Die tragende Rolle der Rippe Seit die Erkundung der gotischen Baukunst in architekturtheoretischen Schriften Einzug hielt, beschäftigt die Verfasser die Frage nach der statischen und konstruktiven Notwendigkeit der Rippe, welche die Gewölbekappen teilt. Von den Anfängen der Lehre des Renaissancearchitekten Philibert Del‘Orme über die Theoretiker des 19. Jhd., wie eben Viollet-le-Duc, gilt die Auffassung, dass die Rippen, sei dies bei den Gurtbögen wie insbesondere bei den Kreuzrippen, statische Lasten von den Gewölbekappen zu den Pfeilern weiterleiten. Mittels zeitgenössischer Berechnungsmodelle ist das Tragverhalten der Kreuzrippen wesentlich relativiert worden, wohin die Bogenstatik der Rippen eine zu der Schalenstatik der Kappen unabhängiges Tragsystem aufweist. Statisch sind die Gewölbekappen selbst in der Lage, eine gegenseitig sich aussteifende Wirkung zu erzielen und die Kräfte eigenhändig zu den Pfeilern weiterzuleiten.38 Weiter kann auch die vermeintlich konstruktive Notwendigkeit der Rippen als allgemeine Auflager für die Errichtung des Lehrgerüsts und der aufliegenden Kappen heute infrage gestellt werden. Wenn auch in einigen mittelalterlichen Bauwerken die konstruktive Komponente vorzufinden ist. Die Frage nach der statischen und/oder konstruktiven Relevanz der Rippen ist keine Irrelevante in kunsthistorischen Kreisen, da sie einhergeht mit der übergeordneten Frage, ob in der gestalterischen Ausprägung der gotischen Baukunst allein statische oder konstruktive Schlüsse zu der jeweiligen Form führten. War die gotische Struktur als rational kalkulierte, technisch versierte Konstruktion aufzufassen, oder eher als Veranschaulichung einer Baustatik, die von den Erbauern nicht wirklich ermittelt werden, sondern bestenfalls intuitiv nachvollzogen werden konnte. Folgte also die Form zwingend der Funktion, oder hatte sie im Rahmen eines funktionierenden Ganzen vor allem hinweisenden Charakter? Infolge dessen bildet die Frage nach der statischen Aufgabe der Rippe den Kern der Diskussion um Stilmittel und Formziel der Gotik schlechthin.39 Letztlich muss aber zur Vorsicht gemahnt werden, wenn der durch zeitgennösische Berechnungen beeinflusste Schluss nahe zu liegen kommt, dass die Rippe aus Sicht der gotischen Baumeister ausschliesslich gestalterisches oder raumprägendes Einsatzmittel sei und die Rippen von den Baumeistern keine tragende Funktion zugesprochen worden ist. Die einzig im Mittelalter vorzufindende Quelle aus der Kathedrale von Chartres benennt drei Fachleute, welche die statische Relevanz der Kreuzrippen fest bezeugen. Wenn auch hier angedeutet werden muss, dass die Überlieferung nicht auf andere zeitlich oder ausserregional entstandene Bauten rückschliessbar sei.40
Abb. 20. Sechsteiliges Kreuzrippengewölbe. Entwurf eines Gewölbes, zuerst in der Horizontalprojektion, dann in der Vertikalprojektion, die die Lage der steinernen Rippen festlegt.
Abb. 21. Isometrie eines sechsteiligen Kreuzrippengewölbes.
38 vgl. Nussbaum 1999, S. 60-67 39 ebd. S. 60 40 ebd. S. 63
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