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Zu wenig, um zu leben, zu viel, um zu sterben: Die Proteste in © erlucho / Shutterstock.com
Lateinamerika werden befeuert von sozialer Ungleichheit – und
der Brutalität der Sicherheitskräfte. Von Wolf-Dieter Vogel
Bis es sich zu leben lohnt E
rst Venezuela, dann Ecuador, Chile, Bolivien und zuletzt Kolumbien – Süd amerika kommt nicht zur Ruhe. Demons trierende ziehen mit Trommeln und Kochtöpfen durch die Strassen, Jugendli che liefern sich Schlachten mit der Poli zei, hochgerüstete Sicherheitskräfte ge hen gewaltsam gegen die Rebellierenden vor. In einigen Ländern hat sich die Lage nach den Eskalationen im vergangenen Herbst wieder beruhigt, in anderen, ins besondere in Chile, spitzt sie sich weiter zu. Eines haben jedoch alle Proteste deut lich gezeigt: Sowohl in wirtschaftsliberal
Wolf-Dieter Vogel ist freier Journalist und lebt in Oaxaca de Juárez, Mexiko.
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als auch in links regierten Staaten haben die Bewegungen das Potenzial, verkruste te, autoritäre Strukturen aufzubrechen und Machtverhältnisse infrage zu stellen. Ob die Kämpfe aber soziale Gerechtigkeit, demokratischere Verhältnisse und eine Stärkung der Menschenrechte bringen werden, ist nicht ausgemacht. Die Anlässe, die die Menschen auf die Strasse treiben, gleichen sich. In Ecua dor rief die Ankündigung von Präsident Lenín Moreno, die Benzinsubventionen zu streichen, massive Proteste hervor. Transportunternehmerinnen, Gewerk schafter und Studierende gingen auf die Barrikaden. Als indigene Gemeinden des kampfstarken Dachverbands CO NAIE aus dem ganzen Land nach Quito
zogen und die Hauptstadt mit Blocka den stilllegten, nahm Moreno die Strei chung zurück.
Gesundheit nur gegen Geld
Zur gleichen Zeit begannen Schülerinnen und Schüler in Santiago de Chile mit De monstrationen gegen die Erhöhung der U-Bahn-Preise um 30 Pesos (damals ca. 4 Rappen). Schnell weiteten sich die Aktio nen aus und richteten sich schliesslich gegen den konservativen Präsidenten Se bastián Piñera. Bis zu einer Million Men schen zogen durch die Strassen. «Es geht nicht mehr um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre Machtmissbrauch», hiess es mit Blick auf die Pinochet-Diktatur, durch die Chile zum Vorzeigemodell neoliberalen
AMNESTY März 2020