Sonderbeilage Märkische Oderzeitung "Leben im Osten"

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Leben im Osten – Wertewandel Studie

Donnerstag, 2. Oktober 2014

Von der Transitstrecke zur „Warschauer Allee“ Der Verkehr auf der A2 ist explodiert Von Christopher Kissmann und matthias FriCKe

in Hohenwarthe ein Haus gebaut. Nahe Wald und Elbe, idyllisch gelegen. „Wir wollten im Magdeburg. Es muss wirklich Grünen wohnen“, erinnert er wenig Verkehr gewesen sein, sich heute. Genau zu dieser Zeit damals. Klaus-Dieter Ziche er- begann der sechsspurige Ausinnert sich noch gut. „Sonn- bau der A2. Idyllisch ist diese abendnachts hätte man da Wohngegend nicht mehr. ObFußball spielen können“, sagt wohl sein Haus gut 800 Meder Autobahnpolizist über die ter von der Elbbrücke der Auheutige A2. Er muss es wissen. tobahn entfernt liegt, hört er Seit Ende der 1970er-Jahre ge- tagein tagaus das Heulen der hört die Autobahn zum Revier Lkw-Motoren. „Manchmal ist des 57-Jährigen. Bis 1990 war es nicht auszuhalten. Auf der die Strecke Helmstedt-West- Terrasse bin ich kaum noch. berlin die wichtigste Transit- Bis zu 75 Dezibel habe ich hier strecke. Vom Verkehrsaufkom- schon gemessen. Mein Grundmen glich sie damals eher einer stück hat massiv an Wert verheutigen Kreisstraße. „Wir ha- loren.“ Ein Problem: Auf Höhe ben uns mal den Spaß gemacht der Elbbrücke Hohenwarthe und sind von einer Ausfahrt zur fehlen Lärmschutzwände – nächsten im ersten Gang gefah- obwohl einige Häuser nur 300 ren, ohne dass jemand über- Meter nördlich der Autobahn holt hat“, erzählt Ziche‘s Kol- liegen. Auch ein Krankenhaus ist von den Lärmproblemen belege Jeffrey Pape (48). Staus hat es nicht gegeben. troffen. Schutzwände waren bei Die Straße hatte keine Stand- der Planung in den 90er-Jahspur, nur einen begrünten Mit- ren nicht vorgesehen. „Das telstreifen. Bei Unfällen wurde geht nun auf Kosten unserer auf die Gegenfahrbahn umge- Gesundheit“, beklagt Rethfeld. leitet. Das wäre heute unvorErfolgte Maßnahmen gegen stellbar. Denn die gestiegene allein in SachLärmbelastung: In den 90er-Jahren sen-Anhalt rollen Fehlanzeige. Das wurde an nun jeden Tag Verkehrsminismehr als 72 000 terium in SachLärmschutzwände Fahrzeuge über sen-Anhalt benicht gedacht die A2. gründet das mit Die Autobahn nicht erreichten hat das Land verändert. Nach Grenzwerten. Tempolimit-Ander Wiedervereinigung wurde träge – in Brandenburg sind sie zur wichtigsten Ost-West- höchstens 130 km/h erlaubt, Verbindung Deutschlands. Pro- in Sachsen-Anhalt gibt es keine fitiert hat davon vor allem die Begrenzung – hat die LandesWirtschaft. Hunderte Unter- verwaltung abgeschmettert. nehmen haben sich seit 1990 Dabei knallt es heute durchentlang der Autobahn nieder- schnittlich vier Mal pro Tag gelassen. Die Salutas Pharma auf den nur 84,5 Kilometern GmbH – Teil des weltweit größ- in Sachsen-Anhalt. Die Autoten Pharmaunternehmen No- bahn ist eine der gefährlichsvartis – ist 1993 nach Barleben ten Fernstraßen der Republik. nahe Magdeburg gekommen. Allein 2013 gab es sechs Tote „Die A2 hat bei der Standort- und 67 Schwerverletzte bei wahl eine elementare Rolle ge- den 1295 Unfällen zwischen spielt“, sagt Sprecherin Alexan- Marienborn und Ziesar. Zum dra Schröder. Heute arbeiten Vergleich: 1985 krachte es auf dort 1358 Männer und Frauen. der gesamten Transitstrecke bis Etwas später siedelte sich Berlin lediglich 208 Mal. Ein Faktor für das gestiegene der Glashersteller Euroglas in der Börde an (1997). Auch Ge- Risiko heute: Die Zahl der Lastschäftsführer Christian Winter wagen auf Deutschlands Strabestätigt: „Im Herzen von Eu- ßen hat sich seit der Wende verropa und direkt an der A2 ge- doppelt. Auf der A2 ist nahezu legen sind die Rohstoffversor- jedes dritte Fahrzeug ein Lkw, gung sowie kurze Lieferwege gut die Hälfte davon kommt inzu unseren Kunden gesichert.“ zwischen aus dem Ausland. Die Die A2, eine Erfolgsgeschichte „Warschauer Allee“, wie die A2 für Sachsen-Anhalt? Für viele. nun genannt wird, ist OsteuroNicht für alle. Zum Beispiel für pas Hauptanschluss an den EuHermann Rethfeld. Er hat 1992 roraum.

So ruhig war es vor 30 Jahren: die Transitstrecke zwischen der Bundesrepublik und der DDR 1984 Foto: Günter Schneider

Im Herzen der Stadt: Die Marienkirche in Frankfurt (Oder) erstrahlt in neuem Glanz.

Unverzichtbare Gebäude

Foto: Heinz Köhler

Hunderte märkische Kirchen wurden in den vergangenen Jahren vor dem Verfall gerettet Von Ulrich Thiessen Potsdam. In den vergangenen 25 Jahren sind in Brandenburg Hunderte Kirchen vor dem Verfall gerettet wurden. Gotteshäuser, die entlang der Oder 1945 zerstört wurden, um den heranziehenden sowjetischen Truppen keine Orientierung zu bieten, die bis 1989 als Ruinen ein trostloses Dasein fristeten, sind heute wieder Mittelpunkte ihrer Städte und Dörfer. Es ist ein Geheimtipp: Radfahren auf dem gut ausgebauten Oderdeich und bei Kienitz, nördlich von Küstrin, eine Rast einlegen. Eine Erfrischung oder einen Kaffee zu sich nehmen unter freiem Himmel, im Grünen und doch geschützt durch weißen Kirchenmauern. Die Radwegekirche Kienitz macht es möglich. In das im Krieg zerstörte Kirchenschiff war zu Beginn der 50er-Jahre im vorderen Teil eine Wohnung und darüber der Gemeindesaal errichtet worden. Der Rest des Schiffes blieb ohne Dach. Erna Roder, die Witwe des Kienitzer Pfarrers, begann in den 80ern die Schiefer vom ehemaligen Kirchendach zu bemalen und für den Erhalt des Gotteshauses zu verkaufen. Die voll-

ständige Sicherung der Kirchenmauern und die Sanierung der kleinen Kirche in der Kirche sowie die Nutzung der Freifläche für das Café Himmel und Erde und für Konzerte und Kulturveranstaltungen erlebte sie nicht mehr. Aber eine Statue erinnert heute an die engagierte Frau, die zur Symbolfigur für die Rettung von Kirchenbauten in der Region wurde. Hunderte Kirchenbauvereine sind in den vergangenen Jahren in Brandenburg gegründet worden. Darin engagieren sich längst nicht nur Gemeindemitglieder, sondern auch konfessionslose Einwohner, für die die Dorfkirchen unverzichtbare, identitätsstiftende Gebäude sind. Laut Landeskonservator Thomas Drachenberg sind die brandenburgischen Dorfkirchen weitgehend gerettet. Nur einige Wenige seien noch im Bestand gefährdet. So wie in Kienitz werden viele Kirchen nicht nur für Gottesdienste genutzt, sondern auch für kulturelle Zwecke. In Müncheberg wurde in den 90ern eine spektakuläre Holzkonstruktion in das große Kirchenschiff gebaut, die an eine Arche erinnert und eine Bibliothek beherbergt. Konzerte und kulturelle Veranstaltungen gehören heute vieler-

orts zur gängigen Nutzung von Kirchen, ohne dass die sakrale Nutzung beeinträchtigt oder aufgegeben werden muss, wie Volker Jastrzembski, Pressesprecher der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, sagt. Von den 2000 Gotteshäusern der Landeskirche, davon 1600 Dorfkirchen, sind in den letzten 24 Jahren 30 für eine weltliche Nutzung abgegeben worden. Umgewidmet wurde zum Beispiel die Gutskapelle in Darsikow (OstprignitzRuppin), in der heute ein Bildhaueratelier untergebracht ist. Die Kirche von Meßdunk (Potsdam-Mittelmark) wurde verkauft und wird heute für musikalische Veranstaltungen genutzt. Die Sicherung der Dorfkirchen wurde in den vergangenen Jahren oftmals von den Aktionen für die Stadtkirchen überstrahlt. Der Dom zu Brandenburg, die Wiege der Mark, galt Anfang der 90er als akut gefährdet, da seine Fundamente im Sumpf der Havelinsel, auf der er errichtet wurde, zu versinken drohten. Mehr als 20 Jahre war der Dom eine Baustelle. Im kommenden Jahr zu den 850-Jahr-Feierlichkeiten seiner Gründung wird er in altem Glanz erstrahlen. Auch die größte Hallenkirche des

Landes, St. Marien in Frankfurt (Oder), stand bis in die 90er als dachloses Denkmal der Kriegszerstörungen in der Stadtmitte. Inzwischen ist das steile spätgotische Dach rekonstruiert und prägt wieder die Stadtansicht von der Oderseite. Außerdem ist es gelungen, die als Kriegsbeute nach Russland verbrachten mittelalterlichen Kirchenfenster zurück nach Frankfurt zu bringen und sie nach umfassenden Restaurierungen wieder im Chor ihre bunte Pracht entfalten zu lassen. Landeskonservator Drachenberg, sieht die bisherigen Erfolge durchaus. Aber nicht ohne auf die nächsten Probleme aufmerksam zu machen: „Bei der Rettung der Ausstattung der Kirchen stehen wir noch ganz am Anfang“, schätzt Drachenberg ein. Kirchengestühl, Altäre und Kanzeln seien oftmals in einem prekären Zustand. Als gravierendes Beispiel nannte er den Kirchenschatz der Marienkirche Frankfurt (Oder). Der geschnitzte gotische Rahmen des Hochaltars muss dringend behandelt werden. Die Pfarrerin der Gemeinde, Susanne Seehaus, berichtet von 500 Exponaten, die aus der im Zweiten Weltkrieg schwer be-

schädigten und inzwischen wieder mit einem Dach versehenen Kirche gerettet werden konnten. Bis zum Reformationsjubiläum 2017 soll versucht werden, einige der zahlreichen Holzepitaphe zu restaurieren und die Grabdenkmale in einer Sonderausstellung als Beleg der gewachsenen Bürgerfrömmigkeit nach der Reformation auszustellen. Als Erfolg wird vom Landesamt für Denkmalpflege die Spendenaktion „Menschen helfen Engeln“ gewertet, bei der in den vergangenen Jahren 65 000 Euro für die Restaurierung von Taufengeln gesammelt wurden. 20 der noch 150 in Brandenburg gezählten derartigen Figuren konnten damit gerettet werden. Ebenso viele Taufengel gelten noch als dringend restaurierungsbedürftig. Laut Drachenberg gibt es nur noch wenige Dorfkirchen in Brandenburg, die als baulich gefährdet gelten. Dazu zähle das Gotteshaus in Laubst bei Cottbus, das wie der Ort selbst lange Zeit durch eine Tagebauerweiterung bedroht war und deshalb nicht baulich unterhalten wurde. Die Turmhaube musste inzwischen abgenommen werden, da der Turm als einsturzgefährdet galt.

Der fruchtbare Osten

Landwirte aus verschiedenen Himmelsrichtungen haben aus dem Erbe der DDR eine Erfolgsgeschichte gemacht Von Dominik Bath Magdeburg. Die alte Hofglocke schlägt zur vollen Stunde. Für Landwirt Alfred von Bodenhausen ist der Klang noch ungewohnt. Seitdem die Familie den Hof in Brumby (Landkreis Börde) bewirtschaftet, hat die alte Glocke am Getreidespeicher nicht mehr geläutet. Ein Geschenk seiner Frau Almuth, erklärt der stämmige Bauer. Seit nunmehr fast 25 Jahren sind die Bodenhausens in Sachsen-Anhalt. „Wir sind seitdem gewachsen. Haben vieles aufgebaut und verbessert“, erklärt der 51-Jährige. So wie die Hofglocke, die erst seit wenigen Monaten wieder über den Hof schallt. Die Bodenhausens sind nach der Wende vom Westen in den Osten gekommen. Alfred und Almuth haben in Göttingen studiert. Er Landwirtschaft. Sie Biologie. Beide hegen den Traum von einem eigenen Bauernhof.

Nur ist der in Westdeutschland ganz weit weg. „Mein älterer Bruder hat den Familienbetrieb übernommen“, erinnert sich Alfred von Bodenhausen. Der Mauerfall eröffnet eine neue Perspektive: eine Landwirtschaft im Osten. „Wenn die Grenze nicht aufgegangen wäre, hätten wir nie die Chance gehabt, einen eigenen Betrieb zu eröffnen“, sagt das Ehepaar heute. Auch Helmer Rawolle muss nach dem Mauerfall umplanen. Viele Jahre war er als Bereichsleiter für die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) in Tucheim tätig. Der Fall der Mauer trifft die Landwirte im Landkreis Jerichower Land unvorbereitet. Die LPG überlebt die Wende nicht. Das Land wird den ursprünglichen Besitzern wieder zugeteilt. „Wir wussten nicht, wie es weitergeht“, blickt der 68-Jährige zurück. Die Bauern halten zusammen. 1991 wird die Agrargenossenschaft Tucheim zu

dem, was sie heute ist: ein Zusammenschluss der Landwirte als Rechtsnachfolge der LPG. Helmer Rawolle wird von den 150 Anteilseignern an die Spitze des Betriebes gewählt. Die Landwirtschaft in Ostdeutschland tritt nach dem Fall der Mauer das schwere Erbe der Planwirtschaft an. Die 4300 Betriebe sind personell überbesetzt, Maschinen veraltet, Stallgebäude marode. Trotz Betriebsgrößen von mehreren tausend Hektar sind die Betriebe von Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit weit entfernt. In dieser Form hat die ostdeutsche Landwirtschaft keine Überlebenschance. Die 3844 Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und die 464 Volkseigenen Güter werden umstrukturiert. „Wir hatten von Kapitalismus keine Ahnung“, erinnert sich Rawolle. Plötzlich befand sich die Tucheimer Genossenschaft mittendrin. Rawolle und

seine Mitstreiter packen an. Sie investieren, gehen ins Risiko. Er und zwei weitere Landwirte nehmen jeweils 500 000 D-Mark auf. Sie haften privat. Es geht gut. Der Betrieb wird modernisiert: neuer Stall für die Milchkühe, neue Mähdrescher für den Ackerbau. Auch Familie Bodenhausen in Brumby nimmt viel Geld auf: 600 000 D-Mark. Damit wird der Betrieb ausgerüstet. „Wir konnten nachts nicht mehr schlafen. Das war unvorstellbar viel Geld“, erinnert sich die 54-jährige Almuth von Bodenhausen. Heute erwirtschaftet der Hof rund eine Million Euro Umsatz im Jahr. 2500 Tonnen Kartoffeln werden bundesweit verkauft. 2000 Tonnen Getreide gehen an die Mühlen und Futtermischbetriebe in der Region. Die jährliche Ernte von 3000 Tonnen Zuckerrüben nimmt die Zuckerfabrik in Klein Wanzleben ab. „Es gibt noch viel zu tun“, sagt Alfred von Boden-

hausen. „Aber wir haben mittlerweile eine vernünftige Größe erreicht“, erklärt der Landwirt. Der älteste Sohn Philipp plant, den Betrieb der Eltern zu übernehmen. Die Landwirtschaft in Brumby hat eine Perspektive. In Tucheim sieht sich Helmer Rawolle den neuen Stall für die Milchkühe an. Sein Sohn Sören begleitet ihn. Der 42-Jährige hat die Leitung der Genossenschaft vor drei Jahren von seinem Vater übernommen. „Er hat mir einen blitzsauberen Betrieb übergeben“, sagt Sören Rawolle anerkennend. In dem neuen Stall, der für 1,8 Millionen Euro gebaut wurde, werden Kühe automatisch gemolken. Die 1000 Milchkühe geben pro Jahr etwa 8,5 Millionen Liter Milch. Der Betrieb der Bauern aus Tucheim ist gesund. Sechs Millionen Euro Umsatz, wachsender Gewinn. „Die Erträge sind gestiegen in den vergangenen Jahren“, sagt Sören Rawolle.

Der alte und der neue Chef: Helmer und Sören Rawolle in der Agrargenossenschaft Tucheim Foto: Dominik Bath


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