ist gut zu sein‘ und darin auch die Zusage ‚Es wird alles gut‘. Diese Sehnsucht, aus ihrem Leben etwas Großes zu machen, haben viele Menschen - nicht alle handeln danach. Ist der Mensch seines Glückes Schmied? Es sind mir in meinem Leben einige Dinge gelungen und bei allen diesen gelungenen Dingen kann ich nur sagen, sie sind mir geschenkt worden. Es war immer auch das Element dabei, dass ich zugegriffen habe, dass ich im entscheidenden Moment auch tatsächlich etwas gemacht habe, dass ich drangeblieben bin und das war oft sehr herausfordernd und anstrengend und auch mit großen Sorgen verbunden, aber wir sagen nicht umsonst ‚Es ist geglückt‘. Die Sehnsucht, etwas Großes zustandezubringen, ist, glaub ich, in vielen Menschen da; ich empfinde es als ein unwahrscheinliches Glück, wenn ich sagen kann ‚Es ist geglückt‘. Und die andere Frage ist natürlich: Was ist mit den gescheiterten Plänen, Projekten, Lebensentwürfen. Da hab ich eigentlich nur eine biblische Antwort: Es gibt vor Gott keinen hoffnungslosen Fall. Aber das heißt nicht immer, dass es in diesem Leben schon alles gibt. Für mich ist das Entscheidende, dass es die Hoffnung auf die Erfüllung bei Gott gibt, der auch ein menschlich gesehen ganz gescheitertes Leben ganz machen kann. Was bedeutet es für Sie persönlich, ein gutes und glückliches Leben zu führen? Das hat zwei Aspekte. Je älter ich werde, desto mehr sehe ich, wie viele Defizite es in meinem Leben gibt und wie schwer es ist, diese Defizite auszugleichen, die Fehler zu überwinden, die Charaktermängel, die Unfähigkeiten, die ich in mir selber feststelle, auszubügeln oder auszugleichen - das ist die eine Seite. Die andere Seite ist das Staunen darüber, dass mit allen diesen Defiziten insgesamt doch ein Plus herauskommt. Und da ist für mich der Schlüssel die Dankbarkeit. Nicht umsonst wird das in der Bibel als eines der Grundworte immer genannt. Dankbarkeit. Dankbarkeit, dass das Leben trotz dieser wirklich vielen Defizite einfach schön ist.

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Das Gesetz, dem er hatte entfliehen wollen, das Gesetz seines eigenen Lebens, blieb gnadenlos über ihm, unter welchen Himmel er sich auch flüchtete. Klaus Mann Wollte immer gehen wollte immer bleiben wollte auch beim Gehen bleiben und beim Bleiben gehen und will es immer noch. Werner Lutz

But you know your desire Don‘t hold a glass over the flame Don‘t let your heart grow cold I will call you by name I will share your road Mumford & Sons

In die Wüste gehen Propheten und Eremiten; durch die Wüste gehen Pilger und Verfolgte. Hier haben die Führer der großen Religionen den heilenden und geistigen Wert des Rückzuges gesucht, nicht um vor der Wirklichkeit zu fliehen, sondern um sie zu finden. Paul Shepard


Zitate Battle Worte zum Thema

Fischli/Weiss

Findet mich das Glück? Ist es besser, sich einem

Unsere größte Sorge sollte es sein, jede Sekunde endlos sorglos zu sein.

Leben ohne Ideal zu überlassen, einer nach eigenem Bild und MaSS konstruierten Welt,

P. Kentenich

Khalil Gibran

die Wahrheit, das Gute, die Gerechtigkeit zu suchen, für eine Welt zu arbeiten, die die Schönheit Gottes widerspiegelt, Johannes Paul II

...denn frei könnt ihr nur sein, wenn euch selbst der Wunsch, nach Freiheit zu streben, zu einer Fessel wird und ihr aufhört, von der Freiheit als einem Ziel und einer Erfüllung zu sprechen.

oder aber hochherzig

auch auf Kosten der damit verbundenen Prüfungen, die man auf sich nehmen muss?

Leben heißt Gemeinschaft, das Wesen des Todes ist Beziehungslosigkeit. Joseph Ratzinger We shall not cease from exploration And the end of all our exploring Will be to arrive where we started And know the place for the first time.

Du wohntest im Innersten meiner selbst, während ich mich außerhalb befand und dich außerhalb suchte! Augustinus

T.S. Eliot

Ein Mensch erhofft sich fromm und still, daß er einst das kriegt, was er will. Bis er dann doch dem Wahn erliegt, und schließlich das will, was er kriegt. Eugen Roth

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» Erkenntnisse der Menschheit umher. Zurück zum Ursprung, das ist auch Pater Gabriels Maxime, allerdings nicht aus dem Gedanken an die Evolution der menschlichen Gesellschaft, sondern aus einem Blickwinkel der Ewigkeit. Den Ursprung muss man kennen, um in der Gegenwart zu bestehen. Sein ganzes Leben ist auf Gott ausgerichtet.

Die Sehnsucht nach dem Sinn Ich sitze jetzt zuhause an meinem Esstisch und merke: Die besten Schreibbedingungen sind Zeitdruck und ein eiserner Wille. Diese Erkenntnis ist natürlich billig, denn im Gegensatz zu den Aussteigern, die ihre Existenz auf den Kopf stellen, um ein gutes Leben zu führen, muss ich mit meinem kleinen Experiment keine Konsequenzen in Kauf nehmen. Ich muss nicht Freunde und Familie verlassen, wie es Resi getan hat, als sie nach Südamerika zog, und mir auch keine Sorgen machen, ob mich der Sohn meines besten Freundes noch erkennen wird, wie der Surfer Pascal Christen. Und doch kann ich Christen zustimmen, wenn er meint, glücklich zu sein sei auch eine Entscheidung. Denn so schön das Schreiben unter freiem Himmel war, so sehr ich meine Freiheit an diesem ersten Nachmittag im Wiener Prater genossen habe, je länger ich dort saß, desto lauter bellte der Hund am Nebentisch, desto eifriger bedienten sich die sommerlichen Gelsenschwärme an meinen Beinen und desto unruhiger wurde ich - jeder Ausbruch wird irgendwann Alltag. Was bleibt, ist die Frage nach dem Großen, Schönen und Wichtigen, nach dem Zweck, den wir mit unserem Leben als Mittel erreichen wollen; der Aussteiger sucht vielleicht fleißiger nach einer Antwort, oder läuft mit größeren Schritten vor ihr davon, aber die Sehnsucht nach Sinn, nach einem guten und richtigen Leben, die gehört uns allen. P A U L A T H UN 26, die Politikwissenschaftlerin ist auch Wollexpertin. Nach Ausflügen in die Wiener Filmbranche hat sie sich dem Melchior-Team als Redakteurin angeschlossen.


nachgedacht 1 Frage, 3 Antworten

Die Philosophin Mit Blick auf die Geschichte der Philosophie lässt sich diese Frage schnell beantworten: Ja. Schließlich waren fast alle großen Philosophen gläubige Menschen: Platon und Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin, Avicenna und Averroes, Descartes und Rousseau, Kant und Hegel, Spinoza und Moses Mendelssohn, Husserl und Heidegger etc. Auch aus anderen Bereichen der Wissenschaft kennen wir Menschen, die wir wegen ihrer vernünftigen Fähigkeiten bewundern, und die an Gott glauben, wie es etwa Albert Einstein tat. Unterstellen wir, dass Wissenschaftler vernünftige Menschen sind, dann sehen wir also, dass sich Vernunft und Glaube faktisch nicht ausschließen – auch wenn das jeweilige Gottesbild recht unterschiedlich ausfallen kann.

Disputatio

Ist es vernünftig, an Gott zu glauben?

Doch neben dem rein Faktischen scheinen mir auch viele gute Gründe für den Glauben zu sprechen. Papst Benedikt XVI. hat 2011 in einer Ansprache die Frage nach der Vernünftigkeit des Glaubens aufgeworfen. Sicher, so räumt er ein, können wir Gott nicht auf den Tisch legen wie einen Gegenstand, so dass jeder Zweifel an seiner Existenz verstummen muss. Aber in der Größe des Kosmos, in der Schönheit der Schöpfung, in der technischen Nutzbarmachung der Welt, die nur möglich ist, weil die Welt rational gebaut ist, und ganz besonders in der Begegnung mit Menschen, die von Gott angerührt sind, könnten wir doch das Wirken Gottes wahrnehmen.

Zugegebenermaßen müsste man bei dieser Fragestellung erst den

Das sind zugegebenermaßen keine strengen Beweise im wissenschaftlichen Sinn. Wären es Beweise, könnten wir nicht glauben, sondern wüssten um Gott. Wissen und Glauben sind aber verschiedene Dinge, auch wenn der Unterschied zwischen ihnen kein Unterschied von Vernunft und Unvernunft ist. Schließlich gibt es auch keinen Beweis für die Nicht-Existenz Gottes. So steht philosophische Einsicht dem Glauben an Gott nicht nur nicht entgegen, sondern führt ein großes Stück zu ihm hin. Dabei ist Glaube mehr als ein ‚Ich glaube, dass…‘. Er enthält auch ein Vertrauen in das Zeugnis anderer, drückt sich aus in einem ‚Ich glaube dir‘. Der Philosoph Robert Spaemann nimmt diesen Gedanken in seiner Bestimmung des Glaubens auf: „Glauben heißt, von etwas überzeugt sein aufgrund des Vertrauens auf das Wort eines anderen, der es wissen muss.“ Auch das ist alles andere als unvernünftig.

Vernunftsbegriff klären. Und eigentlich bräuchte eine gründliche Beantwortung einer der ältesten Fragen der Menschheit auch mehr Platz als zwei Seiten. Für Melchior haben die Philosophin Dr. Kathi Beier, der Atheist Valentin Abgottspon und der Theologe Bruder Nikodemus aber das Unmögliche zur Möglichkeit erklärt und für uns drei Antworten verfasst. Es hat sich ausgezahlt, finden wir.

D R . kath i b e i e r arbeitet am Institut für Philosophie der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. antike Philosophie, Tugendethik und Metaphysik. standpunkte

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Der Atheist

Der Theologe

Ja, es ist unvernünftig, an Gott zu glauben.

Gestützt auf die Heiligen Schriften bestätigt die Lehre der Kirche seit den Anfängen ihres theologischen Suchens den tiefen Zusammenhang zwischen Glaubensund Vernunfterkenntnis.

Die Frage aber pauschal und undifferenziert mit Ja oder Nein zu beantworten, ist freilich etwas unbefriedigend. An welchen Gott sollte denn geglaubt werden? An Jahwe, an das Fliegende Spaghettimonster, an Allah, Zeus oder Cthulhu, eine Göttin gar? An einen fast nicht kritisierbaren, unfassbaren Urgrund? An ein erstes Anstoßer-Prinzip, einen unbewegten Erstbeweger? Es war Dietrich Bonhoeffer, der pointiert formulierte, dass es einen Gott, den es gäbe, nicht geben könne. Entweder wird der Gott also angreifbar und konkret oder er bleibt nebulös und eine Diskussion über seine Eigenschaften wird sinnfrei. Poesie und Mutmaßung sozusagen. Falls es jedoch um einen recht konkreten, personalen Gott gehen soll, der das nahezu unermessliche Universum geschaffen hat, der dann aber angeblich ein Interesse daran haben soll, ob Jugendliche masturbieren oder dass (Katholikinnen und) Katholiken, welche in Scheidung und in einer neuen Partnerschaft leben, zur Kommunion gehen..., dann finde ich es sehr unvernünftig, an einen solchen Gott (pointiert gesehen – ein Gott à la Katholizismus und gemäß anderen Monotheismen) zu glauben.

Trotzdem muss die gestellte Frage radikaler formuliert werden: Gibt es ein existentielles Verständnis des christlichen Glaubens – antwortet der Glaube auch auf die Fragen meines Lebens als menschliche Person, in meiner singulären existentiellen Situation? Wer bin ich? Was ist mein Glück? Warum das Leiden und der Tod? Grundfragen jedes ethischen Suchens. Und was bedeuten in diesem Zusammenhang die Worte des hl. Petrus: „Herr, wohin sollten wir gehen, du hast Worte des ewigen Lebens.“ Im Hinblick auf diese „Worte“ sagt uns das II. Vatikanum, sie seien nicht als bloß intellektualistische Mitteilung über Gott und den Menschen zu verstehen, sondern als Offenbarung d.h. als Gabe, ereignishaftes Handeln Gottes und Ort persönlicher Begegnung mit ihm. Diese „Worte“ finden ihre Vollendung und letzte Bedeutung im Kommen Gottes in unserem Fleisch, definitive Begegnung zwischen Gott und Mensch in der Person des Sohnes. Somit offenbart Gott auch die existentielle und vernünftige Relevanz des Glaubens. Die Evangelien öffnen unseren Blick auf den Weg Gottes, den er in unserem Fleisch geht. Vollkommen unerwartet plaziert sich nun Gott selbst in der Frage nach Sinn und Ziel des Menschen und zeigt uns die Kunst eines wahren menschlichen Lebens und gibt uns im treuen Vollzug seines Lebens bis zur äußersten Selbsthingabe die göttliche Antwort: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ und „ der Vater und ich sind eins“.

Und was ist denn unser Begriff von Vernunft? Es kann durchaus in gewissem Sinne vernünftig sein, dass eine Person in bestimmten Momenten Geborgenheit in einem Gottglauben spürt oder spüren will. Dass eine solche, von mir so gesehene, Illusion einigen Leuten hilft, bezeugt aber nicht, dass ein Gott existiert. Ich persönlich möchte mein Leben so führen, dass ich meine Lebensgrundlagen nicht auf Unbeweisbares baue. Das scheint mir tatsächlich möglichst vernünftig.

Vernünftigkeit des Glaubens bedeutet Erkenntnis und Einsicht in das Denken und die Absicht Gottes. Wahrheit im christlichen Sinn ist Licht, das sich schenkt, göttliche Gabe in Person. In seiner Selbstoffenbarung enthüllt sich uns der ewige Vater nicht nur durch das gesprochene Wort seines Sohnes sondern durch die Hingabe seines fleischgewordenen Wortes in die Unvernünftigkeit eines ungerechten Todes, um das verlorene Licht des Menschen in ewiges Leben zu verwandeln.

Ein sinnvolles, gutes, erfülltes und erfüllendes Leben ohne Gott und die Vorschriften jener, die sich als Gottes Stellvertreter und Sprachrohre auf Erden ausgeben, ist möglich. Es wird von einer rasch wachsenden Zahl von Menschen praktiziert. Viele davon halten es für unvernünftig, an Gott zu glauben. Sie sind deshalb aber nicht ohne Mitgefühl. Das Gegenteil von ‚rational‘ ist nämlich nicht ‚emotional‘, sondern ‚irrational‘.

V al e n t i n A bg o ttsp o n ist Lehrer und Vizepräsident der FreidenkerVereinigung der Schweiz. Er kämpft engagiert für eine Trennung zwischen Kirche und Staat. standpunkte

B RU D ER NI K O D E M U S P E S C H L Der studierte Theologe und Philosoph ist Mönch und Diakon der Gemeinschaft des Hl. Johannes im österreichischen Marchegg. |

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Fotodokumentation

After Saturday Comes Sunday M i cha e l F e n t

Vor zehn Jahren lebten über eine Million Christen im Irak, heute sind es laut Schätzungen noch etwa 300 000. Bereits 2012 traf Michael Fent in Jordanien geflohene irakische Christen. Er fotografierte sie und ließ sie die Rückseite der Bilder mit ihrer persönlichen Geschichte beschriften. Der Titel der Fotosammlung ist ein altes irakisches Sprichwort.

GLAUBEN

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Ich heiĂ&#x;e Nawwar Yussef Matta. Ich habe 2008 als Allgemein-Arzt gearbeitet. Danach habe ich ein spezielles Studium im Bereich Anästhesie und Intensivpflege begonnen bis zum Tag meiner Ausreise. Ich habe den Irak am 26.2.2011 verlassen wegen Misshandlungen an Christen. Ich hatte einen Freund, der bei einem Anschlag auf die Kirche <Herrin der Errettung> ums Leben kam. Auch einige Bekannte wurden dabei getĂśtet. Am Tag des Anschlages habe ich versucht, den Verletzten zu helfen, die zum Spital transportiert wurden, wo ich gearbeitet habe. Bis heute kann ich nicht vergessen, was passiert ist.


Im Namen Gottes des Barmherzigen des Erbarmers Wir sind unterwegs Jetzt seid ihr an der Reihe, Lösegeld im Wert von (USD 50‘000.–) zu bezahlen, sonst verliert ihr das Teuerste, was ihr besitzt oder ein Mitglied eurer Familie. Ihr habt 5 Tage Zeit, den verlangten Betrag zu bezahlen. Die Sicherheit der Familie liegt in ihren Händen. Sie müssen das Lösegeld bezahlen, um die Familie zu retten. Bemerkung: Zur Kenntnis nehmen, falls Sie die Sicherheitsdienste über diese Angelegenheit informieren werden, werden Sie großen Verlust haben. Lieber das verlangte Lösegeld bezahlen, ohne einen fehlgeschlagenen Versuch, der nichts bringt. Zu verlieren kontaktiere: 130 Für eure Sicherheit kontaktiere: 07809612313


Mein junger Bruder wurde im Jahre 2007 entführt. Die Entführer verbrannten sein Auto und versuchten, ihn zu töten. Sie verbanden seine Augen und versuchten, ihn in eine Wasserquelle zu werfen. Gott war mit ihm und er konnte wie durch ein Wunder flüchten. Er hat Schmerzen im Rücken wegen der Entführung und der Schläge. Danach flüchtete meine Familie in die Türkei. Sie haben Asyl erhalten für die USA. Ich bin jetzt mit meinem Mann und meiner Tochter zusammen und wir warten auf die (mufauadija aulija) Ausreise.

Morddrohungen gab es fast 7-mal, bis sie mich, wie Christus, auf einer Stange fesseln und kreuzigen wollten. Zwei muslimische Brüder haben mich gerettet. Ich wurde geschlagen und verließ den Irak wegen meiner Sorge um die staatlichen und Volksgelder. Wegen meiner Ehrlichkeit wurden wir von dem ehemaligen Beamten beauftragt, die Verantwortung vor Gott zu übernehmen bis zum Tag der Auferstehung.


Ich bin sehr traurig und müde. Ich bitte euch, für mich und meine Familie zu beten. Noha und George, Mittwoch, 25.4.2012

Am 20.9.2011, um 7.00 Uhr, wurden wir von einer Terroristengruppe namens <Der irakische islamische Staat> bedroht. Ein Drohbrief wurde in die Nähe der Haustür gelegt. Nach 15 Minuten verließen wir terrorisiert das Haus aus Angst, unser Leben zu verlieren. Wir haben nur unsere Papiere und eine kleine Tasche, enthaltend die Kleider meines kleinen Sohnes. Wir haben alles hinter uns gelassen.


Im Jahr 2008 wurde ich einem Attentat ausgesetzt. Als Christ wurde ich zur Vertreibung ausgesetzt. Mein Vater wurde bei dem Anschlag auf die Kirche <Herrin der Errettung> am 31.10.2010 getötet. Ich bin nach Jordanien mit meiner Frau und meiner Tochter geflüchtet und wir wandten uns an den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) und wir waren überrascht, keinem Land zugeteilt worden zu sein, da wir doch schon vor 7 Monaten kamen. Meine Mutter starb im Irak wegen eines Unfalls meines Vater, und wegen der Angst und der Sorgen.

Mein Bruder wurde bedroht und musste seine Arbeit verlassen. Einer Terroristengruppe war es nicht gelungen, ihn zu verhaften, darum haben sie mich und meine Familie bedroht, nachdem sie wussten, wo ich wohne. Sie legten einen Brief vor die Haustüre. Darin schrieben sie, wenn du deinen Bruder nicht bringst, werden wir deinen Mann anstelle von ihm nehmen.


Aus Angst vor Verfolgung zerkrazte diese Irakerin ihr Bild.


Ich habe gespürt, dass Gott immer mit uns ist. Er wird uns retten. Alaa Refaat

Ich heiße Sawa Isa Youssef. Ich war Brigadegeneral bevor ich pensioniert wurde. Ich wurde entführt von der al-Sadr-Gruppe <Mahdi-Armee>. Sie haben mich gefoltert mittels Übergießen mit kochendem Wasser über meinen Kopf und meinen Körper, meinen Rücken und meine Hände. Sie schlugen mich, verbanden meine Augen und füllten meinen Mund mit Kleidung, so dass ich nicht schreien konnte. Dies geschah während einem Zeitraum von 10 Tagen. Sie verlangten $ 200’000 und nach Verhandlungen mit meinem Sohn wurden 60’000 bezahlt. Danach wurde ich entlassen. Ich habe mein Haus und einen Laden, in dem ich gearbeitet habe sowie 3 Autos verkauft. Sie bedrohten mich, damit ich den Irak verlasse, sonst würde ich getötet. Seit 2004 bin ich in Amman. Meine vielen Gesuche in andere Länder einzureisen wurden abgelehnt.


USA Jordanien

Schweden

USA Jordanien

USA Türkei Irak

Kanada

USA getötet

Jordanien USA Italien

Vereinigte Arabische Emirate

Kanada

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Schweden USA USA

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USA

Schweden

Neuseeland

Dieses Bild entstand im Jahr 2000 in einer katholischen Pfarrei in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Zwölf Jahre später sind alle – bis auf einen – vertrieben worden. Heute leben sie an unterschiedlichsten Orten. Eine Person wurde umgebracht.


Alles, was ich mir wünsche, ist Sicherheit und Stabilität für meine Familie und Kinder. Ich bin zuversichtlich, dass wo immer ich auch hingehe, Jesus mit mir ist und mir Kraft gibt.

M i cha e l F e n t 27, ist preisgekrönter Kunstfotograf aus dem schweizerischen Hosenruck. Nach einem Jahr als Bergbauernknecht ist er im September ins Priesterseminar eingetreten.

GLAUBEN

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freie feder Kolumnen zur Inspiration

Aussteigen ist eine Frage der Zeit Wer war der allererste Aussteiger, ganz zu Beginn? Die Zeit selbst, als sie aus der Ewigkeit ausstieg und sich seitdem in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entfaltet. Vielleicht ist das der Grund, warum sich das menschliche Aussteigen aus der Sehnsucht nach der Erfahrung der Ewigkeit in der Zeit nährt. Die Zeit aber setzt unserer Sehnsucht nach Ewigkeit zu und zersetzt sie: „Ein Tor für die Ewigkeit“ der Fußball-WM 2014 ist bereits jetzt vergessen. An das dahin gehauchte „für immer“ des Sommerflirts will sich keiner der beiden mehr erinnern. Trotz solcher Rückschläge bleibt unsere Sehnsucht nach der Ewigkeit. Da die Zeit nicht von sich aus zur Ewigkeit kommt, steigt die Ewigkeit – als Person – in die Zeit aus und verbindet sich mit ihr. Unter dramatischen Umständen steigt schließlich diese Person aus der Zeit wieder aus und kehrt zum Vater heim. Am Ende unseres Lebens werden wir, ob wir wollen oder nicht, auch zum Aussteiger – aus der Zeit in die Ewigkeit hinein. Das Aussteigen führt letztlich zum so lange ersehnten Heimkommen. Unser zeitlicher Durst nach Ewigkeit wird überfließend gestillt. Dieses letzte und entscheidende Aussteigen, das Heimkommen zum Vater, unser eigener Tod, ist nur eine Frage der Zeit.

B e n e d i kt M i chal 35, ist Theologe, Philosoph, Politologe und Familienvater. Er unterrichtet Gymnasiasten in Religion, ist Koordinator für katholische Jugendarbeit bei JAKOB und nebenbei auch noch Blogger.

Die entflammende sehnsucht

ENTScheidung!

Ich bin Arzt. Das Sterben und niederschmetternde Diagnosen stehen an der Tagesordnung. Ich bin dort, wo der Wunsch nach Leben und die Vergänglichkeit aufeinander prallen. Dort, wo der moderne Aufruf zum positiven Denken nicht mehr ausreicht. Gibt es passende Worte? Gibt es Antwort wenn die letzten Fragen offenliegen? Manche versuchen es mit: Fahren Sie auf Urlaub! Genießen Sie die Zeit, die Sie haben! Nur ja nicht die Frage offenhalten, ersticken wir die Sehnsucht – Zerstreuung. Nein, nicht Worte, es ist ein Blick, eine Gegenwart, die die Sehnsucht nicht nur nicht auslöscht, sondern sie entflammt. Bei Mutter Teresa war es der Sterbende am Straßenrand, Paulus war gerade unterwegs am Pferd, Zachäus war beim Geldzählen, Maria Magdalena – sie hatte viele Liebhaber – und dennoch: Ein schon fast zufälliger Blick streifte sie und doch war alles anders. Aber nicht die Umstände ändern sich, nicht die Härte der Diagnose, nicht die Probleme, nicht die Dramatik des Lebens, nein, ein unvergänglicher Blick ergreift das Vergängliche. Es ist eine Umarmung, eine Zärtlichkeit, eine Leidenschaft, eine Verheißung ohne Bedingung. „Brannte uns nicht das Herz in der Brust…“ Bei mir begann alles vor ein paar Jahren in Zuma Beach, Californien, dann in einer Bar in Mailand. Völlig unerwartet, überraschend, überwältigend. Nun sind die Tage durchdrungen von diesem Blick, der es möglich macht, das Leben zu lieben in seiner ganzen Dramatik.

Fliegen! I LOVE IT! 16 Flüge letztes Jahr. Früher hatte ich normale Hobbys. Und war mehr so der Wartehallenmensch. Meine Träume hingen gut verpackt in viereckigen Rahmen an der Wand. Meine Sehnsüchte standen in handlichem Format auf meinem Bücherbord. In den Geschichten anderer. Ich selbst lebte in Scheidung. Vom Leben. Und entstaubte regelmäßig Bilderrahmen und Bücherbord. Jetzt checke ich kurz den Boardingpass. AB 1985. Destination: Home. Das mit dem Fliegen ist eigentlich nur ein Nebeneffekt. Weil meine Familie neuerdings 600km weit weg ist. Gleichzeitig ist es mit dem Fliegen wie mit dem Leben. Lange hab ich’s nicht gecheckt, dass wir in Scheidung leben, das Leben und ich. Ich hing einfach irgendwo im exterritorialen Nirgendwo vor den Gates ‘rum. Den Boardingpass meiner Sehnsucht hielt ich für einen unrealistischen Wunschzettel. Und so richtete ich mich häuslich ein, in der Wartehalle meines Lebens. Ließ mich einlullen von tollen Duty-Free Angeboten, gaukelte mir vor, ich wäre free of duty, hätte keinen Auftrag. Keinen Auftrag für mich selbst. Keinen Auftrag für die Welt. Traute mir selbst kein volles Leben zu. Und traute dem Leben keine Fülle zu. Leben war für die Verrückten, die der Destination auf dem Boardingpass ihrer Sehnsucht glaubten. Mir war das zu heikel. Ich lebte im Wartehallenmodus. In Scheidung. Von meinem Leben. Weil es bequem war. Und weil ich Angst hatte. Aber wir sind gekommen, um zu fliegen, dafür gibt es Flughäfen. Wir sind hier, um uns zu ENT.Scheiden. Für den nächsten Flug, für das Leben und unserer Sehnsucht entgegen.

M a x i m i l i a n C e ch 37, Chirurg im Spital Zwettl und wohnhaft mit Frau und drei Kindern in Krems. Er ist Gründungsmitglied von YOU!Magazin. Arzt ist er aus Leidenschaft.

anna bodewig 29, ist eben erst aus liebestechnischen Gründen von Österreich in die Schweiz gezogen. Ursprünglich kommt sie aus Deutschland. Sie ist Lehrerin und Theologin.

KOLUMNEN

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Freiheit: Recht oder Pflicht?

schöne neue Medienwelt

Der fokus eines sportlers

Seit fünf Jahren bin ich in Brüssel. Als Lobbyistin für Grundfreiheiten und Menschenwürde in europäischer Gesetzgebung. Von Freiheit höre ich viel in meinem Job und in den entsprechenden politischen Debatten und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass drei Menschen, die denselben Begriff gebrauchen, fünf verschiedene Dinge meinen. Ist das Wort „Freiheit“ nicht fürchterlich banal geworden für eine Generation, die niemals eine Einschränkung von Freiheit erfahren hat, sondern sie von Anfang an in die Wiege gelegt bekam? Freiheit ist für uns in Europa so selbstverständlich, dass wir uns schwertun, sie als Geschenk und Verantwortung zu verstehen. Wo heute Freiheit gesagt wird, werden zumeist Rechte gemeint. Es ist unsere Freiheit, ein Recht auf alles zu haben, selbst auf etwas, auf das es kein Recht geben kann. Auf ein Kind zum Beispiel. Oder darauf, ein Kind abzutreiben. Freiheit ist zur absoluten Autonomie geworden, sie bedeutet, sich keinen Grenzen mehr unterwerfen zu müssen und seien sie noch so offensichtlich von der Natur vorgegeben. Wo wir aber Freiheit mit Rechten verwechseln, werden wir mehr und mehr zu einer Gesellschaft, die nicht mehr zusammen-, sondern gegeneinander lebt. Denn wo ich ein Recht habe, muss ich es gegen andere – oder gegen die Natur – verteidigen. Wir sind mit dem Einfordern unserer wirklichen und scheinbaren Rechte so beschäftigt, dass wir vergessen uns zu fragen, wozu wir eigentlich frei sind.

Zugegeben: ich hatte nicht mehr damit gerechnet. Und wer braucht auch ein weiteres Magazin in unserer kleinbürgerlichen Magazinlandschaft? Es gibt sie ja alle schon: das vom Energydrink gesponserte Extremsportmagazin, die Lifestylemagazine für Mädels, Jungs, Männer und Ladys vom steirischen Verlag in Kirchenbesitz, die Konkurrenzprodukte vom Wiener Verlag in Raiffeisenbesitz und noch viele andere Versuche, mit dem gedruckten Bild (und ein paar verzierenden Wörtern) Geld zu verdienen. Und jetzt Melchior, für das ich dankenswerter Weise gebeten wurde, diese Zeilen zu verfassen – ehrenamtlich, versteht sich. Mit Medien und vor allem mit gedruckten lässt sich eben kein Geld mehr verdienen. Deshalb schreibe ich auch nebenbei: tippe, während ich in der Anbetungskapelle im Wiener Stephansdom knie, in mein iPhone. Ein paar entgeisterte Blicke ernte ich außerdem: „Ist das nötig? SMSen in der Kirche?“ Nein, ich schreibe in meinen elektronischen Moleskine. Was der Geist mir eingibt, sozusagen. Das wird ja wohl erlaubt sein. Zumal gerade das Christentum immer schon die Speerspitze in Sachen Neuer Medien gebildet hat: Gutenberg erfand den Buchdruck, um die Bibel zu vervielfältigen, Maximilian Kolbe betrieb in Japan einen eigenen Verlag, um die Mission voranzutreiben, der Papst twittert und Kardinal Schönborn macht Selfies. Na gut, in den letzten 20 Jahren war die Kirche in Sachen Kommunikation nicht immer „State of the Art“, um es in einer schönen englischen Phrase auszudrücken. Das ändert sich gerade: den neuen Wind, der durch die Kirchenschiffe dieses Landes stürmt, haltet ihr in Händen.

Vor kurzem habe ich mir eine Reportage über den Ironman in Hawaii angesehen. Eine Sportlerin hat sich schon mehr als zehn Mal der extremen Belastung von knapp 4 km Schwimmen, 180 km Radfahren und einem anschließenden Marathonlauf ausgesetzt. Und das, obwohl sie nur noch ein Bein hat! Ich habe selbst zwar noch nie annähernd ein derartiges Pensum an körperlicher Belastung ausgehalten, doch seit bei uns in den Bergen das Sportklettern zur Mode geworden ist, habe ich auch schon ein paar Mal den Fels hochgehangelt. Interessant finde ich beim Klettern, dass es viele Parallelen zu meinem Leben gibt. Wie reagiere ich auf eine schwierige Passage? Denke ich vorher schon: „Da komm ich nie rauf!“ Oder traue ich mir zu, dass ich es schaffen kann? Wo liegt mein Fokus? Auf der Möglichkeit, die Route zu packen, oder darauf, ins Seil zu fallen und noch mal von vorne anfangen zu müssen? Auch in meinem Leben gibt es schwierige Kletterrouten. Tagtäglich in die Arbeit zu müssen, mich tagtäglich mit meinen Fehlern – und jenen der anderen – herumzuschlagen, zum Beispiel. Aber des Öfteren ist mir schon aufgefallen, dass es auch auf meine Sicht auf die Dinge ankommt, was am Ende des Tages rausschaut. Liegt mein Fokus auf den Schwächen und Schwierigkeiten, oder glaube ich an die Möglichkeiten? Mein Fahrschullehrer hat mir beigebracht, bei regem Verkehr, der mich als Fahrneuling leicht abgelenkt hat, immer auf meine Fahrbahn konzentriert zu bleiben. „Da wo du hinschaust, da fährst du hin!“

s o ph i a k u by 33, behält als Direktorin von European Dignity Watch bei der Europäischen Union in Brüssel ein Auge auf unsere persönliche Freiheit, unsere Grundrechte und das Wohl der Familie.

a n D RE A S T H ON H A U S ER 33, arbeitet als Projektmanager bei der Tageszeitung „Die Presse“. Mit Frau und Kindern lebt der geborene Kärntner in Wien und spricht mit seinen Kindern ausschließlich englisch.

D o m i n i k Ra i ch 26, dreifacher Familienvater, Kellner und Heimwerker aus Südtirol. In seiner mageren Freizeit studiert er Kulturwissenschaften.

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Esther Maria Magnis 1980 geboren, hat Religionswissenschaft und Geschichte studiert. Sie ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder.


Eine starke Frau

Zurück zur Wirklichkeit Im Teenageralter starb ihr Vater an Krebs. Als junge Erwachsene verlor sie durch einen Tumor auch noch ihren geliebten jüngeren Bruder. Vor zwei Jahren erschien Esther Maria Magnis’ Debut „Gott braucht dich nicht“, darin beschreibt sie mit ungeheurer sprachlicher Kraft ihre Geschichte mit Gott. Wir haben sie in Berlin, wo sie lebt und arbeitet, getroffen.

Mit „Gott braucht dich nicht“ hast du einen sehr berührenden und persönlichen Text vorgelegt. Wie kommst du auf diesen außergewöhnlichen Titel?

Dein Buch behandelt nicht nur große Themen des Menschseins, sondern ist auch sprachlich ein Kunstwerk. Welche Bedeutung hat für dich die Sprache?

Esther Maria Magnis Eigentlich wollte ich das Buch „Kenntauchdich“ nennen, aber der Verlag fand diesen Titel zu kryptisch. Sie wollten, dass „Gott“ im Titel vorkommt. Ich wollte das nicht, weil ich dachte, dass es dann eh niemand kauft. Der Lektor und ich haben stundenlang in einem Café gesessen und diskutiert und überlegt. Irgendwann hat er dann das Manuskript aufgeschlagen und diesen Satz vorgelesen. Ich fand ihn passend und wenigstens provokant. Letztendlich ist es nämlich genau das, wovor ich kapituliere: vor der Hoheit Gottes. Meine Frage, warum jetzt mein Vater sterben musste, und die ganze Wirklichkeit mit all ihrem Schrecklichen, die bleiben ja erhalten, aber es ist einfach jemand noch größer. Das drückt dieses „Gott braucht dich nicht“ ein Stück weit aus.

Die Sprache war für mich auf jeden Fall ein Mittel, um hinter der Geschichte wieder zu verschwinden. Ich habe richtig lang an dem Buch geschrieben. Vier Jahre. Es hat einfach ewig lang gebraucht, weil ich es immer zwischendurch nicht schreiben wollte. Es kam mir unanständig vor. Für mich hat es zwar etwas Universales, über den Glauben zu sprechen, weswegen es mir auch nicht peinlich ist, dafür persönliche Dinge zu erzählen, aber es war schwer, das Maß zu finden. Ich wollte nicht zu viel von meiner Familie preisgeben. Weshalb hast du eine bisweilen derbe Ausdrucksweise gewählt? Da die ganze Situation mit dem Verlust meines Vaters und Bruders so hässlich war, wollte ich, dass sich das auch in der Sprache widerspiegelt. Die

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Hässlichkeit, auch meine eigene, das Ordinäre im Leid gehörte zur Wirklichkeit, die ich beschreiben wollte. In der Pubertät kam es bei dir zu einem Umschwung im Denken. Du nennst es die leise Verabschiedung von Gott. Du hattest genug Freunde und brauchtest nicht noch einen orientalischen Pazifisten mit Schlappen und Vollbart als Vorbild. Damals als Teenager habe ich nicht gesagt, ich lehne dieses Bild von Jesus ab, sondern es gab in der Pubertät einfach sehr viele andere Themen, die weitaus komplexer schienen als Gott. Diesen Gutmenschen konnte man wie Gandhi abhaken. Das Thema war verarbeitet. Der entscheidende Sprung war für mich später, Gott irgendwann auch Gott sein zu lassen. Dazu gehört natürlich, dass er bestimmen kann. Auch über die Welt. Gott kann über die Wirklichkeit herrschen. Das Erstaunliche ist dann vielleicht, wie wenig er das tut. Seine Zurückhaltung ist fast verletzend für den Menschen. Man wünscht sich oft,


wie ein Kleinkind angefasst und auf den Arm genommen zu werden. Es erfordert eine gewisse Reife, Gottes Zurückhaltung in seinem Eingreifen auszuhalten. Man muss das wie in einer Beziehung respektieren. Das konnte ich damals als Teenager halt nicht. Im Gegensatz zu deiner frühen Jugend, in der dich Gott nicht mehr wirklich interessierte, brichst du nach dem Tod deines Vaters radikal mit Gott. Du beschreibst die Folge dieses Bruchs als eine Art Todesstille und als eine Freiheit, die aber eigentlich kaum auszuhalten ist. Was bedeutete es für dich, ohne Gott zu leben? Nachdem ich mit Gott gebrochen hatte, war es schon so, dass ich mich am Anfang noch wehren musste. Als ich noch Kraft hatte, da wollte ich, dass es ihm weh tut, dass ich nicht mehr zu ihm spreche und dass er sieht, wie ich mich von ihm abwende. Vielleicht war das noch ein Hilferuf. Irgendwann habe ich aber wirklich nicht mehr dran geglaubt. Da löste sich alles auf ins Nichts. Es mündete in einen totalen Nihilismus. Ich kann das selber kaum beschreiben. Es ist eine Art Stille, aber diese Stille ist einfach nur abartig. Es ist eigentlich wie eine ständige Frage, vor der man nicht bestehen kann, die aber immer wieder wiederholt wird. Es ist wie ein abgeschlossener Raum. Ich habe auch jetzt noch so Phasen, wo mir die ganze Wirklichkeit entleert vorkommt, so als ob dahinter wirklich nichts ist. Das ist grauenhaft. Was du beschreibst, ist ein sehr existentieller Unglaube. Heute scheint eher eine Art Gleichgültigkeit vorzuherrschen, die verhindert, dass der Einzelne die Frage nach der Existenz Gottes überhaupt an sich heranlässt. Ich glaube, die meisten in unserer Generation reflektieren das gar nicht wirklich, weil wir ein total versautes Weltbild haben. Wir glauben, dass vor der Aufklärung die Menschen alle arm und dumm waren und seitdem alle frei im Denken sind. Wir haben ein ganz schlichtes Bild von der Welt und von den Menschen überhaupt. Ich musste damals Antworten finden, um

irgendwie klarzukommen. Erstmals musste ich aber Gott aus dem Denken streichen, also die unsichtbare Welt aus meinem Denken löschen. Das ist es, was die meisten Menschen gar nicht tun, auch wenn sie sonst ein positivistisches Weltbild verteidigen. Begriffe wie Schönheit, Wahrheit, die Würde des Menschen sind alles Dinge, die die Leute voraussetzen. Sie erzählen von irgend so einem Atheismus, aber verzichten da nicht drauf. Aber bei mir musste das Neue, was ich dachte, konsequent sein und logisch und zwar ohne Gott. Ich musste dafür mein altes Denken bekämpfen. Wie hast du zurückgefunden aus diesem Leben ohne Gott? Es gibt sicher Leute, die ganz starke Bekehrungserlebnisse haben. Bei mir gab es eher viele verschiedene Stränge. Wer schon Depressionen hatte, der kennt glaube ich die eigene Unberührbarkeit. Das Schreckliche daran ist, dass einem alles scheißegal ist. Die Szene im Buch, in der ich am Bett meiner kranken Oma sitze und ihr „Weißt du wie viel Sternlein stehen“ singe und dies Wort „Kenntauchdich“ für mich plötzlich auftaucht, ist ein Bild für einen Moment, der mich damals auf einmal berühren konnte. Das war, glaub ich, einfach wieder so eine Erinnerung an mich selbst. Es ist nicht so, dass ich plötzlich wieder angefangen habe zu glauben, sondern es war ein Prozess. Die Sinnlosigkeit war unerträglich und irgendwann hat sie mich wütend gemacht. Es ist dumm, zu sagen: Es gibt keinen Gott. Die Denkmöglichkeit wenigstens muss erhalten bleiben, sonst verblödet das eigene Leben im Nichts. Der Tod deines Vaters und deines Bruders war eine Art Wesentlichkeitsschock. Du schreibst, man könne dann zwar noch so banale Dinge tun, wie eine Kaffeetasse halten, wisse aber nicht mehr wozu. Was macht es nach solchen Ereignissen möglich, dass auch die kleinen Dinge wieder an Bedeutung gewinnen? Ich glaube wirklich mit der Entscheidung, die Dinge und die Welt wieder ernst zu nehmen. Dass mir alles egal war,

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hing damit zusammen, dass alles total entseelt und leer war. Wenn ich nicht daran glaube, dass es eine Wahrheit und einen Sinn gibt, löst sich, so war das bei mir, die Wirklichkeit auf. Ich konnte sie nicht mehr ernst nehmen, auch die Menschen, vor allem mich selbst nicht, alles war unecht. Ich glaube, erst mit meiner Zuwendung zu Gott kam langsam die Welt zurück. Ich glaube, dass das ein krasses Problem unserer Generation ist, daran müssen wir uns alle abarbeiten, dass alles irgendwie unwirklich ist. Deswegen suchen wir wieder so dieses Kernige und Echte. Du beschreibst in unserer Gesellschaft eine seltsame Hilflosigkeit im Umgang mit dem Tod. Wir lassen die Verstorbenen als Sternlein am Himmel aufgehen, machen sie zu Engeln, an die wir zuvor nie glaubten, oder wir sperren sie als Erinnerung in unser Herz. Was hast du für eine andere oder neue Antwort? Ich glaube, ich habe keine neue, sondern eher eine sehr alte Antwort. Ich hoffe, dass die Menschen aufgehoben sind in Gott, irgendwie. Es ist nicht möglich, das Herz zum neuen Himmel zu machen, in dem wir die Toten weitertragen müssen. Wer könnte das tragen? Einmal, wer kann dieses Gewicht tragen, das ist eine totale Überforderung, und wer könnte den Menschen ganz erfassen und ganz erkennen? Jeder, der schon mal geliebt hat, oder jeder Mensch der liebt, weiß, wie wenig er eigentlich vom anderen sehen kann. Je länger man jemanden kennt, desto größer wird das Geheimnis. Und deswegen können wir die Toten nicht in unseren Herzen tragen. Unsere Vorurteile, unsere ganzen Klischees und das Bisschen, was wir von der anderen Person gesehen haben, das können wir vielleicht im Herzen tragen, aber das ist nicht die ganze Person. Deswegen ist es so schwachsinnig, das Herz zum neuen Himmel zu küren. Ich habe nichts Neues, ich habe nur das Alte, dass ich wirklich einfach hoffe, dass es eben diese Wahrheit gibt, dass Gott uns wirklich aufhebt. Und das ist eine reine Hoffnung. Mehr nicht. Aber das finde ich irgendwie ‘ne schönere Vorstellung, denn als Stern am Himmel zu kleben.

Das find ich halt so krass gestört. Wenn die Menschen wenigstens sagen würden, was man Kindern sagt, der ist jetzt im Hundehimmel, oder der ist jetzt im Saufparadies, ja das wäre ja irgendwie noch was Schönes, aber jemanden da als Stern... Den einzigen Satz, den ich dann im Kopf habe, ist: „Siehe, ich mache alles neu.“ Das ist so eine Ahnung, dass das irgendwie möglich ist. Hast du für dich einen Grund gefunden, warum dein Leiden nicht umsonst war? Konntest du das Leiden akzeptieren? Nein, mir ist es irgendwie ein totales Rätsel. Mein eigenes halte ich jetzt aus, aber ich weiß, dass es viel schlimmere Dinge gibt. Ich kann es nicht verstehen. Und ich glaube auch nicht, dass sich dieses Rätsel löst, sondern nur, dass es irgendwann versöhnt wird. Man kriegt keine Antwort. Ich kann es nur hinnehmen, weil es Teil der Wirklichkeit ist, Teil dieses Lebens, Teil dieser großen Geschichte, die es gibt, zwischen Gott und den Menschen. Du sprichst in deinem Buch von ganz starken Gotteserfahrungen. Wie kommst du von solch existentiellen Erfahrungen, die weit ab von Formeln und Allgemeinplätzen angesiedelt sind, zu einer konkreten Religion und was fasziniert dich ausgerechnet am Katholischen? Eigentlich ist es erstaunlich, dass ich zum christlichen Gott zurückgefunden habe, es war ja damals erstmals nur Gott. Ich glaube, dass es mit dem vorhin angesprochen Weg zurück zur Wirklichkeit zu tun hat. Zunächst habe ich mir gedacht, dass Gott nicht so zynisch sein wird, dass er die Religionen in der Welt zulässt und dass er die fromme hinduistische Hausfrau in die Irre rennen lässt, nur weil sie in ihrem Dorf niemals etwas anderes kennengelernt hat. Das konnte ich mir nicht vorstellen, also bin ich davon ausgegangen, dass an allen Religionen irgendwie was dran ist, dass sie alle ihr Wissen um das Göttliche haben. Wenn man eine Religion konsequent lebt, wird man auch etwas finden, habe ich gedacht. Ich habe mir damals ganz pragmatisch überlegt, dass es am naheliegendsten

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„Ich hoffe, dass die Menschen aufgehoben sind in Gott, irgendwie.“ Esther Maria Magnis


„Ich glaube, erst mit meiner Zuwendung zu Gott kam langsam die Welt zurück.“ Esther Maria Magnis

ist, in der Religion zu suchen, in der ich aufgewachsen bin, weil ich da am tiefsten eintauchen kann. Das mit dem Katholischen hat ebenfalls mit dem Weg zurück in diese Wirklichkeit zu tun. Ich bin immer in die evangelische Kirche gegangen, weil da die Predigten besser waren, oder in die Freikirchen, weil die wilder waren. Aber da fehlte mir etwas, es blieb auf einer abstrakten Ebene. Es fehlten mir die Kniebänke, auf denen ich knien konnte. Es waren ganz banale Dinge um derentwillen ich dann anfing, in die katholische Kirche zu gehen. Ich fand knien angemessen, es war der Ort, von dem ich gedacht habe, dass hier alle den König verehren. Ich hatte aber keine Ahnung vom Katholischen und musste mich darüber aufklären und so habe ich langsam, langsam reingefunden. Die katholische Kirche hat ja, was einen, glaub ich, so aufregt an ihr, diesen Wirklichkeitsbezug. Sie löst die Dinge nicht abstrakt, sondern sagt, die Eucharistie ist der Leib Christi. Da kann man sich die Haare dran ausreißen. Das ist die reine Provokation. Es hat mit Anfassen und Berühren zu tun und das lieb ich am Katholischen, dass es diesen Anspruch hat, diesen Wirklichkeitsanspruch. Der hat zwar total viele Gefahren und ich glaube, die sind auch alle schon gut ausgeschöpft worden, aber es gibt halt gleichzeitig auch andere Gefahren, in die die Kirche durch ihren Wirklichkeitsanspruch nicht reinrennt. Aber wie kommt man von einer Vorliebe für das Katholische auf den Gedanken, dass eine Glaubenspraxis oder vielleicht eine Gemeinschaft nötig sein könnte? Es war bestimmt nicht primär die Gemeinschaft, die ich gesucht habe in der Kirche. Dafür bin ich wohl viel zu asozial. Es war einfach nur diese Anbetung Gottes. Es wird da in einer Form getan, wie ich es zuhause nicht inszenieren könnte. Ich käme mir albern vor dabei. Ich kann das nicht. Und dann kamen eben immer mehr Dinge dazu, die ich verstanden habe und die ich dann mochte und natürlich die ganze Liturgie. Wenn man ein bisschen Sinn für Bilder hat und die dann auch noch kennt, dann fängt es halt wirklich an, interessant zu werden.

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Mittlerweile bist du selber Mutter. Du bist jetzt nicht mehr einfach in der Rolle der Gottsucherin. Was möchtest du deinen Kindern weitergeben? Jetzt hilft mir eben auch gerade dieses Katholisch-Sein, weil da ganz viel im Vollzug liegt. Ich habe im Gegensatz zu früher gar nicht mehr Zeit, irgendwelche philosophischen Texte zu lesen, sondern ich vollzieh’ das jetzt. Ich bete halt, wenn ich die Glocken höre. Um 12 bleib ich mit meinem Kind und dem Kinderwagen stehen und bete den Angelus, wenn ich dran denke. Es ist halt schön, dass es in der katholischen Kirche so viele alte Riten gibt. Ich brauch meine Tochter nicht vollquatschen mit Glauben, die versteht da nix, sie ist halt noch zu klein. Aber sie versteht, wenn sie feierlich ‘ne Kerze halten darf, oder das Weihwasser mag sie. Sie macht sich überall das Kreuzzeichen, sogar bei der Vogeltränke meiner Mutter, oder wenn sie eine Pfütze sieht. Sie könnte ja auch das Händewaschen nachahmen, aber das Kreuzzeichen findet sie offenbar toller. Haben die Kinder deine Perspektive auf die Welt verändert? Ja. Verändert hat sich meine Perspektive erst einmal durch die Ehe mit meinem Mann. Wenn man jemanden liebt und heiratet, erweitert man den Kreis der Menschen, die man verlieren kann. Das klingt ein bisschen psycho, aber so geht das vermutlich auch anderen Menschen, die mehrere Angehörige in kurzer Zeit verloren haben. Bei meinem Kind hat mich das auch geängstigt am Anfang. Aber da ist das Leben halt schneller als man selbst, das ist irgendwie das Schöne und es überfordert einen - das finde ich großartig. Ich bin wirklich glücklich. Ich zähl mich zu den glücklichsten Menschen, die es gibt. Ich kann nicht sagen, wie und warum, aber aus meiner Erfahrung als Mensch vor Gott weiß ich, dass man offenbar Dinge, die unüberstehbar scheinen, überleben kann. Das Gespräch führte M agdal e n a H e ggl i n / Fotos M i cha e l F e n t. Für Fragen zum Interview: info@melchiormagazin.com


Echt schĂ–n kitschig! Marienbilder aus aller Welt.


Ein Besuch bei jungen Ehepaaren A n n a P latt e r H a n n e s P latt e r

Für immer Der Ring. Der fühlt sich am Anfang noch ungewohnt an, irgendwann ist er nicht mehr wegzudenken und geht vielleicht gar nicht mehr ab. Auch nicht schlimm. Es ist ein Für Immer, das ausgesprochen ist. Fest, aber nicht erdrückend. Ein Versprechen. Hier will ich bleiben, mit dir. Die Sehnsucht nach der Ewigkeit.

Gemeinsam mit meinem Mann mache ich mich auf eine Reise. Und dort begegnen wir drei jungen Ehepaaren in ihren Geschichten. Es sind Liebesgeschichten. Im Gepäck, die eigenen Erinnerungen. Es beginnt in Wien im sechsten Stock, führt über die Schweizer Alpen nach Zug und endet schließlich in einem weißen Haus mit blau gestrichenen Türen, in Kroatien, das Meer klopft freundlich an die Tür. Herein!

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Emmanuel & Kathi OO 13.08.2011 „Erzähl du, Amore. Die Lovestory“, Manu steht neben dem Sofa, schaukelt hin und her, auf seinem Arm Elias, sieben. Wochen alt. Für die Schaukelvespa, die in der Ecke steht, ist er noch zu klein. Manu ist 30 Jahre alt und arbeitet für die Erzdiözese Wien als Online Plattform Manager. Kathi, 25 Jahre alt, ist Ergotherapeutin, aber zurzeit vollzeitbeschäftigt als Mami. Verheiratet sind die beiden seit drei Jahren. Ursprünglich kommt Kathi aus dem Geburtsort Mozarts und Manu aus dem Geburtsort Jesu, momentan aber leben die beiden in Wien, Geburtsort ihres ersten Sohnes. Kennengelernt haben sie sich als Manu mit seiner Band, Cardiac Move, für ein Jahr nach Salzburg kam und Kathi noch in der Schule war. Aber da war noch nichts. „Also, sie ist mir schon damals aufgefallen“, wirft Manu dazwischen. „Ich hab mir gedacht, wow, wenn die mal älter wird!“. Ein, zwei Jahre später, nicht mehr Salzburg, sondern Wien. Kathi zieht in die damalige Band WG ein, Manu zieht aus. Und weil die Band, hochmotiviert, praktisch jeden Tag probt, sehen sich Kathi und Manu praktisch jeden Tag. „Da ist er immer vorbeigekommen an meinem Zimmer, hat angeklopft. Und so haben wir uns immer besser kennen und lieben gelernt“, Kathi lächelt. „Da hast du mir die Haare geschnitten. Mein erster Iro!“ „Hat aber ganz gut ausgeschaut, eigentlich.“ Neun Monate später, in Medjugorje, wird heimlich ein Verlobungsring gekauft. Ja, lange zusammen waren sie da noch nicht. „Verlobung war aber für uns jetzt nicht: Hochzeitstermin fixieren und heiraten, sondern einen Schritt in der Beziehung weitergehen.“ Dass sie nicht einfach so zusammen sein wollen, das war eine Entscheidung, die sie schon viel früher getroffen hatten. „Wir wären die Beziehung nicht eingegangen, wenn wir uns den anderen nicht als Partner fürs Leben vorstellen hätten können.“ Immer in der Hosentasche, wartet der Ring also auf den richtigen Moment. Maria Plain, Panoramablick über Salzburg. „Gerüstet mit weißem Kitkat, RedBull

Während sich die Familie über die bevorstehende Hochzeit freut, überwiegt im Freundeskreis erst einmal Verwunderung. „Bei den Freunden, Studienkollegen, war es schon auch immer so: Was, bist du sicher?!“, weiß Manu noch. Ein willkommener Anlass, um Diskussionen zu führen. „Im Endeffekt war´s dann immer so, dass sie doch auch irgendwie diesen Wunsch hatten, sich für einen Menschen zu entscheiden. Das ist mir halt so vorgekommen.“ Dass es möglich ist, so eine Beziehung zu führen, das haben eigentlich alle Freunde und Bekannte dann schön gefunden. Verzagt zeigt unsere Zeit schließlich weitgehend andere Bilder. Von geschiedenen Ehen und wackeligen On-Off Beziehungen, bei denen man sich davor schützen muss, nicht verletzt zu werden.

sich für eine Person entscheidet. Normalerweise ist man mit jemandem zusammen, solange die Schmetterlinge im Bauch sind, solange das Gefühl passt. Wir haben aber gemerkt, dass Liebe eigentlich nicht nur ein Gefühl, sondern vor allem eine Entscheidung ist. Wenn man sich für einen Menschen entscheidet, in guten und schlechten Zeiten, dann ist das eigentlich der größte Liebesbeweis. Dass man zu dem Menschen steht und ihn nicht nur um sich haben will, wenn es grad nett ist. Die Liebe ist in dieser großen Entscheidung, die man trifft.“ Was Manu und Kathi hilft, die Entscheidung, die sie einmal getroffen haben, auch tatsächlich dann tragen zu können ist ihr Glaube, den sie teilen. Dieses Teilen, das ist es eigentlich auch, was es so besonders macht verheiratet zu sein. „Man teilt alles. Das ist eigentlich das Schönste. Es gibt nichts Schöneres, als wenn man etwas teilen kann. Man teilt die Freude, aber auch das Leid, die Zeit.“ „Du hast meinen Gedanken gestohlen. Wieder einmal. Das macht er öfter.“

„Natürlich finden es viele verrückt zu heiraten. Das ist so eine gängige Einstellung bei uns, wo man sich alles offen lassen möchte. Man will sich nicht fixieren. Man verdirbt sich den Spaß, wenn man

Ein Beduine, der auf einmal hinter einem steht, während man sich über die qualmende Motorhaube seines Autos beugt, mitten im Nirgendwo der palästinensischen Wüste, und sich als Mechaniker

und Musik von Snow Patrol hab ich sie dann mit großem Herzklopfen gefragt und sie hat Ja gesagt. Auf dem Rückweg haben wir uns bei der Tankstelle eine Flasche Champagner gekauft.“

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zu erkennen gibt. Geschichten, wie diese können Manu und Kathi mehrere erzählen. „Alle Geschichten, Abenteuer, erlebt man nicht mit irgendjemandem, sondern mit seiner besseren zweiten Hälfte! Das ist eben das Coole, dass man zu zweit zurückschauen kann auf das, was man schon erlebt hat, sich erinnern und gleichzeitig freuen kann, auf das, was noch kommt.“ Was fast überstürzt aussieht, zeigt sich bei näherer Betrachtung, als wohl überlegt. Nachdem sie sich verlobt haben, nehmen sich Manu und Kathi zwei Jahre Zeit. Um sich bewusst damit auseinanderzusetzen, was es bedeutet, Mann und Frau zu werden, sich noch tiefer kennenzulernen. „Jeden Schritt, den wir getan haben, das Zusammenkommen, das Verloben, das Heiraten, das war alles einfach genau richtig so. Und nach jedem Schritt konnte ich mir nachher nicht mehr vorstellen, wie es davor war. Genauso wenig kann ich mir jetzt ein Leben ohne den Kleinen vorstellen. Wir schlafen wenig, kommen zu viel weniger… Ich war heuer noch gar nicht Wakeboarden und es ist schon Juni! Aber mir geht das überhaupt nicht ab!“ Elias beginnt zu weinen. „Oo, das hast du verstanden. Wir gehen mal gemeinsam!“ Ein Vater-Sohn-Versprechen. „Durch die Hochzeit hat sich unser Leben ziemlich komplett verändert. Eigentlich alles auf den Kopf gestellt, das ganze Leben.“ Schon allein das Zusammenziehen war eine Umstellung. Denn bis zur Hochzeit haben die beiden noch in getrennten Wohnungen gelebt. Weswegen auch viele Freunde skeptisch waren. Was, wenn er immer die Zahnpasta herumliegen lässt oder den Klodeckel nie zumacht? Kathi lacht. „Wenn man das größere Bild sieht, dann bleiben solche Dinge eine Kleinigkeit.“ Nicht die Zahnpasta und auch nicht der Klodeckel sind die Kriterien, nach denen sie ihre Entscheidung treffen wollten. „Das Leben vor der Ehe, das ist irgendwie kein Vergleich, kann nicht mithalten. Wirklich, ab dem Tag wo es losgegangen ist, das gemeinsame Eheleben, da hat das Leben erst richtig begonnen.“ „Und das ist die Frucht“, Manu deutet auf Elias, der nun zufrieden vor sich hin brabbelt. „Das Früchtchen“, ergänzt Kathi. emmanuelundkathi@melchiormagazin.com

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Gregor & Flurina OO 29.06.2013

Bei ihrer Hochzeit hat es geregnet. Hochzeitsfotos in Gummistiefeln. Wegen des riesigen Herzens „Just married“, das mit Window Colors auf das Fenster gemalt ist, sind Flurina und Gregor schon mal von den Nachbarn von gegenüber angesprochen worden. Flurina, 24 Jahre alt, arbeitet als Floristin in einem Blumengeschäft und wohnt mit ihrem Mann Gregor, 28 Jahre alt, der als Oberstufenlehrer Englisch, Französisch, Geschichte und Musik unterrichtet, in dem malerischen Städtchen Zug, Hochburg für Kirschkernweitspuckweltmeister. Gregor kann sich noch gut an den ersten Blick erinnern. War nicht sehr erhebend. „Also vorneweg, unsere Geschichte ist etwas komplex.“ Vom ersten Blick bis zum Hochzeitskuss unter dem rot weiß gepunkteten Regenschirm sind es gefühlte hundert Jahre. Anziehend finden sie sich beide und das sogar ziemlich, aber trotzdem reicht das irgendwie nicht. Da gibt es Vorstellungen von der Traumfrau und wie es sich anfühlen müsste, wenn es der Richtige wäre, der böse Konjunktiv. Und deswegen bleibt die Situation zwischen den beiden ungeklärt, sie stecken fest in einer Beziehung, die eigentlich keine ist, können keine Entscheidung treffen. Sie wiederholen beide mehrere Male, was für eine schwierige

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Zeit das war. „Es war so ein Hin und Her. Einerseits dachte ich, ah ich bin doch noch jung! Das passt schon so! Und dann wieder, nein, eigentlich möchte ich den Weg richtig gehen und etwas so Halbherziges kann nicht richtig sein“, beschreibt Flurina das Dilemma. „Irgendwann habe ich einfach gemerkt, es braucht eine Entscheidung. Für den anderen. Auch wenn man vielleicht noch nicht die hundertprozentige Sicherheit hat.“ Und damit beginnt eine ernsthafte Beziehung, eine echte, offizielle, und es fühlt sich richtig an. Mehr als das, eineinhalb Jahre später, ist es sicher, dass sich die beiden ganz und gar und für immer wollen. „Meine Studienkollegen haben mir damals gesagt, ja spinnst du, jetzt hast du dir alles versaut! Entscheidest du dich für eine, das geht ja gar nicht! Viele hatten wirklich den Eindruck, ich werfe mein Leben weg.“ Mit der Entscheidung für eine, hat man sie verloren. Die Freiheit. Für Gregor ist da eigentlich eine Lüge versteckt. „Man meint, wenn du dich so entscheidest, verlierst du etwas. Aber meine Erfahrung ist, wenn du dich entscheidest, gewinnst du Freiheit. Ich fühle mich in der Ehe freier, als in meiner Singlezeit. Ist wirklich so!“ Gregor ist da, wo er hin wollte und von dort sieht die Welt auf einmal anders aus. Er brauche nicht mehr allen zu gefallen, nicht um Anerkennung zu buhlen, er ist frei, zu sein, wer er ist. Verstanden hat er das vor allem bei einem Streit („Keine Ahnung mehr, worum es dabei ging…“) in der Vorbereitung auf die Hochzeit:


„Da hat Flurina zu mir gesagt: Gregor, ich liebe dich so oder so. Baff! Das hat mich umgehauen! Ich muss mir ihre Liebe nicht verdienen! Das haut mich auch jetzt noch um. Unglaublich eigentlich!“ Wenn man sich die Liebe nicht verdienen muss und trotzdem geliebt wird. Um seiner selbst willen. Das ist dann wohl das, was man bedingungslose Liebe nennt. Was die beiden versuchen in die Tat umzusetzen, wie Flurina erklärt: „Die Liebe ist ja vor allem eine Entscheidung und nicht ein Gefühl, auch wenn Gefühle auf jeden Fall dazu gehören. Aber in erster Linie, entscheide ich mich, dass ich den anderen lieben möchte und nicht, dass ich Liebe haben will. „Man gibt zuerst. Und damit ändert sich alles.“ Gregor legt sein Marmeladebrot auf den Teller. „Wenn ich eine Person liebe, habe ich normalerweise den Wunsch, diese Liebe zu versprechen. Indem ich eine Entscheidung treffe, mache ich aus diesem Wunsch etwas Konkretes, fast etwas, das man berühren kann. Wie einen Ring“, er hält inne und überlegt. Es ist ein Gefühl, ein Kribbeln, ein aufgeregtes Rot werden, wenn man verliebt ist. Aber Gefühle vergehen doch so schnell wieder. Jetzt bin ich müde und schlecht gelaunt, morgen wieder himmelhochjauchzend. Aber ich weiß, dass der andere mehr wert ist, als ihn von meinen schwankenden Gefühlen abhängig zu machen. Ich weiß, dass er gut ist, dass er liebenswert ist, auch wenn ich mich nicht immer kribbelig mit ihm fühle. „Wie kannst du das, was du fühlst, in diese Welt hinein nehmen, die du siehst. Wie kannst du deine Liebe konkret machen? Mit einer bewussten Entscheidung. Dann ist die Liebe nicht mehr nur so schön wolkig. Damit setze ich hinter meine Liebe einen Willen, und zwar mein Ja! „Ein Ja, das nicht mehr von der momentanen Gefühlslage abhängt. „Zu meiner ganzen Person hat jemand Ja gesagt. Egal was ist, ich weiß, das gilt.“ In guten und bösen Tagen, Gesundheit und Krankheit. So eine Entscheidung, schon so jung zu treffen, ist doch gewagt, auf jeden Fall aber selten. Nur halten Flurina und Gregor nichts von Zeitvorgaben. „Es kommt ja nicht darauf an, wie alt du bist! Ob du jetzt 30 bist und dich entscheidest, zu heiraten, oder 25. Ich seh das Problem


nicht“, Gregor ist dieser Einwand wirklich unverständlich. „Warum warten, wenn du das Glück auch schon heute haben kannst?“ Auch für Flurina ist es ein Geschenk, das sie eben schon früh geschenkt bekommen haben. Aber da ist noch etwas. Für immer ist halt schon sehr lange. Man weiß ja schließlich nie, was kommt. Aber das ist nicht der Punkt. „Wenn ich wirklich liebe, dann will ich, dass es für immer ist, das ist das Wesen der Liebe.“ Das ist der Punkt. „Wir haben uns entschieden, diese Liebe, die das Ewige will, zu versprechen, auch wenn das Juhu Gefühl mal weg sein sollte.“ Das heißt nicht, dass die beiden irgendwann damit rechnen, sozusagen auf dem Trockenen zu sitzen und sich dann an eine tote Entscheidung halten zu müssen, die sie irgendwann einmal getroffen haben. „Ich glaube nicht, dass das Gefühl der Liebe dann irgendwann halt weg ist und man sich nur noch mit der Entscheidung für den anderen begnügen muss. Wenn beide dranbleiben, sich umeinander bemühen, sich nicht aufhören Zuwendung zu schenken und sich immer wieder von Neuem für den anderen entscheiden, bleibt die Liebe „spürbar“. Im Juni hatten die beiden ihren ersten Hochzeitstag, das Juhu Gefühl steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

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Raphael & Elizabeth OO 22.09.2012 Wir treffen Raphael, den Geographen, und Elizabeth, hochschwanger, im Urlaub in Kroatien, es ist die letzte Station unserer Reise. Sonst hätten wir nach Salzburg fahren müssen und dort regnet es bekanntlich öfter als an der Adria. Im Koffer packen sind Raphael, 27, und Elizabeth, 31, außerdem mittlerweile schon ziemlich geübt. Seit ihrer Hochzeit vor zwei Jahren sind sie bereits dreimal umgezogen und sobald ihr erstes Kind geboren ist, wollen die beiden nach Neuseeland auswandern. Am Anfang dieser Geschichte stehen zwei junge Studenten, die es lieben, miteinander Diskussionen über Gott und die Welt zu führen. „Wir haben uns immer recht lange unterhalten und Elizabeth hat mich einfach fasziniert, weil sie so anders war als ich. Ihre Perspektiven. Dass sie so andere Gedanken hatte als ich. Das war eine ganz neue Welt für mich.“ Was dann entsteht, nennen die beiden ganz einfach eine kontinuierliche Entwicklung in der Freundschaft.

gregorundflurina@melchiormagazin.com

„Für mich war es ganz wichtig, dass ich durch Raphael Christus und den Glauben besser kennengelernt habe. Das war wie so eine Tür, die aufgeht. Ich hab immer geglaubt, dass man ganz viel Strenge braucht, auch im Glauben. Aber Raphael hat die Sachen einfach immer aus Liebe gemacht. Und das hat ihn zum Beispiel auch motiviert, um fünf in der Früh aufzustehen und zur Rorate zu gehen.“ Es stimmt schon. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. „Man stellt LIEBE

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sich als Jugendlicher oft vor, welche Frau man kennenlernen wird, aber es kommt immer anders. Und das ist gut. Es geht darum, die andere Person anzunehmen, auch mit allem, was vielleicht nicht meinen Vorstellungen entspricht. Aber was ziemlich wichtig ist, dass man den anderen in seiner Andersartigkeit nicht nur akzeptiert und toleriert, sondern wirklich liebt dafür, wie er eben ist.“ Das ist es also, ihr Geheimrezept. Denn Raphael und Elizabeth ergänzen sich wirklich außerordentlich gut. Verliebt, verlobt, getrennt. Diese Geschichte war nicht immer nur eitel Sonnenschein. Der Hochzeitstermin steht, die Gäste sind eingeladen, da ist sich Raphael auf einmal nicht mehr so sicher. „Für mich war es wichtig, die Sicherheit im Herzen zu haben, dass das richtig ist, was wir tun, und die hab ich einfach nicht gehabt. Das ist für einen Mann sehr wichtig, sich die Freiheit zu nehmen, auf sein Herz zu hören, um dann auch eine richtige Entscheidung zu treffen.“ Die Hochzeit wird abgeblasen. Obwohl sie es erst noch versuchen, müssen sie bald einsehen, dass es keinen Sinn mehr hat, die Beziehung weiterzuführen. Es folgt eine monatelange Funkstille. Bis Elizabeth sich auf einmal hilfesuchend an Raphael wendet. „Das war so ein Punkt, wo ich auch dem Glauben den Rücken gekehrt hatte. Und irgendwann hab ich mir gedacht, okay, das Leben ist eine Sackgasse. Eine dead end street. Ich hab diese tolle Wohnung, diesen tollen Job, ich könnte mir jederzeit alles kaufen, aber trotzdem macht nichts mehr Sinn.“ Kurzerhand erstellt Raphael eine Liste für Elizabeth, ein Veränderedein-Leben-Programm, now! Zieh aus deiner Wohnung aus und verkaufe alle deine Möbel! Beichte! Bete regelmäßig! Such wieder nach einer katholischen Gemeinschaft! Als eine Art Begleitung von der Ferne, beschreibt Raphael die folgende Zeit. „Und da konnte ich auf einmal beobachten, wie drastisch sich Elizabeths Leben veränderte. Es gab eine faszinierende Schönheit, die in Elizabeths Leben plötzlich zum Ausdruck kam. Es war unglaublich. Sie war ein bisschen gestorben gewesen und begann auf einmal mit Jesus neu aufzustehen.“ „Es war irgendwie so, als ob Gott mein Freund war, also wirklich so mein fixer Freund, mit dem ich geh. Es gab lauter Kleinigkeiten, wo ich gemerkt hab, dass


Gott sich um mich kümmert!“ Wohnung, Fahrrad, jedes Mal, wenn Elizabeth in der Anbetung um etwas bittet, bekommt sie genau das geschenkt, was sie braucht. Langsam, aber doch, nähern sich Raphael und Elizabeth einander wieder an. Und als sie wieder zusammenkommen, ist es eigentlich klar, dass sie heiraten wollen. Fast. „Ich hab mir noch immer wirklich schwer getan, mich endgültig zu entscheiden, weil ich jemand bin, der sich gerne alle Möglichkeiten offen lassen möchte“, Raphael lächelt. „Wir hatten ein Gespräch mit einem bekannten Priester und er hat mir gesagt, Raphael hab keine Angst! Das hat mich so getroffen. Ich hatte auf einmal einen echten Frieden, mich zu entscheiden und dann kam eine große Freude. Das war für mich sehr wichtig, diese Erfahrung der Freiheit zu machen. Ich bin wirklich frei und Gott respektiert meine Freiheit. Und wenn ich mich entscheide, dann segnet er das mit Freude. Das hab ich stark gespürt.“ Die Zeit bis zur Hochzeit leben die beiden mit einer etwas ungewohnten Entscheidung. Kein Kuss bis zum Jawort. „Das hat uns sehr geholfen. Weil man sich dann anders in der Liebe ausdrücken muss. Kreativ zu sein im Ausdruck der Liebe, das war eine gute Vorbereitung.“ Gebeutelt, geprüft, entsteht eine Beziehung, die mehr Tiefe hat als die davor. Der Unterschied? „Gott war jetzt einfach in der Mitte unserer Beziehung und das hat sich menschlich extrem krass ausgedrückt.“ Völlig gelassen sein zu

können, weil man die Gewissheit hat, dass alles gut wird. „Früher wollte ich immer meinen Willen durchsetzen und alles genau so haben, wie ich es mir vorstellte. Und auf einmal war mir das nicht mehr so wichtig“, meint Elizabeth. „Ich wollte eigentlich gar keine Vorstellungen mehr haben. Das war so befreiend. Ich konnte alles einfach aus der Hand geben und dem anderen viel mehr Vertrauen schenken.“ Diese Veränderung wäre sogar physisch bemerkbar gewesen. „Elizabeth war für mich auf einmal viel schöner als früher, einfach durch diese Freude, die sie ausgestrahlt hat, diese Freiheit im Inneren.“ Hätte das denn nicht schon gereicht? Die Beziehung, die sie erreicht hatten, war das nicht schon genug? „Verheiratet zu sein, ist trotzdem noch etwas vollkommen anderes. Durch die Ehe sind wir echt zusammengewachsen, ich würde sagen, wir sind ein neues Wesen geworden. Am Anfang ist das noch ein bisschen holprig, das Einswerden. Aber man merkt echt, dass man eins wird.“ Es ist vielleicht auch dieses Ewige, das alles verändert. „Ich zähle nicht mehr, wie lange Raphael mit mir Zeit verbringt, ich schau nicht in die Vergangenheit, ich weiß ganz einfach, dass es ist.“

Freiheit für die Hingabe und das ist das Größte, wozu ein Mensch fähig ist. Deswegen soll man eine Hochzeit auch ordentlich feiern.“ Es gibt noch eine Frage, die haben wir bis zum Schluss aufgehalten, denn sie ist schwer zu beantworten. Die Luft riecht nach Meer und der Himmel strahlt, wie ein kleines Kind beim Geschenkeauspacken. „Was ist denn Liebe für euch?“ Elizabeth: „Ich hab das Gefühl, man muss permanent lernen, wie man liebt. Es reicht nicht, ein Mal zu sagen, okay ich weiß, wie man liebt, das steck ich in meine Tasche und packe es aus, wenn ich es brauche. Sondern, dass jede Tat der Demut wieder eine Lektion in der Liebe ist und jede Tat der Annahme.“ Raphael: „Ich würde sagen, Liebe ist geben und annehmen. Elizabeth hat einen Körper und eine Seele und diese Seele find ich sehr spannend. Denn auch die kann man lieben. Alles, was sie denkt und ist, ihr Sein, einfach lieben und annehmen. Und deswegen ist es egal, was passiert im Leben. Mir ist ziemlich klar, dass ich, egal was passiert, Elizabeth mit Gottes Hilfe lieben werde – für immer.“ raphaelundelizabeth@melchiormagazin.com

Raphael und Elizabeth wollten einfach das Größte machen, das ihnen möglich ist. Jeder Mensch sehnt sich nach Größe. Etwas Großes zu erreichen. „Bei der Hochzeit entscheidet man sich in

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A n n a P latt e r 25, Wien, ist seit zwei Jahren verheiratet und halb so lange hauptberuflich Mutter.


Wirtschaftskommentar T O B I A S T H A Y ER ma r t i n i t e n

Wenn das Rad neu erfunden wird: Verantwortung in der Wirtschaft Top-Manager beim Bäume-Pflanzen oder Berater, die benachteiligte Kinder unterrichten, wer kennt sie nicht, diese Bilder, die strategisch die Welt bereichern. Der ehemalige Investmentbanker Tobias Thayer hinterfragt die Modeeerscheinung der Corporate Social Resoponsibility. Eine Polemik.

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er hat die schönen Begriffe der Corporate Social Responsibility (CSR) in den letzten Jahren nicht zumindest einmal gehört. Sie sind seit einiger Zeit allgegenwärtig im Wirtschaftsalltag. Die Begriffe bringen zum Ausdruck, dass ein Unternehmen ebenso wie ein Individuum gesellschaftliche Verantwortung trägt und zwar gegenüber allen an der Aktivität des Unternehmens Beteiligten: den Mitarbeitern, den Zulieferern, der Standortgemeinde, der Umwelt und nicht zuletzt den Konsumenten. Kein größeres – erst recht kein börsennotiertes – Unternehmen kann es sich heute mehr leisten, diesen Bereich nicht abzudecken. Sei es mit einer CSR Policy oder gar einem CSR Manager, der nicht selten mit der Zusatzaufgabe betraut ist, das Reputational Risk der Firma zu minimieren – also den guten Ruf zu wahren. Er soll dann mit mehr oder minder effektiven Aktionen versuchen, soziales Engagement des Unternehmens herauszustreichen und medialen Angriffen zuvorzukommen. Einen Vorwurf für oft halbherzig

umgesetzte Aktionen kann man den CSR Managern nicht machen: Am Ende sind sie ein reines Cost Center. Alle Auslagen für CSR Aktivitäten minimieren direkt den Gewinn und somit den Erfolg eines Unternehmens. In einem börsennotierten Unternehmen, das zwangsläufig dem Shareholder Value Ansatz folgt – wo also der Gewinn der Aktionäre das oberste Ziel ist – werden CSR Manager unweigerlich zu Statisten. Sie dürfen mit etwas Spielgeld ein paar Bäumchen pflanzen, was dann von der Marketingabteilung entsprechend ausgeschlachtet wird – Verantwortung erfüllt. Keine Frage, es gibt überall Stars und schwarze Schafe, doch scheint der CSR Bereich besonders widersprüchlich, stehen sich doch CSR und Gewinnmaximierung auf den ersten Blick diametral gegenüber. Dieses (sicherlich etwas schwarzgemalte) Bild des CSR Trends der letzten Jahre wirft die dennoch berechtigte Frage auf, welche Verhältnisse denn davor geherrscht haben? Ist das Bäumchenpflanzen heute ein erster Schritt zur Besserung nach einer Zeit des vollkommenen Ethikvakuums? Nein, wir dürfen erleichtert aufatmen. Der CSR Trend der letzten Jahre hat seinen Ursprung in den USA, wo man begriffen hat, dass der Markt sich nicht in jeder Hinsicht selbst reguliert und der herrschende Wirtschaftsliberalismus um eine ethische Komponente erweitert werden muss. Die Amerikaner haben also die Ethik neu entdeckt. Bereits Aristoteles hatte

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sich mit der Verantwortung des Wirtschaftstreibens beschäftigt und seit dem Mittelalter kennen wir in Europa das Konzept des „Ehrbaren Kaufmannes“. Seit ein paar Jahrzehnten kennt man nun in Amerika CSR. Dieses wird an Universitäten erforscht und weltweit als neue Errungenschaft in Business Schools gelehrt. Heureka, das Rad wurde neu erfunden! In der Praxis sieht man nun Banker, die in Waisenhäusern die Wände neu streichen und Versicherungsvertreter, die einen Tag lang Brunnen graben oder Hütten bauen. Übernimmt man so heute Verantwortung in der Gesellschaft? Auch wer diese zugegeben polemische Sichtweise nicht teilt, wird feststellen, dass das Thema der sozialen Verantwortung in der Wirtschaft in vielen Ländern Europas bereits seit langem etabliert ist. Das alte Europa hat mit CSR einen neuen Begriff bekommen für längst bekannte Konzepte: Besonders in Österreich und der Schweiz gab es bereits auf volkswirtschaftlicher Ebene mit dem System der Sozialpartnerschaft und dem Schweizer Arbeitsfrieden Konzepte, die die soziale Verantwortung von Unternehmen festlegten. Auch bei vielen Traditions- und Familienunternehmen ist ethisches Wirtschaften seit Generationen selbstverständlich und Basis des langfristigen Erfolges. War man doch stets eng mit seinem Unternehmensumfeld verbunden und aufeinander angewiesen. In diesem Umfeld ist CSR vermehrt zu einem Unwort geworden. Zu inflationär wurde


der Begriff der sozialen Verantwortung gebraucht und so wurde er im Mittelstand zu einem Synonym für halbherzig umgesetztes und marketingmäßig ausgeschlachtetes Gutmenschentum. Letzteres wohl auch kulturbedingt: Der Mitteleuropäer spricht weniger offen über seine „guten Taten“ als der Amerikaner. Understatement und Zurückhaltung werden als tugendhaft betrachtet, die linke Hand soll nicht wissen, was die rechte tut. Neben den vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die sich ohnehin ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind und die längst erkannt haben, dass nur ein zufriedener Mitarbeiter zum langfristigen Erfolg eines Unternehmens beitragen kann, gibt es noch die vermeintliche Speerspitze des ethischen Wirtschaftens: die dezidiert christlichen Unternehmer. Was aber unterscheidet diese von anderen Familienunternehmen? Sind Christen noch verantwortungsvoller? Zwangsläufig sicherlich nicht. Allerdings hält die ethische Dimension durch konsequentes Handeln aus dem christlichen Glauben heraus in jeden Bereich der täglichen Arbeit Einzug. Man könnte den Zugang also als ganzheitlicher bezeichnen.

Victorinox – ein Unternehmen im Porträt Lange bevor der Terminus Corporate Social Responsibility in aller Munde war, hat Victorinox seine Verantwortung als Unternehm erkannt: aus christlichem Selbsverständnis.

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Dominus Providebit – der Herr wird sorgen. Der Leitsatz von Victorinox, gut sichtbar im Verkaufslokal am Firmensitz in Ibach SZ.

er Schweizer Messerhersteller Victorinox leugnet den christlichen Einfluss in seiner Unternehmensführung keineswegs. Seit 1884 ist die Unternehmerfamilie Elsener im schweizerischen Ibach mit der Messerherstellung beschäftigt. In erster Linie bekannt für das originale Schweizer Taschen- oder Offiziersmesser, produziert und vertreibt Victorinox weltweit mit über 1800 Mitarbeitern neben Messern für verschiedenste Anwendungsbereiche auch Uhren, Bekleidung, Parfum und hochwertiges Reisegepäck. Auf die Frage, ob sich Victorinox seiner sozialen Verantwortung bewusst sei, erhält man einen Verweis auf das Leitbild des Unternehmens. Der CSR Begriff scheint nicht gern gehört, agiert man doch seit der Gründung durch Karl Elsener nach christlichen Grundsätzen. Diese Grundwerte gäben Rückhalt, erleichterten die tägliche Arbeit und gäben Sicherheit bei Entscheidungen. Mitarbeiter sollen gefördert und motiviert werden, ihre Stärken zu entfalten und sich bei der Arbeit wohl fühlen. Hans Schorno, Medienverantwortlicher von Victorinox und selbst seit 23 Jahren im Unternehmen, bestätigt dies: „Wichtige Schlüssel zu langfristigem Erfolg sind gegenseitiges Vertrauen, Respekt, Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, Verantwortung und Leistungsbereitschaft. Dies gibt unserem Leben einen tieferen Sinn sowie Freude und Befriedigung bei der Arbeit.“ Für alle Mitarbeiter gilt das Prinzip der Chancengleichheit. Für gleiche Arbeit gibt es gleichen Lohn. Volle Transparenz


scheint die Devise zu sein. Gleiches gilt für die Beförderungspolitik. Aber das ist erst der Beginn von dem, was man bei Victorinox unter Fairness versteht. Es gibt eine profunde Sozial- und Familienpolitik und bereits seit 1945 ermöglicht eine Betriebskommission die demokratische Mitgestaltung durch jeden einzelnen Mitarbeiter. Außerdem legt man besonderes Augenmerk darauf, den jungen Menschen, Menschen mit eingeschränkten Ressourcen und Menschen anderer Kulturkreise bestmögliche Chancen zu bieten. Die durchaus vielen Kreuze und anderen religiösen Symbole sind also kein Ausschluss für Menschen mit klar nichtchristlichem Hintergrund. Gerade diese Offenheit und Toleranz zeugt aber von einer positiven und authentischen Umsetzung der christlichen Werte. Die Nächstenliebe gilt jedem Menschen in gleichem Maße. Darüber hinaus sorgt sich das Unternehmen um die Gesundheit seiner Mitarbeiter. Nachdem in der Produktion teilweise Überlastungssymptome und Sehnenscheidenentzündungen aufgetreten waren, die permanente Arbeitsplatzwechsel notwendig gemacht hatten,

wurde ein Vorsorgeprogramm entwickelt. Seither gibt es dreimal täglich eine Balance Time, während der gemeinsame Gymnastik auf dem Programm steht. Was an den kollektivistischen Geist japanischer Produktionsunternehmen erinnert, scheint auch in der Schweiz gut zu funktionieren. Außerdem werden die Arbeitsplätze an besondere Anforderungen angepasst und verschiedene Sportund Freizeitaktivitäten unterstützt. Diese sollen nicht nur die Gemeinschaft und Integration fördern, sondern auch der Gesundheitsvorsorge dienen. Mission erfolgreich – mit dem schönen Nebeneffekt, dass in nur 8 Jahren Ausfallstunden wegen Krankheit oder Unfall um 50 Prozent gesenkt werden konnten. Die Verantwortung für die Mitarbeiter beschränkt sich aber nicht auf den Arbeitsalltag. Dass sich Victorinox mehr als eine große Familie, denn als ein reines Unternehmen sieht, wird an folgendem Beispiel aus der Unternehmensgeschichte klar: Im Jahr 2000 wurde eine Unternehmensstiftung gegründet mit dem Ziel, den Fortbestand von Victorinox bestmöglich zu gewährleisten, Arbeitsplätze langfristig zu sichern und die finanzielle Unabhängigkeit zu

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erhalten. Dabei gaben alle Aktionäre der Unternehmerfamilie ihre Aktien ohne Entgelt zurück, um so 90 Prozent des Unternehmens in die Stiftung einbringen zu können. Carl Elsener, Verwaltungsratspräsident und Geschäftsführer in dritter Generation dazu: „Die Unternehmerfamilie soll die Reserven, die Liegenschaften und die Maschinen der Victorinox nicht als Eigentum ansehen, sondern anvertraut zum verantwortungsvollen Leiten und Führen. „Die verbleibenden 10 Prozent sind im Besitz einer wohltätigen Familienstiftung, die damit karitative Projekte in der Schweiz und im Ausland unterstützt. All diese Aktionen erinnern an die christliche Grundhaltung des Unternehmens. Der biblische Zehent für wohltätige Zwecke, die konsequente Nächstenliebe und das Wirtschaften nach dem biblischen Grundsatz: Nach sieben fetten Jahren kommen sieben magere Jahre. Also spare in der Zeit, dann hast du in der Not, oder: Wer vorsorgt, fährt besser. Hans Schorno ist überzeugt: „Die Bibel würde als Handbuch für Manager vollauf genügen.“ Diese Maßnahmen machten sich bald bezahlt, als die Terroranschläge vom 11.


ca. 120 000 Messer verlassen täglich die Victorinox-Produktionshallen In fast jedem Raum hängt ein Kreuz an der Wand.

„Wichtige Schlüssel zu langfristigem Erfolg sind gegenseitiges Vertrauen, Respekt, Ehrlichkeit, Bescheidenheit,

September 2001 in den USA Victorinox die wohl größte Prüfung der Unternehmensgeschichte bescherten. Praktisch über Nacht wurden die wichtigen Vertriebskanäle an Flughäfen und im Onboard-Shopping geschlossen und der Umsatz im Kernsegment brach um über 30% ein. Große Partner in den USA meldeten Konkurs an. Das Erfolgskonzept Victorinox stand auf Taschenmessers Schneide. In enger Zusammenarbeit von Mitarbeitern und Geschäftsführung wurde eine Strategie entwickelt, durch die diese Extremsituation ohne eine einzige Entlassung gemeistert werden konnte. Dabei wurde nicht zuletzt der Personalchef kreativ und verlieh 30 bis 60 Mitarbeiter für mehrere Monate an andere Firmen, die wegen eines Großauftrages temporär höheren Personalbedarf hatten. Klarerweise hört die Verantwortung auch nicht beim Mitarbeiter auf. Das vorbildliche Wirtschaften mit der Umwelt gehört bei Victorinox ebenfalls zur Firmenphilosophie. So werden alle Fabriksgebäude und zusätzlich 120 Wohnungen zu 92 Prozent mit Abwärme aus der Produktion geheizt. Victorinox ist dadurch im Heizbereich vollständig erdölunabhängig. 600 Tonnen Schleifschlamm werden pro Jahr wiederaufbereitet, auf Schwermetalle wird vollkommen verzichtet, Materialien werden nach ökologischen Gesichtspunkten ausgewählt und sind vollständig wiederverwertbar. Dies und einiges mehr hat Victorinox 2008 den Schweizer Umweltpreis eingebracht. Kann man das alles nicht als CSR auf höchstem Niveau bezeichnen? Nicht, wenn man nach der sonst üblichen Vermarktung Ausschau hält. Denn all die vorbildlichen Maßnahmen von Victorinox finden keinen Niederschlag in der Öffentlichkeitsarbeit der Firma. Im Gegenteil, man muss nachforschen und interne Kontakte haben, um das Ausmaß der sozialen und ökologischen

Dankbarkeit, Verantwortung und Leistungsbereitschaft. Dies gibt unserem Leben einen tieferen Sinn sowie Freude und Befriedigung bei der Arbeit.“ Hans Schorno, Medienverantwortlicher von Victorinox

Aktivitäten erfassen zu können. Das Management sieht diese als selbstverständlich an und verweist dabei stets auf die christliche Grundhaltung des Unternehmens. Dementsprechend wird auch die Wirtschaftlichkeit dieser Maßnahmen großteils nicht evaluiert. Vielleicht, weil dies die Aufrichtigkeit und Selbstlosigkeit in Frage stellen könnte? Fakt ist, der Preis der Verantwortung interessiert nicht. Es ist die Verantwortung selbst, die einen intrinsischen Wert darzustellen scheint. Dominus providebit - der Herr wird sorgen. Gemäß dem Unternehmensleitsatz, der groß neben dem Bildnis eines Schmiedes auf der Außenwand eines Fabriksgebäudes prangt, vertraut man darauf, dass die Kosten der sozialen Unternehmensführung niemals den Ertrag übersteigen werden. Dabei ist Victorinox selbst der Beweis dafür, dass verantwortungsvolle Unternehmensführung möglich und bezahlbar ist. Der Unternehmenserfolg in der 130-jährigen Firmengeschichte spricht für sich. Und dies trotz der Tatsache, dass 1200 der weltweit 1850 Angestellten in der Schweiz arbeiten, dem Land mit den weltweit zweithöchsten Lohnkosten nach Norwegen. 500 Millionen Schweizer Franken Umsatz bei 26 Millionen produzierten Messern und nachhaltige Wachstumsraten, die auch für Börsenspekulanten interessant

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wären, untermauern das Erfolgskonzept Victorinox. Der Nachhaltigkeitsgedanke gilt hierbei auch für die Geschäftsbeziehungen mit Zulieferern und Distributoren. In den USA arbeitete Victorinox zum Beispiel mit einem börsennotierten Distribuenten zusammen. Als das Gewinnstreben der Aktionäre dieses Unternehmens vermehrt der Geschäftsphilosophie der Schweizer Messerschmiede entgegenlief, begannen die Schweizer damit, Aktien des Unternehmens zu kaufen. Im Jahr 2002 übernahmen sie den Vertriebspartner vollständig und konnten so die langfristige und nachhaltige Präsenz im amerikanischen Markt sicherstellen. Für des Glückes Schmied Carl Elsener ist klar: Hinter dem Erfolg jedes Unternehmens stehen die Mitarbeiter – nicht als einzelne, sondern im Team. Innovative, qualitative und preiswerte Produkte und strikte Orientierung am Kunden sind unumgänglich, die marktwirtschaftliche Ausrichtung selbstverständlich. All dies klingt zeitgemäß und könnte eins zu eins einem aktuellen Lehrbuch der Betriebswirtschaftslehre entnommen sein. Auch Stakeholder Value statt Shareholder Value liegt schwer im Trend – zumindest auf dem Papier. Trotz dieser Aktualität scheint der CSR Boom der letzten Jahre klar an Victorinox vorbeigegangen zu sein. Zu Recht, könnte man sagen. Wozu sollte man sich auch mit solcherlei Trends beschäftigen, vertraut man doch auf ein jahrtausendealtes Konzept: den christliche Glauben und die daraus resultierende christliche Lebensphilosophie.

T o b i as T hay e r 31, verlobt und heiratswillig. Der studierte Ökonom ist auch Klopapierentwickler und Radiomoderator. Er lebt in Zürich.


Geweihtes Leben

magdal e n a h e ggl i n

Ein permanentes Wunder Während in unseren Breitengraden über eine Alternativnutzung von Klöstern nachgedacht wird, weil jahrhundertelang bewohnte Gebäude wegen Nachwuchsmangels leer stehen, blüht andersweitig das Gemeinschaftsleben neu auf. Es gibt offenbar noch junge Menschen, die sich nicht abhalten lassen, diese totgesagte Lebensform zu wählen. Papst Franziskus hat sogar das Jahr 2015, beginnend mit dem 1. Adventssonntag dieses Jahres, zum „Jahr des geweihten Lebens“ ausgerufen. Mit dem Besuch einer kleinen Gemeinschaft wird diese Daseinsweise von ihrer alltäglichen Seite unter die Lupe genommen. Eine Spurensuche.

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Spezial —2014/15 — „Jahr des geweihten Lebens“

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üde von der langen Fahrt mit den verspäteten Zügen, frage ich auf dem Bahnhofsplatz von Tarbes eine freundliche Dame nach dem Weg zur Kathedrale. Ich ernte nur schallendes Gelächter. „In Tarbes eine Kathedrale?“, prustet sie in herrlichem südfranzösischen Slang und kann sich kaum erholen vor Lachen. „Wir haben eine Kathedrale?“ So folge ich doch lieber meinem zerknitterten Stadtplan. Ich flaniere durch die sommerlichen Gässchen der von 42.888 Einwohnern bewohnten Stadt, wie Wikipedia akribisch vermerkt. Ob da die sieben Schwestern und fünf Brüder der „Fraternité Apostolique de Jérusalem“ schon mitgezählt sind, die vor einem Jahr auf Wunsch des Bischofs aus dem kleinen Dörfchen Ossun in den Hauptsitz des Bistums Tarbes/Lourdes umgezogen sind? Kleine Restaurants säumen die Pflastersteinwege mit ihren farbigen Stühlen. Die Menschen sitzen gerne noch lange draußen. Und da, inmitten dieser fröhlichen Gesellschaft, ein riesiges Straßenschild „rue de la cathédrale“. Es gibt sie also doch, die Kathedrale, auch wenn sich das Gebäude im Verhältnis zu der Bezeichnung auf dem Schild doch eher bescheiden, fast wie eine ganz gewöhnliche Kirche, ausnimmt. 07.00 uhr. „Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde.“ Das sind die ersten Worte des Tages, die den dunklen Raum der Kathedrale erfüllen und die Benommenheit des Schlafes abschütteln. In diesem kleinen Satz, schon eine ganze Gebrauchsanweisung des Lebens der Gemeinschaft. Gott loben. Dieser kleine Satz scheint auch Richtschnur für den Tagesablauf zu sein. Zählt man Anbetung, geistliche Lesung, Morgenund Mittagsgebet, Vesper und Komplet, Messe und Rosenkranz zusammen, so kommt man auf glatte 4,5 Stunden geistliche Tätigkeiten. Eigentlich fast skandalös, wie verschwenderisch hier mit der Zeit umgegangen wird, aber irgendwie noch viel skandalöser, wie verschwenderisch das eigene Leben hingegeben wird. Eine mögliche Partnerschaft, die eigenen Kinder aufwachsen zu sehen, eine Karriere, ein toller roter Flitzer und die Option, ins Kino zu gehen und eine Pizza zu essen, wenn es dir danach ist, wird freiwillig eingetauscht für Armut, Keuschheit und Gehorsam. Geweihtes Leben nennt man das. Papst Franziskus hat 2015, beginnend mit dem 1. Adventssonntag dieses Jahres, zum „Jahr des geweihten Lebens“ ausgerufen. Ich begebe mich auf Spurensuche.

Nicht nur ora (beten), sondern auch labora (arbeiten) gehören zum Alltag der kleinen Gemeinschaft. Gott zu loben, gilt es auch mit der eigenen Arbeit. Die Brüder und Schwestern verdienen ihren Lebensunterhalt mit halbtägigen Tätigkeiten. Meist wirken sie in der Pfarrei oder Diözese. Besonders reich wird man nicht dabei, aber das Streben sie ja auch nicht an. Die Inventur des persönlichen Besitzes ist schnell gemacht: zwei Habits und zwei paar Sandalen. Die Verbindung von Gemeinschaftsleben und Pfarrei schätzen die Brüder und Schwestern besonders. Durch die Pfarrei gelangen auch viele Menschen mit ihren Anliegen zu ihnen, die sich sonst nie an die Pforte eines Klosters wagen würden. Es wird getauft, verheiratet, beerdigt – man ist am Puls des Lebens und begleitet Menschen aller Generationen. Das ist auch ein Herzenswunsch der Schwestern und Brüder: für die anderen da zu sein, für alle anderen da zu sein. Berührungsängste scheinen die Menschen jedenfalls nicht zu kennen. Vor der Sonntagsmesse kneift eine alte Frau dem unlängst eingetretenen Francois-Xavier kräftig in den Bauch und ruft scherzhaft in ihr Freundesgrüppchen: „Oh, der hat ja richtig viele Bauchmuskeln.“ Für die Zeit meines Aufenthaltes wurde mir eine Novizin als Schutzengel zur Seite gestellt. Schwester Sabine ist so aufmerksam, dass ich tatsächlich das Gefühl habe, es könne mir rein gar nichts passieren. Die junge Schwester lacht, als ich sie nach den Lebensumständen der Schwestern und Brüder vor dem Klostereintritt frage, denn die

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NACHFOLGE

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Aus dem Lebensbuch der Gemeinschaft „Jérusalem livre de vie“ im Kapitel „Liebe“

„sei demütig genug, um dich in wahrheit anschauen zu lassen und barmherzig genug, um zu sehen, ohne zu verurteilen.“

1. Sr. Rita (l.) und Sr. Sabine (r.) machen mit dem Fahrrad Tarbes unsicher 2. Gebetszeit in der Kathedrale


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verschiedenen Temperamente scheinen ihr noch bei Weitem unterschiedlicher als die Herkunft. Trotzdem zählt sie mir geduldig Länder und Berufe auf. Wie nach dem Schütteln eines Kaleidoskops wird mir ein Bild aus den grellsten Farben gemischt. Der bunte Haufen besteht aus einer Lehrerin, einem Hochbauzeichner, einer Buchhalterin, einem Medizinstudenten, einem Ökonomen, einer Eventmanagerin und einem Fernsehwerbungsfilmer. Sie kommen aus Frankreich, Polen und der Schweiz. Aber besser als diese Fakten kennt Sr. Sabine die Begabungen ihrer Brüder und Schwestern. Und ja, auch ihre Macken. Aber darüber sagt sie nichts, wie es sich für einen richtigen Engel gehört. Auch über das geweihte Leben möchte sie nicht sprechen, für so ein großes Thema sei sie zu unerfahren. Eigentlich tut sie gut daran, denke ich. Ein kluger Mönch sagte mir einmal, ihn würden junge Mönche überhaupt nicht interessieren. Ein Kloster dürfe man nie an der Zahl der Novizen messen, man müsse darauf schauen, ob es Starzen (ehrwürdige Greise) gäbe, also glückliche, geläuterte, alte Mönche. Viele Alte kann ich hier nicht finden, aber dafür einige Glückliche, die bereits ihre ewige Profess abgelegt haben. Einer von ihnen ist der 32-jährige Jean-Gabriel, der vor zehn Jahren in die Gemeinschaft eingetreten ist. Das geweihte Leben ist für Jean-Gabriel nichts anderes als das Leben eines Getauften in der Dimension des Himmels. Mit Superheldentum, wie Leute von außen eine solche Lebensform gerne verklären, hat es aber herzlich wenig zu tun. Das erste Jahr wollte er ja schon hin und wieder Reißaus nehmen und zum Beispiel seine Freunde, die immer noch in Paris leben, öfters sehen. Die Schwestern und Brüder 5

© Fotos: Gemeinschaft Jerusalem, Magdlanea Hegglin

„Alles zählt, aber Gott allein genügt.“ Aus dem Lebensbuch „Jérusalem livre de vie“ im Kapitel „Arbeit“

schlagwort

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3. Feierlicher Einzug beim Sonntagsgottesdienst. 4. Auch wenn die Stille großgeschrieben wird, vergehen die Tage nicht nur in frommer Andacht. Eine Kaffeepause in der Küche der Schwestern wird durchaus geschätzt. Von links nach rechts: Sr. Sabine, Br. Jean-Marc, Sr. Monique, Sr. Rita 5. Sr. Rita bei Ihrer Arbeit als Bischofssekretärin

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6. P. David Marie (r.) und der Novize François-Xavier (l.)

der Gemeinschaft wählt man nicht, es ist kein Klub von Freunden, aber man wählt, freiwillig Christus nachzufolgen in Form eben dieser Gemeinschaft. Und diese Nachfolge ist das Band, das sie zusammenhält. Menschlich gesehen ist es eine Herausforderung, den Charakter der anderen, ihr Verhalten, ihre Gewohnheiten und Macken zu ertragen. Zum Beispiel jemanden im Zimmer nebenan zu haben, der schnarcht und du merkst, dass das noch Jahre so andauern wird. Aber P. Jean-Gabriel sieht sein Leben nicht in erster Linie als Opfer und Verzicht, sondern als Antwort auf den Ruf Gottes. Und da er davon überzeugt ist, dass Gott uns glücklich machen möchte (und seinem verschmitzten Strahlen zu jeder Tageszeit glaubt man sofort, dass er das mit dem Glücklichsein nicht theoretisch meint), zweifelt er auch nicht daran, dass er jedem der dazu gerufen ist, die Gnaden gibt, die er für ein solches Leben benötigt. Natürlich gelte es jeden Tag aufs Neue, Ja dazu zu sagen. Die 37-jährige Schwester Rita ist Priorin der Schwestern. Sie hat schon in der Primarschule im Freundebuch unter Traumberuf „Klosterfrau“ notiert. Mit 23 Jahren ist sie dann in die Gemeinschaft eingetreten. Auszuwandern hat sie sich eigentlich nie vorstellen können und die französische Sprache beherrschte sie nur kläglich, aber sie hat sich in der Gemeinschaft sofort zuhause gefühlt und wusste, dass sie dahin gehörte. Alles Gott schenken. Die Seele, den Körper und die eigene Zeit. Das möchte Sr. Rita mit der von ihr gewählten Lebensform. Fürs Gemeinschaftsleben, das für sie Quelle der Freude und der eigenen Verwandlung ist, helfen ihr zwei Dinge: zum Einen, sich nicht zu wichtig zu nehmen. Kopernikanische Bekehrung nennt sie diese Abwendung von übermäßiger Egozentrik. Zum anderen, Humor zu haben mit sich selbst und den anderen. Für den 42-jährigen P. David-Marie, Prior der Brüder, ist es ein Geschenk, dass er auch nach 20 Jahren noch dieselbe Freude empfindet, wenn er sieht, wie die Kinder und Jugendlichen in den Sommerlagern aufblühen. Er sprüht nur so vor Energie, sodass man ihm gerne glaubt, dass er in jungen Jahren das Gemeinschaftsleben eher gewählt hat, um stärker zu sein, effizienter und um große Taten zu vollbringen, denn um des gemeinsamen Gebetes willen, das ihm bisweilen Überwindung kostete. Erst später hat er gemerkt, was für ein großes Geschenk das ist. Das Gemeinschaftsleben ist dem Leben in einer Familie sehr ähnlich.

Die Schwächen der anderen konfrontieren einen mit den eigenen Grenzen. Es geht darum, bis auf den Grund zu glauben, dass der andere in seiner Andersheit ein Glück ist für mich, dass der andere sogar mit seinen Fehlern und Sünden ein Glück ist für mich. Das gehört zum Übernatürlichen. Menschlich gesehen bleibt das immer Stückwerk. Als ich David-Marie danach frage, was er denn am meisten vermisse in seinem Leben, nimmt er sich Zeit. Seine Antwort enthält alles und nichts: Das Paradies. Auf die Begegnung mit dem Herrn von Angesicht zu Angesicht, darauf freue er sich schon. Da lacht er wieder sein Lausbubenlachen und ich denke mir, dass die Welt sicher froh ist, wenn er sich noch eine Weile gedulden muss. Sr. Monique, die 46-jährige Novizenmeisterin der Schwestern, führte vor dem Klostereintritt ein sehr unabhängiges Leben und musste sich nach dem Eintritt in die Gemeinschaft zuerst zurecht finden, so ohne Freunde, Familie, Auto und eigene Wohnung. Plötzlich alleine zu sein vor Gott, dem Einzigen, das hat sie auch inspiriert und ihr geholfen, sich ganz tief in Christus zu verwurzeln. In der Gemeinschaft seien sie so verschieden, dass, so ist Sr. Monique überzeugt, es nur der Herr sein kann, der sie zusammenhält. Das Gemeinschaftsleben sei ein permanentes Wunder. Und man merkt ihr an, dass sie es liebt, Teil dieses Wunders zu sein. 21.00 uhr. Die Schwestern und Brüder treffen sich zum letzten Gebet des Tages. „In deine Hände lege ich Herr, meinen Geist“ erfüllt der vierstimmige Gesang die Kapelle. Diese Worte, mit so viel Vertrauen und schlichter Selbstverständlichkeit vorgebracht, lassen mich ahnen, dass dieses, ihr Leben, tatsächlich nur in diesen, seinen Händen denkbar ist.

NACHFOLGE

magdal e n a H e ggl i n 26, studierte Philosophie und Germanistik und arbeitet als Buchhändlerin und Redakteurin von Melchior. Sie lebt in Appenzell. Im Juli besuchte sie die Fraternité Apostolique de Jérusalem.

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Die Apostolische Gemeinschaft von Jerusalem verbindet durch ihre Lebensweise eine kontemplative Berufung mit der Verantwortung für eine Pfarrgemeinde. Sie wurde 1995 ins Leben gerufen und im Jahre 1998 der, von P. Pierre-Marie Delfieux 1975 in Paris gegründeten, „Monastischen Gemeinschaft von Jerusalem“ angegliedert. Zurzeit wirkt die kleine, junge Gemeinschaft im südfranzösischen Tarbes und in Pistoia in der Nähe von Florenz.


Illustration cha r l o tt e sch n abl


Frisbee-Backpacker M a r t i n It e n

Mit der Scheibe um die Welt Ultimate Frisbee ist eine junge, boomende Sportart, die fast 端berall auf der Welt gespielt wird. Viele Spieler reisen um den Globus, von Turnier zu Turnier. Elia ist so ein Frisbee-Backpacker. Seit Jahren ist er bei Turnieren im In- und Ausland anzutreffen, die Scheibe immer griffbereit. Ein Fotoeinblick aus S端damerika.

1. Auf dem Licancabur, dem Grenz-Vulkan zwischen Bolivien und Chile.


Elia Fuchs (* 1984) ist Multimedia- Elektroniker und spielt in seiner Freizeit seit 12 Jahren Ultimate Frisbee im Schweizer Spitzenteam Solebang Cham. Er engagiert sich in der Jugendförderung.

Ein weiterer Gratistipp ist die Frisbeescheibe. 175 Gramm schwer ist sie und robust. Einsetzbar ist sie sehr vielseitig, zum Beispiel als Teller, wenn man sich gerade in den Tälern des Kaukasus auf dem Gaskocher die Ravioli-Büchse gewärmt hat. Oder als Tragtablett für die sieben Gläser Bier, die man mit

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seinen zwei Händen irgendwie von der Bar zum Tisch schleppen muss. Noch besser, wenn man in der Sahara nach einer geeigneten Unterfläche zum Postkartenschreiben sucht. Und als Schattenspender oder Luftfächer erst – gut zu gebrauchen im schwülen Amazonasgebiet. Elia Fuchs hat auf allen seinen Reisen immer einen Frisbee dabei. Er ist Ultimate Spieler und braucht die Scheibe dann doch hauptsächlich zum Rumwerfen. Wie viele seiner Sportgefährten spielt er oft Turniere, zu Spitzenzeiten praktisch jedes zweite Wochenende. Es gibt weltweit viele sogenannte PickupTurniere, wo man sich als Einzelperson anmeldet und dann vor Ort in ein Team eingeteilt wird. Überall ist man willkommen, man kann mehr oder weniger von Turnier zu Turnier tingeln. Gespielt wird auf Rasen, im Sand oder in Hallen, übernachtet oft bei anderen Frisbeespielern daheim. Obwohl die FrisbeeSzene inzwischen schon ziemlich groß ist, ist sie doch familiär und eben sehr gastfreundlich. Das hängt sicher auch

© Fotos: Elia Fuchs

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ackpacker schwören auf Squashbälle. Wer nach tagelangen Fahrten in wackeligen Bussen auf holprigen Straßen wieder in die Zivilisation zurückkehrt, seine fünf T-Shirts eh schon alle beidseitig getragen hat und die stinkigen Socken im überfüllten B&B-Zimmer für Nasenrümpfen sorgen, der weiß: ein Waschgang steht an. Und die kleinen Squashbälle passen eben ideal als Stöpsel in alle Abflussrohre der Lavabos dieser Welt. Wer das Wasser stauen kann, hat perfekte Handwasch-Bedingungen. Zudem ist man sehr schnell mit allen weiteren Zimmernachbarn befreundet, denn alle wollen den kleinen Ball für eigene Waschgänge ausleihen. Ja, der Squashball ist echt ein Geheimtipp.


ULTIMATE FRISBEE Auf einem 100 m langen und 37 m breiten Rasenfeld spielen zwei Mannschaften mit je 7 Spielern gegeneinander. Ziel ist es, die von einem Mitspieler geworfene Frisbeescheibe in der gegnerischen Endzone am Ende des Feldes zu fangen, wofür die Mannschaft des Fängers einen Punkt erhält. Schiedsrichter gibt es keine, die Spieler regulieren das Spiel nach gegebenen Fairplay-Standards selbst. In Hallen und auf Sand wird Ultimate Frisbee meist auf kleineren Feldern und mit je 5 Spielern gespielt. Die Sportart ist in Nordamerika und Europa verbreitet, aber auch immer mehr in Asien, Ozeanien und Südamerika. Die Internet-Community www.ffindr.com gibt einen weltweiten Einblick über anstehende Turniere. Zu diesen Turnieren sind immer auch Interessierte und Anfänger eingeladen.

damit zusammen, dass Ultimate Frisbee als die fairste Teamsportart überhaupt gilt. Man legt viel Wert auf den „Spirit of the Game“. Frisbee-Turniere sind nicht reine Sportveranstaltungen, sondern regelrechte Familienfeiern im gemütlichen Stil.

2. Auf dem Illiniza Sur, 5263 M.ü.M., in Ecuador 3. Pisac, Peru 4. 1°-kaltes Wasser in der Antarktis 5. In Los Penitentes, vor Aconcagua, dem höchsten Berg Südamerikas

Als Frisbee-Backpacker ist Elia weit herumgekommen. In Europa gibt es tolle Turniere an den Stränden von Italien, Spanien oder Portugal, aber auch in Holland, Deutschland und Österreich. 2011 ist er elf Monate durch Südamerika gereist und hat in verschiedensten Ländern Ultimate gespielt und die dortige Frisbee-Kultur kennengelernt. Besonders in Argentinien und Kolumbien boomt die Sportart.

6. Auf Pico del Teide, in Teneriffa, Spanien 7. Salar de Uyuni, Bolivien 8. Galapagos, Ecuador 9. Im Einsatz bei einem internationalen Frisbee-Turnier in Rosario, Argentinien 10. Bei den weltberühmten Wasserfällen von Iguazu, Brasilien

Überall an speziellen Orten hat Elia sich mit seinem Frisbee ablichten lassen. Entstanden ist eine Galerie, die den Frisbee-Backpacker-Lifestyle gut wiedergibt. Denn Elias Welt ist nicht eine Scheibe – aber die Scheibe gehört zu seiner Welt. Andere setzen auf Squashbälle.

11. Fast auf dem Gipfel von Cotopaxi (Ecuador), einem der höchsten aktiven Vulkane der Erde 12. In der Ruine der Inkafestung Sacsayhuaman in Peru

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M a r t i n It e n 28, gelernter Typograf und Mitbegründer von Fisherman.FM. Der Zuger rannte selber viele Jahre der Frisbee-Scheibe hinterher.

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Das Schwein von Gaza

Pigs (Three Different Ones)

Ein vietnamesisches Hängebauchschwein, ein armer Fischermann und ein auswegloser Konflikt - daraus besteht das Regiedebut des französischen Journalisten Sylvain Estibal. Eine absurde Tragikomödie, die einen liebevollen Blick auf die vom ausweglos scheinenden Nahostkonflikt betroffenen Menschenleben wirft, indem sie ihren kleinsten gemeinsamen Nenner sucht: das ‚unreine‘ Schwein.

Von George Orwells politischer Fabel ‚Animal Farm‘ inspiriert, schrieb der Bassist von Pink Floyd, Roger Waters, die Lieder des sozialkritischen Albums ‚Animals‘. Die Kritik des Kommunismus tauschte er gegen eine Kritik des Kapitalismus, die Darstellung der Menschen mit Tierbildern behielt er bei, wie etwa in dem Lied ‚Pigs (Three Different Ones) in dem er Politiker als Heuchler und Scheinheilige anprangert.

Sylvain Estebal

Pink Floyd

4x Schweinerei Rampensau, Schweinehund, Sauhaufen;

die grunzenden Vierbeiner müssen in unserem Sprachgebrauch für einiges herhalten. In Geschichten – man denke nur an ‚animal Farm‘ von George Orwell – werden sie oft zum Sinnbild für das Schlechte im Menschen, sie funktionieren aber auch unschuldig

Heavy Weather P.G. Wodehouse

Im fünften Buch der Blandings Castle Reihe ist alles vorhanden, was bei einem Wodehouse Roman so dazugehört: Wohlwollende, aber törichte Jünglinge; alternde Aufschneider; aufdringliche Tanten; das zweithübscheste Mädchen Englands; ein Detektiv mit zurückgeschlecktem Haar und finsterem Schnauzbart und natürlich das geliebte, preisgekrönte Schwein mit dem klingenden Namen ‚The Empress of Blandings‘. Ein skuril-komischer Ausflug in das aristokratische England der 1920er Jahre.

und knuddelig, wie Piglet in ‚Pu der Bär‘. Schweine sind uns seltsam vertraut und doch fremd, ernstzunehmend und doch lächerlich; in unserem Kulturschaffen haben sie sich spätestens seit die Gefährten des Odysseus von der Zauberin Kirke in solche rosa-farbene Tiere verwandelt wurden, einen festen Platz gesichert. Hier eine Auswahl.

UNTERHALTUNG

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Chihiros Reise ins Zauberland Hayao Miyazaki

Für diese märchenhafte Erzählung hat der Walt Disney Japans, Hayao Miyazaki, 2002 den Oscar für den besten animierten Spielfilm erhalten. Auf dem Weg zu ihrem neuen Zuhause, verfahren sich das verwöhnte Mädchens Chihiro und seine Eltern und geraten in eine Zauberwelt; während Chihiro die Welt erkundet, stopfen ihre Eltern gierig Essen in sich hinein und verwandeln sich in Schweine. Um sich und ihre Eltern zu befreien, nimmt das Mädchen Arbeit im Badehaus der Hexe Yubaba auf und lernt in diesem Kampf ums Überleben sich selbst und die Kraft der Liebe kennen.


Jakob und der Wolldeckenvogel / Christoph Schwyzer buch, Verlag Martin Wallimann, November 2013 «Ja, Jakob, so wie du bist, ist es gut! Du bist meine Leiter zum Himmel.»

Autorengespräch

Mehr als normal Ein Gespräch mit Schriftsteller Christoph Schwyzer über den Mut, Ja zu sagen und den Alltag mit seinem geistig behinderten Sohn Jakob.

M

it einem Liebesbrief endet Christoph Schwyzers jüngstes Werk „Jakob und der Wolldeckenvogel“. Der Autor beschreibt Momente im Alltag mit Jakob, einem Kind, bei dem sich erst Monate nach der Geburt herausstellen wird, dass es geistig behindert ist. Die eindrücklichen Texte zeigen, wie sich zwei Menschen verstehen und lieben lernen, ohne die zeitweilige Überforderung und Hilflosigkeit zu verschweigen. In Ihrem Buch gestehen Sie, dass Sie früher nie den Wunsch verspürt haben, Vater zu werden. Weshalb waren Ihnen Kinderwagen schiebende Männer einst ein Schreckensbild?

© Foto: Norbert Bussard

Christoph Schwyzer: Jahrelang lebte ich als Einzelgänger und wollte mir immer alle Möglichkeiten offen halten, frei nach dem Motto „hinter der nächsten Ecke wartet bestimmt noch etwas Besseres“. Vordergründig meinte ich in Freiheit zu leben, doch tatsächlich verharrte ich im Stillstand. Bis es zur beschriebenen schicksalhaften Begegnung kam: „Die unzähligen Treppenhausgespräche, die Abendessen und Spaziergänge hatten uns ganz langsam, ohne dies beabsichtigt zu haben, einander nähergebracht, so nahe, dass sich eines Tages unsere Hände beim Gehen im Gleichschritt fanden…“ Ihre einstige Nachbarin ist heute Ihre Frau.

begann ich, anders zu denken, mein Horizont wurde weiter und ich staune immer wieder, wie viel Freiheit ein Verbundensein schenken kann.

Dank meiner Frau und meinen Kindern lerne ich, dass im Ja-Sagen viele Türen aufgehen. Ich habe aus ganzem Herzen Ja gesagt. Ab diesem Zeitpunkt

L I T E R AT U R

Apropos Verbundensein schreiben Sie: „Oft führst du mich dorthin, wohin ich nicht will.“

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Melchior Magazin Mein Sohn Jakob zwingt mich immer wieder, meine Pläne fallen zu lassen und einen anderen als den direktesten Weg zu gehen. Und gerade das ist, seit ich es zu schätzen weiß, etwas Wunderbares. Heute ist Jakob sechs Jahre alt. Wie haben Sie auf den medizinischen Befund Gen-Deletion, geistige Behinderung, reagiert? Natürlich wünscht sich kein Mensch ein behindertes Kind. Doch für uns brach keine Welt zusammen. Mag sein, dass Jakobs Verhalten uns oft merkwürdig erscheint. Für mich ist unser Kind mehr als normal. Tag für Tag werde ich Zeuge seiner Begeisterungsfähigkeit und erlebe oftmals meine eigene Beschränktheit, meine eigene Begeisterungsbehinderung. Jakob hat eine kleine Schwester bekommen. Haben Sie eine pränatale Untersuchung in Erwägung gezogen? Nein. Selbstverständlich verdanken wir der Medizin viel. Jakob hätte wohl seine Geburt ohne moderne Medizin nicht überlebt. Doch der pränatalen Untersuchung stehe ich kritisch gegenüber. Die Gynäkologin hat unsere Entscheidung mit Befremdung zur Kenntnis genommen. Doch was machen Eltern bei einem negativen Ergebnis? Plötzlich stehen sie allein vor einer todernsten Entscheidung. Ihr Buch endet mit dem Satz: „Ja, Jakob, so wie du bist, ist es gut! Du bist meine Leiter zum Himmel.“ Unser Sohn wurde an einem heißen Sommertag, am 24. Juli, dem Namenstag des Heiligen Christophorus, geboren. Der Zufall will es also, dass mein Namenstag mit dem Geburtstag von Jakob zusammenfällt. Jahrelang habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, ob mein Vorname zu mir passt oder nicht. Und nun ist mir das Bild von Christophorus, der das Kind auf seinen Schultern durchs Wasser trägt, in meinem Alltag sehr vertraut. Das Gespräch führte R u Ed i F äh

Christoph Schwyzer (*1974) lebt mit seiner Familie in Luzern. Er arbeitete an der Volksschule, im Altersheim und bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Studienaufenthalt in Hildesheim »Kreatives Schreiben«, Umzug nach Berlin, danach Fußwanderung von Hamburg nach Basel. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit tritt Christoph Schwyzer als Rezitator auf. Auswahl Veröffentlichungen: »und heim« (2009); »Valendas – Die Welt im Dorf« (2011); »Wenzel« (2011); »Chasch dänkä!«, ein Frauenporträt aus dem Kanton Uri (2013); »Jakob und der Wolldeckenvogel« (2013).

Ausrichtung Wir sind junge Katholiken auf der Suche nach dem Schönen, Wahren und Guten. Melchior ist unser Magazin. Wir möchten Gespräche über das Leben führen, über unser Leben; über Fragen, die uns wirklich bewegen. Wir wollen uns mit Glauben und Vernunft dem Großen, dem Unendlichen und dem Wahren nähern. Grundlage unseres Magazins sind der Glaube und die Lehre der Katholischen Kirche. Herausgeber YOU! Verein – Jugendverein für christlich/katholische Werte, Ebendorferstraße 8, A-1010 Wien Fisherman.FM, Aegeristrasse 46, CH-6300 Zug Katholische Hochschulgemeinde Wien, Ebendorferstraße 8, A-1010 Wien Redaktion, Design, Fotos Michael Cech, Magdalena Hegglin, Martin Iten, Hannes Platter, Paula Thun, Michael Fent Geistliche Assistenz P. Martin Mayerhofer FSO, Br. Paul Tobler OSB Wir danken allen mitwirkenden Andreas Thonhauser, Anna Bodewig, Anna Platter, Anne Fleck, Benedikt Michal, Charlotte Schnabl, Christoph Schwyzer, Daniela Pock, David Schwarzbauer, Dominik Raich, Dominique Piech, Elisabeth Spiekermann, Emmanuel Fleckenstein, Erwin Gegenbauer, Esther Maria Magnis, Florian Rafetseder, Flurina Hofer, Pater Gabriel Bunge, Gregor Hofer, Hannah Laumer, Hans Schorno, Huaman Medina, Pater Jean-Uriel Frey, Johanna Aumüller, Johanna Honsig-Erlenburg, Johannes Wunsch, Katharina Fleckenstein, Kathi Beier, Leonie Blarer, Lior Etter, Lucia Reinsperger, Magdalena Rauter, Manuel Burkart, Maximilian Cech, Bruder Nikodemus Peschl, Pascal Christen, Raphael Dörfler, Ruedi Fäh, Ruhti Gassauer-Fleißner, Sarah-Maria Graber, Sarah Luger, Sophia Kuby, Theresia In Der Maur, Tobias Thayer, Valentin Abgottspon, Veronika Kabas, Veronika Weinlich, Vincent Paulischin, Violetta Parisini, Xenia Schmidlin und der Apostolische Gemeinschaft von Jerusalem Medieninhaber, Redaktion und Verlag Österreich YOU! Verein – Jugendverein für christlich/ katholische Werte, Ebendorferstraße 8, A-1010 Wien. Vereinskennzahl ZVR 866 524 685, UID ATU44538504. Schweiz Verein Fisherman.FM, Projektgruppe Melchior, Aegeristraße 46, CH-6300 Zug Hersteller Druckerei Gutenberg Druck GmbH BESTELLUNG und Vertrieb Für Melchior zahlt man so viel, wie es einem Wert ist. Richtwert für das Einzelheft sind EUR 7.50 / CHF 11.–. Jeder zusätzliche Betrag bedeutet höhere Qualität und mehr Leser! Melchior erscheint 2x im Jahr (März und Oktober). Leserservice service@melchiormagazin.com / www.melchiormagazin.com österreich Ebendorferstraße 8, A-1010 Wien Telefon +43-699-1018 5484, Fax +43-1-253 672 249 45, Konto Melchior Magazin, IBAN: AT22 3232 2004 0140 9879, BIC: RLNWATW1322 Schweiz Aegeristraße 46, 6300 Zug Telefon +41 (0)79 317 05 42 Konto Fisherman.FM, Zuger Kantonalbank, IBAN: CH06 0078 7007 7168 8950 4 BIC/SWIFT: KBZGCH22


Kolumne D av i d S chwa r zba u e r

Wenn der Schuss nach hinten los geht Vom Selfie zum Wefie zum Groufie zum... Lichtbild?

Illustration: Johanna Aumüller

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elten hat der Wiener Kardinal Christoph Schönborn so viel mediales Aufsehen erregt wie diesen Sommer, als er aus Bogota sein erstes Selfie in die sozialnetzwerkliche Wolke schickte. Seltener hat der Versuch, ein Foto von sich selbst zu schießen, im Knast geendet wie im Fall von Jaroslaw Kolschin. Der kletterte nämlich auf den Pfeiler der Brooklyn Bridge, gefährdete dadurch die öffentliche Ordnung und durfte von seinem Hotelzimmer direkt in eine New Yorker Strafvollzugsanstalt umsiedeln. Dabei hatte er noch Glück, denn 5400 km weiter westlich stürzte ein Ehepaar beim Selbstporträtieren am Cabo da Roca in die atlantischen Fluten und somit in den Tod. Am seltensten jedoch löste ein Bild eines Affen so einen heftigen Rechtsstreit aus, wie ihn unlängst die USA erlebten: Es ging um die Urheberrechtsfrage des Fotos, war es doch...richtig!... ein Selfie. Das mit dem Smartphone aufgenommene Selbstporträt, das nach seinem Entstehen gleich auf

KOLUMNE

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Facebook, Instagram oder Tumblr landet, ist also präsent wie nie zuvor. Es hat in die Kirchen, in den Urlaub, ja sogar ins Tierreich Einzug gehalten, sehr zum Bedauern vieler Anhänger der Selbstlosigkeit und ästhetisch schöner Bilder. Meistens handelt es sich bei den Fotos nämlich um qualitativ und psychologisch um Hilfe schreiende Auswüchse des digitalen Wahnsinns einer modernen Welt, in der wir vergessen haben, dass es neben uns noch andere Menschen gibt. (Oder gibt es die gar nicht mehr, weil wir sie durch unser pausenloses Whatsappen und Statusliken vergrault haben? Das wäre zumindest ein plausibler Grund dafür, dass man immer häufiger selbst auf den Auslöser drücken muss, will man ein Foto haben.) Psychologen haben es längst erkannt und auch wir verstehen immer mehr: Selfies sind gar nicht so toll, wie sie anfangs zu sein scheinen (schon gar nicht, seit selbst Affen wissen, wie man sie macht) und schon ist das Wefie beziehungsweise Groufie geboren. („We“ steht für wir und „Grou“ für eine Gruppe – es handelt sich also um ein Selfie mit mehreren Menschen.) Gott sei Dank haben wir also verstanden, dass es sich zu viert doch schöner in die Kamera lächelt als allein und dass wir Menschen dann am besten funktionieren, wenn wir unser Leben auf andere ausrichten! Wir sind ja doch noch soziale Wesen! Bleibt nur noch zu hoffen, dass wir bald auch erkennen, dass die Fotos qualitativ dann noch besser sind, wenn der überdimensionale Arm des Fotografierenden nicht auf ihm zu sehen ist. Doch dazu müsste ein anderer das Foto machen und das wäre dann ja wieder nur ein stinknormales Lichtbild. Und wer will so etwas heutzutage noch sehen? Ich verstehe den Einwand, aber träumen wird man wohl noch dürfen...

D av i d S chwa r zba u e r 37, ist Lehrer in Wien, verheiratet und hat zwei Kinder, denen er bereits das Skateboarden beibringen will. Einmal im Monat ist er Blogger für „diepresse.com“. Seite 73


Das Letzte Wort

Mehr Licht!

Johann Wolfgang von Goethe, † 22.03.1832 in Weimar

Auch die letzten Worte Goethes sind hohe Dichtkunst – nur nicht seine eigene, sondern die der Geschichtsschreibung. In seiner vollen Länge lauten sie angeblich: "Macht doch den zweiten Fensterladen in der Stube auch auf, damit mehr Licht hereinkomme!" Glaubt man aber dem Autor und Literaturkritiker Werner Fuld, so waren Goethes letzte Worte der an seine Schwiegertochter gerichtete Wunsch: "Frauenzimmerchen, gib mir dein Pfötchen!"


Servas!* Wir freuen uns auf dein Feedback zur Erstausgabe: info@melchiormagazin.com Vermehre Melchior! www.melchiormagazin.com *Österreichisch für „Auf Wiedersehen!“. Unser Fotograf Michael Fent lernte dieses Wort während seines Wien–Aufenthalts, er verwendet es seitdem minütlich.


Melchior www.melchiormagazin.com


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