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Brandenburger Blätter
Liebe Leser, Solche „Brandenburger Blätter“ gab es noch nie. Diesmal werden Sie nichts Kulturgeschichtliches hier finden und nichts Launiges über berühmte Brandenburger und Berliner. In dieser Ausgabe kommen Menschen zu Wort, die nicht berühmt sind, die aber Erschütterndes erlebt haben und davon berichten, nachdem unsere Zeitung Anfang des Jahres Zeitzeugen ermutigt hatte, uns ihre Erinnerungen an das Jahr 1945 zu schildern. Dutzende Männer und Frauen haben daraufhin ihre Erlebnisse aufgeschrieben und uns geschickt. Manche Berichte waren 20 Seiten lang. Angesichts dieser Resonanz entschlossen wir uns, die Idee einer wöchentlich in unserer Tageszeitung erscheinenden Serie um eine Ausgabe der Brandenburger Blätter zu erweitern, in der wir nur diese Zeitzeugentexte veröffentlichen. Und selbst dieses Heft kann nicht alles fassen, was uns zugesandt wurde. Geplant ist, alle Texte unter www.moz.de/1945 online zu stellen. Die hier veröffentlichten Berichte sind natürlich nicht immer hohe Literatur und manches ist ein bisschen mit schwerer Hand geschrieben. Um authentisch zu bleiben, haben wir aber in den Stil nicht eingreifen wollen. Manchmal mussten wir etwas kürzen und haben sachliche und sprachliche Fehler korrigiert. In diesen Texten ist viel über Vertreibungen und Vergewaltigungen zu lesen. Aber nichts liegt diesem Heft ferner, als damit alte Ressentiments zu nähren. Natürlich war der 8. Mai vor 70 Jahren auch ein Tag der Befreiung. Aber mit ihm waren die Ängste, die Gewalt, die Ungerechtigkeiten, Repressionen und seelischen Erschütterungen nicht von einem auf den anderen Tag vorbei. Diese Berichte zeigen, unter Kriegen haben jene am meisten zu leiden, die keine Waffe in die Hand nehmen: die Frauen und die Kinder. Mit ihren Berichten mahnen unsere Zeitzeugen, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Viele endeten deshalb mit denselben Worten: „Nie wieder Krieg!“
Brandenburger Blätter kostenlose Beilage für Oranienburger Generalanzeiger Henningsdorfer Generalanzeiger Gransee-Zeitung Ruppiner Anzeiger verantwortl. Redakteur: Uwe Stiehler Mitarbeit: Ann-Kathrin Jeske Telefon 0335 5530569 E-Mail: brandenburger-blaetter@moz.de
Freitag, 8. Mai 2015
Vor der Vereidigung zum Tode verurteilt Günter Debski wollte mit 16 nicht in den Krieg, sollte als Deserteur erschossen werden, kam in ein Strafbataillon und lief mit zwei gefangenen Russen zur Roten Armee über Am 12. April 1928 in Prenzlau geboren, wurde ich als 16-Jähriger am 5. Februar 1945 zum RAD (Reichsarbeitsdienst) nach Havelberg eingezogen. Bereits am 25. März wurde ich dort entlassen, erhielt aber gleichzeitig den Einberufungsbefehl. Ich bin nicht wie befohlen am 25. März nach Berlin zur Kaserne gefahren, sondern an diesem Tage per Anhalter zu meinen Eltern nach Prenzlau. In Anbetracht des sichtlich nahenden Kriegsendes vereinbarten wir, dass ich nicht als Kanonenfutter an die Frontlinie, sondern zu meinem Onkel nach Bertikow bei Prenzlau fahren und mich dort verstecken sollte. Es kam anders. Vor meiner Tour nach Bertikow kamen am 26. März drei Kettenhunde (Feldgendarmerie) mit dem Befehl in mein Elternhaus, mich wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe abzuholen. In der Militärauffangstelle, nur fünf Häuser weiter, in der ehemaligen Gaststätte Felix Schmidt, erklärte ich dem SSHauptsturmführer Müller, durch Bombenangriffe in Oranienburg sei ich von der Truppe abgekommen und per Anhalter zu meinen Eltern gefahren. Das entsprach auch den Tatsachen. Zu fünf anderen Soldaten wurde ich in eine Zelle gesperrt mit der Ankündigung, am 28. März 1945 würde das Kriegsgericht verhandeln. Das Urteil lautete: „Tod durch Erschießen wegen versuchter Desertion und Wehrkraftzersetzung. Die Erschießung findet am 28. März 1945 um 15 Uhr statt“. Der Vorsitzende des Kriegsgerichts fragte, ob ich noch etwas zu sagen hätte oder jemand grüßen möchte. Ich habe darauf hingewiesen, dass noch bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen sei, dass ich den Führereid nicht gebro-
chen habe, denn ich war noch gar nicht vereidigt. „Das spielt heute hier keine Rolle“, wurde erwidert. Meine Mutter kam und flehte kniend den SS-Hauptsturmführer um Gnade an. Ihr Sohn sei doch noch ein Junge, erst 16 Jahre alt. Die Antwort: Eine Schimpftirade und ein Tritt in das Hinterteil meiner Mutter. Ich musste das miterleben, und da kam bei mir ein Rachegefühl auf. Mein Entschluss: Einen gleichen Tritt werde ich dem SS-Führer geben. Ich wusste ja, dass ich in zwei Stunden erschossen werden sollte. Was konnte mir
Die Mutter bettelte um das Leben ihres Sohnes und bekam einen Tritt da schon passieren? Dem Posten sagte ich, dass ich zur Toilette muss. Nach dem Toilettenbesuch habe ich ihm die Tür hart an den Kopf gestoßen und bin in das Militärbüro gestürzt. Dem am Fenster stehenden SS-Offizier habe ich in den Hintern getreten. Ein anderer Offizier zog sofort die Pistole und wollte mich erschießen. Der kommandierende SS-Hauptmann jedoch winkte ab mit der Bemerkung: „In zwei Stunden ist er sowieso erledigt!“ Zeuge war Bodo Giard, auch ein verurteilter Prenzlauer. Am gleichen Tage gegen 14 Uhr fuhr ein Militär-Lkw mit Erschießungskommando vor. Wir waren sechs zum Tode Verurteilte, zwei 16-Jährige, die anderen zwischen 20 und 30 Jahre alt. Kurz vor der Abfahrt kam ein Offizier mit dem Befehl, dass wir zwei 16-Jährigen uns beim
SS-Hauptsturmführer melden sollten. Der teilte uns mit, dass wir wegen unserer Jugend vom Führer Adolf Hitler begnadigt wurden. Das Urteil sei jedoch nicht aufgehoben. Wir seien sofort zum Strafbataillon 999 an die Ostfront abkommandiert. Sollten wir uns noch einmal von der Truppe entfernen, würden wir gehängt. Bevor wir zum befohlenen Sonderzug des Strafbataillons 999 an die Ostfront versetzt wurden, wurden wir mit vielen Jugendlichen und Männern, die unsere Großväter sein konnten, zur „Ausbildung“ in die Berliner Ruhleben-Kaserne gesteckt. Alle erwarteten, dort „geschliffen“ zu werden. Sechs Tage lang mussten wir dort morgens zu einem 200 Meter entfernten Erschießungsplatz marschieren. Wir wurden gezwungen mit anzusehen, wie gefesselte Gefangene aus Transportwagen getrieben, ihnen ein Urteil verlesen wurde und sie, an Pfahle gebunden, im Feuer des Exekutionspelotons zusammenbrachen. Bei diesen Gefangenen handelte es sich überwiegend um Wehrmachtsangehörige, die auf ihre Art mit dem Krieg Schluss gemacht hatten. Aber nicht nur Soldaten wurden erschossen, sondern auch Zivilisten, die wegen „Plündern nach Bombenangriffen“ verurteilt waren. Darunter war eine Mutter mit ihren 14- und 16-jährigen Töchtern. Sie hatten nach einem Bombenangriff in zerstörten Wohnungen nach Brauchbarem gesucht, um zu überleben. Noch heute muss ich oft an diese Grausamkeit denken. Am 16. April 1945 lag unser Ersatzbataillon mit Sonderzug 999 in der Hauptkampflinie Richtung Dolgelin/Ratstock bei Seelow. Morgens um 5 Uhr begann die Schlacht um Berlin. Eine Kanonade
Sowjetisches Trommelfeuer: Kanonaden wie diese hat der Eisenhüttenstädter bei der Schlacht um die Seelower Höhen miterlebt, bei der auch dieses Foto entstanden sein könnte. Foto: Gedenkstätten Seelower Höhen