Das Brodell

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chwertragend liegen Dunst-Wolken über der Stadt. Schwertragend legt sich Strassen-Staub auf Hausdächer, Bordsteine und Schwalben fliegen, durchkreuzen Rauchwolken, verbrannte Federn gleiten zu Boden, werden wie Staub aufgewirbelt. Die Aufzählung – eine literarische Schwäche.

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EN BREF - KURZGEFASST

»Haben Sie den Brief?«

err Leonard Andorra Atanassov sitzt unruhig auf seinem Stuhl. Kaut an seinen Fingernägeln, hält sich an der Lehne fest und lässt wieder los. Der Nervenarzt, der Psychiater schaut wieder und wieder in das grelle Licht der Glühbirne, blinzelt, trinkt ab von seiner Tasse Kaffee und schiebt den Brief auf die andere Seite des Tisches – er ist sichtlich nervös. »Das ist die letzte Aufzeichnung Berthold Oppenheimer Lilienthal‘s, bevor er sich in seiner Wohnung das Leben nahm… Sagen wir verschwunden ist… Woher haben Sie den Brief?«, frage ich den

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aufgeregten Atanassov. »Herr Verleger, ich will ehrlich zu Ihnen sein: Sie bekommen den Brief nur, weil der Autor nicht auffindbar ist. Vielleicht taucht er so wieder auf«, erwidert Atanassov verbissen und zwischen seinen Fingern wedelt er mit dem Brief. »Herr Andorra Atanassov, ich bin Ihnen zu unendlichen Dank verpflichtet, dass sie meiner Bitte nach kamen«, generös will ich ihm beidhändig die Hände schütteln. »Sie verstehen nicht, wenn ich nur gewusst hätte, wie es um Lilienthal steht. Ich hätte, ich sollte, ich wollte… ach,« ruft er wütend, aber missmutig aus. »Er war doch mal mein engster Vertrauter.« »Und jetzt ist er weg. Herr Andorra Atanassov, gleich sind wir miteinander fertig. Haben Sie noch ein wenig Geduld«, ermahnte ich ihn. »Berthold Oppenheimer Lilienthal und Sie, sie hatten schon einiges gemein, hatten Sie das nicht? Beide waren sie eine Art Literat. Beide verabscheuen sie den Gedanken ihr Schaffen zu veröffentlichen.« »Wir unterschieden uns im Grunde genommen nur darinnen, dass ich mich letztlich nicht auf die Literatur: als Leben verließ. Wir hatten zwei verschiedene Ansätze. Ich war der Meinung man braucht etwas neben der Literatur. Deswegen studierte ich Medizin, durchlief die psychiatrische Ausbildung, arbeitete als Psychiater und nun eröffnete ich diese Klinik.« »Und hier Herr Atanassov müssen Sie überein stimmen: Lilienthal war der Ansicht, ›wer sich


nicht vollständig einer Sache widmet, der wird vergessen, bevor er stirbt.‹ Ein Mensch muss werden, was er ist«, sage ich lachend und ergänze: »› – und zwar zu Recht.‹« »Man könnte meinen Sie hätten den Brief schon gelesen. Diese Meinung Lilienthal‘s vermute ich, ist ein Beispiel für Probleme zweiter Ordnung. Wer nur zerstreut ist, wissen Sie, der wird sich sehnlichst Konzentration wünschen und er wird aus seiner Schwäche eine Tugend zu machen.« »Weil er nur das Gegenteil kennt. Aber waren Sie nicht auf ein wenig neidisch?« »Aus psychologischer Perspektive, lassen Sie sich das von mir sagen«, erklärte er sicherer, »hätte Berthold sich eher gewünscht, einfach den Verstand zu verlieren. Verstehen Sie das? Neid vielleicht ein wenig. Ich brauchte immer so eine äußere Sache – um mich zu inspirieren. Nein aber er wollte nur seinen Kopf und seine Gedanken verlieren. Vor allem die schrecklich miserablen dysfunktionalen Kognitionen. Delikate Personen, wissen was das heißt. Ja vielleicht war es Neid.« »Angenommen er hätte seinen Verstand verloren, wie Sie sagen, was denken Sie; wäre das Märchen dann anders ausgegangen?« »Nun ja wir können es nicht wissen, aber ich nehme an, er hätte es anfänglich sehr genossen – unwissentlich versteht sich… So wäre es ihm rein gedanklich möglich gewesen, weiter in der verhassten Heimatstadt zu wohnen. Will sagen, weniger Nein sagen vermieden, Vermeidung statt Annäherung ist die Krux.« Leonard Andorra Atanassov erhebt sich. Wendet sich ab. Läuft einige Schritte. Bleibt dann stehen. Lehnt sich an den Türrahmen. Seufzt und dreht sich zu mir: »ich bin langsam müde, mich mit Oppenheimer-Lilienthal auseinander zu setzten. Sie werden im Brief davon lesen. Seinen Verstand zu verlieren, ist auch immer ein letzter Schutz.« »Enttäuschungen, die Lilienthal in wenigen Monaten aus dem Leben rissen und er fortan ein stummer Begleiter seines Schattens wurde«, dachte ich laut und malerisch nach. »Verzeihen Sie mir, es gehört sich für einen Verleger nicht so daher zu reden. Das ist unseriös. Ist die Welt nicht aus Worten gemacht. Dennoch, ich liege richtig, nicht wahr?« Er nickt.

»Herr Andorra Atanassov, wie geht es Ihnen eigentlich mit dem Verschwinden Ihres guten Freundes Berthold?« »Wie soll es einem schon gehen, wenn plötzlich ein Vertrauter und langjähriger Brieffreund nicht mehr aufzufinden ist, obgleich mir die labile Konstitution Lilienthal‘s bekannt war – es also mitnichten plötzlich war.« »Das frage ich Sie. War es eher erleichternd? Eher erschütternd? Gar erregend?« »Sie denken wohl, Sie sind besonders clever, nicht wahr? Das könnte Ihnen so passen, mir Worte in den Mund zu legen.« »Das war ein bloßer Vorschlag. Gehen Sie nicht darauf ein, wenn es Sie kränkt.« »Das einzige was ich machen werden, ist mich von Ihnen verabschieden. Au revoir Herr Verleger. Sie unhöflicher Mensch. Eines noch, ich bereue jetzt schon, Ihnen den Brief gegeben zu haben – lesen Sie ihn ruhig. Glauben Sie denn wirklich, Sie können dem etwas abgewinnen? Neid, ja wahrscheinlich war es Neid. Er war immer besser als ich.« Damit verlässt Leonard A. Atanassov unseren Raum. Es bleibt zu hoffen, dass wir Berthold Oppenheimer Lilienthal ausfindig machen können – mindestens ein Lebenszeichen von ihm hören.

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K WIE REALITÄTSVERLUST

ere erehrter Leser, wie ich Sie ansprechen kann, fragen Sie wi sich? Nun ja im Grunde genommen gar sic nicht. Hier sind wir wieder bei der Frage, ob das Haus im Wald, das Riff in der See, der Einsiedler in der Wüste, auch tatsächlich existiert, wenn niemand hin geht und danach schaut. Wobei Formulierungen solcher Art irreführend sind und die eigentliche Motivation dieser Denkweise untergraben, denn sie geben vor, es

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gebe eine Realität, die da Draußen echt ist und es jemanden geben kann, der diese wahre Wirklichkeit auf dieser Erde finden kann. Wie Sie bereits erfuhren, handelt es sich bei dem folgendem mehr oder minder literarischen Material, um die letzten bekannte Aufzeichnungen eines gewissen Herrn Berthold Oppenheimer Lilienthals, der verschwunden ist. Es soll hier kein Wort über diesen Berthold O. verloren werden. Ich möchte Sie auf drei Punkte hinweisen, die Sie beim Sichten des Materials bitte nicht außer Acht lassen sollten: Punkt 1 Der Verlust von Werten und die dazu gehörigen entschuldigenden, vorgeschützt heilenden und radikal konstruktivistischen Erklärungsversuche. Punkt 2 Die Suizidannährung und -entfernung, durch die im Brief enthaltenden Begriffe, der intellektuellen Zersetzung und des intellektuellen Aufbaues. Punkt 3 Und letztlich; die schier unfassbare Sexualisierung eines jeden Kontextes und jeder Situation, als Substitution und Ersatzleistung eines unerfüllten Bedürfnisses. Und vielleicht auch als Bindungsersatz und das womöglich auch, als Sublimierung einer fehlenden inneren Sicherheit und eventuell eines essentiellen inneren Vertrauens – also einer unbändigen Leere. Oder auch als einzig denkbare Art der Person Beziehung zu erleben. Diese drei Motive, scheinen die dem Schreiben zugrunde liegenden Beweggründe, teleologischen Ausrichtungen und Legitimation zu sein, jedenfalls war das mein Schluss und meine Interpretation. Bitte sagen Sie es mir, wenn Ihnen ein anderer einfällt. Und lassen Sie sich eines gesagt sein: Sie müssen schlauer sein, als Berthold Oppenheimer Lilienthal. Ich überlasse Ihnen nun hiermit den Brief: Berthold Oppenheimer Lilienthal an Leonard Andorra Atanassov

einer dieser Abende, immer wieder setze ich die Nadel zurück auf die Rille, wo ein bestimmtes Lied beginnt. Ich sitze in meinem Arbeitssalon, dem Zimmer neben meinem Schlafzimmer. Heute mache ich eine Ausnahme, denn für Gewöhnlich schreibe ich in meinem Schlafgemach und redigiere lediglich, was ich dort fabrizierte im Salon. Finden Sie nicht, schreiben ist wie träumen? Streiche mir schlechte Stellen an und laufe zurück in mein Schlafzimmer um die schwachen Stellen auszubessern. Ich mag das hin und her Gelaufe – es löst mich . Heute Nacht ist eine besondere Nacht und ich will mit einigen Traditionen brechen.

Darf man daher, seine Vergangenheit erfinden? s schickt sich nicht, darüber zu berichten, wurde mir gesagt. Es gehört sich nicht darüber zu richten, wurde ich gewarnt. Davon zu erzählen, was doch jeder weiß und niemand gerne zu gebe, bei der eigenen Moral und Ethik, bei dem eigenen Stolze oder schlicht der Liebe wegen. Mein sehr verehrter Freund Herr Leonard Andorra Atanassov in dem folgenden Brief, will ich Ihnen von Ereignissen erzählen, die mich zwar selbst betreffen, ich jedoch nicht ausmachen kann: wo ich, nach all der Zeit, etwas dazu erfand und was der Wahrheit entspricht. Ich habe dieses Gefühl. Seit Wochen schon ziehe ich mich in meiner Wohnung zurück, isoliere ich mich von jeglicher menschlicher Kommunikation – ich habe das Gefühl: ich höre auf zu sein. Wenn dem so ist und mein Leben zu ende geht, will ich noch ein letztes Mal Bekenntnis und Zeugnis ablegen. Leonard Andorra Atanassov, ich will Ihnen schreiben, wie es dazu kommen konnte. Sie selbst schrieben mir in Ihrem letzten Brief, und weiß Gott das liegt nun Jahre zurück, ich wage nicht auf Ihren Lettre zu schauen und links oben das Datum zu Lesen… Wie dem auch sei, sagten Sie, wie unsinnig es sei, davon auszugehen: es könne ein vergangenes Geschehen wiedergegeben werden, wie es

Und wünsche ferner noch gute Unterhaltung. Ihr Verleger.

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sich tatsächlich ereignete. Darf man daher, seine Vergangenheit erfinden? Und nicht nur von der Unmöglichkeit haben Sie mir berichtet – nein sogar, als Scheinanliegen haben Sie es entlarvt. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, mein lieber Leo. Um es in Ihren Worten zu sagen, ›da sich jede Erfahrung und jedes Erleben und die daraus folgenden, zum Teil reziproken Schlussfolgerungen – nicht zu vergessen die Rückkopplungseffekte und deren nicht-trivialen Schleifen, Muster und Netze, auf den eigenen gegenwärtigen Geist begrenzen und dieser wiederum ausschließlich wahrnimmt, was er erwartet wahrzunehmen, beziehungsweise wie erwartet zu bewerten, was er als Schema und Muster in seinem Kopf hinterlegt hat, was er auch von sich selbst erwarte, wie er geartet sei(…). Zumindest wird er sehr verwundert sein, kommt es zu der absurden Situation, wenn Antizipation, Beobachtung und Bewertung auseinander driften. Man kann das leicht austesten, indem man Jemanden ein Glas kalten Tee gibt und vorgibt es handelt sich um Cola oder man bittet Jemanden etwas aufzuheben, dass den Anschein hat, schwerer zu sein, als es ist – es wird ihn in beiden Fällen sehr verwundern.‹ Ich bin dankbar für ausufernde und derartige Erklärungen Ihrerseits, auch wenn Sie sie mit schlichten Beispielen belegen, das weiß ich, keine Frage. Ich bin sicher, Ihnen Herr Atanassov fällt dazu eine Fülle von Wahrnehmungsexperimenten ein. Veränderungsblindheit haben Sie mal erwähnt, aber Sie Leo sind der Psychologe. ›Wissen Sie Berthold‹, lese ich weiter Ihren Brief. ›Weil die Bewertung der wahrgenommenen und vermeintlichen Realität, nicht dem entspricht, was vorher erwartet wurde, das wiederum vorher aus anderen Erfahrungen konstruiert wurde. Und dazu wird sich dieser gegenwärtige Geist, von dem Geist, welcher er gerade noch gewesen war, unterscheiden. Auch weil jeder Moment in sich; eine Bereicherung und Bestätigung der Erfahrung ist und der Geist sich aus diesen erfahrenen Momenten und deren Evaluierung aufbaut, anders gesagt, weil er ständig in Bewegung ist: deswegen ist die Rekapitulation ein Unsinn.‹

Herr A. Sie merken es, diese Diskussion führt ins Bodenlose, vom Größten ins Kleinste und umgekehrt. ie mein lieber Berthold-Benno‹, schrieben Sie. ›Mögen einwenden, was aber wenn es eine Videoaufzeichnung gibt? Dann will ich Ihnen antworten: die Aufzeichnung wird in einem Moment geschaut und in dieser Situation ist der Mensch, von dem die Aufzeichnung handelt, schon nicht mehr der, den er selbst dort im Fernseher sieht. Ferner wird dieser Mensch, daher auch die Videoaufzeichnung Filtern, in den Erwartungen, die er stellt: an die Inhalte, die er zu sehen erwartet. Dabei muss er nicht einmal wissen, dass er nun selbst zu sehen ist. Wenn ich von Erwartung spreche, meine ich weniger konkrete Kognitionen, Gedanken und Denken über Konsequenzen und Auswirkung. Ich meine, bewusst betrachtet, gibt es wohl keinen Moment in dem nicht erwartet wird, das geht so schnell, sie haben gerade einmal bemerkt, es dringen Stimuli in ihre Sinne ein und schon sind diese Reize mit Informationen über Beschaffenheit, Verhalten und Nutzen ausgestattet – das ist wohl ein Überlebensmechanimus und Gefahrenvermeidung, würde der Evolutionspsychologie sagen oder einfach: ein Mittel zur Einschätzung des Lebens. Wie der Mensch sich selbst erkennt, schaltet sich unerkenntlich ein Filter seiner Erwartung mit ein. Suchen wir nicht immer, unsere Hypothesen zu verifizieren? Immer die Antworten auf unsere Fragen zu finden? Suchen wir selbst die schlechten Anteile über uns… Suchen wir nicht selbst diese zerstörerischen Anteile, suchen wir nicht selbst die Anteile, die wir selbst an uns hassen, verdammen und verfluchen; suchen wir nicht selbst das Falsche in uns für gut zu heißen? Kann es dann das Falsche überhaupt geben? Das gilt ebenso für die Erinnerung von Gruppen, Bevölkerungsschichten und Populationen, wobei hier natürlich noch Psychosoziale-effekte eine große Rolle spielen und darauf will ich jetzt nicht eingehen. Ich sage Ihnen, so ist es mit allen Dingen. Nichts wiederholt sich. Die Wiederholung einer Sache, ist immer ihre Neuerung. Der menschliche Geist ist nichts mehr, als ein

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schen einer Stadt und besser noch deren Aktivitäten – davon soll mein Brief handeln! Der kollektiven Erfahrung: der Nacht. Saufen, Feiern, Einzigartig sein, durch die Straßen ziehen, jung sein, jung bleiben, denn Jugend ist was zählt, wenn die Stadt schläft, über die Farbe der Wolken singen, besoffen sein, mit Gläsern in den Händen in Taxis sitzen und bescheuert sein, lachen – nein das ist keine einmalige Sache – nein das wird keine Hommage. Die kollektive Erfahrung von Freiheit und Entfaltung ist eine durchsoffene Nacht und Sex mit Fremden, zerwühlten Betten einer unbekannten Wohnung – das ist geblieben von Liberalität. Gesetzt dem Fall, man darf darüber berichten. Von Beschäftigungen, denen zuerst manche, dann die meisten Stadtmenschen und verschiedensten Vertreter der damaligen gegenwärtigen Gesellschaft, erst zaghaft und intim nach gingen, später herzlichst frönten, sie schließlich den Zenit überschritten und das Ganze in sich selbst zusammen brach, wie ein Nest aus falschen Federn. Ja davon Leonard Andorra Atanassov, will ich Ihnen erzählen: vom Augenblick danach. Der Moment kurz nach der Traumatisierung. Wenn eine flüchtige Ahnung die Zukunft feil bietet. Eine knappe Vision eine Idee, von Verderben verrät.

treibendes Blatt auf dem Fluss der Gegenwart, dem es unmöglich ist, seinen Zustand wieder an einen früheren Ort des Flusses zurück zu versetzten. Nur Gegenwart ist, was existiert. Aus dem Jetzt bildet sich Vergangenheit und Zukunft gleich ermaßen und dazwischen irgendwo das, was wir Gegenwart nennen.‹ Weil Sie mir dieses Geheimnis verrieten, will ich Ihnen mein Leo, überhaupt nicht den Versuch unternehmen, zu unterscheiden: was ich mir erlog und welches ich mich erinnere, auch will ich Ihnen nicht schreiben, wann sich das ganze ereignete. Wenn sie nicht gänzlich auf den Kopf gefallen sind, wird Sie die innere Entwicklung, die ich seit unserem letzten Briefwechsel durchmachte, nahe an einen Zeitwert bringen, welcher einer etwaigen und möglichen Wirklichkeit und Gegenwart nahe kommt. Auch will ich sagen, dass wir in einem künftigen Brief – sofern Sie überhaupt ein Interesse haben; an der Wiederaufnahme unserer einstigen Brieffreundschaft – überhaupt über die Erfassbarkeit von gesetzten Zeitmaßstäben disputieren dürfen und natürlich wozu das überhaupt von Nutzen sein sollte und was schon allein die Frage für einen Nutzen hat. Sie merken, ich bin ein zu euphorischer Mensch. Das mag man wohl mit Berechtigung Angsblüte nennen. ur Erinnerung: wir befinden uns in einer Stadt, die dem Paris des ausgehenden Neunzehnten Jahrhunderts, dem Berlin der Neunzehnhundert Zwanziger und dem Tokio des Achtzehnten Jahrhunderts nicht unähnlich ist, sei es wegen der überragenden demografischen Größe der Stadt, einer beachtlichen technokratischen Entwicklung oder einer exemplarischen Ausnahmestellung in der Welt… Sie ahnen es; während einer exzessiven postund prä-katastrophalen Phase dieser jenen Städte – der Henkersmahlzeit dem anschließendem Fest und den folgenden Kopfschmerzen. Ist es nicht irrwitzig, paradox und zum schießen komisch: in Zeiten größter Not fühlen sich Menschen am sinnvollsten und in Zeiten größter Freiheit, brauchen sie immer einen Grund, um glücklich zu sein. Ich will von dem flüchtigen Moment nach der Übereinstimmung und Konzentration, Richtigkeit und Authentizität erzählen. Von den Men-

Ich will Ihnen eine Geschichte vom Untergang und Ende soufflieren. Folgen Sie mir, in ein Meer aus Ungemach und Zweifel. Folgen Sie mir, in einen See aus Hohn und Trübsal. Folgen Sie mir, in einen Fluss aus Scham und Schuld. Folgen Sie mir, in eine Pfütze aus Bitterkeit und Misere. Folgen Sie mir, in einen Tropfen aus Gram und Pein. Folgen Sie mir, in 3 Moleküle aus Nachtmahr, Alptraum und Heur-bleu. – Begleiten Sie mich auf eine Reise vom Größten ins Kleinste. Leonard, aus biederem Respekt, werde ich

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sowohl die betreffende Nation, Staat, Stadt und Gemeinde, als auch die einzelnen Menschen, welche in meiner Erinnerung und Vorstellung vorkommen – für mich behalten, sofern es mir möglich ist und die, für die Geschichte nötigen Namen erfinden, sofern auch dies nötig ist. Voran möchte ich Ihnen noch eine Frage stellen: Denken Sie, jemand kann behaupten, einmal den größten Moment seines Lebens erlebt zu haben, die schönste Zeit durchschritten zu sein? Was meinen Sie dazu Herr Attanassov? Ich sage, das ist Schwärmerei und nichts weiter. Es kann dieser eine formidable und einzigartige Moment nicht erlebt werden. Der einzige Unterschied zwischen Gestern, Heute und Morgen ist die gestiegene Erwartungshaltung.

von Strahlung diesen sich mit der Zeit hypertrophierenden Herzmuskel klein zu halten – da wären Zytostatika auch Fehl am Platz; logisch, da braucht es schon eine ordentliche Resektion, trotz dünner Evidenzbasis. Aber was könnte anschaulicher sein, als ein Karzinom im Herzen? Jedenfalls angenommen, wie er da so auf seinem Bette liegt und stirbt, da kommt die alte Liebe in sein Zimmer geschlichen und gesteht ihm nach Jahren; sie hätte ihn immer geliebt – nur sich gefürchtet und hat es daher für besser und vernünftiger empfunden, das ganze zu Beenden. Das jedoch, war der größte Fehler ihres Lebens. Stellen Sie sich Rilke vor, wie er faselt von seiner Lou und er des Todes ist und da kommt sie bedröppelt hineingetröpfelt – tapsig, leichtfüßig und verdrossen vor allem am Leben, bittet sie ihn um Vergebung. Wie die beschämte Mutter, das gescholtene und geschlagene Kind. Wissen Sie, was ich meine? Das wäre, doch ein schöner Moment, vielleicht sogar der schönste seines Lebens. – Denke ich glucksend. Ist es ein Zufall, dass die herrlichsten Augenblicke, immer auch die überraschendsten und unwahrscheinlichsten sind? Effekthascherei und Größenwahn. Versagen wir uns, das schöne im Leben? Denn dann kann ein Mittzwanziger abgeklärter sein, als ein 85 Jähriger, weil er vom Leben nichts und niemanden mehr erwartet, denn die Leere, die sich anheim stellt jeden Morgen aus dem Bett wie er kriecht und ihm selten, wenn nicht nie von der Seite weicht. Liebeskummer ist kein Herztumor. Man muss sich das immer vor Augen führen lieber Andorra Atanassov, der Tod ist nicht der Ausweg. Ja noch nicht mal ist er eine Lösung – es scheint nur, als wäre er es, doch der tote Gedanke, kann nicht existieren. Doch ich langweile Sie sicherlich mit meinen halb-angefertigten wenig-gereiften und nicht zu enden durchdachten Gedanken und Überlegungen.

Wie aus einem sprichwörtlichen Messerchen, das in die Wirbelsäule drückt – ein ganzes Waffenarsenal an: Raketen, Trompeten und Macheten wird. Was ich Gestern noch für die Reinkarnation meiner Erfüllung hielt, dafür schäme ich mich heute und morgen, da bestreite, relativiere und dementiere ich es. Wie aus einem sprichwörtlichen Messerchen, das in die Wirbelsäule drückt – ein ganzes Waffenarsenal an: Raketen, Trompeten und Macheten wird. Selbst, wenn der Mensch auf seinem Sterbebett liegt… Er kann nicht wissen, was ihm noch passieren wird – nur seine Erwartung versagt es ihm, ›ich liege auf meinem Totenbett, was soll ich noch erleben?‹ Verstehen Sie Leo? Angenommen, dieser Mensch, der gerade stirbt, hatte mal eine Liebe, die er glaubte, sie erfülle ihn, doch nun leider, wie es so ist, verließ sie ihn und dieser scheidende Mensch, hätte den Verlust und die Enttäuschung zwar überwunden und überlebt… Dazu ist wohl nur atmen und fressen nötig, aber nie, niemals, nie und nimmer tatsächlich verkraftet und die Zurückweisung wäre ihm ferner immer ein innerer Dorn, Marter und Stolperstein gewesen, der ihm Zeit seines Lebens wie eine Maske auf dem Gesicht lag, wie ein Tumor, an ihm zerrte und von ihm zehrte. Und fand er ferner kein geeignetes Zytostatika, noch die richtige Art

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Schneegestöber an den schwankenden Bahnwagon. Ich trieb mich in der Stadt umher, kämpfte mich durch Flockensturm, Eiseskälte und nahm einige Umwege auf mich um nach Hause zu gelangen. Denn ich wusste, Einmal in meiner Wohnung angekommen, würde ich die erst beste Flasche ergreifen und mich zu Schlafe trinken. Diese Momente der Nacht, wenn es sich anfühlt, als schliefe die gesamte Stadt. Ich landete in einem Kaffeehaus, das Vierundzwanzig Stunden geöffnet war, aß ein Puderzucker überhäuftes Beignet, trank dazu Kaffee, in den ich etwas Cognac kippte und das Beignet tunkte. Ich muss wohl ziemlich allein-gelassen und hilflose ausgesehen haben, denn es wurde mir, noch im Kaffeehaus vom Kellner geraten, wenn ich schon nicht wüsste – was mit mir anfangen – und auch nicht bereit war, den Heimweg anzutreten, dann müsse ich mich in dieses und jenes Etablissement begeben. Wobei der Kellner einige Male an mir vor rüber ging, meinen Platz streifte, als wäre er Hyäne und umkreise von Löwen zurückgelassenes Aas, und mir nur ab und an ein paar Worte zu flüsterte, »kennen Sie die und diese Gasse?«, »Wollen Sie heute noch was erleben?«, »Mit Verlaub, Sie sehen sehr gelangweilt aus.« Irgendwann, forderte ich zu bezahlen – was sollte das Spiel? – und er brachte mir die Rechnung. Als ich das schwarze lederne Rechnungsbuch aufschlug, lag dort ein Zettel, auf dem eine Art Einlass-wort, ein Passwort notiert war. Ich bezahlte den geforderten Betrag, legte sorgfältig, einfältig Geld in das Buch und ließ den Zettel in die Tasche meiner grauen Anzughose gleiten. Stand auf und verließ das Café. Holte bevor ich noch aus der Tür war, mein Diktiergerät heraus und begann aufzuzeichnen was mir passierte, wie ich es gewohnt war… Ich folgte der Beschreibung und erreichte eine enge Gasse. Fror, hielt meinen Mantel, dessen Gürtel ich verloren hatte, eng zusammen. Hörte meine Schritte durch die Gasse hallen. Hörte die Eiszapfen wachsen. Hörte die Tauben unter den Dächern gurren. Mich selber, wegen der Kälte murren. (Schlechtes Wortspiel.) Stand schließlich an einer unscheinbaren bescheidenen Tür. Klopfte und eher weniger, war

DIE GASSE

nzwischen ist es Nacht, ich trinke eine Flasche Roten und bin müde. Oh Wein, habe ich dir jemals gesagt, wie sehr ich dich liebe. Ich könnte Klimmzüge machen und zwar Zweihundert Stück. Ich will also beginnen, ich dachte mir mein lieber Leonard Andorra Atanassov, es sei eine gute Idee: eine lange und epische Einleitung zu schreiben – Sie kennen meinen Hang zum theatralisch dramatischen Lamenti… Es war Abend, ich kam gerade aus der Schule, in der ich damals noch tätig war und es ist zu sagen, dass es keine besondere Schule, sondern eine eher sehr ordinärere Schule war, deren Atmosphäre mich in eine grundlegende Sorte von Langweile und Schläfrigkeit versetzte und ihr diese Zustände nicht einmal abträglich waren, Müdigkeit und Lethargie ihr sogar noch zuträglich waren – ein Desaster. Sie werden später davon erfahren. Es war Abend, vor einigen Tagen war der Winter über die Stadt wie ein Schock hereingebrochen. Landläufig hatte man angenommen, da es bisher zu keinem Schneefall in diesem Winter gekommen war – es sei überhaupt nicht mehr damit zu rechnen. Hie und da fielen Züge aus, ging der Verkehr nicht weiter, stockte, versackte, versank in den Straßenschluchten. Zwischen vom Winter weiß gestrichenen Häuserfassaden und Hupkonzerten aufgebrachter Autofahrer; waren Menschen dick, auf den Bürgersteigen laufend, eingepackt in Mäntel, Fell und Jacken. Februar, Anfang des Jahres, etwas zu abgekühlt für Niederschlag. Ich denke, Sie wissen wovon ich rede und ich halte mich nicht länger mit stupiden Beschreibungen der Situation auf. Denken Sie nur daran, mein Zugabteil, in dem ich für gewöhnlich auf dem Weg nach Hause saß, war überfüllt von frierenden Menschen. Fremde, die sich wie Pinguine unbeholfen und widerwillig, der Wärme wegen aneinander rieben. Von draußen her peitschte ein ungeheures

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ich von den billigen Ornamenten beeindruckt – es tat sich nichts. Ich klopfte erneut. Das Pochen meiner Schläge, ging sich wiederholend durch die finstere Straße. Sogleich, sich der Knauf der Türe drehte, sich meine Erwartungshaltung zu einer riesigen Welle aufgebäumt hatte… – wurde ich verwiesen, ein anderes Mal, aber nicht morgen, wiederzukommen; das Haus sei überfüllt! Alles auf Band! Man könne selbst zu dieser Jahreszeit und auch wenn allen Menschen der Stadt auf einen Schlag bewusst würde, wie einsam sie seien – geht die physische Kälte mit einer seelischen einher? – keine Ausnahme machen. Wie sie sich meine Erwartungen aufgebauscht und aufgetürmt hatte, fielen sie, wie ein billiges Croissant, in sich zusammen und als es aussah wie ein flacher Fisch fiel die Tür ins Schloss. Ich überlegte kurz und kam zu dem Schluss, wie ich in der Kälte der Winters Nacht vor dem Eingang eines mir unbekannten Etablissement stand: es handele sich, um eine gewöhnlich Prozedur der Ablehnung und ich kramte aus meiner Hosentasche den Zettel aus dem Rechnungsbuch hervor. Klopfte, die Tür öffnete sich erneut und ich übergab das Stück Papier der, mich mit Skepsis betrachtenden fülligen Frau, deren Namen, wie ich später erfuhr Hilde Jamet Raskowa war. (Oder Hilde Irene Raskowa, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.) Einen kurzen Moment lüfteten sich ihre Augenbrauen, oder zumindest die Hautflächen, wo Augenbrauen, für gewöhnlich wuchsen.

Ich sah allerdings, lediglich drei Männer an einem Tisch sitzen, ihre Bäuche streichen, ab und an lauthals lachen, Zigarren paffen, Schaumwein saufen und irgendetwas daher palavern. Nicht auf Band! Hatte kein Richtmikrofon. issen Sie Leonard, wie ich heute Nachmittag in meiner Wohnung im Arbeitssalon sitze und Ihnen schreibe, bin ich mir sicher, Hilde fühlte: ich war, für die geplante Aktion nicht bereit und ihre Abweisung diente mehr meinem Schutz, als meiner Abwertung. Ich meine, es war offensichtlich die Argumente der Ablehnung waren vorgeschützte Scheingründe. Behalten Sie das im Kopf Herr Andorra Atanassov, ich will später noch gründlichst darauf zurück kommen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass es die Tradition solcher etablierten und eleganten Etablissements vorschreibt, einen neuen Kunden zunächst abzuweisen, ihn auf seine Geduld und Aufrichtigkeit zu prüfen, auch Interesse und später Abhängigkeiten zu genieren. Ein Spiel mit den Erwartungen, das besonders bei Menschen, wie mir – ganz wunderbar funktioniert. inmal, mein lieber Freund, waren mir diese Menschen fremd. Einmal konnte ich beim besten Willen nicht begreifen, was in solchen Menschen vorgeht, die sich dem Unechten, dem Schein ekstatisch hingeben. Sich in diverse Liebschaften gleichzeitig stürzen und zu begehren und zu verlangen vorgeben. Wie will denn Einer, fragte ich mich zeitlebens den Enthusiasmus aufbringen: nicht nur eine, sondern viele Personen gleichzeitig zu belügen und woher soll er dafür den Willen, die Kraft und die Motivation nehmen – sich wieder und wieder für eine bestimmte Person neu zu Erwärmen, sei es auch, dass er gerade eine andere liebte, wie soll man – wie soll ich das schaffen? Es ist einerlei – wie die alte Suppe aufkochen, bis sie ihren Geschmack verloren hat. Wie soll ich mich dem Diktat meines Herzens beugen? Je weniger ich geliebt werde, desto mehr liebe, idealisiere und vergöttere ich selbst, die mich wenig liebende Person. Je mehr ich geliebt werde, desto mehr verachte, verfluche und ekele ich mich vor der Person, die mir da ihre Zuneigung gesteht.

Sie wollen Beweise Atanassov? Ich habe alles auf Band. Sie bedauere es sehr, aber unter keinen Umständen, könne ein Ausnahme gemacht werden. Sie wolle den guten Ruf des Hauses nicht riskieren und so weiter. Statt ihrem Gefasel, Gerede und Gequatsche Aufmerksamkeit zu schenken, versuchte ich mit kurzen Blicken: über ihre Schulter, zwischen ihren verschränkten Armen, durch die breit aufgestellten Beine, zu sehen, was dort hier hinter ihr eigentlich passierte und wieso das für mich eigentlich so interessant war.

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Mit einigen vielen Frauen zu nächtigen, zu schlafen, sich zu lieben, sage ich Ihnen mein ehrbarer Leo, war der letzte Versuch, aber eigentlich war es überhaupt keiner mehr. Es war der letzte Irrtum meines entleerten Lebens, es wieder mit Sinn zu füllen – wie Wasser zu Narzissen geben. Hastig von Frau zu Frau zu gehen, ist Flucht vor dem Diktat – je mehr, desto… Vielmehr, als im Rausch existierte mein Leben nicht. Soll nicht heißen, missverstehen sie mich nicht, dass mein Leben nur aus Ekstase bestand. Eher im Gegenteil, wie ich Ihnen später noch berichten will. Nur merkte ich, dass es eine Täuschung war, sich dieser kurzen Existenzbestätigung hinzugeben – der Ekstase einer Nacht, aufwachen und sich… gut fühlen, das ist Scharade und Schande. Und ich bemerkte, dass die vielen verschiedenen, mannigfaltigen Frauenkörper keine Bereicherung, sondern eine Verarmung waren.

Ich versichere Ihnen, es hat alles seinen Zweck. Später wenn sie das Ende dieses Briefes erreicht haben – Sie werden es wissen. Nein das dürfen Sie nicht glauben. Ich will Ihnen nicht imponieren. Ich weiß doch, wie es um unser Verhältnis steht. Wie ich da auf meinem Küchenfensterbrett saß und in die Fenster meiner Nachbarn schaute. Mein eigenes Leben verfluchte und mich in den fremden Fenstern, wie zu Hause fühlte und mir ein Leben ausdachte, wie meines hätte sein sollen, konnte ich mich nicht dagegen wehren immer wieder ein zu dösen. Kennen Sie das – dieses Dösen? Augen zu. Ich fahre einen blauen LKW. Die Kupplung ist defekt. Ich kann nicht schalten. Die Motorhaube raucht. Augen auf. Ich sitze in einer Bar. Sie ist ein Schwimmbad. Ich habe meine Badehose an. Augen zu. Mir erscheint ein Dämon, der seine Empfehlung ausspricht. Man soll nicht leben. Augen zu. Neben mir liegt eine unbekannte Frau, die nach Lavendel riecht. Wenn sie mich berührt, brennen ihre Hände, wohltuend auf meiner Haut. Augen auf. Eine Freundin ist zu Besuch. Ich überrede sie mit mir zu schlafen. Will sie oral befriedigen – sie schmeckt nach Ammoniak. Trotz schwacher Erektion, dringe ich in sie ein. Ich empfinde – nichts. Ein Freund, wie ein Bruder uriniert in meinem Kleiderschrank und sitzt dabei auf einem Stuhl – kippelt. Ich schlage ihn zusammen. Augen zu. Ich liege auf dem Küchenboden – das ist die Wirklichkeit! Denke ich aufatmend. Als hätte mein Geist den kurzen Moment meiner Müdigkeit genutzt und einen Fluchtversuch gestartet – dieses räudig reuige Schwein.

Stück um Stück, Stück-weit Empfindsamkeit verlieren. Stück um Stück zu Stückwerk von leerer Hülle verkommen. Es geht doch nur darum, sich selber zur Erschöpfen bringen und ermattet zu Boden zu sinken. Denken es sei etwas geschafft und vollbracht – und sich zu quälen an den Tagen, an denen man sich nicht erschöpfte. n meiner Wohnung angekommen – erinnern Sie sich: nachdem ich abgewiesen wurde – setzte ich mich auf das Küchenfensterbrett und ließ meinen Blick in den nahen Hinterhof schweifen und dazwischen fielen erlahmt Flocken von Schnee… Erst da bemerkte ich, dass meine Hose steif gefroren war, als hätte ich für Stunden im Schnee gelegen. Ich war auch sonst eingedeckt in Schnee, als wäre ich in ein großen Schneegestöber geraten. Und mein Hinterkopf schmerzte, als wäre ich gestürzt. Wann hatte die Realitätsflucht begonnen, wann hatte ich begonnen, mir ein zweites Leben, neben dem sogenannten echten Leben zu schaffen – und was ist der Unterschied zwischen den beiden – Gedanken, vorschützende Verbündete, nichts weiter, als verdeckte Feinde.

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Ich hoffe, ich langweile Sie nicht, mein werter Leonard A. A.

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ten von Storyboards, Szenen-basteln, Schneiden, minutiöse arbeiten an winzigen Sequenzen, Diskussionen in Projektgruppen – all das, die Klein- und Detailarbeit, hatte mich in gewisser Weise, zwar immer angezogen, in meiner Position, kam ich mir allerdings meist überflüssig vor. Das Chaos sucht wohl die Ordnung um sich als Chaos zu kalibrieren, mindestens aber um den Unterschied festzustellen. Sobald ich jedoch, dieser Art von Arbeit angehörte, sobald ich mich integriert hatte, also so ein Studentenhecht geworden war, mich in den Mittelpunkt meiner Arbeitsgruppe gedrängt hatte, alle Menschen neben mir verstummten, wurde mir erst Beschäftigung, später ich mir selber: überdrüssig und ich suchte diese Abhängigkeit, schnellst irgend-möglich zu beendigen; was mir durch den einen oder anderen Umstand, auch ein jedes Mal ganz vorzüglich gelang. Wie ich das mit allen Verhältnis hielt, die Bindung und Beziehung erfordern. Ich war sozusagen Meister darinnen, ehemalige Gönner, Freunde und Kommilitonen gegen mich aufzubringen und erfahren, aus mich liebenden Menschen, Feinde zu machen. Die Menschen, die mich mochten, waren immer nur einen Schritt davon entfernt mich zu hassen und ich liebe das – sie Stück um Stück einen Schritt weiter zu drängen. Ich bin meist keinen Schritt weiter als zu Anfang. Meist war ich es, der die Leute, vielleicht aus Angst, verachtete und es dann nicht ertrug von den Personen noch gemocht zu werden. Ich musste ihnen behilflich sein, diesen Gesellschaftskrüppel, der ich bin, ordentlich zu verabscheuen.

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ANTON NIHAD LINDBERGH

ei einem kleinen Frühstückchen aus Milchkaffee, Croissant und Marmelade, wieder auf dem Fensterbrett sitzend, gleichgültig nach Draußen, aber nun in die Helligkeit geifernd, erholte ich mich von meinem frühen Sturz. Ich hatte eine Platte aufgelegt. Aus dem Arbeitssalon hallte es durch die Wohnung und aus den offenen Fenstern in den Hinterhof. Wie oft ich hier schon saß, mein Leben zergrübelte, die Versuche es aufzuwerten für nichtig erklärte und wieder negativ attribuierte, als wäre es eine Leidenschaft.

Die Steinbodenplatten, des Hofes sind nur 2 Meter entfernt – es hat keinen Zweck. Man müsste sich schon erhängen, denke ich, als das Telefon läutet. Anton Nihad Lindbergh, mein treuer Assistent aus der Filmschule hing an der Strippe. Kurzatmig mit zittriger Stimme, echauffierte er sich, wie oft man es bei mir versuchen müsste, »bevor der Herr sich dazu erhebe an den Apparat zu gehen. Das ist die Gelegenheit!«, sagte er, während ich nur dachte, wenn du noch Einmal in meinen Kleiderschrank pisst… Er bemerkte, dass seine Aufregung bei mir auf taube Ohren schlug und überschlug sich daraufhin mit Forderungen: ich müsse sofort das Frühstück beenden, meine Sachen packen – Kamera und Film-Equipment, den Mantel überwerfen, meinen breit-krämpigen Hut aufziehen, die Fenster schließen, die Tür öffnen, aus dem Haus treten, die Treppenflur hinunter stürzen, auf die Straße fallen, mich notfalls in die öffentlichen, besser noch ein Taxi nehmen und mich auf direktem Weg, in die Schule begeben. Dort angekommen, nahm ich eine rege Aufregung wahr. Ich für meinen Teil, ließ mich dort monatlich, wenn überhaupt, einmal blicken, zuletzt allerdings am Vorabend. Obgleich mich diese Art von Arbeit – das akribische Ausarbei-

Mais je Divague. Ich bin zum hassen da. Ich lenke ab. Mais je divague. Aber ich schweife ab. Ich konnte, also noch durch die Glaswände im Eingang der Filmschule sehen… Stellen Sie sich vor Atanassov, dieser Universitätskomplex ist als ein einziger Glaskasten konzipiert. Was nicht aus Glas bestand, war aus Beton gegossen, das heißt – das muss man sagen – einige der Betonpfeiler, waren minder der Statik wegen, sondern eher der Ästhetik geschul-

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det. In diesem Aquarium von geheimnisvollen Bau waren Wände, Decken und Böden aus, bis auf die letzte Schraube und Türklinke aus Glas. Mondän, Modern, man will hier großartig sein. Im Glaskasten angekommen, stehen Sie in einer Art überdachtem Atrium, das bis zum, ebenso gläsernen Dach, über zehn Stockwerke misst. Nebenbei, natürlich waren nicht alle Wände gleichermaßen durchlässig, es gab Wände, die waren weniger transparenter, Milchglas, Weißglas, als andere und die dafür um so kristallklarer. Je nach Postion versteht sich. Ungeachtet dessen, konnte ich bereits durch die gläsernen Wände, die beispiellose hektische und aufgebrachte Stimmung der Angestellten, Studenten und Dozenten sehen und war überaus froh, dass Anton, alsbald er mich gesehen hatte, eifrig seine Reise-Schreibmaschine und Tasche packte. Glühbirnen, Belichtungsanlagen, Stative, Spiegel et cetera mit aus seinem Studio brachte und zu mir aus dem Glaskasten stürmte, mich hastig begrüßte und wir uns unverzüglich in Richtung seines Auto begaben. Das Equipment im Kofferraum verstauten – mir fiel auf: es hatte zwei Nummernschilder. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, er verschanzte sich hinter dem einspeichigen Lenkrad, wie zum Schutz kam statt einer Lenksäule aus dem Armaturenbrett eine Art Arm, der das Lenkrad griff.

zwischen den Dimensionen Küche, Arbeitssalon oder Studio und Schlafzimmer ruhelose bewegend, Ihnen Atanassov abschreibend, was ich dabei diktiert hatte, das mache ich inzwischen hauptsächlich – ich fand es immer albern, mich selbst zu filmen. Draußen schneit es, wie damals in diesem besonderen Februar, der mir derart im Kopf geblieben ist – ich hatte danach nie wieder eine Kamera in der Hand. Ich habe einen großen Topf Suppe gekocht. Im Grunde verlasse ich die Wohnung kaum, nur wenn es sich nicht vermeiden lässt. nser Zielort damals, lag in einer Art urbanem Tal, so dass wir vom Plateau eines Stadt-Berges, eine Etage höher, schon von weit her dutzende Einsatzwagen und Einsatzkräfte im Eingang der Gasse und darüber Säulen von Rauchschwaden sahen. Die Luft war mit einem widerlichen Gestank angefüllt. Als wäre tags zuvor Walpurgisnacht gewesen und man hätte Menschen verbrannt. Wir rasten den Berg hinunter, andere Verkehrsteilnehmer missachtend, großartige Aufnahmen sage ich Ihnen, und fuhren schließlich zum Eingang, der bereits erwähnten Gasse heran und wurden von einer Absperrung aufgehalten.

»(…)konnte ich mich abermals dem Eindruck nicht erwehren: ich hatte das Ganze schon einmal erlebt.«

Wie wir die verlassenen Straßen inmitten der Stadt – es war ja Sonntag! – in längst unzulässiger Geschwindigkeit herunterfuhren – wir jagten sie hinunter, ich liebte das – doch der Lage anscheinend angemessen. Wie der Vier-zylindrige Motor jaulte, wie die Doppelscheinwerfer uns in jeder Kurve mit der Lenkbewegung voraus gingen und wie wir, wie auf Schlamm sanft über den Asphalt glitten, schien mir die Situation seltsam vertraut. Ich hatte eines dieser Déjà-vus, die einen nicht loslassen. Doch dem abklärten Typen, der ich bin, dem scheint ohnehin alles vertraut, dabei geht es nicht um Bodenständigkeit, sondern um grobe Langeweile. Nebenbei machte ich einige Aufnahmen aus dem stromlinienförmigen Fahrzeug heraus, ich mochte solche Bilder immer. Fahren über Fahren.

Einer der Polizisten klopfte an die Scheibe meines Fahrers, der sein Fenster darauf in Drehbewegungen herunter-kurbelte und verlangte unsere Papiere. Es schien mir aber mehr, als wolle er den Eindruck einer ernsthaften Kontrolle erwecken, denn statt auf die Filmerlaubnis glotzte er ausschließlich in den Innenraum unserer Karre. Mein Fahrer wechselte ein paar Worte mit dem Beamten und versuchte ihm seinerseits zu versichern, wie überaus ernst man die Situation nehme. Wie ich die Kamera beiseite gelegt hatte, meinen Kopf gegen die Scheibe lehnte, meinen Hut ins Gesicht zog, der Typ in seiner Schutz-

Denke ich in meiner Wohnung umher wandernd in mein Diktiergerät sprechend, mich

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kleidung wie ein römischer Prätorianer aussah, konnte ich mich abermals dem Eindruck nicht erwehren: ich hatte das Ganze schon einmal erlebt.

Damals sein. Die Zeit – gewiss ermaßen ist sie stehen geblieben. Aber meine Vernunft spricht zu mir und sagt: es ist Jahre her, dass ich in der Filmschule ausgebildet wurde. Selbst Dozent war und wir im Automobil Antons saßen. Er das Lenkrad locker in der Hand hielt und von seinem Handgelenk eine dieser Gebetsketten baumelte. Wir zum Tatort fuhren. In zweiter Reihe hielten. Ich aus einem Etui, dass ich wiederum aus meinen Aktenkoffer holte, meine Tabakspfeife holte und… Schwertragend liegen Dunst-Wolken über der Stadt. Schwertragend legt sich Strassen-Staub auf Hausdächer, Bordsteine und Schwalben fliegen niedrig, durchkreuzen Rauchwolken, verbrannte Federn gleiten zu Boden, werden wie Staub aufgewirbelt. Ich stopfte meine Pfeife. Anton Nihad und ich unterhielten uns. Ich zündete die Pfeife an. Wir stiegen aus. Unsere Mäntel – Antons schwarz, meiner beige – wehten im kühlen Februar Wind. Unser Gepäck das Film-Equipment und Antons Schreibmaschine waren sehr hinderlich.

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TRAUMA UND WIRKLICHKEIT

In einer Zeit, in der man sich des Individuellen satt gesehen hat, will ich es noch einmal wagen. In einer Zeit, in der das Kollektive das Individuelle versucht, es potenziert, purifziert und glorifiziert, will ich noch einmal in den Wagon, der schonungslosen Selbstoffenbarung – Kasteiung für die Kunst – einsteigen und das Überflüssige reproduzieren und aus mir selbst für das Kollektive rezitieren – sei es noch so obsolet und redundant.

ieber Leonard Andorra Atanassov, da war etwas sonderbares in der Luft. Etwas brüskierendes und ekelhaftes, absurdes, etwas demaskierendes, ein Schock, ein juveniles Trauma, ein Durchkreuzen, ein beginnendes Scheitern und meinerseits eine destruktive Faszination und treibendes Ziehen, wie in Drachenblut baden und Lindenblätter absichtlich mit süffisanten Freuden auf den Leib legen und mit Ambrosia gefüllten Giftkelchen auf das Leben anstoßen und letale liquide Dosen schlürfen, die am Gaumen prickeln und die Zunge betäuben. Eine Ahnung ließ es mich, aus den Gesichtern der schaulustigen Leute herauslesen. Als hätte eine aufgebrachte Meute im Kollektiv einen Mord begangen oder als hätte sie zugesehen, wie eine Mehrheit eine Minderheit liquidiert und nach dem Rausch der Tat oder nach dem sie zu passiven und stimmlosen Voyeuren wurden, wird ihnen klar, wie Wasser-verdünntes Blut, was geschehen ist und es wächst eine Erschütterung: was man mal glaubte zu sein und was man nicht ist. Wie die eigenen Werte geartet seien und wie sie es nicht sind. Wie man mal glaubte man verhalte sich und wie man sich nicht verhalte. Wie diese Grenzen erst verschwimmen und später nicht mehr zu erkennen sind.

uf Bitten des Polizisten, doch bitte nicht darauf zu bestehen, die Absperrung passieren zu müssen – man wisse doch wie die Zivilisten darauf reagieren, wie schwierig es werden würde, die drängenden Massen zurückzuhalten – parkte Anton das französische Vehikel in zweiter Reihe der Hauptstraße und wies mit einem Schild aus, dass wir zum Einsatz dazu gehörten. s schneit noch immer. Der Schnee schlägt an meine Fenster, wie er damals gegen die Fensterscheibe des Zuges und des Autos schlug – wie er mich damals in Sackgassen, enge Einbahnstraßen und endlose Erkundungen verschlug. Merkwürdig wie ich auf die Idee gekommen bin, Ihnen zu Schreiben mein Lieber Herr Atanassov, wahrscheinlich, weil die äußere Situation eine ähnliche ist. Wenn ich auf der Straße – der breit säumigen, von Bäume und Laternen flankierten Allee; im Winter, wie zur Sommerzeit ein ganz infamoses Beispiel prachtvoller zügelloser Architektur – wenn ich auf der Allee vor meiner Wohnung stehe, es könnte Heute auch

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scharfen Löffel oder sonst eine Waffe, statt meiner Kamera gewünscht. Wir blieben vor dem Haus stehen. Inmitten der Menge der Leute holte Lindbergh, der gute, der treue, der doofe, der treudoofe einen silbernen Füllfederhalter und dazu ein kleines Notizbuch heraus und begann zu schreiben: Fassade stark beschädigt Dachstuhl ausgebrannt Fenster schwarz verrußt zu den Flanken der Fenster lang gezogene Rußspuren – wie Finger von ausbrechenden, flüchtenden oder laut ausrufenden Feuerteufeln, die sich als Flammen aus den Fenstern lehnten. Scheußlicher nicht zu definierender Geruch – das Haus gleicht einer Ruine. – Ein Wunder, wenn wir da unbeschadet herauskommen.

Die Erkenntnis der eigenen Schuld. Scham behaftet zu Boden sinken, Persona eines Affektes und verhüllte Begleiterin eines neuen Lebens. Bauchschmerzen, aufstoßen und übergeben.

»Es komme doch überhaupt nicht darauf an«, hörte ich die Unterhaltung zweier Fremder neben uns reden. »Wer nun das verdammte Haus in Schutt und Asche legte und man sollte überdies froh sein«, fuhr der Unbekannte weiter fort: »dass Irgendjemand, wer es auch war, den Mut besaß endlich…«. »Verzeihen Sie mir«, unterbrach der zweite Unbekannte die Erzählung des Ersten. »Für gewöhnlich, das liegt an meiner guten Erziehung – für gewöhnlich«, holte er aus. »Also für gewöhnlich, unterlasse ich es andere in ihrer Rede zu unterbrechen. Sie aber mein Herr, reden gerade grob gesagt – dreisten Unfug.«

Anton Nihad Lindbergh schien weniger beeindruckt, verschränkte seinen Arme, hielt schimpfend seinen Mantel mit einer Hand und seine Tasche und Schreibutensil mit der anderen und kämpfte mit dem Wind. Der Qualm meiner Tabakspfeife ging dahin, wie Dampf einer Lok auf Schienen, die eine klare Führung sind. Wie aufgeregte Raubtiere auf Beutezug, platzierten sich die Schaulustigen am Rande der Absperrung. Geil gafften sie gierig – die widerliche Hoffnung; Eindrücke aus der Groteske zu ergattern. Voyeurismus in prächtigster, kleinbürgerlichster Form. Wie ein Pfropf, auf einem überschäumenden Fass, verstopften sie den Eingang der Gasse. Es dauerte eine Weile, bis wir uns durch die Menge geschlagen hatten. Das Wetter war wieder widerlich. Es wollte niemand seinen Platz aufgeben. Zumal einige der gierigen Gaffer, sich durch die Absperrung, vorbei an den Beamten – die ihrerseits Mühe hatten, sich von dem was da vorgefallen war, nicht ablenken zu lassen – vor den Eingang des Hauses aufgestellt hatten und ihre unförmigen Leiber von Körpern hinter den Türrahmen verbargen und ihre von Kratern überzogenen Monde von hässlichen Köpfen in den Eingang steckten. Meine Filmaufnahmen von diesem Moment – alle geschenkt, miserable Konditionen aufzunehmen, zumindest ein wenig Gedrängel. Alles ist irgendwie nützlich. Homo Sapiens Sapiens, du bist eine Enttäuschung durch und durch . Ich hatte mir eine Machete, Taschenmesser,

Homo Sapiens Sapiens, du bist eine Enttäuschung durch und durch . Als der erste Unbekannte wieder einsetzte: »nun Sie mögen es dreist, groben Unfug nennen. Ich aber, kann mich dem Eindruck nicht erwehren, mich für die Wut dieses Einzelnen Brandstifter überaus zu erregen, dass er den Mut besaß, dieses feiste Ärgernis unserer Stadt zu beseitigen. Das müssen, selbst Sie sich eingestehen!«, konterte der erste Unbekannte und seine Stimme wurde dabei zuhörends tiefer und ausdrucksstärker. »Es ist doch gleich«, stieg nun der zweite unbekannte, energisch auf den Agitator ein. »Es ist doch einerlei, wie der Wille und die allgemeine

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Meinung der Bevölkerung, über das abgebrannte Etablissement, auch immer geartet sei! Wer sich nach der ordinären Stimme des Volkes richte, dürfe auch Bücher verbrennen«, holte noch einmal Luft: »die Meinung des Volkes, verstehen Sie mich nicht falsch ich bin Demokrat durch und durch und liebe unsere Gesellschaft. Ich halte sie auch für die einzig Überlebensfähige und die einzige unseres Intellektes angebrachte. Aber sie hat ihre Grenzen und die verlaufen nicht in ihren Verträgen, sondern in der Limitierung des Menschen auf seine kurzlebige Gegenwart und bedingt beschränkte Perspektive«, holte noch Einmal tief Luft, aber nicht wie ein Blasebalg, eher wie die Segel eines Schiffes, dass auf einen Motor nicht angewiesen ist. »Es ist doch nichts neues, dass der Mensch nur wissen kann, was er selbst an sich Selbst erfährt und jedes Außen ein Innen ist und jedes Außen ein Innen. Wenn also, eine Bevölkerungsgruppe, sich zu einer neuen Staatsform entscheidet und das aus einem bestimmten sogenannten Leidensdruck heraus. Dann wird eine spätere Generation, diesen bestimmten Leidensdruck nicht mehr spüren und da ein jeder Mensch nicht aus den Erfahrungen der anderen lernen kann, verwässert die Motivation, die einmal veranlassend wirkte, diese Staatsform zu entwickeln. Wenn es denn so war… Man muss die Freiheit des Menschen begrenzen, dort wo er selbst limitiert ist«, sprach er sein Brille putzend und fuhr fort. »Ja die Vernunft, werden Sie sagen, die Vernunft befähigt den Menschen doch, sich eines hehren Zieles zu widmen. Über sich empor zu wachsen… Zuerst, sage ich Ihnen, will der Mensch sich Ernähren, dann will er sich Fortpflanzen, aber eigentlich will er nur überleben und wenn dann irgendwo noch ungenutzte Ressourcen warten, ja dann ist er auch noch vernünftig. Selbst wenn sie oder er

wir wieder bei der Bücherverbrennung und beschränkten Objektivität…« Von der Konversation gelangweilt, hob ich die Absperrung beiseite und ging hinein. Vorab wurden wir noch, von einem jungen Beamten aufgehalten, dem wir jedoch, bevor die Situation unangenehm wurde unsere Ausweise und Filmerlaubnis zeigten. Er schaute dabei nur betreten zu Boden, lächelte verschmitzt, wünschte uns viel Erfolg und gute Unterhaltung. Was muss es für die eigene Laufbahn bedeuten, gleich zu Beginn in einen Fall wie diesen verwickelt zu werden. Ob dieser Mann noch Träumt? Ob dieser Mann noch Schläft? Ob dieser Mann noch isst?

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DAS BORDELL

Du wartest. Du wartest jeden Tag. Jeden Tag wartest du. Du wartest jeden Tag auf ein Gericht. Du wartest immerzu auf eine Bestrafung. Du wartest beständig darauf; Jemand wird zu dir kommen und dir den Prozess machen. Jeden Tag wartest du auf ein Schar Advokaten, die dich zerreißen. Du wartest jeden Tag auf ein Urteil. Du erwartest jeden Moment, dir wird Existenz – aus gutem Grund – abgesprochen.

as Bordell an sich«, erklärte mir Anton der Assistent. »Bestand grundlegend aus einer sternenförmigen Vorhalle – w wie ein Zentrum, wo die Spinne sitzt. Vorne an b befand sich in dem Foyer eine Rezeption, in der d eine bisher nicht aufgetauchte Rezeptionis Rezeptionistin arbeitete, die einen, je nach Wunsch, Lust u und Laune in eines, der vvon den Zacken des Sternes Stern abgehenden Zimmer, Zimm verwies«, führte d der Sekretär aus und seine Arme machten da dabei raumgreifende Bewegungen. »Dabei waren die einzelnen Zimmer nach bestimmten Motiv Motiven

noch genügend Kraft zur Vernunft hat, meint Vernunft nicht: die Übereinkunft der Ideale einer Gemeinschaft und da, mein Lieber, sind

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eingerichtet. Wie das eben so üblich ist in solchen Häusern… Mangelte es den Gästen, den armen schutzsuchenden Hunden«, begann er verschmitzt, »dieser Etablissements, nicht an Unterhaltung, mangelt es ihnen, denn nicht an Abwechslung in ihren tristen, monotonen und vergeblichen Leben? Langweilige und Struktur-schwache Menschen brauchen immer ein äußeres Geschehen, dass sie von der großen inneren gähnenden langweiligen Leere ablenkt«, ich fühlte mich ertappt, als er mich an der Schulter packte, wie ein Bankräuber in Polizeiausbildung. »Ja, bleiben Sie Herr Lilienthal«, womit er mich meinte. Anton wollte sich nie angewöhnen, mich beim Vornamen zu nennen, also blieben wir bei Lilienthal oder Oppenheimer – was ihm gerade passender schien. »Ja, Lilienthal, bleiben Sie in der Mitte stehen«, was ich tat und einige Aufnahmen mit der Handkamera machte. »Schauen Sie hinter der verkohlten Rezeption, sie ist übrigens aus echtem Mahagoniholz – man hat es sich hier gut gehen lassen!«, rief er enthusiastisch aus, dieser Idiot. Fuhr dann, wohl wegen meiner geringen Begeisterung, weniger freudig fort: »Jedenfalls hinter der Mahagoni-rezeption, wenn Sie genau hin-schauen: dort ist eine Falltür, unter der sich eine Treppe befindet, die in den Keller des Hauses führt. Die Sicherheits-Arbeiten sind aber noch nicht so weit, dass wir absteigen können und bis auf eine alte Heizungsanlage, ist der Keller vollständig unmöbliert und ganz und gar ungenutzt.« Ich lief durch die Kamera schauend, zur Rezeption hinüber und tatsächlich unter einer Schicht aus Ruß und Staub, die ich mit den Füßen beiseite fegte, die Kamera weiterhin draufhaltend, ließ sich ein Quadrat, das sich vom Boden absetzte als Falltür ausmachen.

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verbrannte Bordell zu spielen, seine Visage auf der Mattscheibe flimmern sehen – der überflüssige, hinter der Kamera schwindende, Mensch. Anerkennung für ein nichts von Schaffen. »Herr Oppenheimer, Herr Lilienthal«, hörte ich es hinter mir rufen, wandte meinen Blick und die Linse von der Rezeption ab und: »ein Glück, dass Sie hier sind!«, schon hatte ich die Fresse, eines schrumpeligen alten Mannes in schlecht sitzender Uniform, unscharf im Bild. Ich trat, um ihn zu fokussieren, einen Schritt zurück, konnte mich dem Alten aber nicht entziehen. Die Kamera ist immer auch ein Mittel Distanz aufzubauen. »Es ist eine Tragödie. Der ganze Laden eine Ruine. Die Belegschaft, wie auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Keine Zeugen«, sprach er mehr in die Kamera, als zu mir. »Es ist ein Rätsel, wie niemand den Brand bemerkte und die Feuerwehr erst eintraf, als es schon zu spät war – auch nur eine Kleinigkeit von dem Etablissements zu retten«, schossen ihm die Worte aus dem greisen, von Falten zerknitterten Mund, wie Pistolenkugeln, eines antiquierten Gewehres. Pfui, Dreck und Schande, ihr Menschen, die ihr in Monologen lebt. Und noch weitere Menschen aus dem Foyer traten an mich heran, tänzelnd wie Angeklagte im Schauprozess. Es ist immer wieder erstaunlich, wie die Kamera, die Menschen verändert. Ich will diese unbedeutenden Geschöpfe, aber lieber überspringen. Ich hoffe ich stoße auf Ihr Verständnis, seien Sie doch barmherzig mit mir! Herr Andorra Atanassov, lassen Sie uns zu einem interessanten Menschen kommen…

»Lilienthal, gehen Sie ruhig mal näher heran und stellen Sie sich vor: der altmodisch rustikale Kohleofen musste täglich mehrfach befeuert werden. Würden Sie jeden Tag da hinab steigen wollen? Würden Sie jeden Tag gerne in den Untergrund gehen?«, oft nervt mich Antons suggestive Art. eonard mein lieber Brieffreund, selbstverständlich, war es auch mein erster Gedanke, dass von dort aus das Feuer gelegt worden sein muss. Gibt es denn etwas verlockenderes, als diesen besagten einen Ofen einmal zu über-feuern, dass ihm die Kacheln platzen, die Glut aus den Rissen tritt und sich, wie rasende Termiten in den Holzboden fressen, sich unter den Dielen weiter entzündend ausbreitet, um an einer geeigneten Stellen auszubrechen und das gesamte Haus mit begierigen Flammen zu überziehen und noch den restlichen Häuserblock in Brand zu stecken? Leonard Andorra Atanassov, Können Sie sich etwas denken, dass seduktierender ist – als dieses Spiel mit dem Ende? lsbald wir eine erste Runde – und ich erste Eindrücke in der Sternenförmige Eingangshalle – gedreht hatten, bemerkte ich einen bestialischen Geruch von… ich wusste nicht, was es war und dachte an: Ammoniak wieder – der sich beißend, reizend, unbändig durch meine Nase fraß und sich wie ein haariger siebziger Jahre Teppich auf meine Zunge legte, ich davon kurz aufstoßen musste, die Kamera beiseite legte, ein Taschentuch hervor nahm und es mir vor den stöhnenden, keuchenden Mund hielt. Als-sofort und ich mir derweil Bauch und Magen hielt, die anwesenden Beamten meine Anwesenheit notiert hatten, legten sie stumm und zügig die Arbeit an der Spurensicherung beiseite und jeder für sich passte einen Moment ab: mir von seinen überflüssigen Erkenntnissen zu berichten, vor der Kamera herum zu hampeln, wie ein dressiertes Zirkustier, und in stiller Erwartung; eine Rolle in meinem Film über das

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fui, Dreck und Schande, ihr Menschen – die ihr in Monologen lebt.

»Wissen Sie«, vernahm ich eine nicht unattraktive weibliche Stimme neben mir. Drehte mich und die Kamera zu ihr um und in der Tat; diese schöne Stimme gehörte auch einer ganz illustren jungen Dame. Sie wird Mitte Zwanzig gewesen sein. Hatte, aber schon deutliche Falten um ihre Mundwinkel und wenn sie sprach, dann zogen sich die Falten hoch zu ihren Nüstern.

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Sonst hatte sie mit einem Pferd wenig gemein. »Es ist schon sonderbar, da brannte ein ganzes Mietshaus, was so Interessant, wie verwerflich ist«, eröffnete sie überheblich und arrogant, »bis auf seine Grundmauern nieder. An sich eine Sache von etwa fünf bis acht Stunden, je nach Beschaffenheit des Hauses. Und wann wurde die Feuerwehr gerufen? Als Flammen aus allen Fenstern schlugen. Der Dachstuhl mit einem ungemeinen Poltern in sich zusammen sackte. Es knackte und krachte und das Feuer drohte auf die anderen Mietshäuser dieser engen und finsteren Gasse überzugehen. Wie im Kolosseum, sage ich Ihnen Berthold Oppenheimer Lilienthal, gaffen und gaffen und zwischen drinnen eine Zigarette paffen, immer wieder schön gaffen. Die beste Unterhaltung ist doch die, wo andere leiden. Mein Name ist Tschkalowa, Rahel – Rahel Bernstein-Tschkalowa ich bin die leitende Kriminalbeamtin.« Und ich wurde neugierig. »Meine Direktion hat mich beauftragt, auf Sie zu warten und Sie in den Fall einzuführen. Nebenbei erwähnt und behalten Sie das für sich, die ganze Direktion ist gespannt auf Ihren Film – jedes Gespräch beginnt bei Ihnen und endet mit Ihnen – es wird sehr viel über Sie gesprochen. Das bleibt unter uns, es heißt, man soll sich hüten vor Ihnen – sie seien rücksichtslos. Aber genug davon!«, zwinkerte sie mir zu, presste ich wie zwei Kokosnusshälften die Lippen aufeinander und riss unbeholfen die Augen auf. »Ich möchte Sie bitten mir in die einzelnen Räume zu folgen. Ihren Assistenten können sie ruhigen Gewissens hier in der Vorhalle zurück lassen. Es eignen sich die Bilder, die wir noch zu sehen bekommen, nicht für Jedermann und Ihr Mann scheint mir doch etwas zartbesaitet.« Ich kann mit Menschen ohne Ironie und Saraksmus, ohne Schneid – ich kann mit Menschen, die aufs geradewohl einfach ehrlich sind, nicht viel anfangen. Mir kam Frau Tschkalowa, also gerade recht. Ich willigte ein zu folgen und ließ den protestierenden Anton Nihad im verkohlten Foyer des Bordells zurück, der daraufhin, den Schreibmaschinenkoffer beiseite legte und anfing Spiegel und Belichtung aufzubauen. »Es war der Ofen im Keller, sagen die einen.

Es war die Elektrik die anderen oder eine Kippe im Bett einer Nutte. Es sei doch bekannt, dass diese Damen dem Rauchen besonders frönen«, erzählte die Frau leitende Kriminalbeamtin, wie sie sich vorgestellt hatte, überaus entschlossen und flüsterte mir zu: »ich, ich aber sage Ihnen… Ja!, ich weiß es sogar: es war – Brandstiftung!«, Währenddessen sie mich vom Foyer in das erste Zimmer führte und ich beim vorbeigehen noch einen Wagen neben der Rezeption stehen sah, auf dem man Leichen der verbrannten Huren zusammengetragen hatte und zur Identifikation ihnen ein Schildchen mit Nümmerchen, da wo es gerade passte, verpasst hatte. Ich kann nicht anders. Ich muss überall, ich muss auf alles, was nützlich sein könnte, die Kamera halten. Nichts darf sich ihrer Linse entziehen. err Atanassov, stellen Sie sich vor, eine hatte einen Ring durch ihr Septum gestochen und aus ihrer Nase heraus fädelte sich eine Schnur und dort hing ihre Nummer. Baumelte geradezu aus ihrem Nasenloch. Da hingen vom Wagen die toten Nutten und an ihren Fingern und anderen Extremitäten waren Schildchen von Eins bis Zwanzig – soweit ich das erkennen konnte. Weniger sicherlich, aus welchem Zweck man die leblosen Körper nummeriert hatte, aber ich war froh, die Quelle des mir schon eingangs aufgefallenen bestialischen Leichengestanks ausgemacht zu haben. Es heißt, sage ich Ihnen, einmal gerochen, werden Sie diesen Geruch nie wieder vergessen. Wie ich nur nebensächlich in die teils ganz und teils überhaupt nicht verrußten leblosen Gesichter blickte, erinnerte ich mich auch an die Frauen, die ich vor langer Zeit mal zu lieben glaubte. Angeregt, als hätten sie Jahre auf die fette und verwesende Beute gewartet, kreisten wie Aasgeier die Polizisten und Journalisten, denen inzwischen Einlass gewährt wurde, um den Wagen der Toten. Wie leblose Motten lagen sie da, zu Boden einer erloschenen Laterne, am Ende einer schrecklichen Nacht, die lediglich ihre Hülle übrig bleiben lassen hat. Welches war ihr Preis? Welches war ihr Preis?

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Von Fett, Speiseeis, Südseereisen und Tropfen von Gift

Besonders wenn sie ehrlich lachen – hasse ich sie. Wenn sie mich genießen – hasse ich sie. Ich brauche ihre Feindseligkeit, denn wenn ich ihren Hass sich auf mich übertragen spüre, wird mir warm ums Herz.

o ommen Sie jetzt bitte, wir haben es eillig. Man hatte mich, zwar vor Ihrem morbiden Geschmack gewarnt Herr m Lilienthal, dass Sie nun Stundenlang die Leichen, der Huren filmen, damit hatte ich nicht gerechnet«, rief Tschkalowa aus dem ersten Zimmer. Das Zimmer, das fand ich irgendwie amüsant, war eingerichtet wie die Miniaturausgabe eines Kreuzfahrtschiffes. Es gab eine kleine Kommandobrücke, ein winziges Deck mit Liegestuhl, Seilen und Schornstein und dahinter eine Kapitänskajüte. Ich stellte mir vor; wie der Freier und seine Auserwählte, zuerst auf der Kommandobrücke, das Ruder im Rücken, sich miteinander vergnügten. Wieso nicht mal im Stehen miteinander Schlafen? Von dort aus, würde man sich langsam zum Deck vorarbeiten, dabei hörte ich das Schreien einer Möwe, die Gischt an den Bug spritzen, die Wellen sich überschlagen, Hafenarbeiter derbe Fluchen,


wir uns und entzündeten ein Lagerfeuer mitten auf den See zwischen uns. Wir waren in Pullover, Hosen, Mäntel, Jacken, Schals und Decken gewickelt. In der Ferne rahmten Bäume und vereistes Schilf den See. Der Wind fegte um unsere Ohren, verwehte den Dampf unserer heißen Getränke und den Rauch des kleinen Lagerfeuers.

eine einsame Trompete in einem entfernten Leuchtturm spielen… Zwischen Seilen und Schornstein, konnte man Verstecke spielen, sich finden und kopulieren. In der Tat, gab es damals in dem verbrannten Puff einen Schallplattenraum, von dem aus die verschiedenen Räume des Bordells bespielt wurden – es vögelt sich doch besser mit Musik. Und zu allem Überfluss fanden wir, deutliche Fettspuren in der grotesken Kapitänskajüte. An der Wand hing das halb verbrannte Bild eines Kreuzfahrtschiffes, der Rahmen war wohl aus der Reling eines bekannten Segelschiffes gewesen – leider ganz und gar verrußt. Ich hielt das aber für die Doku fest. In der Ecke stand ein alter Polstersessel – für etwaige Zuschauer des Spektakels. Weshalb sich auch auf dem Sesselchen Fettspürchen finden ließen. Ich machte Nahaufnahmen vom Fett überzogenen Doppelbett der Kajüte, vom Schiffsboden, der schimmerte über und über vor menschlichem Fett und von der Wand, die vor Fett nur so gesprenkelt war, wie in einer Currywurst-bude. Was immer schade ist: die Kamera kann Gerüche nicht einfangen und in analoge oder digitale Signale umwandeln, denn es stank hier auch überdeutlich nach Haaren, Nägeln, Haut – und allgemein nach vergangener Menschlichkeit. Ich hatte Mühe, Bauchschmerzen und Übelkeit zu kontrollieren, die mich begleiteten seitdem sich Bernstein Tschkalowa an meine Seite gesellt hatte, wie wartende Boten an Pforten eines künftigen Lebens, wollte ich wissen was das heißt.

Achtung Atanassov, das ist keine Metapher. Alles hell an ihr. Schalte die Lichter an. Alles Blond, alles verschwindend blond, Haarschopf, Brauen, Wimpern – ihre Augen waren aber blau-grün. Bist du wütend auf mich? So hell, dass ich Mühe hatte, ihre Haare, als Haare überhaupt zu erkennen. Bist du jetzt wütend auf mich? Verschwindend Blond. Ihre Akzente verschwinden in Blond. Ihre Akzente verlieren sich in Gleichgültigkeit, wenn sie mich anschaut, ist es als schaute sie durch mich hindurch, nicht aus Desinteresse, nicht aus Unmut. Wie ich dich doch mein nennen und ich mich dein nennen wollte. Ich wusste damals noch nicht, auch nicht beim schreiben, dass ich eigentlich das, die Zweisamkeit nie wollte, dass es nur verhüllter Narzissmus war – also suchen zu besitzen und Über-Ich-Diktat. Die Sucht jeden Moment auszupressen. Die Versuche dich mit meiner Stimme zu fangen. Dir deine Hände zu wärmen. Wie das blonde Haar ein Rahmen aus Buchenholz deines Gesichtes geworden war. Die roten Wangen es noch akzentuierten. Ach Leo, wie soll man beschreiben, was damals schon trivial war. Obgleich ich sie damals, tatsächlich lieben wollte. Von Westen her, schien die untergehende Sonne auf unsere(!) Eisdecke und an ihrem Profil zeichnete sich eine Linie von Helligkeit ab. Doch noch bevor wir uns aneinander näherten; bohrte ich ein Loch in die Eisdecke, ertränkte unser gemeinsames Wir im Eiswasser und versiegelte die brüchige Stelle mit, Eis, Schnee und Kälte – Täuschungen eines verdeckten und verhüllten Affektes. Indes ich ihr die Wangen wärmte und verdrossen probierte der Dame süße Worte zu soufflieren, versagten mir meine Stimmenbänder und ein routiniertes Fragespiel, trat dort ein, wo ich mal meine Zuversicht verortete. Wissen Sie Andorra, mir haftet etwas Entrücktes an. Ein Zustand, wie im Schock, den

Es stank hier auch überdeutlich nach vergangener Menschlichkeit. Wie wir die Kajüte inspizierten und Frau Tschkalowa mich nach meiner Meinung fragte, erinnerte ich mich daran, wie ich mit einer Verflossenen ein Picknick auf der Eisdecke eines zugefroren Sees veranstaltete. Wir liefen einigen Bahnen Schlittschuh, es war Vollmond und ich rezitierte Sonette, die ich mal geschrieben hatte, nachdem uns langweilig geworden war, setzten

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starres und lebloses Stück Fleisch. Du gurgelst mit Glückstropfen und ich speie Galle. Du sprichst kleine liebe Komplimente und ich höre Bindung und denke Flucht.

ich nicht beschreiben kann. Ich fühle, wie es auf meinen Einsatz ankommt und ich spüre eine wachsende Anspannung, der ich nicht gewachsen bin, die letztlich in ein erprobtes Interview, zwischen mir und einem fremdem Mir mündet: ›Angenommen Benno,‹ nannte mich – meine eigene, aber fremde und äußere Stimme, ›die Frau, welche du in deinen Armen hältst, angenommen Sie würde dich Lieben, in wie weit kannst du mit Sicherheit sagen, dass du diese Liebe auch adäquat erwidern kannst? Und willst du denn überhaupt jetzt hier sein?‹ ›Ist Hier-sein nicht herrlich?‹, antwortete ich fragend meiner fremden Stimme, vergeblich versuchend empor zu wachsen. ›Fühlt sich dieser Moment für dich eher richtig oder eher falsch an? Ist das nicht nur, ein weiterer deiner zum Scheitern verurteilter Versuche, im Leben anzukommen?‹ ›Habe ich denn je ankommen wollen?‹ ›Was macht dich überhaupt so sicher, dass die Alte morgen noch da ist? Was wenn sie dich eines Tages nicht mehr riechen kann? Sagen wir, ihr liegt beide zusammen im Bett. Es ist früh am Morgen und wie du aufwachst, erblickst du ihr Gesicht und wie ihre aufgesperrten grau blauen Augen dich anstarren, sagt sie dir, dass sie sich Zeit eurer Beziehung nie wohl an der Seite gefühlt hätte. Was dann Oppenheimer Lilienthal? Am besten du vergisst das mit der Zuversicht.‹

Ein anderes Szenario dieser Art und ich kann Ihnen noch von vielen Erzählen, weil ich es ja genoss zu leiden und zu scheitern und sich daher Ereignisse dieser Art häuften. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen. Vereinzelt traten Sonnenstrahlen, durch das Geäst der Bäume hindurch und schienen auf die mit roten, goldenen und weißen Blumen gesäumtem Gräser herab. Es ging der Wind, wie ein unerhörtes Rauschen, durch das Blätterdach und schwankend bewegten sie die Äste, indessen im Rausch des Windes vereinzelt Vögel pfiffen, zwitscherten und dem Schauspiel applaudierten. In Scherenschnitten warfen sich die Bäume auf das Gras und ihre Schatten, als wären sie Läufer, bewegten sich auf der Wiese auf und ab. Beleuchteten mal und verdunkelten mal unseren Platz – unter einer Linde und zwei Birken, deren Blätterkleid, sich auf unsere Körper projizierte. Währenddessen Tauben den Boden durchforsteten, durch nichts aufgeschreckt auf die Äste der Bäume flüchteten und Fahrradfahrer in für uns sichtbarer Entfernung vor rüber fuhren, so fern jedoch, dass sie nicht sahen; wie wir mit einander zwischen den Gräsern schliefen. Sie danach verlangte, sich ganz und gar ausziehen. Ich empfahl, doch wenigstens die Wäsche anzubehalten – für eine etwaig nötig werdende Flucht. Denkt man daran, dass die Fahrradfahrer, zu uns herüberkommen könnten… Wir waren dann doch nackt! Da merkte ich, wie ich gerade noch die neben mir Eingeschlafene streichelte und wir unter einer Decke, da es trotz Mai Sonne sehr kalt war, schliefen, die Glückliche noch döste, ich aufgerichtet neben ihr saß, die Notizen anfertigte, welche sie gerade lasen und wie die verlogenen Tauben verflogen waren – so verflüchtigte sich auch mein Gefühl. Miteinader-schlafen kam mir oft, wie eine Pflichterfüllung vor. Als müsse ich nur mit der ausgewählten Frau nächtigen und damit meine ich, sie ordentlich, ausdauernd und ausgiebig, gehörig, über einen bestimmten Zeitraum, penetrieren und das scheint mir das Rezept für;

ch sage Ihnen Herr Leonard Andorra Atanassov, wie wir auf dem Eis saßen und ich meinen Erwartungen, ganz und gar nicht entsprach – es war vorbei mit der Leichtigkeit. Verkrampft, verspannt – erstarrten meine Glieder, in dieser Kälte, und ich war außerstande mich zu bewegen, zu reden – eben schlichtweg nicht mehr in der Lage auch nur irgendwie zu agieren. Als wäre ich in einer Erschütterung gefangen. Es wiederholt sich. Die Zweifel sind nur vorgeschützte intellektuelle Mittel – meiner dieser Machtlosigkeit gegenüber diesen bahnbrechenden Affekten. Es wiederholt sich . Dissoziation und Depersonalisation. Manie und Lethargie. Ich bin von der Außenwelt abgeschnitten. Dort, wo meine Lippen sich sonst bewegen, ist ein

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eine exzellente Persönlichkeit Herr Oppenheimer Lilienthal.« Ich stelle mir vor einer der Freier zu sein. Eine dieser Nächte, eine dieser Stimmungen, einer dieser Spaziergänge. Lichtkegel von Laternen säumen meinen Weg, dort wo ich laufe ist Dunkelheit. Flutlicht könnte mir die Sicht versperren und ich würde jede Annäherung von Lichtwellen verspeisen. Wahrscheinlich würde ich rauchen, ein oder zwei Packungen. Mich gut fühlen, wie ich mich schlecht fühle. Ich würde es genießen. Nach einer Weile würde mir langweilig werden. Ich bin ein schrecklicher Mensch: bekomme ich keine Aufmerksamkeit, langweile ich mich. Ich gebe aber vor, nichts anderes als diese Aufmerksamkeit zu hassen. Ich bin ein furchtbarer Mensch, denn ich halte mich gern klein. Ich bin klein geboren und werde klein sterben. Aus Reue würde ich an Wachstum denken – das heißt sich klein halten. Ich bin eine Wachtel im Tropenhaus. Irgendwann würde ich an eine Tür kommen. Um Einlass bitten. Hereingelassen werden. Ich betrete eine Vorhalle. Die Tür knarrt, lauter, als ich erwarte. Warte an der Rezeption. Ungeduldig. Mir ist etwas unwohl. Ich bin verunsichert. Ich schaue mich um – niemand hier, aber Geräuschen aus allen Ecken. Stöhnen, Schreien, Wispern, Flüstern, Rufen diverse Töne, die ich nicht verorten kann. Es herrscht: mittlere Dunkelheit, Dämmerung in der sternenförmigen Vorhalle. Gerade genug Licht um zu erkennen, wo ich bin. Zu wenig um nicht auf vielfache Illusionen, Halluzinationen, mich von der Leibhaftigkeit von Golemfiguren in den Ecken, diabolischen Mustern auf herunter hängenden Wandteppichen, Gargoyles auf Treppengeländer – täuschen zu lassen. Plötzlich wie aus dem nichts, taucht die Rezeptionistin auf. Keine Augenbrauen. Ich erschrecke. Suche mein Erschaudern gekonnt zu verbergen. Sie schaut skeptisch. Die Akustik ist dumpf, drückend, beklemmend. Ich höre mein eigenes Wort, als stumpfe Ahnung. Ich beuge mich etwas nach vorne, gebe ihr einen Kuss links, einen Kuss rechts und spähe

wie Binde ich die Geliebte an mich, zu sein. Mein Gefühl, ist dabei Beilage und prinzipiell unwesentlich. Ich muss sagen, dass diese Gedanken eine Enttäuschung sind. Leonard, meine Gedanke enttäuschen mich. Wer war ich denn? Wer bin ich denn? Kenne ich diesen Menschen Ich überhaupt?

lso Lilienthal, was sagen Sie?«, fragte die leitende Kriminalistin Rahel Bernstein Tschkalowa mit bewusst tiefer Stimme und mich inzwischen nicht mehr rufend, da ich mitten im Zimmer stand. »Können Sie etwas für Ihre Dokumentation gebrauchen? Was sieht Ihr Auge? Was sagen Ihnen, Ihre Sinne? Nichts? Dann sei Ihnen Nebenbei gesagt: die Gäste dieses Hauses, waren sehr sonderbar. Wenn Sie erwarten, wir reden über Schriftsteller, dann irren Sie sich – und zwar gewaltig. Nehmen Sie diese Überbleibsel, Skelett, Hautfetzen, Fett, ja vor allem sein Fett, und setzen Sie sie zu einem Menschen zusammen…Doch nicht tatsächlich! Denken Sie sich das zusammen setzen. Was erhalten Sie dann?«, vollführte sie

Ich bin ein armes Schwein, wenn ich nicht liebe.

stolz, währenddessen ich sie filmte, tänzerisch und rieb mir einen Holzspan unter die Nase, mit dem Sie vorher einen Abstrich vom sich auf dem Bett befindlichen Fett genommen hatte. »Wundern Sie sich nicht, warum wir nur Reste der Freier finden? Ja? Sie wissen schon ganz genau, dass liegt einfach daran, dass die Belegschaft gesondert verbrannt wurde. Niemand weiß bisher, wo die Körper der Toten sind. Es muss ein ganz spezieller letzter Abend gewesen sein«, mir kam hier die Stimme der Beamtin merkwürdig schwärmerisch und begeistert vor – wäre Rahel Bernstein gerne dabei gewesen? Wäre ich gerne dabei gewesen? »Das wussten Sie schon, nicht? Sie sind wirklich

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dabei hinter die Rezeption, dabei sehe ich, eine Falltür – daher ist sie gekommen! Wir plaudern ein wenig. Ich spiele kindisch mit meinem Hut, den ich mir vor den Bauch halte und drehe und die Krempe knicke und Staub abputze. Ich versuche weniger bleiern zu wirken. Gebe mich routiniert, »was wäre denn ihr bestes Zimmer.« »Kapitänskajüte.« »Versuchen Sie nicht mich an der Nase herumzuführen, ich bin einiges gewohnt!« Ich taumele halb freudvoll, halb gelangweilt in das maritime Zimmer. Auf dem Weg dorthin, gibt es in der Wand eingefasst: Aquarien, ich bekomme Hunger auf Krebs und Muscheln. Weiß ich schon, dass ich heute Nacht sterben werde, kommt daher die ungewöhnliche Routine? Oder werde ich von dieser Sirene von Frau, die sich meinem Blick anbietet, alsbald ich Wellen rauschen, Möwen kreischen und Trugbilder rufen höre, plötzlich und unverhofft mit in einen stürmischen Tod gerissen? Ich stelle mir vor, liebend zu sterben. Ich nehme das Ruder in die Hand. Drehe, zirkuliere das verfluchte Fischweib, werfe die seelenlose Undine wie einen schlechten Fang über Bord. Schlafe mit dieser aus Meerschaum-träumen erwachten Seekuh von Frau und rieche den Geruch von Verbrennung und jetzt fühle ich: es wird wärmer, es wird heißer. Eine unerträgliche Hitze wird in den Armen des Anderen erträglich. Ich fiebere, meine Atem schlägt mich schwer, ich keuche, denke an koituale Anstrengung. Langsam, aber beständig erwachsen schlagende Flammen und vereinzelt, nehme ich panische, statt lustvolle Rufe von Menschen wahr. Was tue ich? Gerate ich in Panik? Ich denke mir, die Zeugung dient der Liebe und mein Leben verlief bisher recht lieblos, dann wäre es doch schön in einem Rausch aus Bindung, Nähe und Wärme dahin zu scheiden und zu krepieren. Die gescholtene Jungfrau aus dem Meer verlässt den Raum – ich sterbe.

Exemplar von verbrannten Mann, hatte sich auf ein seltenes Gebiet spezialisiert: jugendliche Suizid-tendenzen.« Sofort sehe ich einen etwas dicklichen Kerl in seinen Mitvierzigern vor mir. Wie er bezahlt wird, ziellos durch die Straßen zu irren. Eine Art levitischer Spürhund, bestrafender Priester, der in die Gesichter der jungen Menschen schaut, reziproke Erbsünde wittert, natürlich von Freiheit spricht und ihr Suizidal-potenzial erkennt. Sie nur im Leben halten will – hier sein, wieder herrlich. Den Trieb zum Selbstmord aufdeckt. Die Experimentierfreudigkeit der intellektuellen Jugend sieht. Wird es keine Generation geben, die dafür zu alt geboren ist? Die Skeptiker, die immer suchen ihrer Neigungen Quellen auszumachen – ›wie in die offene See schwimmen um den Tod zu suchen, ob er dort auch zu finden sei? Mit Sicherheit. Ob er dort auch zu ergründen sei? Sicherlich nicht‹, höre ich den Freitod-schnüffler reden. Den falschen Hund, der sich im Suizid der anderen wälzt und den eigenen verhindert, vor allem um… Lass mich liegen im Gras, ich will die Wolken beobachten. Suizid die generale Fehlinterpretation und letzte Mitteilung des all umfassenden Überlebenswillen und der ebenso nicht unwichtigen Selbstwirksamkeit. Überleben ist ein Wert. Persönliche-Relevanz ein besonderes Bedürfnis. Werte kann man entwerten. Ist das noch Überleben wollen? Ist das noch relevant sein? Gibt es Prozesse in mir, die Standhaft sind? Die ich nicht zersetzen kann? Die trotz Verätzung immer wieder kommen und auch, wenn ich glaube sie zu zerteilen, noch immer greifen und wirken? Reden wir von Schablonen, die selbst Teil von sich sind und ohne nicht existieren und lügen sie, wenn sie es versprechen? as Thema ist überaus interessant,« äußerte ich. »Ach, was interessiert Sie denn daran? Ich hatte angenommen, Sie wären ein durch und durch bodenständig und bürgerlicher Kerl«, sprach meine Führerin. »Wissen Sie«, begann ich tief Luft holend. »Ich gehe davon aus, dass die Wirklichkeit des einzelnen, sich aus seinen eigenen Erfahrung

ie dem auch sei«, unterbricht Rahel Tschkalowa meinen Gedankengang. »Dieser Gast, war eine Art alt-eingesessener Sozialarbeiter. Eher ein Streetworker, von besonderer Sorte«, sie stemmt ihre Arme gegen die Hüfte. »Was soll besonders an einem fettem Streetworker sein?«, fragt sie selbstgefällig. »Nun ja dieses

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zusammensetzt. Und dieses Erfahrungen sind das Produkt, aus Antizipation, Beobachtung und Bewertung. Piaget würde hinzufügen: Assimilation, Akkommodation und Äquilibration. Währenddessen wir leben, bereichern wir unseren Körper, zudem sein Geist gehört, unablässig mit neuen Erfahrungen, die wiederum selbst von den Produkten früherer Erfahrungen beeinflusst werden und wir vergleichen in Kommunikation, ob nun verbal und oder gestikal, mit anderen Menschen gegenseitig unsere Wirklichkeiten. Letztlich entsteht daraus eine Netzstruktur an Realität, ist ihnen übrigens aufgefallen, dass Realität lediglich über Negation und Falsifikation validiert wird? Man merkt nur im Unterschied, ob man die selben Ansichten hat, kommen Menschen allerdings in ihren Meinungen überein, so merken sie das eben nur daran, dass sie sich nicht unterscheiden.

Daraus bauen wir auf – unse unser er ge gesamten esamten Repertoire an Verhalten. Im übrigen ergibt sich daraus, so etwas, wie die gesellschaftliche Realität und das kollektive Unbewusste, wie Jung sagen würde. Größenidee über Größenidee. Narzismuss über Ich-Konflikt. Können Sie mir noch folgen, Frau Tschkalowa? Dazu müssen wir noch sagen, dass der Tod dem Leben so fern ist, wie nichts anderes auf dieser Welt – ja man kann, nicht mal sagen: der Tod ist dem Leben fern. Das einzige was man tatsächlich sagen kann, ist: der Tod ist nicht das Leben und das Leben ist nicht der Tod, alles andere wäre wieder eine unzulässige Annäherung oder ›Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht.‹ Diese beiden unnahbaren Zustände. Sehen Sie?

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Schon wieder ist es mir passiert. Ich habe Tod und Leben: Zustände genannt und sie einander näher gerückt. Wir müssen an dieser Stelle radikal sein, wissen Sie«, sprach ich zu der neugierigen Rahel Bernstein Tschkalowa. »Weil Tod und Leben sich so radikal diametral unterscheiden. Selbst jeder Gedanke über den Tod, ist das Ergebnis des Lebens, weil Gedanken einem lebendigen Organismus entstammen und dieser lebendige Organismus, sich seine Nichtexistenz nicht denken kann – Gedanken setzen Existenz voraus – und er kein Wissen über Dinge haben kann, die er selbst nicht erfahren kann. Die Verneinung ist äußerlich ihre Negation und innerlich ein Beweis der eigenen Existenz, wie Sartre meinte«, schon wieder musste ich mich schmücken und beweisen, was ich alles so tolles weiß. »Kommen Sie mir nicht mit dem Nahtod. Der Begriff ist irreführend, es müsste eher Lebensgrenzerfahrung heißen, das aber ist ein hässliches Wort… Letztlich«, formulierte ich einen Abschluss. »Letztlich: der Gedanke über den eigenen Tod, ist nicht der Gedanke über den eigenen Tod, der Gedanke ist lediglich die Übertragung von vermeintlich ähnlichen Affekten, wie Trennung oder Flucht, damit wird behelfsmäßig der Tod überhaupt und der eigene Tod antizipiert. »Weiterhin«, nahm ich noch Einmal Schwung: »nehme ich stark an, dass sich jede Aktion menschlichen Verhaltens nach einem Stufensystem reguliert. Wenn der Mensch genug zu Fressen, Schlafen und Sprechen hat, will er sich vermehren«, das hatte ich am Eingang zum Bordell aufgeschnappt und da es mir gefiel, baute ich es in meine Rede ein. »Und ich spreche hier nicht von Trieben, sondern von Aktivitäten, denen sich jeder gerne annähert. Fehlt ihm das aber, beschränkt sich die menschliche Existenz aufs Überleben und dahingehend betrachte ich den Selbstmord nicht

als einen freiheitlichen Akt der absoluten Entfaltung einer Persönlichkeit, sondern als eine, sagen wir missliche Deutung seines Überlebenswillen. Das lässt also den Suizid überhaupt erst, als mögliche Lösung erscheinen.« Verstehen Sie Atanassov, nur wer das Leben liebt, will sich suizidieren – es ist nichts, als Suche nach Veränderung und Intervention. Meist übrigens auch von Menschen mit überaus geringen Autonomie-niveau. Interpsychisch betrachtet, sind dem Selbstmord zweierlei Nachrichten hinterlegt. Erstens: ich verlasse dich und zweitens: du sollst davon wissen, mitnichten verlasse ich dich also. Suizid also, eine ungünstige Balance zwischen Autonomie und Nähe. Ach man könnten soviel darüber sagen!

» (…) der Gedanke über den eigenen Tod – der Gedanke ist lediglich die Übertragung von vermeintlich ähnlichen Konstrukten, wie Trennung oder Flucht (…)«

»Tschkalowa, aber passen Sie mir auf: innen und außen, das ist nicht das Selbe«, erklärte ich Rahel Bernstein ausufernd. »Wie die Beendigung einer Beziehung oder die Kündigung einer Anstellung, das Gefühl im Tunnel zu sein? Und da scheint der Selbstmord, doch eine passable Wahl zu sein«, folgerte Rahel und weckte dabei mein Interesse. Wir standen noch immer im Kapitänszimmer, als ich mich in dem von Rahel ergänzten Monolog verloren hatte.

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Grund dieses Meeres – seriöse Leere. Dinge die klar sind, sind es nicht mehr. Wer Nachts nicht schlafen kann, sollte sich nicht durch Roten oder Weißen einschläfern. Wer sich Nachts, trotz dessen in einer Tour wendet und im Brett dreht, der sollte nicht über sein Kopfkissen zur Flasche greifen, um weiter zu schlafen. Man sollte nie zu einer Selbst-Medikation greifen. Das hat finanzielle Aspekte. Wer soll denn das alles bezahlen? Leonard Andorra Atanassov, wissen Sie, was ich interessant finde? Ich finde Interessant, dass ich Ihnen alles beschreiben muss. Die Realität, wie ich sie Ihnen vorschlage, existiert nur durch die notierten Sätze. Meine Pausen, die Zeit die zwischen den einzelnen Phasen meiner Niederschrift verstreicht, findet keinen Eingang. Es gibt sie also nicht. Da es wenig Sinn macht mich selbst in meiner Wohnung zu filmen, ich das auch obszön finde, es ist schon genug der Selbstdarstellung – sie wissen ja warum ich das machen muss – jedenfalls aus diesen Gründen, zeichne ich mich selbst, beziehungsweise meine Stimme mit Hilfe eines Diktiergerätes auf, schreibe dann ab, was ich sagte. Ich will ehrlich sein, ich habe mein Leben absichtlich darauf reduziert, diesen Brief zu schreiben. Ich existiere also nur in der Rückkopplung meiner Beschreibungen und Aufzeichnungen. Es sei den ich schildere Ihnen, was gerade vorfällt, allerdings habe ich dazu meist keine Lust .

RÜCKZUG

Ich liebe es: eine Frau zu verlassen. Nicht für immer sie zu verlassen, nicht die Bindung aufbrechen, hat sie denn bestanden – sie zu besuchen und zu verlassen. Sie zu sehen, wie sie eine deiner Taschen hält, hilft sie einzuladen. Am Straßenrand steht. Winkend in dein Fenster schaut. Du dich bewegst. Sie stehen bleibt. Du dich langsam entfernst. Es gibt nichts befriedigendes und mehr befreiendes, als dem weichende Blick einer vermeintlich Geliebten zu entkommen. Nichts was mehr Libertität verspricht, als jemanden zu verlassen.

s ist Nacht. Ich habe zum Einschlafen eine Flasche Roten getrunken. Jetzt habe ich Kopfschmerzen. Nebenwirkungen. Ich sitze in meinem Schlafzimmer auf der Couch und starre in den Spiegel gegenüber. Mir ist kalt. Ich kann nicht schlafen. Es brennt kein Licht. Ich sehe eine Silhouette von mir als Persönlichkeit im Spiegel. Einen dunklen Umriss, von dem, was ich mal sein sollte. Was mein Zimmer erhellt sind die Fenster meiner Nachbarn. Fetzen von Licht werfen sich aus deren Fenstern in den Hof und werden von der immer noch liegenden Schneedecke in mein Zimmer reflektiert.

ch muss und muss, Satz um Satz schreiben, denn dies ist mein Abschiedsbrief, wenn die letzte Interpunktion gesetzt ist – endet mein Leben. Daher darf ich diesen Brief nie beenden. Je öfter ich Sie Anrede, Herr Atanassov, desto realer werden Sie für mich. Sind das noch Rettungsversuche? Konstruiert mein Geist eine neue Welt? Leben in Nebenrealität. Warte nur. Warte nur du cleverer Kopf, bis ich deine neue Welt wieder einreiße. Du willst mir einen Schritt voraus sein? Das macht mir nichts. Stein auf Stein. Ich werde jedes Sandkorn verwerfen. Ich muss eingeschlafen sein. Mein Kopf schmerzt nicht mehr. Es ist hell. Ich liege zur Hälfte auf der Couch. Es wird Mittag oder Nach-

Mein Leben ist zu einem sonderbaren Traum geworden. Ich bin ein im Traum wandelnder und lebendiger Mensch. Ich weiß nicht, wie spät es ist. Es dämmert bereits. Ich nehme an, es ist gegen sechs oder sieben. Ich habe das Gefühl für die und meine Zeit verloren. Inzwischen habe ich die Flasche Roten wieder in der Hand. Ich weiß nicht mehr wann es war. Aber irgendwann verließ mein Leben einen bestätigenden Kreis von Sinnhaftigkeit. Seit dem sind die Schotten dicht und wir sinken. Der

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mittag sein. Und die andere Hälfte liegt auf dem Boden, neben dem noch immer eingeschalteten Diktiergerät. Ein Gefühl von Hunger überkommt mich… Erwähnte ich den fünf Liter Topf Suppe, den ich jeden Montag koche und mich dann von dem Topf, die Woche über ernähre, habe ich das schon erwähnt? Merken Sie was? Heimlich hat dieser Trickbetrüger, dieser kleine Teufel, dieser David und Judas, wieder eine Konsistenz geschaffen. Jeden Montag einkaufen zu gehen. Schon wieder ein Stück Realität. Ein Zwang. Eine Regel. Ich muss jedes Stück Integrität, Konsistenz und Realität auseinanderreißen, als wären es Banknoten einer inflationären Währung. Sie fragen sich, was ich den ganzen Tag mache? Als ich vorhin auf der Couch saß und den Schatten meines Charakters als Umriss im Spiegel sah, spielte ich mit meinem feinen silbernen Füllfederhalter und hiermit verkünde ich: dabei hatte ich ein sonderbares Gefühl, dass ich Ihnen mein verehrter Herr A., nicht vorenthalten will. Es war zwar mein gewohnter Füller und er hatte sich über Nacht nicht verändert. Etwas hatte sich dennoch verändert. Ich hielt das Schreibgerät in der Hand. Ließ es einige Male zwischen meinen Fingern hin und her rutschen und stellte fest; dass ich diesen Füller noch nie in der Hand hatte. Natürlich, ich benutze ihn sein Jahren und das Tag täglich, natürlich kenne ich dieses Gerät ganz genau. Ich kenne jede Einkerbung, wie oft er zu füllen ist, den Druck der Feder – es ist ganz gleich.

grität. Ein sehr sonderbares und erschreckendes Gefühl, sage ich Ihnen. Ich muss aufpassen, die Momente an denen mein Verstand versucht aus seiner Hülle zu flüchten – sie häufen sich. Leonard, wenn ich nicht genau darauf achte, wähle ich Depersonalisierung als Regulationsersuch und einen Lösungsversuch aus Deprivation und Isolation und ich bin mir darüber klaren; das ist eine Warnung, meines noch klaren Geistes. Wer nicht Held sein kann, muss Widersacher werden. Wer versucht Licht zu bringen – wessen Licht verschmäht wird, der muss Dunkelheit, wie Licht züchten. Ich fand es immer albern Gedichte zu schreiben. Ich fand es immer verschwendete Liebesmüh, immer eine überflüssige Sache. Prosa war immer wichtig. Lyrik, verstoßene Schwester der Prosa. Wie dem auch sei, ich habe wieder angefangen Gedichte zu schreiben und sie mit meiner Reiseschreibmaschine auf Karteikarte abzutippen.

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Ich bin noch nicht fertig. Ich wusste also, das ist mein Füllfederhalter und ich wusste auch, dass er sich fremd anfühlte. Er war leichter, als ich das gewohnt war. Seine Oberfläche, seine Textur, fühlte sich fremd an. Da bemerkte ich, wie sich meine Hände fremd anfühlten. Ich meine, es sind meine Finger und jetzt, wenn ich sie mir anschaue, ist dort kein Zweifel und es ist, als hätte ich nie daran gezweifelt, dennoch, vor ein paar Stunden Nachts vor dem Spiegel auf der Couch sitzend und nicht schlafen könnend, hatte ich das Gefühl, als verliere ich Konsistenz und mit ihr ein Stück Inte-

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te, für einen Moment die Kamera beiseite legen, aber ich existiere ohne… »Wir erreichen nun das sogenannte orientalische Zimmer. Der Orient, wird wohl immer ein kitschiges Sehnsuchtsbild«, eröffnete sie lautstark. »Der einsamen Europäer bleiben. Denken Sie nur an Baudelaire, Flaubert, Balzac oder Poe oder«, Pause. »Denken Sie an sich, Herr Lilienthal. Ganz recht Oppenheimer, als ich das Zimmer erwähnte, erwischte ich sie dabei, wie ihre Augenbrauen vor Erregung zuckten, ihre Lippen sich zu einem zitternden und irgendwie hoffnungslosen Lächeln formten und Sie schauten ganz lüstern irritiert. In gewisser Hinsicht«, fuhr sie weiter fort. »Handelt es sich bei diesem Raum des ehemaligen Bordells,…«

Einladung zu einer Einfühlung

Die meisten Menschen erwachsen nicht, sondern sie lernen nur ihr Schwächen geschickter zu verhüllen. Sie entwickeln sich nicht, sondern sie kultivieren ihre Ängste, geben nach außen vor, wie sie gewachsen sind, dabei haben sie Monumente aus Schwäche, Angst und Furcht errichtet. Und wenn ich Sage: die Menschen, dann meine ich mich. Ich habe Angst zu wachsen, denn jedes Wachstum bedeutet mir, nicht zu wissen: wandele ich Schwäche in Tugend, lerne ich nur Angst zu verhüllen und aus Furcht Paläste zu bauen, deswegen entwickle und wachse ich nicht. Siehe da, schon ist geschehen, wovor ich mich selbst warnte, aus Furcht ist Tugend geworden. Eine Schwäche ist verhüllt und eine Angst ist sinnvoll geworden.

ahel Bernstein Tschkalowa und ich waren zurück im sternenförmigen Foyer. Ich passierte den Wagen, auf dem die toten Huren lagen, gab noch Mal einen Kameraschwenk darauf, sah zu dem Greis und den anderen hinüber, niemand drang nun aber an mich heran. Anton Nihad Lindbergh stand inzwischen hinter der Rezeption und bis er mich in das Foyer treten sah, untersuchte er die Falltür. Als er mich erblickte, wie wir aus dem Kapitänszimmer schritten, schien es, als wolle er mich mit wilden Gesten zu der Rezeption, der Falltür, der sich darunter befindenden Treppe und in den Keller hinabzusteigen, bewegen.

Man muss hier ehemalig sagen. Die bloße Existenz des Gebäudes, wird wohl für den Wiederaufbau nicht ausreichen. Offiziell war man wohl auch froh dieses Übel, von einem liederlichen Edel-Puff, los geworden zu sein. Froh und nüchtern wie in der Prohibition. »…um einen besonderen Raum, denn hier erlitten sowohl Angestellte, als auch Freier gleich ermaßen den Flammentod. Als konnten die beiden nicht voneinander lassen. In den anderen Zimmern hingegen – erinnern Sie sich Lilienthal? – entfernte sich die Nutte immer irgendwann und der Freier ging alleine in den Tod, währenddessen die Huren alle gemeinsam verreckten – ein schönes Kollektiv. Kollektiv Suizid.« Wo waren die toten Frauen? Wo verbargen sich ihre Körper? Wo sie sich jedoch suizidiert hatte, das war noch unbekannt, nebulöses Geheimnis und als ich mir die Aufnahmen im nachhinein mit Anton anschaute, war es mir ein Rätsel, wie ich nicht darauf drängte, zu erkunden, zu suchen, auszugraben: in welche Tiefen sie sich gestürzten hatten, welchem Leviathan sie sich geopfert hatten, welcher Behemoth sie verspeist hatte und welcher Ziz in den fernen weiten Wolken des Himmels, seine Greife öffnete, sie ergriff und zu Boden stürzte . »Und welches Motiv hatten die Frauen, die Männer umzubringen?«, schloss Rahel an. »Warum auch nicht mal einen Mord begehen, bevor man selbst stirbt? Bekanntlich ermaßen hört das Leben mit dem

Fraglos–, war ich von Rahel, wie ich die leitende Kriminalbeamtin inzwischen nannte. Fraglos, war ich sehr abgelenkt: von ihrem Geruch, der sich wie ein Teppich aus Orangenblüten und Lilliendampf hinter sie legte. Auf dem ich trunken, benommen und außerstande zu Urteilen vor Betäubung taumelte. Von dem leichten und zaghaften Nuscheln ihrer Stimme, welches mich wie Skallpelschnitte durchdrang… Wie ein Zirkusaffe folgte ich ihr und fixierte die Linse der Kamera, auf das, was mich so sehr anzog, was sie so sehr genoss. Filmender und Gefilmte, Menagé-a-trois, unglücklicher Dreier, wo die Liebe hinfällt…, ich wünschte ich könn-

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Tod auf«, wobei sie laut kichernd auflachte, sich die Hand vor den Mund hielt, mich fremdelnd an-schielte und ihrem Monolog, von dem sie selbst sehr begeistert schien, fortsetzte: »ferner ist sie auch die einzige der Damen, die wir bisher nicht als professionelle identifizieren konnten. Ganz so, als wäre sie nicht im Bordell angestellt gewesen. Womöglich gehörte sie überhaupt nicht zur Belegschaft … Aber das sind Mutmaßungen!«, rief ihre bisher gewöhnlich unabhängige und sichere Stimme, seufzend und resignierend aus und ich glaubte einen verzweifelten Unterton, zwischen den Zeilen zu hören. »Entschuldigen Sie mich verehrter Herr Oppenheimer Lilienthal!«, beinahe schluchzte die incroyable Kriminalistin. »Und besser noch, hören Sie nicht hin, wenn ich wieder abschweifend fantasiere. Ich hoffe Sie schneiden das aus Ihrem Film raus. Ist es nicht gerade heutzutage eine ungeheuerliche Leichtigkeit einen, sagen wir«, stotterte sie, »dilettantischen Eindruck zu erwecken?« »Fahren Sie fort«, erwiderte ich in einer bisher unbekannten, sicheren, zweifelsfreien und männlichen Stimmenlage und schaltete die Kamera aus. »Wissen Sie Rahel, ich brauche für die Dokumentation jeden erdenklichen Eindruck und dazu zählen auch Ihre Gedanken, als leitende Kriminalbeamtin und als…«, ruhte meine Stimme kurz, »als Mensch – als Rahel Bernstein Tschkalowa. Es muss jedes Detail genauestens kalkuliert werden, selbst wie Sie sich als leitende Kriminalbeamtin hier fühlen und zu welchen Mutmaßungen die Szenerie Sie verführt. Sie glauben ja gar nicht, was alles in meinen Filmen Verwendung findet.« Eines meiner größten Laster ist es, andere Menschen belehren zu wollen. Meist schäme ich mich danach zutiefst. Zusehends hält es mich aber nicht davon ab, in diesen altklugen belehrenden Ton, wie gegenüber Rahel, abzurutschen: »und ich sage Ihnen, so schnell Sie meinen, es Ihnen passieren kann, wie Sie es nennen: einen dilettantischen Eindruck zu erwecken. In der selben Art und Weise, können Sie in den Köpfen der Leute ebenso professionell da stehen. Es ist alles ein Frage der Drehung, Darstellung, des Rahmens und der Elaboration der Situation. Eigenen Sie sich ein fundiertes Vokabular an spezifischen Fremdenworten an und üben

Sie überall wo nur möglich zwei bis drei Fachwörter mit großer Schnauze heraus zu posaunen und schon: Sie werden es merken, nimmt man Sie für voll. Vergessen Sie meine liebe Frau nicht das heraus posaunen. Seien Sie von sich selbst überzeugt und wenn nicht möglich, dann tun sie eben so als ob. Wer, frage ich Sie, hat denn heutzutage noch eine zuverlässige Profession? Kommen Sie mir nicht mit Empirie. Ich habe das Zählen aufgegeben. Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst… Wird eine Studie publiziert ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein anderes Team von Forschern entweder einen gegenteiligen Effekt findet oder an der Reproduktion scheitert. Ich bin enttäuscht. Und die Allgemeinheit macht und tut und gehorcht brav. Zum Yoga soll man gehen. Sich gesund, am besten Gluten-frei ernähren, drei mal die Woche Sport – nichts weiter als abstruse Heilsversprechen, die von einem besseren Leben künden und was ist? Nichts ist. Es gibt dieses bessere Leben nicht. Ich kann noch so viel Gluten vermeiden, noch soviel Stressoren aus meinem Leben vertreiben, in Fitnessclubs meine Peergroup treffen und am Ende des Tages schaue ich auf meine Bilanz. Das einzige was ich merke ist, wie unglücklich ich bin. Ich kann noch so stringend und restriktiv den neu-modernen Wellness- und Lifestyleplan verfolgen, am Ende des Tages ziehe ich mir die Decke über den Kopf. Wir lassen uns ablenken von bunten Lichtern und schrillen Tönen. Stürzen von Konsumgut zu Freiheitsgrad. Haben, Haben oder Sein? Da wo Einmal eine Existenz gewesen sein könnte, steht ein großes haben, steht ein mächtiger Konsum. Ich will nicht nicht konsumieren, aber einfach Objekte in mich hinein stopfen, kann das Erleichterung verschaffen? Konnte ich denn wissen, dass ich jäh so schnell satt bin? Konnten wir denn wissen, dass wir nur verhüllen und davon laufen? Man soll positiv denken. Ich will nicht auf krampf positiv denken. Glück, Glück überall Glück. Wer dem Glücksdiktat nicht anbeterisch folgt, braucht sich nicht über Leere wundern. Ganz oben steht ein Gebot, wer glücklich sein will, der darf nicht unglücklich sein. Konnten wir denn von Langeweile wissen? Es wollen wir doch nur unterhalten werden und es richten wir uns nach dem einfachsten,

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den Stein – ist verdampft, bevor ich sagen kann, ja das ist gut. Diese Affekte, ich sage es ihnen, sind Gift. Sie wollen ein paar Motive hören? Das ist einfach: wo ich auch hinkomme, wenn ich auch treffe – es bleibt nichts. Filme machen heißt etwas beständiges schaffen und Verstand schützen. Was ich auch Gewinne, ich werde überall nur auf Feindseligkeit treffen und nicht Willkommen sein, aber je besser meine Filme sind, desto weniger kann man mich ignorieren. Deswegen muss ich arbeiten wie ein Tier und jeden Tag, einen Stein von Arbeit einen Berg von Unmöglichkeit hinauf Rollen, wie ein Derwisch um einen Berg von Arbeit tanzen. Mir darf nicht schwindelig werden, ich darf nicht aus der Drehung fallen. Wer sich dreht und dreht, immer schneller dreht, wird nicht umfallen. Und wenn dann, mache ich Filme, die provozieren. Wozu? Weil dann die Leute entscheiden müssen, man kann es nur gut oder schlecht finden, was ich mache. Wie ich alles einteile in nützlich oder nicht nützlich. Wie ich nur, Menschen teile in: mir schadhaft oder gut für mich. Sind schwarz/weiß-Denker oder aufgeklärt. Sollen die Leute, die im Kino sitzen und meinen Film schauen, entscheiden müssen: beileibe, lieben oder hassen sie mich. Die Kamera muss dein intimster Freud werden, sie ist dein ständiger Beobachter. Du musst eine Raum finden, in dem du etwas Wagen kannst. In dem du agieren kannst. Du musst alles jetzt geschehen lassen. Dich von tierischen Instinkten und animalischer Intuition leiten lassen. Es muss sich gefahrlos anfühlen. Wenn die Kamera dabei ist, kann ich jeden Raum entschärfen. Wenn die Kamera dabei ist, kann ich Hostilität, Neid und Wut, als einen Film verkaufen. Wenn die Kamera dabei ist, kann ich sagen: ihr alle wollt mir schaden, aber ich – ich will niemanden schaden, ich mache doch nur einen Film. Ich muss Ihnen sagen, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben, habe ich mich nicht verändert. Man darf nicht retouchieren. Man muss gut aussehen oder sich nicht fotografieren und Filmen lassen. Man darf kein Make-up tragen. Weil wenn, heißt das standardisieren. Wenn heißt das untergehen in einer Meer von Statisten.

sinnvollsten dafür möglichen Weg – den Punkt der geringsten Reibung. Rahel, biedern Sie sich dem Glücks-Diktat an? Vernunft ist biologische Fiktion. Wir Menschen haben unsere Konzentration gegen eine vermeintliche Freiheit eingetauscht und gegen eine Faulheit feil geboten«, sprach ich langatmig und insgesamt zu Rahles Ermutigung, meiner Befriedigung und Erhöhung meiner Selbstwirksamkeit. »Es ist, wie ein Auto mit Motorschaden auf die Autobahn führen und warten darauf, dass die scheiß Karre bei Höchstgeschwindigkeit kollabiert«, folgerte die formidable Dame ganz vorzüglich. »Es ist wie selbst diese murrende Karre sein. Sich malträtieren, schlagen, kasteien, züchtigen und den eigenen Infarkt erwarten. Haben Sie sich darüber, schon einmal Gedanken gemacht, Herr Oppenheimer?«, sagte sie, mir aufdringlich in die Augen schauend und kam einen Schritt näher an mich heran… Was ist so schlecht daran andere belehren zu wollen? Ist es die Manipulation, der Einfluss, den ich nehmen will? Ist es die Abweisung, weil man sich über mich lustig macht, wenn ich belehrend auftrete. Wahrscheinlich muss ich erst sechzig werden, um mich der Belehrung wegen nicht mehr zu schämen. Ich weiß einfach nicht, wie ich Menschen belehren soll, ohne mich über sie zu stellen. Eine Sache, die übrigens mit der Zeit und mit wachsender Qualifikation immer besser funktionierte. inen Film? So so werden Sie denken, nicht wahr Leo? Was denn für eine Dokumentation. Für was denn, für wenn denn? Ich bin seitdem wir uns das letzte mal gesehen haben, kein großer Regisseur geworden. Sicher ich hatte ein paar Features auf ein paar Festivals, habe, während ich noch als Dozent in der Filmhochschule angestellt war, einen Preis für die beste Dokumentation gewonnen, aber ich bin noch der selbe wie eh und je. Ich mochte es, in der Wut meiner Neider zu baden. Sie hätten mich sehen sollen am Tag der Verleihung. Meine Mutter hat immer gesagt, ich lache nie, von dem Tag gibt es ein Foto, auf dem ich lache, das habe ich ihr geschickt. Hier Mama, du wolltest ja nicht glauben, dass ich lachen kann. Jeder Erfolg ist ein Tropfen auf dem glühen-

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Werte und Realität schon frühzeitig ablegten, wir können konstruieren und sein – was wir wollen. Wir, die wir den roten Faden unseres Leben zerschnitten haben. Wir, die wir das Unbekannte lieben und die Herausforderung brauchen… Was, Sie können nicht alleine bleiben? Sie fürchten sich vor Einsamkeit? Ja, suhlen, wälzen Sie sich in Isolation und vergehen Sie im solituden Alleinsein, sage ich Ihnen. Ihr Charakter ist eine Petrischale – experimentieren Sie! Hören Sie mein Lachen durch die Gassen hallen? Hören Sie die Flüsse flüstern? Hören Sie die Hausdächer wispern? Hören Sie die Schlafmittel soufflieren? Es ist nicht genug. Es bleibt nichts. Was Gestern noch, als große Leistung galt, ist Heute schon Gewohnheit und Routine, und Morgen verwerflich. Wir, die wir im Morgen leben. Wir, die wir…« »Wir sind Vagabunden Im Eigenen Geist!«, schmetterte damals Rahel, diese brillante Schlussfolgerung. Wir sind Vagabunden im eigenen Geist. Dieser Satz Atanassov, hat mich vollends in mein Zerwürfnis gestürzt. Dieser Satz Leo, hat konzentriert, was ich schon lange fühlte, dachte und nicht äußern konnte. Wie oft trifft man Menschen, welche die eigenen Sätze vervollständigen können – einfach so aus Intuition. Wie oft? Du sprichst einen halben Satz, schaust auf den anderen und hoppla, hast du das Ende aus dem fremden Mund. »Wir sind Vagabunden Im Eigenen Geist!«, schmetterte damals Rahel, diese brillante Schlussfolgerung und ich musste sagen, wie durchdacht, kongenial und treffend ich das fand, was mich so sehr begeistert, dass ich abrupt und reflexartig Rahel die Stirn küssen musste. Sichtlich geschmeichelt folgerte sie: »mein Lieber Berthold, unsere Worte nützen nichts. Wir mögen uns im Geiste vereinen, doch wir bleiben Randfiguren, Ausgeschlossene und Misfits. Wer sich nicht in das Wertekorsett der Gesellschaft

Ich verrate Ihnen noch ein Geheimnis, dieses wirre Durcheinander und diese konfuse Art einen Brief zu schreiben, Geschichte zu erzählen, soll Sie, mein lieber Leser Leonard Andorra Atanassov, auf den Inhalt fokussieren – damit meine ich ganz klar, wie der gesamte Brief und Text hier, sinnbildlich und metaphorisch für einen meiner eigenen Zustände steht. Es soll Ihnen eine Einfühlung verschaffen, zu dem, was ich geworden bin. Jetzt habe ich wohl zu viel verraten, aber geschrieben ist getippt und getippt ist geschrieben. Ich sage es Ihnen: Lesen Sie nicht den Inhalt, lesen Sie die Atmosphäre. err Oppenheimer Lilienthal, kamen sie schon Einmal von empfindsamer Zweisamkeit in unendliche Einsamkeit?«, umgarnte, schmeichelte und distraktierte mich erneut ganz wunderbar Rahel Bernstein Tschkalowa, indes ich wieder einmal drohte in einen meiner endlosen Gedankengänge verloren zu gehen und unterdessen wir uns in Richtung des orientalischen Zimmers bewegten. »Verstehen sie Radikalität? Verstehen sie Kontext? Das Milieu, in dem wir uns bewegen, neigt doch sehr zur Einsamkeit. Wissen Sie, was ich meine?«, Hauchte mir die etwas zu nahe-stehende R. B. Tschkalowa ins Ohr, nimmt meine Hand und verwirrt mich. »Ach, es ist doch Unnütz«, fluchte sie entmutigt. Ihre Hand nun fester drückend, wobei sie kurz ganz entzückend erschrak, widersprach ich ihr. »Meine Liebe haben Sie nur Mut ihre Gedanken zu äußern. Das ist es, was uns vom gemeinem Mitbürger unterscheidet, der sich sein Leben, wie eine schicke Wohnung einrichten muss. Sich einige Meinungen und Anschauungen von diesem und jenem verschafft und die Konstruktionen seines Lebens sich konisch zuspitzen, er selbst, sich aber nicht verjüngt und am Ende stellt er fest; ich habe mich immer nur beschäftigt und unterdrückt. Ich bin mir selbst und mir ist das ordinäre Leben überdrüssig und sich schließlich aus Überfluss erhängt. Wir, die wir das konsistente Kostüm unserer

»(…) Ihr Charakter ist eine Petrischale – experimentieren Sie!«

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wegen Effekten und einem Verhalten denen Sie selbst unterliegen. Aber wissen Sie, lassen Sie uns, doch bitte weiterarbeiten«, ermahnte Rahel mich zur Diskretion und Konzentration.

einzwängt, der hat in ihr nichts verloren und wer sich aus seinem sozialen Kontext ausschließt, der ist verloren. Das Inkonsistente, Inkongruente und Inkohärente, das ängstigt die Menschen, sie fürchten sich davor und sie nennen es krank oder kriminell. Wenn Sie sich nicht an die Spielregeln und Rituale halten, wird man Sie in Quarantäne setzten. Man wird sie heil-fasten lassen und durch die Wüste schicken. Würden Sie denn mir trauen, wenn Ihnen mein Verhalten inkonsistent, inkongruent und inkohärent erschien? Würden Sie mir vertrauen, wenn Sie sich in mein Verhalten nicht einfühlen könnten? Herr Lilienthal, Sie scheinen mir nicht ganz und gar bescheuert zu sein, machen Sie nicht den Fehler, anderen den Prozess zu machen,

ine Frau, ganz nach ihrem Geschmack war das. Leonard, die müssen sie kennenlernen! Eine wie Lou von Salomé kokett, wach und zutraulich distanziert, aggressiv, feindselig und melancholisch, gebrochen und will dich brechen. So etwas trifft man heute selten! Sie können sich aussuchen, ob Sie den Nietzsche spielen und ich den Rée. Oder, ob wir es andersherum probieren. Aber lassen wir das mit der Heirat, das hat schon damals nicht funktioniert. Inzwischen waren wir im besagten orientalischen Zimmer angelangt und wie wir dort herumwanderten, ich auf den schwarz verrußten Perserteppich trat, das verkohlte Himmelbett berührte und zu dem merklich unversehrten Kamin hinüber schaute, da flackert wieder eine Erinnerung einer längst verflossenen und Verdrossenen, vor meinem inneren Auge auf und ich hielt mich keuchend, wenig zitternd an dem Stangengestell des Himmelbettes fest.


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Ich fühlte mich beobachtet und fehl am Platz. Auf Holz- und Steinbänken saßen im Foyer und Eingangsbereich Badehausgäste, Männer, wie Frauen in Bademäntel, Handtüchern und Tagesmänteln. Aßen und tranken kleine Speisen und Getränke. Irgendwo dazwischen eine unbesetzte Rezeption. Zwischendurch sprang mir ein Mädchen vor die Füße. Pferdeschwanz, Sommersprossen, ein Bademantel, der ihr zu groß war. Etwa neun Jahre. Dahinter Papa auf einer Steinbank, das eine auf das andere Bein geschlagen. Brille und darunter Wangen, die drohen einzufallen. Dunkel blondes Haar, das grau sein könnte, wenn Falten eine Alters- und Zeitmessung sind. Selbstgefälliger, aber besonnener Blick, wie das Selbstbewusstsein von Menschen, die eine große Krise durchlebt haben. Neben ihm saß eine Frau, der ich spontan attestierte, die Mutter zu sein. Dieselben brauen Haare wie das Mädchen. Mindestens zehn Jahre jünger, als der Vater, saß sie die Beine aneinander gedrückt und die Hände im Schoß auf der Bank und beobachtete ihr Kind, wie es mir vor die Beine springt. »Mama, wieso sieht der Mann aus wie ein Cowboy?«. Das ganze sah aus wie Familientag mit Rabatt, Discount und Stempelkarte. Was ich nicht gut kann: Leuten, die reden nicht zuhören. Ich muss zuhören, wenn sich Menschen unterhalten und ich meine damit nicht, dass ich angestrengt mich auf das fremde Gespräch konzentrieren muss, sondern ich höre es – was ich auch mache. Meinen Blick kann ich abwenden, aber wenn ich mir die Ohren nicht mit Watte vollstopfe, höre ich was die Menschen um mich herum reden, mehr noch erstellt mein Kopf in Sekunden ein detailliertes kognitives Abbild der Person. Blonde Frau, Anfang zwanzig. Blonde Brauen. Blaugrüne Augen. Kein Make-Up. Ihre Brüste hängen über ihr Handtuch und scheinen sich wohl zu fühlen. Ihre Haut vom heißen Dampf leicht gerötet. (Sie kam also aus dem Dampfbad, schloss ich.) Ein paar Sommersprossen sprenkeln ihr Gesicht. Sie hat leichte Züge eines Vogels. Im Profil meint das: Hakennasen-andeutung und bei aufgerissenen Augen schaut sie wie ein Huhn mit menschlichen Augen. Vogelmiene und Gänsemarsch. »Ich kann das nicht sehen, wenn Menschen sich verrenken, das finde ich ekelig«, sagt sie zu

Das Hamam

Die Mutter war eine sehr offene Person. Wenn zum Beispiel der Vater das ganzes Geld verzockt hatte, die Schwester und die Mutter in meinem Zimmer auf dem Bett heulend lagen, ich entschied: du wirst nicht fühlen, du wirst nicht ausbrechen, dort wo Trauer hingehört, wirst du Wut setzen. Wenn die beiden schluchzend in meinem Armen lagen, der Vater mal wieder in die Klinik gefahren ist – Shaping auffrischen, wenn das Klingen der Glocke verstummte – um seine Spielsucht zu behandeln, sprach die Mutter: du wirst nicht so, du wirst nicht so eine Art Mann und heulte. Papa, Papa bekommst du jetzt Bauchweh, wenn du einen Spielautomaten siehst? Ich erwischte meinen Vater, diesen Mann von einem Stiefvater im Treppenhaus. Vermutlich kam ich vom Spielen draußen. ›Ich bin krank‹, rief der Herr Papa zu meiner Mutter, die in meiner Zimmertür stand, als ich im Erdgeschoss unseres Hauses stand und mir die Füße abtrat und der Vater an mir vorbei flüchtete und nochmal: ›ich bin krank‹, nach oben rief, wo die Mutter in Tränen stand und ich nur dachte: ›seid nicht albern.‹ Mutter du hättest sagen sollen, ich muss ein Mann wie der Vater werden, denn jetzt will ich nichts anderes als genau das. Ich will wiederholen, ich will um jeden Preis wiederholen. Aus Interessen am Wechsel der Perspektive. Gilt es noch, wenn ich das weiß?

ch weiß eigentlich nicht mehr genau, was ich in dem türkischem Badehaus wollte. Morgenländliche Glaslaternen hier und da. Ottomanen auf denen Leute lagen. Etwa Körpertempeartur. Es riecht nach Kardamon, Schwarztee und Honig. Türkische Teppiche an den Wänden, arabesque Musik hallt aus allen Räume – mehr von überall unbestimmt her, stand ich da im Foyer in zu der Zeit für mich üblicher Klamotte: Cowboystiefel und -hut, Fliegerjacke, schwarze Pfeife, Virginia #1 Tabak rauchend, Sonnenbrille und Aktenkoffer stand ich da rum und auf irgendetwas wartete ich – vielleicht auf die Erfüllung und Erleuchtung. Da muss ich lachen, wie ich Ihnen das schreiben: Erfüllung und Erleuchtung. Lachen. Sie haben ja keine Ahnung. Cowboystiefel fand ich damals super. Richtig herzlich lachen. Ich weiß nichts, nichts weiß ich, überhaupt nichts, keine Ahnung von nichts. Ich bin stupide und einfälltig, naiv und gutgläubig, ein Trottel und Dilletant.

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lief und danach zurück in das Foyer schlenderte, welches gewissermaßen ein Aufenthaltsraum zu sein schien. Ich setzte mich zum ihm auf den Ottomanen, er sagte ich solle die Augen schließen und in mich hinein hören – das ganze war mir mehr als suspekt und ich wollte am liebsten sofort wieder das Hamam verlassen. Ich blieb und erinnere mich gut daran, wie er mir von den verschiedenen Räumen des Hauses, wie von Kunststückchen, erzählte: »zu erst müssen die Gäste sich entkleiden. Wenn du das gemacht hast«, sprach er und wechselte ständig zwischen Duzen und Siezen und den Gästen. »Dann gehen wir zurück in den Soguluku, dort bekommst du ein Glas Çay. Hast du dich an die Temperatur gewöhnt, gehen wir in den heißen Raum oder auch das Dampfzimmer, dem Hararet, wo du dich waschen kannst und eine traditionelle Massage bekommst. Anschließend gehst du in den Soguluku und kühlst dich ab. Aber nach und nach, ruhe dich erst Einmal aus.« Das Hamam war von Hause aus, ein Konglomerat aus verschiedenen Saunaeinrichtungen auf mitteleuropäische Ansprüche und Gewohnheiten zurecht geschnitten. »Aber nicht beschnitten«, sagte mein Hamam-Tourguide Abu. »Wenn Sie möchten, können Sie neben dem traditionellen türkischen Hamam-Ritual, auch eine finnische Holzsauna und ein Dampfbad besuchen, je nachdem ob du willst.« So erklärte ich mir das Publikum die vielen verschiedenen Menschen, die sich hier breit machten. Obgleich das Badehaus sehr voll war oder vielleicht genau deswegen, kam ich mir wie selten unter diesen ganzen Menschen sehr allein vor. Dass ich an dieser Stelle, wo Abu sagte, es gebe noch eine finnische Sauna und ein Dampfbad eine leichte Enttäuschung in mir aufsteigen spürte, münzte ich auf den schlichten Fakt, dass mich das ein wenig in die Realität zurückholte. »Männer sind im Koran dazu angehalten«, erklärte Abu und ich beobachte die Familie, die ich eingangs schon gesehen hatte, inzwischen saß das Mädchen auf der Bank zwischen Mama und Papa und heulte. »Sich bevor sie beten zu waschen«, setzte er fort, »daher findest du oft neben einer großen Moschee ein Hamam«, sagte Abu. »Heutzutage besuchen aber auch Frauen unser Hamam«.

einer Freundin und lacht dabei. Die Freundin ungleich der blonden, braunhaarig, harte Gesichtszüge – die Blonde war sehr weich gezeichnet, aber nicht mollig, nur verschwanden Wangenknochen in den Wangen selbst. Gespannte, nicht eingefallen, einem gespannten und nassen Tuch ähnelnde Wangen, kleinere Brüste. »Ich finde auch Wirbelsäulen ekelig«, spricht die Blonde und die Braunhaarige erwidert ein stummes nicken. »Und Herzschlag, finde ich auch schlimm. Kann ich überhaupt nicht ertragen. Ich könnte nie auf jemandes Brust liegen. Finde ich richtig widerlich, wenn die sich so aufbläst und wieder einfällt. Ekelhaft.« Meine unkomfortable Orientierungslosigkeit mit der ich dort angezogen inmitten der halbnackten Badegäste stand, wurde leidlich von einem Angestellten wahrscheinlich einem Tellak beobachtet. Dachte ich an die im Badehaus angestellten Männer, ein bisschen wusste ich was über diese Waschkultur. Freudestrahlend packte dieser Mann mich an den Schultern. »Sie sind ja noch angezogen!«, und führte mich in einen anderen Raum und in eine Nische dort, wo ich mich, hinter einem Paravan umziehen konnte. »Wir nennen diesen Raum Camekan. Willkommen im Hamam, ich heiße Abu.« »Lilienthal, erfreut.« Den Anzug zusammengelegt auf einen Stuhl, darunter die Stiefel und daneben meinen Koffer. Er reichte mir eine Art Handtuch, nannte es Pestemal und bedeutete mir, es mir um die Hüfte zu legen. Einen Turban, wie er ihn trug, musste ich mir aber nicht binden, auch die Augen schwärzte ich mir nicht – ich kam mir vor, wie in einer schlechten Kopie von Lawrence of Arabia. Ließ das Ganze aber über mich ergehen. »Dazu brauchen Sie noch ein Stück Seife aus Olivenöl und eine Messingschale, wir nennen sie Tas.« Er schickte mich unter eine Dusche damit ich meinen Alltagsstaub, wie er das nannte, von mir abwaschen konnte. Ich fühlte mich ganz wohl, was ich der angenehmen Temperatur zuschrieb. Er setzte sich unter eine Glaslaterne auf einen Ottomanen und sagte er warte hier auf. Ich fühlte mich beobachtete, wie ich Richtung Dusche

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Ich bin die Frau mit Bartwuchs, der Zwerg mit Verkrüppelung, der Siamese ohne Zwilling, der Affenmann, ich bin der ulkige, der absurde, der komische, ich bin die Zirkusnummer in Anzug und Schlips. Steht auf, ihr müsst damit klar kommen. Ich werde nicht mehr mit euch sympathisieren und wenn ihr euch beschwert, schicke ich eine Armee von mir. an army of me. Dieses ganze Brimborium, veranstalte ich damit eines klar ist: meine Rolle. Wenn ich on-top bin, geht es mir gut. Wenn sich jemand meiner annimmt, geht es mir gut. Ich kann mit diesen unsicheren Situationen nicht umgehen, deswegen spiele ich mich auf, wie ein Kind im Bälleparadies, dass nicht abgeholt wurde. »Lass uns gehen,« spricht Abu und wir bewegen uns in den nächsten Raum, dem wie er sagt: »Hararet«. Eine grobe Hitze umschlingt mich, wie Würgeschlangen. Ich huste. Dampf klettert in meine Lunge und nimmt mir den Atem, der zusehends flacher und kürzer wird. Die Badegäste schauen zu mir. Ich fixiere eine Art Tischblock in der Mitte des Raumes. Meine Sicht verschwimmt. Ich frage mich, nimmt der Dampf zu oder meine Sicht ab? Unter dem Dampf sehe ich auf dem Boden Fließen über Fließen. Dampf, der nach oben in ein Gewölbe steigt. Ich sage zu mir: etwa fünf Meter hoch und vier Meter breit. Ich taumele ein wenig. Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Dieser Herzschlag, das ist nicht normal. Mir wird schlecht. Magenschmerz. Ein Nervenziehen geht mir von der Schulter nach unten in die Arme und ich denke: Herzinfarkt. Fuck. Also doch Todkrank! Ist das Marmor?, ist mein letzter Gedanke. Und eine fremde Hand drückt mich in ein Wasserbad. Holt mich wieder hoch, der dazugehörige Fremde schaut mir ins Gesicht und drückt mich wieder ins Wasser. Große unförmige Hohlorgane und kleine Luftblasen steigen auf, entlang meines Kopfes. Ich huste Unterwasser. Ich höre dumpfe Stimmen Unterwasser und einen Moment später stoße ich mir den Kopf an einem Wasserhahn, der über dem Waschbecken angebracht ist, in das Abu mich getaucht hatte. Abu schlägt mir abermals auf den Rücken und lacht leise. »Ihr Ungläubigen habt einen Kreislauf, wie eine Blume ohne Zwiebel.« Es müssen etwa zehn Minuten vergangen

Ich wurde langsam unruhig, kann nicht so lange still sitzen – konnte ich noch nie. In der Mitte des Foyers und Sogulukus stand ein nett anzuschauender Brunnen, den ich beobachten musste, um mich abzulenken. Auf drei Ebenen plätschert Wasser. Ich will nicht unhöfflich sein und aufstehen, bevor Abu sagt, wir stehen auf. Ich will mich an seine Regeln halten. Also linse und luge ich vorsichtig, ohne dass er was merkt in die unterste Ebene des Brunnens – ich will sehen, ob da Münzen sind. Ob Menschen sich, an diesem Ort, etwas wünschen. Abu unterbricht mein Manöver und fragt mich rhetorisch: »du glaubst sicher nicht, oder?« Dabei schaute er mich und ich flüchtete mit meinen vor seinen Augen auf den Boden des Brunnens. Oft fällt es mir schwer, mich in unbekannten Situationen zurecht zu finden. Ich sage dann, das Ankommen in einer neuen Gruppe verunsichert mich, weil mir die dortige Rollenverhältnisse und vor allem meine Rolle dort, nicht sofort klar sind. Ich fühle mich dann wie ein Schauspieler, der auf die Bühne geschickt wird, ohne das Drehbuch gelesen zu haben. Ich wünschte es gebe so etwas, wie ein Drehbuch des Lebens. Abu klatschte mir auf den Rücken. »Genug ausgeruht!«, und er erhob sich, wartete höflich, bis ich es ihm gleich tat. Ich schaute mich noch einmal um, merkte eine Welle an Unruhe in mir aufsteigen. »Wie gefällt es dir hier im Hamam?«, fragte er in aller Ruhe noch immer vor dem Ottomanen stehend, von dem wir uns gerade erhoben hatten. «Du wirst dich daran gewöhnen müssen, dass ich von nun an nur noch die türkischen Bezeichnungen für unsere Räumlichkeiten und Utensilien verwende – aber dann lernst du gleich was.« Das ist ja der Grund dieser ganzen Manöver, Taschenspielertricks und Finten, die ich mir im Leben ständig ausdenken muss. Ich ziehe mir Cowboystiefel an, trage dazu Anzug, rauche Pfeife und wo immer ich zum stehen komme, platziere ich stets einen Stiefel auf dem Aktenkoffer, den ich unablässig mit mir führe – ich mache das nicht, weil es lustig ist. Wissen Sie Atanassov, ich stopfe mich wie ein Tier aus, stelle mich extraordinär dar, sehe aus wie jemand besonderes, der eine Art Uniform trägt. Ich bin ein Schausteller, der sich zur Schau stellen muss.

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entdecken, die mal nebeneinander sitzen, mal liegt einer auf dem Schoß des anderen, mal liegen andere auf kleineren Marmorsteinen und werden massiert und wieder andere sitzen neben Waschbecken und mit der Messingschale waschen sie einander. Ich habe mich inzwischen an die Hitze gewöhnt und fange an mich wohl zu fühlen. »Die Kurnas mit denen du schon Bekanntschaft hast, sind wie du siehst zum Waschen da«, flüstert er ernsthaft und zeigt zurückhaltend auf die Waschbecken. »Und weißt du auch warum wir uns auf diese Weise waschen?« Ich schüttele meinen Kopf, schaue nach links unten, drücke meine untere Lippe gegen die obere, dass letztere sich über die erstere zu stülpen beginnt, schiebe den Kopf nach hinten und mache ein Doppelkinn. »Du wirst in keinem Hamam einen Pool oder ein großes Bassins, noch eine Badewanne finden«, er machte eine Pause. »Wir finden es nicht reinlich, im eigenen Dreck zu schwimmen.« »Ich verstehe. Wozu sind diese Versteck-ecken?« »Die nennen wir Halvet und sie dienen, weniger zum verstecken, als zum Rückzug. Seit jeher, werden im Hamam auch wichtige Geschäfte erledigt. Treffen sich Menschen für Politik, Hochzeit und andere wohlüberlegte Unterfangen. Sicherlich«, hier veränderte sich seine Tonlage vom Prahlerischen ins Spöttische, »seitdem wir Familientage anbieten, findet sich dort auchPärchen, die manchmal unreie Dinge tun. Sie wissen es nicht besser. Dazu sind wir da. Ich oder einer der anderen Tellaks bringt diese Verliebten zur Raison, weißt du«, sagt er und ich bemerke, wie seine Stimme vom Spöttischen ins Abfälli-

sein, denke ich. Eine Uhr gab es im Hamam nicht. Aber meist dauern solchen Anfälle zwischen zehn und fünfzehn Minuten. »Willkommen im Hareret. Ein paar Minuten mehr im Soguluku hätten dir wohl ganz gut getan. Bist du jetzt okay?« Was ich für einen Tischblock hielt ist in Wirklichkeit die Hamam-Version einer Massageliege aus Marmor. »Dem göbek taşı«, wie Abu mein. Ich gewinne meine langsam Orientierung zurück. Dass der ganze Raum von Dampf nur so überquoll, machte mir die Sache mit der Orientierung nicht leichter – oder vielleicht auch doch, weniger Sehen heißt, weniger einordnen müssen. Ich schaue mich um und sehe: das Gewölbe über dem Marmorblock enthält Löcher, durch das Tageslicht, oder was ich dafür halte, in den Raum, wie im Zwielicht, scheint. Sieht aus wie die Nachahmung eines himmlisches Firmaments, vielleicht war ich aber auch noch verwirrt von meinem Anfall. An den Gewölbewänden des etwa Vierzig Quadratmeter messenden Hararet sind Bassins, Zweikopf große Waschbecken angebracht und trotz dessen, dass dieser Raum nicht mehr als eine kleine Halle darstellt, gibt es dank Säulen und Wandvorsprüngen überall Ecken zum Verstecken (Atanassov verzeihen Sie diesen Reim). »Setz dich erst einmal hin«, sagt Abu. »Und gewöhne dich an die Hitze und den Dampf. Ich will dir ein wenig erzählen, wo wir sind.« Wir setzen uns also gegenüber des göbek taşı, wo seinerseits zwei Badegäste auf ihm liegen und einer von beiden massiert wird und ich bemerke: der Dampf tut sein übriges um diesen Raum zu verkleinern und bei genauerem Hinsehen und Konzentration klart sich langsam meine Sicht und ich kann in den Ecken Pärchen und kleine Gruppen

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ge ging, g, vor allem all llem em bei dem dem e Worten Wor o te t n Familie Famili l e und un nd Verliebte. Ob es ihm einfach zu wider ist, dass Männer und Frauen gleich ermaßen in das Badehaus kommen oder es einen Bezug zu einem privaten Thema hat – weiß ich nicht. »Was muss ich für eine Massage tun?«, frage ich ungeduldig. »Mir bis zum ende zuhören«, sagt Abu und ihm geht ein breites Grinsen durchs Gesicht. »Du gibst mir nur die Massage, wenn ich dir zuhöre? Wofür bezahle ich dann? »Shht«, gab Abu mir Zeichen, ihm zu zuhören. »Du musst noch lernen zu ruhen.« »Im Prinzip wirst du überall in allen Ländern wo es traditionelle Hamams gibt, die selbe Bauweise finden. Wie sie seit dem elften Jahrhundert gebaut werden. In einer Zeit, wo in Kleinasien drei Kulturen aufeinander trafen«, erzählte er, unterbrach sich selbst, forderte mich auf aufzustehen, »Zeit für die Waschung.« Wir liefen zu einem der Kurnas, ich beobachtete das Treiben im Hararet, mein um die Hüften gewickeltes Pestemal, war inzwischen angenehm feucht und wohlig warm, wie alles in diesem heißen, aber nicht zu heißen Raum voller Dampf. Meine Messingschale fiel mir aus der Hand und klimperte. Verlegen hob ich sie auf und Abu ließ sich keine Verlegenheit anmerken, ich glaube er wusste nicht mal was das ist. Ich setzte mich, wie er mich anwies, auf eine Marmorbank neben dem Waschbecken und abwechseln duschte er mich heiß und kalt ab. »Heißes Wasser öffnet deine Haut und kaltes spült den Staub davon.« Am Ende wusste ich nicht mehr, war das Wasser heiß oder kalt – so unbekümmert war ich! Ich genoss, diese Rundumversorung. Ich genoss es, dass jemand sich meiner annahm und ich genoss, nicht das Gefühl zu haben etwas dafür gegenleisten zu müssen. »Seine Wurzeln findet das Hamam, wie ich schon sagte in Kleinasien«, fuhr er in seiner Geschichtsstunde fort, während er mich wusch. »Als die Seldschuken oder wie mancher sie nennt: die seldschukische Türken, das war eine Fürstendynastie, die das Reich der Großseldschuken gründeten. Welches immerhin über den Iran, Irak, Syrien, Anatolien und Teile der arabischen Halbinsel erstreckte«, unterrichtete mich Abu begeistert und klang, als würde er ein Lexikon rezitieren. »Dazu waren die Seld-

schuke k n Sunniten, Sunn n iten, das daas ist isst jetzt ab ber nicht we schuken aber weiun ter wichtig. Worum es geht ist das Hamam und Allta wie diese Badetradition ihren Weg in den Alltag Seldschu der historischen Türkei fand. Als die SeldschuByzant ken in der Schlacht von Manzikert das Byzantizehnhundertein sche Reich besiegten, das war zehnhunderteinundsiebzig«, wie er das Jahr sagte, erschien aals lebhafter Buchstabensalat vor meinem innere inneren Auge und ich wusste, wenn ich nicht einschlafe einschlafen wolle, musste ich mich konzentrieren. »Das war eine Sternstunde für die Türke Türken Anatol denn der Sieg ebnete den Weg nach Anatolien. So vermischte sich dort in Anatolien d die türkische, byzantinische und oströmische Ku Kultur der Reinigung und der Badehäuser und iin Verbindung mit der Religion, wurde daraus da das Hamam. Zunächst aber war das Hama exklus exklusiv fü nur für den Sultan und für diejenigen, die er für ein Audienzbad würdig hielt.« homoerotisc Hörte ich Abu zu und fand es homoerotisch von mir, mich auf die Massage eines Mannes zzu freuen – schob den Gedanken beiseite und hö hörDamp te weiter zu. Das war wie Seminar im Dampf. Dampfseminar mit Waschservice. »Wenn du ein Hamam baust oder beim Ba Bau d mithilfst – finanziell mithilfst.« Pause. »Bist du ein verdienter Mann. Historisch gesehen wu wurSti den aber auch private Hamams an religiöse Stiftungen angeschlossen. Das hängt natürlich, w wie Re ich dir schon gesagt habe, mit den hohen Rein Reinzusam mmen lichkeitsanforderungen des Korans zusammen. Der Prophet sagte: die Reinheit ist die Hälfte Ge ist d des Glaubens. Der Schlüssel zum Gebet die erte wieder. Ich Ic Reinheit«, sprach Abu und pausiert pausierte d dachte mir, wie wir im Hararett saßen, Abu: du liebst deine Spannungspausen. »Somit Herr Lilienthal, weißt du, wurden die Badehäuser unveräußerlich.« Es war komisch, es war merkwürdig unter normalen Umständen, hätte ich mich leidlich unwohl gefühlt. Nicht zu sagen gelangweilt, aber dort damals im Hamam eingedeckt in Wärme, Dampf und angeneh-

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die Reinlichkeit angeht, das Auszupfen der Achselhaare, kürzen des Schnurrbarts und das Abrasieren der Schamhaare.« Hier horchte ich auf. Ich bin wie ein Hund, dem man einen Knochen hinwirft, nur das in meinem Fall der Knochen Schamhaar hieß und ich mich fragten, ob damit alle Frauen nach der Fitra rasiert sind. Was soviel wie natürliche Veranlagung meint und soviel heißt wie dass ein jeder Mensch bei seiner Geburt ein Muslim ist und dem einzigen Gott ergeben sei. Gut, ich bin Atheist, aber das tut hier jetzt nichts zur Sache, wo wir über Frauen ohne Schamhaar sprechen. Für eine Frau ohne Schamhaar kann ich auch schnell an Gott, Allah oder JHWH glauben. »Das Hamam ist ein Ort der kosmetischen Pflege. Das Schrubben mit dem Kese dient übrigens dazu abgestorbene Hautzellen zu entfernen. Ah! Schau mal!«, ruft er leise aus. »Der göbek taşı ist frei. Zeit für eine traditionelle Massage!« Wir erheben uns und laufen, schieben uns mehr durch den Dampf Richtung Nabelstein. Ich sträube mich zunächst, mich auf den Stein aus Marmor zu legen, er ist aber ganz warm und nicht zu heiß. Abu fängt mit meinen Schultern an und arbeitet sich meinen Rücken entlang. Er streckt meine Muskeln und bringt sie wieder zum fallen. Dehnt meine Sehnen und entspannt sie wieder. Er weiß was er tut. Aber das war mir auch schon vorher klar, wenn jemand sich mit so einem gesunden Selbstbewusstsein bewegt. Zum ersten Mal seit langem fühle ich mich entspannt. Kann tief ein und ausatmen und merke wie sich Verspannungen in meiner Schulter langsam lösen. Ich schließe die Augen und beginne sofort Bilder zu sehen, kurze hypnagogische Träume, nicht wissen wo ist hier, nicht wissen: ist das Traum?, taumele ich zwischen Bewusstseinszuständen. Ich glaube mein lieber Atanassov sie erinnern sich an den Tag, als ich in das Bordell fuhr und auf meiner Fensterbank einschlief. Als ich merke, dass Abu's Hände aufhörten mich zu massieren, wache ich mehr oder minder auf, drehe mich zum ihm, sehe seinen Rücken und davor stehen drei Frauen. Soweit ich das damals im Hamam beurteilen konnte. Dieser ganze Leibes-Genuss hatte mich ordentlich benebelt. Schemenhaft sehe ich Abu der zu erst die Frau

me Gerüche, genoss ich geradezu diese seichte Unterhaltung. »Die Verbindung mit dem Religiösen war für das Hamam ein Segen, im wahrsten Sinne des Wortes.« »Ist Segen nicht ein christliches Wort?« »Es ist ein deutsches Wort«, sagte er kopfschüttelnd. »Selbst in großen Sanierungswellen – du wirst lachen, aber Gentrifikation gab es auch schon im alten Konstantinopel – der Altstadt und dem Einzug westlicher Badezimmer in die Wohnungen der damaligen Bevölkerung Konstantinopels, ab dem zwanzigsten Jahrhundert und dem Ausbleiben der gehobenen Kundschaft, konnte sich die Tradition des Hamam behaupten um mal nur von Istanbul zu sprechen. Und heute du siehst es ja selbst«, er pausierte wieder, schaute mich an und ich bemerkte, das Du hatte er sich nun gänzlich angewöhnt. »Ist das Hamam eines der beliebtesten Wellness Konsumgütern«, er hatte seine Schwierigkeiten beim Wort: Wellness und ich dachte, das ist ja auch Feindssprache. »Die Waschung ist nun vorbei. Wie fühlst du dich?« »Ganz gut«, sagte ich und muss dazu sagen, ich weiß nie, was ich auf die Frage antworten soll. Entweder ich rede irgendeinen Depressivenmisscheiß oder schäume über vor manischen Bekundungen. ›Mir! Geht! Es! Spitze! Danke! Der! Nachfrage!‹. Deswegen habe ich mich auf diese euthym wirkende: Ganz gut, eingeschossen. »Die Abdest allerdings«, sprach Abu in gewohnter Dozentenstimme, mit übrigens leichten Dialekt, aber das ist ja klar nicht? Das gehört zum Orient-Flair. Türke mit Dialekt, ist zwar hier aufgewachsen, deutsch ist seine erste oder zweite Muttersprache, aber trotzdem, man stellt sich ihn mit Akzent vor. »Die Abdest«, wiederholte sich Abu, legt die Tas beiseite und stülpte sich einen Handschuh aus Ziegenhaar über die Hand und fuhr mir damit über die Haut. »Die rituelle Waschung fand nicht nur vor dem Gebet statt, sondern auch vor einer Hochzeit oder der Beschneidung der Jungen, die wie du vielleicht weißt nach der Fitra zu den fünf Dingen gehört.« Ich fragte mich, ob eigentlich alle Hamambesucher eine Hamamseminar für ihr Geld bekommen. »Noch dazu gehört, das Schneiden der Fuß- und Zehnägel, der Prophet hat sehr genaue Angaben gemacht, was

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in der Mitte begrüßt und zwar mit einem Kuss links und einem rechts und dann die sie flankierenden Frauen, aber deutlich höflicher und ohne Kuss. Abu bitte mich aufzustehen. Ich setze mich an den Rand des Nabelstein, springe aber doch ab, wie von einer Klippe und stehe vor den drei Frauen und neben Abu, der zwischen uns steht. »Ich darf dir meine Cousine vorstellen…Herr Lilienthal ist ein besonders ehrenwerter Gast…« Fetzen, ich kann mich nur an verbale Fetzen dieser Vorstellung erinnern. So gelangte auch der Name seiner Cousine nicht in mein Langzeitgedächtnis. Ich sollte ihn aber später erfahren. Mit je einer streng schauenden Frau an der Seite, stand mir die nach Hidschāb-Vorschriften gekleidete Unbekannte zu einem ersten Male gegenüber. Begrüßte mich mit einem leichten Knicks, senkte den Kopf, ließ mich jedoch nicht aus den Augen und deutete an, mir ihre Hand geben zu wollen. Ich, der ihr trottelig und eu-

struktur, dass sie auf transparenten Tücher, die ihrerseits auf schwarzen transparenten Tüchern lagen, trug. Soviel Kontrast hat zuweilen eine lähmende Wirkung auf mich. Ich fragte mich auch, wenn mein Pestemal schon triefend nass war, was ist dann mit deiner Kleidung. Gedanken, die einem die Zeit ruinieren. Abu bittet mich zurück auf den Stein. Die Frauen mit Abu's Cousine in der Mitte ziehen weiter und aus meinem Blickfeld. Der Stein ist heiß, aber nicht zu heiß. Das Pestemal um meine Hüften kühlt mich ab. Meine Augen sind offen und ich sehe nichts, denn Dampf, aufsteigendes Wasser und Schemen von Menschen bewegen sich geisterhaft im Hararet. Ich schließe die Augen. Und es ist, als würden meine geschlossenen Augen nach dieser Unbekannten suchen. Es ist als würden sie durch das Hararet das Dampfzimmer wandern, an den Waschbecken an der Wand entlang, unter jeder Messingschale schauen, hinter jede Säulen treten und Halvet nach Halvet durchsuchen. Zu einem aller ersten Mal, haen meine Augen ihre Pupillen erblit. Eine Ahnung überkam mi damals auf dem Nabelstein liegend. Eine Idee besli mi. Heute na drei Jahren und heute na diesen drei Jahren, die i größtenteils mit Intellektualisierungen verbrate, mane würden Denken sagen, i nenne es Lösungsstrategie, Kunstgriff, Kraakt und Abwehrmeanismus. Heute weiß i ein düsteres Ziehen und ein dunkles Treiben meines Geistes, hat si an diesem Tag, die Augen gerieben und ist über die nästen Monate, seit aus einem Winterslaf erwat.  I   Augen und rieb sie mir. I sute das Hararet ab und konnte weder Abu no jemand anders entdeen. Stand auf, ritete mein Pestemal, dass si leidli versobene hae. Hüstele, räusperte mi, klopfte mir auf die Brust. Atmete tief ein. Vergrub mein Gesit in den Händen. Wiste mit den Händen dur mein Gesit. Drüte auf meine Augen. Und mate mi auf, in Ritung Soguluku, dem Raum zu abkühlen und Tee trinken.  Ich hatte mein Zeitgefühl verloren. Im Hamam gab es keine Uhren und meine Armbanduhr hatte ich im Camekan liegen lassen. Selten hatte

Soviel Kontrast hat zuweilen eine lähmende Wirkung auf mich. ropäisch die Flosse entgegenstreckte, wunderte sich leidlich, als sie; kaum hatten sich unsere Finger flüchtig berührt, unverhofft und ungeahnt ihre Hand mit den schwarzen Fingerspitzen jäh in die schwarzen Tücher ihres Tschadors zurückzog. Es schmunzelten und lachten Abu und die beiden Frauen leise über mich, der ich noch immer im Dampfzimmer von einem Malheur zum nächsten Faux-pas aus naiver Unwissenheit taumelte. Beinahe Verlegen schaute sie mich aus ihren Tüchern über Tüchern an, wenn sie denn je so etwas wie Verlegenheit zugelassen hätte. Aus diesem mit Schminke eingekleideten Gesicht, wie eine zweite Maskierung, den schwarz umrandeten tiefbraunen Pupillen und gestreckten Wimpern. Ich hatte das Gefühl, sie würde nicht einmal blinzeln und wusste nicht ob mich auf ihr Gesicht konzentrieren sollte oder auf diese Perlenkette mehr dieses Collier aus Muschel-

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von einem verlangen, das ganze Leben und mehr(!) auf sie auszurichten, seien es nun Ärzte, Juristen, Journalisten oder sei es das Filmgeschäft überall wo es um Leben und Tod und Geld geht, ist eine Woche von vierzig Stunden gerade mal die hälfte der Arbeitszeit. Das macht nichts. Das ist in Ordnung. Man weiß ja wofür man's macht oder auch nicht. Man macht's, weil man es macht. Oft ist die Verausgabung hoch und die monetäre, reputative und affektive Vergütung gering, das heißt dann Gratifikationskrise und ist ein Wegbereiter in Richtung Burn-out, daher wusste ich auch, wie ich im Hararet die Hitze, die Waschung und Massge genoss, ich musste etwas an diesem Leben ändern, um nicht geradewegs in eine große Krise zu schlittern. Ich dachte diese Gedanken mit Blick auf den göbek taşı, dem Marmorblock inmitten des Hitzeraumes und es waren keine Gedanken von Reue. Ich drehte mich und verließ das Dampfzimmer endgültig, kam im Soguluku an und stellte fest: inzwischen waren die meisten Badehausgäste gegangen, die beiden Frauen die Blonde und Braunhaarige waren die letzten ohne mich gewesen. Die Familie mit dem Mädchen, waren nachdem das Mädchen nicht aufhörte zu heulen und lauter zu werden auch gegangen und dabei sehr geschickt nicht auf das Kind eingegangen. Abu saß auf dem Ottomanen und winkte mir zu. Ich war der letzte Gast im Badehaus und wartete bis man mir sagte, ich solle gehen. Setzte mich neben Abu, sank in den Ottomanen und setzte ein selten zufriedenes Gesicht auf. »Dir gefällt es hier, nicht?« »Schon«, ich war es gewöhnt lakonisch zu antworten. »Ich wollte dir ein Angebot machen.« »Aber?« »Du bist nicht interessiert.« »Das weißt du woher?« »Traue keinem Mann, der in einem Wort, statt in einem Satz antwortet. Altes Sprichwort.« »Du weißt aber viel.« »Du mochtest meine Cousine.« »Das hast du gesehen.« »Wenn du Sie wiedersehen willst…« »Höre ich dir besser zu?« »Du hast einen schnellen Kopf.« »Also?« »Und nun wirst du ungeduldig.«

ich mich so unbeschwert gefühlt, selten hatte ich diesen Zwang von Alltag-Organisieren einfach vergessen, selten hatte ich mich so wohl gefühlt – wie hier. Ich lief die letzten Meter im Dampfzimmer und genoss den Dampf. Innerlich musste ich über mich lachen, wie ich panisch flach atmete, als ich anfänglich in diesen Raum geführt wur-

de. Jetzt kann ich mir nichts anderes vorstellen, als hier zu sein, zu sitzen und zu genießen, ungewiss wie spät es ist, ungewiss was ich noch tun und arbeiten muss – gewiss, dass ich etwas in meinem Leben ändern musste. Ich war wie viele meiner Kollegen ein reines Arbeitstier, alles für den Job. Es gibt einfach verschiedene Berufsgruppen, die wenn man ihnen angehören will,

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»Abu, du bist ein ganz hervorragender Beobachter.« »Sarkasmus macht dich noch schwächer, deswegen antwortest du in einem Wort. Du kennst deine Schwächen – immerhin.« Er machte eine Pause. »Komm morgen wieder und vielleicht sage ich dir dann mehr.« Er hatte mich. Die Versuche mir nichts anmerken zu lassen: sinnlos und umsonst. Ich ging in den Camekan zog mich um, stand wieder in Cowboy Stiefel, -hut, in Anzug mit schwarzen Aktenkoffer vor Abu und verabschiedete mich. Verließ das Hammam über das Foyer und fand mich auf der Straße vor dem Badehaus wieder. Früher Abend. Mir gegenüber im Café ein Mann. T-Shirt, Bauch über dem Gürtel, Baseballcap, Brille und vor ihm ein Stapel Leinwände etwa sieben zählte ich im Vorbeigehen, Größen von dreißig mal dreißig bis fünfundvierzig mal vierzig. So wie es mir schien, mit einer Schnur die aussah wie der Gürtel eines Morgenmantels zum einem hübschen Bündel zusammen gebunden. Nett ein Gleichgesinnter dachte ich erst, dann retrospektiv projizierte mein Kopf mir auf die Retina ins Sehzentrum: überall Farbspritzer und Nasen an den Seiten des Rahmens, dazu waren die Leinwände gekauft und zwar die billigen, das erkennt man an flachen Rahmen und dem Plastik was Leinwandstoff sein soll. Man muss aufpassen. Man darf sich nicht mit Dilettanten verbünden.

Im Hamam Das ist nur eine andere Versionen der Wahrheit. – Directors Cut

eute im Arbeitszimmer sitzend und Ihren Brief schreibend will ich meinen und bestreiten Herr Atanassov, ich weiß nicht wann ich das letzte mal meine Wohnung verließ – da sehen Sie was ich Ihnen opfere! Aber auch gemütlich genüsslich eine Pfeife nach der anderen schmauche und heute Abend mal nicht Roten oder Weißen dazu trinke – ich habe gehört die Haare fallen davon aus… Sondern etwas Tabouleh, ein paar Dolmas, eine Tonschüssel voll mit Baba Ganoush, gesalzenem Joghurt, Weintrauben, gezuckerte und ungesüßte Datteln, getrocknete und frische Feigen und andere levantische Kostbakeiten in Erinnerungen schwelgend und sehnsüchtelnd konsumiere. Ich nenne das den künstlichen Proust-Effekt – bei weitem es bewirkt nicht die selbe Überraschung. Was will man machen, wenn Gegenwart und Zukunft nicht unbedingt das beste Stück Gebäck in der Backwarenauslage sind. Ich konnte die Suppe einfach nicht mehr sehen. Sie merken es, Köstlichkeiten gestohlen aus den Ländern unter dem Halbmond, aber Sie wissen noch nicht, worauf ich sie vorbereiten will. Ich habe übrigens gemerkt, wer immer nur in seiner Wohnung ist und arbeitet wie ich es gewohnt bin zu tun, sei es nun an Szenen, Drehbüchern, Filmen, Manuskripten, Berichten, Briefen, Collagen, Leinwänden oder dergleichen… da fällt mir auf, Sie wissen noch gar nicht, was ich gegenwärtig den ganzen Tag so mache. Seien Sie nicht so schüchtern, fragen Sie mich einfach! Was ich übrigens bemerkt habe. Jemand wie ich, der nur arbeitet, nach Hause fährt und weiter für sich arbeitet, der braucht sich über Einsamkeit und Isolation nicht wundern. Verbindungen entstehen durch Zufall und Gelegenheit und sind keineswegs notwendiges und schicksalhaftes aufeinander Treffen zweier für einander bestimmte Personen. Eine ernüchternde Erkenntnis. Die Woche besteht aus hundertachtundsechzig Stunden, machen sie was dar-

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aus!

ließ für einen Moment von meinen Verspannungen ab. »Heutzutage würde man sagen: sie begriffen es als Chance. Als die Osmanen den Rückzug angetreten hatten, erneuerten, aber vor allem verstärkten und verbesserten die Wiener ihre Stadtmauern. Sie errichteten ein ausgeklügeltes System aus gestaffelten Wällen und schrägen Mauern, die so kaum Angriffsfläche für die mächtige osmanische Artillerie boten. Und ich muss dir sagen«, Pause. Abu der Meister der Pausen. »Die Sultane besaßen die gefürchtetsten und gefährlichsten Kanonen der gesamten Welt. Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts brachten sie sogar die Wälle Konstantinopels zum Einsturz.« Er bat mich aufzustehen, ich setzte mich auf die Kante des Nabelsteins und wusste er war noch nicht fertig. »Zweihundert Jahre Später konnten selbst die großartigen Geschütze Kara Mustafa Paschas nichts gegen die erneuerte Befestigung Wiens ausrichten. Ein Freudenschrei und Glückstaumel ging durch die ausgehungerte, gebeutelte und ausgemergelte Stadt. Die Wochenlange Belagerung stagnierte. Doch war der osmanische Oberbefehlshaber noch nicht am Ende. Er schickte seine Mineure, Tunnel unter die Stadt zu graben. Pures Glück half den Wienern ein weiteres Mal, als sie davon erfuhren und einen Trupp Männer mit den einfachsten aber wirkungsvollsten Gerätschaften losschickten. Sie hatten eine Art Tierhaut bespannten Zylinder dabei, so etwas wie eine Trommel und auf diese Trommel legten sie getrocknete Kichererbsen. Waren sie in der Nähe der osmanischen Mineure, sprangen die Kichererbsen von den Tunnelarbeiten leicht nach oben. In letzter Sekunde gruben sich die Wiener in einen vermeintlichen Sprengungsschacht und verhindert den Einsturz der Mauer. Solche und weitere erfolgreiche Abwehrmanöver verschafften der Stadt die nötige Zeit die verbündete heilige Liga um Hilfe zu bitten.« Ich sprang vom Nabelstein. Ich wusste inzwischen intutitv wann Abu's Geschichten ihr Enden fanden. »Die Armee«, sprach er, »die Armee unter der Führung des polnischen Königs überraschte und überrannte die osmanische Belagerung und Kara Mustafa Pascha musste fliehen. Wer weiß ob wir heute hier so säßen. Übrigens hatten die beiden Belagerungen Wiens noch eine ganz an-

n den folgenden Tagen ging ich immer wieder dorthin. Eine Art Sucht hatte Besitz von mir ergriffen und dabei dachte, das so etwas überhaupt nicht möglich sei. Schleichend gewöhnte ich mich an meinen täglichen Gang ins Badehaus. Ich merkte überhaupt nicht, wie ich mehr und mehr dieses Dampfhaus in meinen Alltag integrierte, besser wie ich meinen Alltag in das Hamam assimilierte. Immer mehr Stunden dort verbrachte, nie satt wurde und wie nach einer Droge nach mehr und härterem Stoff gierte. Confessions of an bath-house guest, eine Adaption von Berthold O.(-ton) Lilienthal, hiermit präsentiere ich Ihnen, geneigter Leser, zur Durchsicht, zum Report eine bemerkenswerte Episode meines Lebens. Mitunter mag es kein besonders interessanter Bericht sein, aber wohl zu einem erwähnenswerten Ausmaß nützlich und lehrreich… Lassen wir das. Am Abend des zweiten Tages, hatte Abu mir noch immer nicht gesagt, was er mir für ein Angebot machen wolle. Wir waren im Dampfzimmer, ich wurde massiert und Abu erzählte seine Geschichten. Inzwischen standen die Türken zum zweiten Mal vor Wien. Aus dem Dampfseminar wurde wahrhafte Geschichtsstunden und Abu, war ein großartiger Erzähler. Wenn er erzählte und massierte und ich dabei meine Augen schloss konnte ich sehen, wie: Dreck, Sand und Stein beiderseits von den Wänden fällt. Zwei Truppen von Männern gruben Schächte und Tunnel unter die Befestigung der Hauptstadt des heiligen römisches Reiches. Die einen Mineure Kara Mustafa Paschers, der den Befehl gab die Stadt von unten her zu sprengen. Die Anderen: Verteidiger Wiens, graben, schaben und tragen Erde, Dreck und Sand gegen die Zeit ab, gegen die Osmanen gegen die Sprengung, gegen den Fall Wiens. »Die waren nicht dumm. Wien hatte dazu gelernt. Als Fünfzehnhundertundneunundzwanzig Suleiman die Stadt belagerte und es ehrlich gesagt schlecht um sie stand, hatten die Glück, pures Glück, denn es schneite bereits im Oktober«, erzählte Abu und knetete meinen Rücken. »Sicherlich deuteten die Habsburger das als ein Zeichen Gottes, aber sie verließen sich nicht auf diesen Gott«, hob Abu seinen Zeigefinger und

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hinten fallen ließ. Er hatte angenommen. Pause. Abu's Spezialität. Jetzt richtete er sie gegen mich und mein Schweigen. Ich ließ mich zu ihm fallen, dass wir einander nicht ansehen konnten. Beide in den Brunnen in Raumes Mitte guckten. »Du willst wissen, was meine schlechten Sehnsüchte sind«, bereite Abu seinen Angriff vor, »aber du fragst mich: an was ich denke, wenn ich schlechte Sehnsüchte sage.« Treffer. Fuck. Contenance und Konzentration Lilienthal, sagte ich mir in den Brunnen schauend, aber nicht meine Haltung verändernd – das wäre Abu ein Hinweis gewesen. »Das ist einfach«, Abu erneut am Ball, »ich denke an«, er bereitet seinen Aufschlag vor, dreht den Tennisschläger, rollte den Ball in der Hand auf und ab, blickt von Ball zu Schläger, wirft den Ball in die Luft, holt aus und sagt: »Schokolade. Eine schlechte Sehnsucht ist zu viel Schokolade essen.« Ein gelber Ball rast auf mich zu. Ich hatte bisher in der Ecke gestanden – too cool for school. »Du möchtest also, dass ich dir direkte Fragen stelle«, sagte ich und hob absichtlich nicht die Stimme am Ende zur Frage. Pause. In dem Moment dachte ich, das war gewagt von mir. Zu gewagt wie sich im nächsten Satz Abu's herausstellte. »Nein. Ich möchte dass du ein guter Badegast bist und dich hier wohlfühlst«, damit erhob er sich vom Ottomanen, ließ mich wie Kara Mustafa Pascha auf dem Ottomanen zurück – ohne dass ich flüchten konnte. Und ohne mich anzuschauen sagte er: »Die Frau eines Freundes zu begehren, davon spreche ich.« Ich konnte sehen, wie sich sein Gesicht zu einer Faust ballte. »Eine Frau zum Ehebruch zu verführen und ihre Familie in den Dreck zu ziehen, das ist eine schlechte Sehnsucht« und er ging und ließ sich an diesem Abend nicht mehr blicken. Ich weiß nicht ob es Zufall war. Ich weiß nicht, ob überhaupt irgendetwas in diesem Hamam Zufall war. Ich weiß nicht, ob Abu's Cousine zufällig mir gegenüber saß, flankiert von ihren Anstandsdamen. Hinter dem Brunnen. Ich weiß nicht, hatte sie uns gesehen. Hatte sie mich mit ihrem Cousin diskutieren sehen. Hatte sie mich verlieren sehen. Ich weiß es nicht. Aber immer wieder suchten ihre Blicke meine Augen oder meine Augen suchten ständig ihre Augen. Die-

dere Auswirkung auf Europa. Es heißt nämlich, ohne Türken keine Reformation.« Wissen Sie Herr Atanassov ich bin ein Mann, der ständig unter Druck steht, der ständig beweisen muss, dass er zu etwas Nutze ist. Ich bin wie ein Bergbauarbeiter, der nie aufhören darf zu graben. Sie können sich vorstellen, wie ich es genoss, mal nicht bestimmen zu müssen. Wie ich es mochte, dass es dort einen Menschen gab, der mir Richtung und Weisung gab und dem ich das vor allem abnahm. Abu in Pestemal, Turban und schwarz umrandeten Augen, in seinem Element. Das war wie eine brüderliche Version von Scheherazade und dem persischen König Schahrayâr. Ich wollte ihn nicht drängen, was das Angebot anging und so sagte ich auch am Ende des dritten Abends nichts, sondern hörte ihm zu. »Herr Lilienthal, du musst Granatapfel essen.« »Wozu?« »Der Prophet hat gesagt, wer Granatäpfel isst, der wird vierzig Tage nicht von seinen schlechten Sehnsüchten heimgesucht.« »Abu, an was denkst du, wenn du schlechte Sehnsüchte sagst?«, fragte ich frech und legte mich zurück in den Ottomanen und war gespannt auf seine Antwort. »Siehst du Lilienthal, das Badehaus bekommt dir. Hier wirst du zum Sophist!« Ein Kunstgriff dachte ich und dachte auch an die achtunddreißig Kunstgriffe Schopenhauers. Und entschied mich für einen, der in der Kunst Recht zu behalten nicht aufgeführt war: Schweigen. Niemand sollte jemals das Schweigen unterschätzen. Aber man muss auch schweigen können. Man muss den anderen subtil gerade dazu drängen zu sprechen. Schweigen ist wie eine Unterwerfung in Sachen zuhören. Abu lachte, beugte sich wie zum Sprung nach vorne, drehte sich zu mir um. Ich starrte ihn an. Und schwieg. Er lachte noch einmal. Ich dachte mir, er wird gleich aufspringen und mir etwas zeigen wollen und ich wusste, würde ich ihm nicht zuvor kommen, hätte ich diesen Punkt verloren. »An was denkst du Abu?« Spiel, Satz und Sieg, so einfach war es nicht. Ich saß auf der Kante nach vorne gebeugt und nun war es Abu der sich langsam bedächtig nach

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Künstler, der jeden seiner Träume aufschrieb, um sie zu irgendetwas zu machen, zu formen und aus ihnen ein Werk, wie Saft aus trockenen Limonen, herauszupressen. Nein, nein, ich brauchte die Träume, mein Geist brauchte die Träume um arbeitsfähig zu bleiben. Wie ein unterbewusstes Büro, das in mir aufräumt und die guten von den schlechten Ideen filtert und säubert. Träume sind eine Art Sieb für mich und gleichzeitig eine Art Kino in dem meine Ideen für Filme und Geschichten vorab laufen, eine Sneak-Preview, mir unbekannter eigener Ideen. Die Ungeduld, mich im Hararet an diesem Nachmittag nicht in Träume fallen zu lassen wuchs und wuchs über mich hinaus. Ich schob den Tellak beiseite (beileibe, bei Abu hätte ich mich mehr angestrengt). Schüttelte mich. Seufzte unzufrieden und sperrte meine Augen auf, blickte in die Pupillen Abu's Cousine. Erschrak. Ließ mir nichts anmerken, denn wenn überhaupt mehrfaches Blinzeln. Sofort dachte ich, sie wäre mir gefolgt und meine auch: in diesem Moment hat sich ihr Blick verändert. Ich sage davor, hat sie mich neutral, normal – weder interessiert noch desinteressiert angeschaut, aber in diesem Moment, wo sich unsere Blicken im Hararet trafen, spürte ich einerseits einen großen Widerwillen in mir aufsteigen und anderseits hatte ich das Gefühl, etwas würde mich regelrecht zur ihr drücken, eine Gravitation zwischen Menschen. Es wurde Abend. Ich zog mich im Camekan an. Wieder war ein Tag im Hamam vergangen. Ich knöpfte meinen obersten Hemdknopf zu. Seufzte zufrieden. Legte meine Uhr an. Verl ieß den Entkleidungs- und Ankleidungsraum. Die unbekannte, die fremde, die Cousine Abu's hatte es sich auf einem Ottomanen im Soguluku gemütlich gemacht. Ich lief an ihr, Richtung Ausgang, vorbei – nicht ohne einen Blick auf sie zu werfen. Nicht ohne, dass sie diesen Blick erwiderte, wir beide betreten zu Boden starrten, den Kopf und Blick wieder erhoben, unsere Augen sich wie angezogen aufeinandertrafen. Wir abermals und instinktiv diesen Blick mieden, beide woanders hinschauten um uns wieder anzuschauen – mir zehn Sekunden wie eine Stunde im Traum vorkamen. Ich hörte die Tür des Badehauses hinter mir ins Schloss fallen und stand wieder auf der Straße. Das schönste war, ich fühlte mich wohl

ses einzige ihrer Körperteile, dass man sehen konnte, war denn nicht der Rest ihrer Erscheinung nach Hidschāb-Vorschriften verhüllt und versteckt egal wo sie war. Egal wo sie war, folgte ihr ein schwarzer Schleier, wie ein habhafter Schatten. Nichts sagend trinken die beiden Frauen Çay. Nichts sagend sitzt die Unbekannte in der Mitte. Und ich kann nichts weiter tun, als betreten zu nicken und zu flüchten, und zwar ins Hararet.

Der Junkie braucht Geld für Stoff und Stoff braucht er für den Kick.

Ich stand im Dampfzimmer und setzte mich neben einen Kurnas, dem Waschbecken, füllte meine Messingschale und goss mir kaltes Wasser über den Kopf. Einer der Tellaks kam zu mir, begrüßte mich freundlich und wies mich auf dem Nabelstein Platz zu nehmen. Ich schloss die Augen und stellte mich auf Tagträume ein. Wasserdampf kondensierte an den Wänden und tropfte auf die Fließen. Ich hörte leise Gespräche aus allen Ecken und all die Geräusch, die flüchtigen Töne schepperten mir geradezu in den Ohren. Unnütz der Versuch mich in hypnagogische Träume fallen lassen. »Versuch dich zu entspannen«, sagte der Tellak zu mir und drückte meine Schulter nach unten, die kurzerhand in einem Satz zurück nach oben schnellten, wie eine Aufzugsfeder im Uhrwerk. Ich war leidlich unruhig und nicht zur Raison zu bringen, aber genügend geduldig um nicht die Augen aufzureißen und meinem Versuch in Traumbilder zu entkommen vorzeitig zu beenden. Der Junkie braucht Geld für Stoff und Stoff braucht er für den Kick. Wissen Sie warum ich diese ganze Hamamchose veranstaltete? Der Träume wegen. Das Hamam war ein Ort an dem ich Träumen konnte. Gewiss ermaßen kann ich also behaupten, ich war zu der Zeit abhängig von mir selbst, nämlich meinen eigenen und privaten Träumen. Es ist eine Milchmädchenrechnung, keine Träume kein Schaffen. Nicht dass Sie denken, ich wäre einer dieser verkorksten

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danach. Es war nicht so, dass ich sofort zurück wollte oder musste im Gegenteil ich war satt– wie noch nie zufuhr in meinem Leben. Ein Schaumweinkorken ploppt und springt durch eine Küche. Im Aschenbecher glimmt eine schmale Zigarre. Auf dem Plattenspieler dreht sich routiniert eine Schallplatte. Schleier von Rauch legen sich in Schichten über das Interior des Raumes und am Küchentisch sitzt ein Mann, der eifrig in die Tasten einer Schreibmaschine tippt. Ein tagheller Sommernachtstraum. Duft von wilden Stiefmütterchen weht in das Fenster hinein. Süß wie Nektar. Süß wie Morgentau. Süß ein Tropfen Honig auf der Zungenspitze. Ich weiß nicht mehr, was ich da tippte, es spielt keine Rolle. Vielleicht eine Ode an verzwickte Liebesgeschichten. Was eine Rolle spielt, fragen Sie sich Herr Atanassov? Diese Stimmung: weinselig und rauchend springen Finger in die Tasten, wie Schwimmer ins Becken. Wozu auch ein Publikum fragen, ob das was man da tippte gefällt oder ob man es für einen Traum halten soll. Wenn Sie mich fragen – alles ist irgendwo Traum. Die erste Woche im Hamam, täglich dort nie mehr woanders sein, war mir wie im Flug vergangen. Ich hatte mir diese ekelhafte Masche angelegt von Menschen, die in ein Lokal kommen und lautstark den Kellner begrüßen, damit alle anderen hören, man ist hier vertraut mit dem Personal. Gut es gehend, prägte ich mir die Begriffe des Hamams ein. Ertappte mich, als ich dieses Fachsimpeln mit anderen Badegästen mochte. Ich lernte Camekan, Soguluku, Hararet, Tas, Pestemal und viele andere Bezeichnungen wie Vokabeln einer Fremdsprachen – vielleicht um von Abu und den anderen Ernst genommen zu werden. It's like learning a new language.

nicht meine Zeit totschlagen. Ich muss diesen Sommertag nicht blind genießen, denn ich laufe ins Hamam. Ich laufe in eine echte unwirkliche Welt meiner Träume. Niemand dieser Menschen draußen vor der Tür, weiß was: in Träumen verschwinden heißt. Als ich im Hamam ankomme, sehe ich die Eingangstür aufgebrochen und eine Reihe von Polizisten steht daneben, wie untalentierte Statisten. Überall lagen Glassplitter, denn der oder die Einbrecher hatten zuerst versucht durch das Fenster einzubrechen und dann festgestellt, dass sie von innen her – was ich übrigens für bloßen Schmuck hielt – vergittert waren. Scherben über Scherben lagen vor meinem Tor in die Glückseligkeit und ich fühlte eine seltene Wut mich durchströmen. Jemand hatte einen Angriff auf mich gestartet. Jemand hatte mein Glück torpediert, dachte ich. »Ich muss aber hier rein!«, schrie ich die Polizisten an. »Wie Sie sehen können, ist das nicht möglich«, antwortete einer der Polizisten. »Ich muss aber hier rein!«, wiederholte ich und schlug die Zähne aufeinander. »Es ist ja schön«, machte sich ein Beamter über mich lustig, »dass Ihnen Ihre Sauberkeit so sehr am Herzen liegt, leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie sich für Heute ein anderes Bad suchen müssen.« Woraufhin die Truppe laut loslachte. »Baden Sie doch mal zuhause«, rief ein anderer. »Obdachlos sehen Sie ja nicht aus«, ein weiterer. Ich war im Begriff umzudrehen. Was heißt im Begriff, ich war umgedreht und lief gesenkten Hauptes die Treppe des Hamams nach unten und hörte eine Stimme zu den Polizisten sagen: »es ist okay. Er kann rein.« Höhnisch und selbstgerecht ging ich an den Beamten vorbei und würdigte sie keines Blickes.

ontag Sommertag. Ich laufe in Richtung Hamam. Die Sonne knallt mir auf den Kopf und meinen Panamahut. Menschen, überall Menschen. Leute sitzen auf Bänken, lachen, trinken tagsüber Wein, spielen Karten, lesen, dreißig Grad im Schatten – ich habe mit diesen Menschen nichts gemein, denn ich laufe ins Hamam. Ich habe etwas, was diese Menschen nicht haben. Ich laufe ins Hamam. Ich muss

ie sagen es war Abu«, hörte ich die unbekannte Stimme einer Frau. Damit begann für mich eine Zeit, die ich noch immer nicht vergessen kann. Ich habe diese schmale Geschichte und glanzlose Story unzählige Male erzählt. Habe sie so oft wiederholt. Immer in der Hoffnung, danach von ihr befreit zu sein – doch das einzige was

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ich damit schaffte, war mir das Ganze von vorne aufzukochen. Hier will ich sie ein letztes Mal erzählen. Ich saß auf wie so oft auf einem der Ottomanen im Soguluku mit dem Unterschied, dass ich der einzige Gast war. Neben mir, mit gutem Abstand wohl bemerkt, saß die noch immer verhüllte Cousine Abu's und schüttete mir ihr Herz aus. Zuerst sprachen wir nur über den Einbruch, welcher letztlich auch kein Weltuntergang war. Wir hatten etwa zwei Stunden, dann hatte der Schlüsseldienst, die Tür ausgetauscht und ein Handwerker provisorisch statt einem neuem Fenster ein Brett über der Tür angebracht. Ich hatte das Gefühl, dass ihr der Einbruch und die Verdächtigung Abu's gar nicht so sehr zu schaffen machte. »Weißt du, bei uns ist es üblich, dass meist die Mutter und eine Schwester aus der Familie des Mannes mit seiner künftigen Frau, bevor sie heiraten in das Hamam gehen. Mit ihr sprechen, sie nach Krankheiten und anderen Makeln zu untersuchen«, sprach sie. »Ich habe das so satt. Ich will das nicht. Ich weiß selbst, was gut für mich ist und was nicht. Ich brauche auch niemanden, der mir sagt wen ich heiraten soll. Klar es ist nur eine Empfehlung, aber widersprichst du, dann ziehst du die Familienehre in den Dreck – also musst du. Das macht mich fertig.« Ich hörte ihr zu und empfand es unnötig etwas dazu zu sagen. »Ich habe auch schon überlegt abzuhauen. Einfach abzuhauen.« »Aber dann ist die Familienehre genauso hin«, schlussfolgerte ich. »Ja! Genau.« »Weißt du, bei uns musst du schon tot sein.« Sie bedankte sich bei mir für mein Ohr und entschuldigte sich zugleich. Sie meinte, sie sollte nicht darüber reden und sagte: »vielleicht können wir uns ja noch einmal unterhalten.« Die ersten Badegäste kamen, ich ließ mich im Hararet massieren und es war merkwürdig, komisch, sie war weg, verschwunden im ganzen Hamam nicht zu finden und wann ich am wenigsten damit rechnete, stand sie neben mir und lächelte mir zu. »Wirst du morgen wieder kommen?«, fragte sie am Abend des ersten Tages der zweiten Woche. Es gibt drei Arten von Frauen: Die Schönen, die

Intelligenten und die große Mehrheit, sagt Fassbinder. Ich war so begeistert von ihr, dass ich sagen würde, sie war: beides und das dritte auch! Am nächsten Tag, war ich sogar etwas früher dran und kam ins Hamam wie ich immer ins Hamam kam, stand im Foyer, ging ins Camekan und bemerkte nicht wie aus einer Neugierde und der gespannten Erwartung, wie der eines Kindes eine Selbstgefälligkeit geworden war. Eine Selbstgefälligkeit mit der ich mich im Hamam bewegte, als wohnte ich dort.

Ich fragte nach Abu. Und es hieß man wisse nicht wo er sei. Geduldig setzte ich mich bei einem Tee in den Soguluku und wartete darauf was nun passiert. Und nichts passierte. Ich machte mich auf die Verwandte Abu's zu suchen und konnte sie nicht finden und gab mich dem gewöhnlich Prozedere, wie jeder andere Badegast hin und plötzlich saß sie neben mir, stand vor mir oder war sonst irgendwie in meiner Nähe und verschwand wieder, in eine geheime Kammer dieses Bienenstocks, sobald ich mich an sie gewöhnt hatte. Von Abu weit und breit keine Spur. Es hieß, er sei erstmal nicht da. Mir machte das weniger etwas aus, hatte ich jetzt eine neue Sache. Sie. Ich kam wegen einer Frau ins Hamam, die verlobt war und der es untersagt war, dachte ich zumindest, mit mir zu sprechen. Ferner deren Namen ich überhaupt nicht kannte. Es stellte sich heraus, dass sie im Hamam angestellt war oder angestellt ist. »Normalerweise«, sagte sie, »ist es Frauen die im Hamam arbeiten untersagt Männer zu massieren, wie es Männern untersagt ist, Frauen zu massieren.« »Normalerweise?«, fragte ich. »Oder«, lachte sie unter ihrem Schleier, »das war mal so. Heutzutage geht das in Ordnung. Vor allem weil du es bist.« Stille im Hamam. Mit dem Gesicht nach unten liege ich und warte auf meine Natir und Cousine des verschwundenen Abu's.

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Anfänglich bestand sie darauf, dass meine Hände seit mindestens einer Minuten ruhten. Sie sagte das nicht, sondern stand stumm vor mir und schwieg solange ich nicht ruhte und die Augen geschlossen hatte. Bevor ihre Finger mit den schwarz glänzenden köpfen anfingen zu arbeiten. Wenn Sie nun an pornografisches denken, dann tut es mir leid, mehr als Verspannungen zu lösen, ging es uns nicht. Zudem sollte dieses kurze mehr imaginierte Verhältnis, zumindest was seine Intensität anging, für das Rezept meines Lebens, noch eine besonders beeinflussende und beileibe eine bedrückende Zutat werden. Nachdem ihre Hände, wie fliegende Fische, die Wogen, meines: wie ein zerknülltes Stück Briefpapier – verspannten Rückens glätteten, und dabei meine Rückseite schon mit zurückhaltenden Küssen bedachte. Ich natürlich wusste; das gehört noch zur Behandlung. Orientalische Lippen sind wie Balsam auf infantiler europäischer Haut – ich also eine Art distanzierte Hamamliasong mit der, wie sich später herausstellte, Palästinenserin anfing. Beim nächsten Mal, begrüßte sie mich, schaute sich um, als würden wir verfolgt und flüsterte in ihrem Nuscheln mir ins Ohr: Für dich werde ich Sufūr begehen. Ich wusste nicht, was sie meinte und erkannte, als sie ihre schwarzen Tücher über schwarzen Tüchern lüftete und in einem Schwall die Schwarzen Haare herausbrachen, Sufūr bedeutet mit den Hidschāb-Vorschriften brechen. Nicht nur dass Abu verschwunden war, auch ihre beiden Anstandsdamen – nirgends zu sehen. Diese Haare, glatt und schwarz, als seien sie triefende Flüsse aus einer Unterwelt. Ihre Augen wie Steine aus Onyx. Alles an meiner vermeintlichen Natir ist dunkel verborgen und verschwindend duster und düster und in jeder ihrer Regungen schwingt ein Ton von intensiver Weiblichkeit.

Zur Zeit der Feigen

Man stelle sich eine Welt vor, in der wir nicht wissen, dass der Tod das Leben beendet. Ob es da noch Entführung und Gewalttaten gäbe? Wie will man jemanden erpressen ohne Gewalt anzudrohen? Lässt sich nicht jede Angst auf Todesangst reduzieren? Wüssten wir nicht von Sterblichkeit gäbe es auch keine Angst. So hat ein Bissen der Menschheit die Angst gebracht.

rei Jahre ist das her. Ich weiß nicht, was machst du gerade? Wo bist du? Kommst du noch einmal zurück? War's das? Ich soll nicht albern sein, hast du gesagt. Ich soll mich zusammen reißen. Das war ja nur ein Spiel. Leonard Andorra Atanassov Sie fleißiger Leser, schauen Sie mal wie viele Seiten Sie schon geschafft haben. Köpfen Sie jetzt eine Flasche Champus und gießen Sie das Zeug auf meinen Brief. Wenn nicht alles auf dem Geschmatter von möchtegern Belletristik gelandet ist, dann wünsche ich ihnen: nastrovje.

Für dich werde ich Sufūr begehen. Übrigens erlauben Sie ein kleines Zitat? Ja? Nein? Wenn nicht, dann wissen Sie ja: das Zitat ist kursiv bei mir, lesen Sie weiter, wenn die Buchstaben sich begradigen oder begnadigen… Lassen wir das. Follow me, reader! Who told you that there is no true, faithful, eternal love in this world! May the liar's vile tongue be cut out! Follow me, my reader, and me alone, and I will show you such a love! Bulgakow. Lieben wir nicht alle, und ich wiederhole mich in diesem Punkt sehr gerne, lieben wir nicht alle das liebliche – klebrig vor süße – Scheitern. Oder bin nur ich das? Den dramatischen Abgang, warum sonst, macht man sich Gedanken, wie man Abtritt, es kann Einem doch ganz einerlei sein. Oder bin nur ich das? Weshalb also das ganze Theater von Ästhetik und Tragik? Weil es lustvoll ist. Wenn ich in deine Augen schaue, dann kann ich meine Pein, mein Elend und meine Qual

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eines anderen Lebens. sehen. Wenn ich deine Stimme nuschelnd spreEs macht auch mehr Spaß, wenn Leid mit chen höre, dann kündet sie von meinem DrangGlück assoziiert ist. Ich habe das mal die Däsal, meinem Leid und meinem Unmut. monen genannt. Es gibt nur einen Dämonen – Wenn ich deine Haut rieche, verspricht ihr der bin ich selbst. Der freudig und lebhaft sein Geruch meine Krux, mein Marter und meine Drangsal verstärkt und sich für Thanatos und Bürde. Sehnsucht belohnt oder auch mit Feigen und Und wenn ich das alles miteinander kumulieAuberginen – es muss ja nicht immer alles so re, dann steht am Ende ein Satz und der lautet: abstrakt sein. nichts verführt mich mehr, als die Vision meines Ruins, meines Sturzes und meines Omegas. Montag dritte Woche. Das Fenster über Oder bin nur ich das? der Tür ausgetauscht, das Schloss ebenso. Ich Was ich auch immer lecker finde: Ziegenkäse stehe im Soguluku und gehe in den Camekan, mit Honig, habe ich mal in Istanbul gegessen – mich umziehen, lege was ich anhabe beige Hose, schmeckt super. weißes Hemd und Panamahut – wollte aussehen Es ist kein Wunder, dass diese Art von Frauen wie einer Mafiosi im Sommerurlaub, zusammen sonst verhüllt herum laufen müssen. auf den Stuhl. GreiWas für Frauen fe eine Tas, ein Stück das sind, wenn eine Seife und lege mir das davon meine wäre, Pestemal um. Gehe zuach wissen Sie mein Nichts verführt mich mehr, als rück in den Soguluku. Leolein – ich würde die Vision meines Ruins, meines Erstmal einen Tee trinsie gar nicht mehr aus ken und mich auf meidem Hause und nicht Sturzes und meines Omegas. nen Hamambesuch einen Schritt alleine einstellen. Setze mich laufen lassen. auf einen der OttoMerken Sie's? manen. Um mich herum sitzen Gästen, die sich Ich werde unerträglich unsachlich, weil mich leise unterhalten und ebenso wie ich Tee trinDamen dieser Art so sehr erregen. ken und sich langsam an die Wärme gewöhnen. Wie viele Stunden, will ich noch von dieser Ein in Turban und Pestemal gekleidet Mann mit einen Frau erzählen? Wann wird diese, sich schwarzen Rändern um seinen Augen springt ständige repetierende und von Redundanzen mir ins Sichtfeld, lächelt als wäre er auf Morphinur so strotzende Berichterstattung je aufhören? um und begrüßt mich mit: »Mein Freund.« Wann wird das Bild, was ich von ihr hatte, was Warum er für eine Woche nicht im Hamam sie einen Moment war, wie ich einen Moment war, hatte Abu mir nicht erzählt. Es schien im war – wann wird dieses Bild versiegen? Ich muss mehr daran zu liegen, wieder zur Tagesordnung meine Introjekte erstechen. zurück zu kehren. Wann wird die Quelle, die es mir alltäglich in »Das Scheitern Kafar Mustafa Paschas bemeinen Geist spült, wann wird diese Quelle rudeutete für die Osmanen eine Zäsur. Wahrhen? Wann wird dieser Geysir schweigen? Wann scheinlich bemerkten sie es nicht, aber nach der wird er inne halten? Niederlage fand auch der rasante Aufstieg des Nie so lange, ich es genieße, diese VergangenReiches ein Ende. Einige sagen, dem Islam fehle heit herauf zu beschwören und mich weigere sie die Reformation und das mächtige osmanische zu integrieren, zu wachsen und zu akzeptieren, Reich sei schlichtweg in seinen alten Traditiodass der, der ich sie damals liebte, nicht mehr nen verharrt, während die anderen Nationen an der ist, der er heute ist – denn das würde, sich ihnen vorbei gezogen wären.« davon trennen bedeuten. Er sprach und wir schlenderten von Raum zu Ich muss aufstoßen und es riecht, schmeckt Raum. Saßen wir gewohnt auf dem Ottomanen, nach Weinblättern – irgendwie ekelhaft. gingen ins Hararet. Er erzählte und pausierte, Einatmen und ausatmen, Sauerstoff durch die erzählte wieder. Sprach von Atatürk, der SäkulaNüstern ins Gehirn spülen und die Nasenflügel risation der türkischen Republik, sogar über die öffnen, als wären es Passformen für Handschuhe

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Rolle der Türken im zweiten Weltkrieg und einer türkischen SS-Division und schlug schließlich den Bogen zu Erdogan und den Protesten auf dem Taksimplatz. Stets hatte ich den Eindruck er würde mir wertfrei und neutral versuchen, die Geschichte und Kultur seines Landes näher zu bringen, ohne Vergleiche anzustellen, noch mich konvertieren zu wollen. Es war, als wäre die letzte Woche hinweg gefegt, als Ausnahmezustand deklariert und von der Geschichtsschreibung exkludiert. Wir redeten nicht ein Wort über sein Fehlen, noch über das Angebot, was er mir mal machen wollte. Sein Interesse galt einer anderen Sache. »Ich hörte du wurdest gut versorgt, als ich

ass wir hier über eine Zeit vor dem Bordell reden, ist Ihnen nicht entgangen, nicht Heer leoanrd Atanassov? Und dass ich meine Arbeit in der Filmhochschule, trotz Urlaub, zur Zeit der Feigen leidlich vernachlässigte, ist auch klar, nicht? Da sehen sie was für ein Mensch ich bin. Es schien, als warte Noushin jeden Tag nur

nicht da war.« Wir saßen neben einem Kurnas und waren gerade mit der Waschung fertig, als er sich zu mir setzte und sich nach letzter Woche erkundigte. »Hör zu Lilienthal, ich will dich nicht verdächtigen oder dich beschuldigen, aber es gehen Gerüchte um, dass du dich mit meiner Cousine etwas zu gut verstehst.« »Wie meinst du?« »Versprich mir etwas.« »Was du willst!«, rief ich empört aus, dass mich die anderen Badegäste im Hararet schief anschauten. »Versprich mir, dass du Noushin niemals, ich wiederhole niemals berührst, dass du niemals auf irgendeine Sache, die für dich vielleicht wie ein Angebot eine Einladung aussiehst, versprich mir, dass du darauf nie eingehen wirst.« Meine innerliche Empörung war mir Beweis genug und ich war überzeugt davon, dass da absolut nicht die geringste Gefahr bestand und versprach Abu, was er von mir verlangt hatte. Und ganz nebenbei wusste ich endlich ihren Namen und wie er ihn gesagt hatte, hatte ich auch schon vergessen, was er noch von mir wollte.

auf mich. Die dritte Woche. Ich stapfte die Treppen des Hauses nach oben in den ersten Stock. Klingelte an der Tür. Stand im Foyer. Sah mich um und erblickte Noushin auf einem der Ottomanen Tee trinken und warten, alsbald sie mich entdeckt hatte sprang sie auf und kam zu mir. Unsere Übereinkunft hatte dabei ein festes Muster angenommen. Zu Beginn wartete ich, in Cowboystiefeln oder Mafiosiklamotten, Pfeife im Mund und schwarzen Aktenkoffer in der Hand im Soguluku, trank etwas Çay, rauchte den Tabak weg, als wäre er Luft und, wenn sie mich nicht bereits erwartete, wartete ich bis meine levantische Geliebte mich abholte und mich zum Camekan begleitete, dass wir danach beide im Soguluku saßen, Tee tranken und uns erst einmal unterhielten. Unterhalten heißt, sie klagte und ich hörte zu. Sie zeigte mir ein Foto und will beweisen, wie glücklich sie mal war. Gefolgt vom Besuch im Hararet. Sie mich dort auf dem Nabelstein massierte, ich die Schönheit und die Farbe ihrer Haut bewunderte und mich dem unterwürfigen und dennoch dominanten Ausdruck ihrer Augen (ich bin dein und will es

Und ich hörte erst wieder auf, als er den Namen wiederholte. »Noushin wird sich weiter um dich kümmern. Währenddessen ich abwesend bin.« Ich nickte und wusste nicht, was er davor gesagt hatte. »Denk an dein Versprechen«, ermahnte er mich.

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so) schwerlich entziehen wollte und so weiter. (Ich will dass eigentlich so schnell wie möglich runter-schreiben, damit Sie Atanassov im Bilde sind.) Einer silberner Schatulle entnahm sie ein grobes Stück Seife, dass nach Lavendel und Oliven roch und drückte das scharf kantige Stück Tensid in meinem Rücken, bis sich deren Kanten zu Rundungen formten und sich der anfängliche Schmerz meiner spannenden Rückenhaut in ein dichtes Gefühl von Wohlgefallen wandelte. Sie mich bat aufzustehen, neben dem Kurnas Platz zu nehmen und während sie mir mit heißem und kaltem Wasser den Körper wusch, ruhte ihre Hand auf meiner Schulter. Wir nach

Wartezeit zu verkürzen, in einen privaten Raum der Tellaks und Natire geführt. Dieses vierte Zimmer war mehr ein behangenes, antikes und nach Tee und Gewürzen riechendes Kissenlager. In dessen Mitte ein niedriger, aus einem Stück geschlagener Tisch stand. In welches ich mich fortan, abseits der restlichen Badegäste, zurückziehen konnte und in dem gedämpften Licht der Eisenlaternen und Öllampen döste. Auf dem schwerem Holztisch standen lauter unförmige Gebilde von Kannen, Karaffen und besonderen Tassen, an denen Scharniere angebracht waren, auf denen Deckel ruhten. Lauter unförmige, krumme, asymmetrische Gestalten von Trinkgefäßen, die allesamt aussahen, als

der Waschung in den Soguluku zurück gingen und Tee tranken. Das wiederholte sich einige Male und ging so die gesamte dritte Woche. Es war mir, als würde ich mit ihr das Hamam, das mir nun wirklich mehr als vertraut, es war als würde ich es an ihrer Seite neu entdeckten. Die Zeit der Feigen, danach die Zeit des Schweigens (schlechter Reim; ich weiß). Die Monate des Still-seins – Zeit der Schatten, des Zurücktretens, des Schwindens, des Zerdrückt-werdens und des überdrüssig Verlustigens, des sich selbst überflüssig sein. Zeit der Revision. Die Verletzung, die sie mir zugefügt hatte, sie ist nur zu ertragen, wenn ich sage: ich liebe dich noch – von ganzer Seele, ganzem Herzen und mit ganzem Körper. Es erschien mir so zufällig und echt zu sein. Wie ich aus meiner Wohnung ging, mich auf den Weg machte und die Treppen zum H. überwand, als wäre es ein verwunschener Garten. Inzwischen genoss ich als Gast einige Sonderrechte, wann immer Noushin nicht sofort zur Stelle sein konnte, wurde ich, um mir die

ständen sie nicht von selbst und da drinnen, befanden jedes Mal, ich im Kissenlager lethargisch wartete, viele verschiedene Flüssigkeiten. Es gab frische Minze angereichert mit Rosenwasser, prickelndem Mineralwasser und einer sonderbar vertrauten, aber gänzlich unbekannten Zutat. Thymian, Rosenmarin-extrakt, dazu Orangenblütenwasser und die geheimen Zutat. Granatapfelsaft, rote Beete und die geheime Zutat. Früher Sommernachmittag. Durch ein Fenster im Kissenlager wirft der Tag ein rechteckiges Feld aus Sonnenlicht. Ich schwitze, ohne mich zu bewegen. Ich bewege mich, recke mich nach einem der Getränke und breche in Schweiß aus. Jeder normale Mensch, würde heute wohl zuletzt an ein Dampfbad denken. Ich sitze schon zu lange im Kissenlager um zu wissen, wie viel Badegäste im Soguluku und Hararet sind. Trinke einen Schluck ab und falle zurück in die Kissen, will mich zu decken, aber es ist zu heiß. Das einzige was hier tun kann, über geheime Zutaten nachdenken. Was mich beeindruckte: egal wie unbekannt mir die rätselhafte Zutat war, sie war trotzdem vertraut. So sehr vertraut,

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so naheliegend, dass ich es nicht erraten konnte, weil das allzu Vertraute unsichtbar ist. Weil das allzu Sichtbare unwahrscheinlich ist. Dabei waren es nur Apfelsaft, Orangensaft und Cranberrysaft. Weil das allzu Wahrscheinliche zu normal, zu ordinär, zu atypisch und zu profan scheint. Bei mir wechseln sich motorische Unruhe, Hyper vigilanz, Hypovigilanz und Somnolenz ab, als wären sie vier Seiten eines schwingenden Pendel. Es war egal zu welcher Tageszeit ich meine Natir Noushin besuchte, immer war sie da und warme Hände warteten auf meine Haut, unempfindsam wie gedämpftes Licht. Und vor allem, war mir unsere Verbindung eines – sie war mir authentisch. Die Authentizität meiner Realität, das wissen Sie, war eine Sache, die ich in frühester Jugend verloren hatte, die sich von mir heimlich verabschiedete hatte, und wie ich glaubte, für immer gegangen war.


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»Gut«, sagte ich und weiter: »wohl eine Persiflage ein Seitenhieb auf die moderne Kameraführung.« Als mein Telefon klingelte. Normalerweise, schaltete ich es auf lautlos und rufe dann nach meiner Vorlesung zurück – wenn ich das für gut erachte. Hatte ich aber nicht und suchte das Klingeln aus meiner Jackeninnentasche zu ignorieren. Es klingelte noch einmal. Nun mischten sich auch einige Studenten ein. Wollten mit mir sympathisieren. »Gehen Sie doch ran!« Ich sagte: »bitte beschäftigen Sie sich einen Moment, ich bin unverzüglich wieder da.« Ich verließ den Vorlesungssaal, über den Seitenausgang mit meiner Jacke unter dem Arm. Stand im Flur, streifte mir die Jacke über und mein Telefon klingelte zum dritten Mal. Genervt, nahm ich es aus der Innentasche, schaute nicht wer mich da anrief und drückte auf den grünen Hörer. Das war ein Fehler. »Wer ist da?«, fragte ich zornig und lehnte gegen die Wand im Flur. »Kannst du kurz reden«, hauchte Noushins Stimme in den Hörer. »Noushin! Du rufst mich an!«, sagte ich erschrocken und bemerkte: ein Zittern und jähes Beben durchfuhr mich. Ich legte meine Hand um den unteren Teil meines Telefons, sodass ich flüstern konnte, schaute mich um, konnte niemanden sehen und fragte sie: »was willst du?« »Ich will, dass du bei mir bist.« Stoßartig verschluckte ich mich an meinem eigenen Atmen. Riss die Augen auf. Atmete nicht aus. Hielt einen Moment den Atem an. Dachte an Abu, dem ich mein Ehrenwort gegeben hatte. Da läuft nichts. Da läuft nichts. »Was würdest du tun, wenn jetzt bei mir wärst?«, fragte Noushin und keuchte ins Telefon. Ich wusste sofort, worum es hier ging. Sie wollte mich zu Telefonsex verführen. Ich stand im Flur der Filmhochschule. Im Vorlesungssaal hinter mir, warteten meine Studenten auf mich. Jede Minute länger, dachte ich, würde sie Verdacht schöpfen lassen. »Was würdest du tun, wenn du jetzt bei mir wärst?«, stöhnte es wieder in den Telefonhörer und es war mir egal, ob meine Studenten Verdacht schöpften. Ein Klicken und Klacken geht durch meinen Kopf. Ein Gefühl von: gefällt mir; von: will ich, rauscht durch meinen Symphati-

Telefonsex

Sozusagen waren die suizidalen Krise für mich nie mehr, als ein verhasstes Spielzeug, das ich von Zeit zu Zeit aus seinem angestaubten Pappkarton nahm, gelangweilt damit spielte und wenn ich satt war, des sicher ernst zu nehmenden Spiels, es wieder unterm Bett in seinem Karton verstaute.

ch konnte es nie ganz lassen. Mein Chef hatte mich zwar in den Urlaub geschickt, sozusagen suspendiert aus meinem Interesse, weil ich mich sonst wohl überarbeite. Wie dem auch sei. Am Ende der dritten Woche schlich ich mich trotz dessen in die Filmhochschule und gab einige besondere Seminare, die ich auch nicht online ankündigte, sondern lediglich die Termine an einige Studenten per Mail sendete. Es war für mich eine Überraschung und irritierte mich besonders, wenn statt zwanzig Studenten, denen ich bescheid gegeben hatte, sich ganze hundert wissbegierige und neugierige in den Vorlesungssaal der gläsernen Filmhochschule drängten, der nebenbei gesagt, aufgebaut war wie ein römisches Theater, was ich besonders zu schätzen wusste, denn so stand ich in der Mitte der Filmstudenten, die sich im Halbkreis, bis zu drei ebenen höher als ich, um mich herum setzten. Ich hasste einen reinen frontal Unterricht sowohl als Student als auch später als Dozent. Besonders als letzterer ist es mir wichtig, dass ich jeden meiner Studenten in die Augen schauen kann, wenn ich doziere. Der Saal füllte sich. Ich hatte mich auf die Kante meines Tisches gesetzt, also auf niedrigster Ebene und wartete geduldig bis sich auch der letzte meiner Studenten hingesetzt hatte. »Ich meine, natürlich bewege auch ich meine Kamera. Aber nur, wenn ich auch einen Grund dafür sehe«, startete ich die Vorlesung. »Was denken Sie, meint David Cronenberg hier?« Das gute an halbrunden Vorlesungssälen ist, dass ich laufen kann. Ich liebe es beim Reden, Dozieren oder dem lautem Nachdenken im Raum herum zu wandern. So zog ich kilometerweise Bahnen während meiner Vorlesungen. »Wahrscheinlich«, mutmaßte einer meiner Studenten, »zielte er darauf ab, nicht soviel künstlichen Kitsch mit der Kamerabewegung zu erzeugen.«

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die Hand auf das Mikrofon des Telefons, lasse den Hörer aber an meinem Ohr. »Schlaf mit mir«, keucht es in mein rechtes Ohr. »Ja alles bestens.« »Ich dachte Sie hätten Urlaub?«, in mein linkes Ohr. »Schlaf mit mir«, rechtes Ohr. »Ja«, stockte ich, brachte mich zur Raison und: »ich bin nur für eine Vorlesung hier.« »Schlaf mit mir.« »Verstehe«, sagte er und ich hoffte, er würde vorbei gehen. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?« Ich muss wohl sehr bleich gewesen sein. »Ich will, dass du mit mir schläfst. Komm zu mir.« »Ich kann jetzt nicht«, nahm ich die Hand vom Mikrofon des Telefons und flüsterte zur Verwunderung meines Kollegens, der vor mir stand. Zeigte auf das Telefon, machte eine bedrückte Miene, schüttelte leicht den Kopf und wies erneut auf das Telefon. »Ich verstehe, was familiäres«, sagte er und ging, rief mir noch im vorbei gehen zu: »machen Sie sich noch einen schönen Urlaub!« »Komm zu mir! Wann bist du hier?« »Ich kann jetzt nicht zu dir, ich bin mitten in einer Vorlesung.« Sie fand sich recht schnell damit ab und fragte wieder: »was würdest du tun, wenn du jetzt bei mir wärst?« »Du liegst auf dem Rücken«, begann ich kühl, schaute mich nach meinem Kollegen um, er war weg und überlegte wie ich weiter machen solle. Interessanterweise, habe ich selbst in dieser Situation mein Gespür für verbale Ästhetik nicht verloren und überlegte mir meine Worte genau. »Und ich tauche ab zwischen deine Beine«, wie ich Beine ins Telefon flüstere, dringen von Noushin keine Worte mehr durch das Telefon, sondern nur noch ein lautes Stöhnen. Ich laufe Kreise im Flur und sage: »Noushin, du stöhnst. Noushin, du schreist. Noushin, du bittest mich aufzuhören. Aber ich höre nicht auf.« Bei aber ich höre nicht auf, empfand ich mich selbst albern, war aber ungebrochen fasziniert von dem einseitigen Telefonsex. Lehnte mich gegen die Wand, hinter der meine Studenten auf mich warteten, im Gang, wo ich glaubte jeder-

kus. Erhöht meinen Blutdruck und meine Herzfrequenz. »Wir sitzen einander gegenüber«, flüstere ich in tiefer Stimme. »Du schaust mich unterwürfig an, dein Mund ist halb offen, du bist gekleidet nur in lockeren Tücher. Ich streife Tuch nach Tuch von deinem Körper ab. Und du sitzt nackt vor mir. Atmest schwer und schaust mich erschrocken an, als hättest du Angst«, wispere ich ins Telefon wie ein Souffleur, der dem Schauspieler sagt: und jetzt bring dich um. Im Gang des Flures bin ich noch immer allein. Laufe wie angestochen umher. Zittere konzentriert, als hätte ich zu viel Kaffee getrunken. Bin nun vollständig mit Stresshormonen und Neurotransmitter, die alle eines sagen: run! »Weiter«, haucht Noushin ins Telefon und ich höre, wie ich selbst rede, dass sie dabei stöhnt. »Ich packen dich an den Armen, suche dich mit meinen Augen zu bändigen, deine Arme fahren nach oben, wahrscheinlich weil dir deine Schulter schmerzt, noch bevor deine Hände an meine Handgelenken ansetzen können, umschließen meine Hände deine Handgelenke. Ich drücke zu, aber nicht zu fest. Ich will dir nicht weh tun – noch nicht.

Ich drücke deine Handgelenke nach unten, dass du Mühe hast aufrecht zu sitzen. Küsse dich. Küsse dich wieder. Küsse dich noch immer. Küsse dich nicht mehr, aber du bettelst nach einem Kuss«, keuche ich nun selbst ins Telefon. »Den du nicht bekommst. Stattdessen beiße ich dich in den Hals. Lasse dich entkommen aus meinem Handverschluss und deine Finger wandern an meinem Körper entlang. Kommen an meinen Wangen zum stehen. Deine Hände umrahmen mein Gesicht und ich führe meine Finger in deinen Mund ein. Du schließt die Augen und beißt auf meine Hand. Schmerz und Blut. Als du mich entkommen lässt, werfe ich dich gewalttätig auf den Rücken. Wir beide Atmen in großen Stößen aus.« Ein Kollege überrascht mich auf dem Flur. »Lilienthal, alles in Ordnung?«, ich lege intuitiv

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zeit wieder überrascht werden zu können. »Noushin, ich drehe dich auf den Bauch und drücke dich mit meiner linken Hand ins Kissen und mit der rechten fingere ich dich. Noushin, du schreist, du stöhnst, du flehst mich an, nicht aufzuhören«, wiederholte ich mich und sprach im Takt ihres stoßartigen Stöhnens. »Ich fasse an deine Brust. Du liegst auf dem Bauch. Du hörst, wie ich meine Hose ausziehe. Du spürst auf deinem Arsch: ich bin nackt.« Ihr Stöhnen wird heftiger, lauter, dass ich einen Moment denke, gut dass mein Kollege nicht mehr vor mir steht, sonst müsste ich auch den Telefonhörer mit der Hand zuhalten. »Ich dringe in dich ein.« »Fick mich! Fick mich! Fick mich!« »Ich ficke dich von hinten und drücke dein Gesicht ins Kissen.« Ich stöhne mit ihr. Meine Hose beult sich aus. Die Tür öffnet sich einen Spalt und der Kopf einer Studentin ragt aus dem Türspalt. Ich springe von der Wand, als wäre sie elektrisch geladen. Stehe breitbeinig im Flur. Haare liegen mir im Gesicht. Keuchend. »Herr Lilienthal, entschuldigen Sie, aber wir wundern uns, ob es heute noch weiter geht.« »Ja«, stöhne ich meine Studentin an. »Ja!« Sie schaut mich offenen Mundes irritiert an. »Ja! Es geht gleich weiter. Einen Moment noch«, sage ich noch immer stöhnend zu ihr und zu Noushin. Höre dabei wie Noushin ins Telefon stöhnt. Die Studentin fragt: »alles in Ordnung bei Ihnen Herr Lilienthal?« Dann muss sie das leise Stöhnen aus dem Telefon gehört haben und sagt: »ich verstehe«. Grinst hämisch und schließt die Tür hinter sich. »Ich ficke dich von hinten«, wiederhole ich mich erneut. »Ich ficke dich«, ich bestehe nur noch aus diesen drei Worten. »Ich ficke dich von hinten, greife deine Haare und ziehe dich nach oben, und halte dich an deinem Haarschopf fest, neben meinen Kopf und flüstere dir ins Ohr: und gefällt dir das?« Noushin schreit: »Oh ja. Oh ja. Oh ja.« »Und schmeiße dich zurück ins Kopfkissen.« Sie schreit und schreit: »Oh Gott. Oh Gott. Oh Gott. Oh Lilienthal.« Und ich denke: sie kommt gleich. Doch dann ist sie weg. Hat aufgelegt. Der Telefonhörer stumm. Ich merke erst jetzt wie ich außer Atem bin und Schweiß mir die Stirn runter läuft. Ich nehme das Einstecktuch meiner Jacke und tupfe mir die Stirn. Greife die Türklin-

ke und bevor ich zurück in den Vorlesungssaal ging, schalte ich mein Handy aus. Einige Studenten, die sich bereits ein Nest zum Schlafen aus den Ellenbogen gebaut hatten, schrecken auf und sitzen extra gerade. Andere Lachen und Tuscheln. Zeigen auf mich. Ich gehe schnurstracks auf meinen Tisch zu, setze mich auf die Tischkante und senke den Kopf. Warte in dieser Position etwa eine Minute. Genau eine Minute, denn ich zähle die Sekunden mit und als ich bei sechzig angekommen bin, ist der Saal Mucksmäuschen still und ich sage laut mit voller Stimme: »Also wo waren wir stehen geblieben? Richtig, David Cronenberg, bewegt die Kamera nur, wenn er muss.«

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Herr Lilienthal.« »Wissen Sie, wenn Sie mich fragen, dann kann jeder Filme machen. Jeder ist irgendwo Regisseur. Jeder. Jeder. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen.« »Denken Sie denn auch jeder kann eine spannende Geschichte erzählen?« »Ja!«, rief ich im Hararet. »Mit einer Einschränkung«, sagte ich und pausierte. »Verraten Sie mir welche?« »Jemand der in Geschichten, seien es Filme oder Bücher, nichts spannendes für sich entdeckt…« »Meinen Sie der wird auch nichts spannendes erzählen können?« »Ja, weil er nicht weiß, was Spannung für ihn ist.« »Wie kommt man dazu?« »Etwas spannend zu finden?« »Was macht der, der es langweilig findet.« »Spannung ist Kaugummi fürs Gehirn, hat Hitchcock mal gesagt. Der muss sich seine Sorte suchen, nicht alle können Pfefferminz gut finden«, schloss ich in schlechter Analogie. Der Mann verschwand im Dampf, wie Batman. Ich suchte mir einen Platz und setzte mich. Dachte nach und fragte mich: wozu diese Präsentation? Wozu dieses Hamam? Was mache ich hier? Und pflichtete mir bei, es erst einmal anzunehmen. Korrigieren, mich hier heraus winden, kann ich später noch immer. Das Hamam als Ort der Sexualität, existiert nur in den Köpfen naiver Orientalisten.

Untitled

Und da hatte ich meine Mutter zum ersten Mal, als eine bedürftige Frau erlebt. Zum ersten Mal, war sie nicht mehr die Starke, die Dominante, die alles Einstampfende. Da zum ersten Mal, sah ich das Mädchen in ihr, das man zurück gelassen hatte. Da wurde mir klar, dieses Mädchen, war nie aus ihr gewichen.

hre Stimme damals, ihr Geru damals, die tief dunklen Pupillen ihrer Augen damals, und das war mir damals nit bewusst, – waren Öl im Ofen meiner bis dato ruhenden Destruktivität.  Für viele Jahre, war da nits. Für viele Jahre davor, war i so etwas wie ganz normaler heranwasender Mann geworden. Mit seinen Freunden, Studium und besissenen Saen, die er so mat. Den kleinen Frauengesiten, die er hat. Den ordinären Jobs, die er bestreitet. Banal, normal, belanglos und vor allem eines: kontrolliert.  Heute sage i, das war eine Auszeit, ein Urlaub von – meinen Körper mit Benzin übersüender, und Streiholz fallen lassender – Tobsut.  Wie i sie zum ersten Mal im Hamam sah, merke i nur mein Interesse an ihr.  D   und endzeitlie Interesse zog mi sließli au ins Bordell, ließ es mi erkunden wollen, diese Dokumentation sollte ja in aller erster Linie meine eigene Neugierde Befriedigen.

Vierte Woche. Abu vor mir. Sichtlich erzürnt. Nahm mich ins Kreuzverhör. Und ich leugnete noch immer das, was da zwischen Noushin und mir war. »Wie ist dein Verhältnis zu Noushin?« »Kann es sein, dass du nur ihretwegen in das Hamam kommst?« »Da läuft doch nichts oder?« Ich stritt ab. Ich revidierte. Ich bagatellisierte. Versicherte Abu meinem Versprechen treu zu bleiben. Ich dachte an Noushin. Ich dachte wie es war ihre Aufmerksamkeit zu spüren. Und ich sagte Abu, das kommt für mich auf keinen Fall in Frage. Sie ist verlobt. Deine Cousine. Ich würde niemals. Abu zögerte mir zu glauben. Zum ersten Mal dachte ich, kann ich Macht und Kontrolle auf dich ausübe. Ich war so etwas wie ein

Noushin, du stöhnst. Noushin, du schreist. Noushin, du bittest mich aufzuhören. Aber ich höre nicht auf.

Ich stand allein im Foyer und machte, dass ich meine erste Runde im Hamam drehte. Ließ mich von irgendeine Tellak waschen und massieren, sprach mit Badegästen. Einer hatte mich erkannt und ich musste ans Dampfseminar Abu's denken und nannte das Gespräch: Dampfinterview. »Wie heißen Sie?« »Fritz März, erfreut Sie kennen zu lernen

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Freund für ihn. Er glaubte mir schließlich. Und ich sah mich schon, wie Noushin und ich am früher Morgen des nächsten Tages im vierten Zimmer uns von einer in die andere Ecke einer Lammfell Liege stießen, die mir vorkam, als wäre sie unser Ehebett. Es mir damals dünkte, als ob wir an diesem Tag alleine im Hamam waren und vorher trübselig verdrossen, melancholisch und glücklich die Räume wechselten. Wir gingen in der Hitze unter und in der Berührung auf. Unsere Liebe war ein träger im Moor versumpfter Karren, als wollten wir Pigmente in Wasser lösen um daraus Farben zu mischen. Wie ich in einer Ecke vorschützend, geschwächt liegen blieb, sie noch kurz in ihrer Ecke auf mich wartete – der ich über sie kommen sollte – und doch merkte wie ich nicht kam, sondern kopfüber beinahe die Liege verließ. Meine Levantinerin sich zu mir rüber schlich, meine Lippen mit Rosenwasser benetzte und mir ein Schluck einer unbekannten Sud einflößte. Es meinen gesamten Körper für einen Augenaufschlag, wie Kastagnetten durch zitterte, ich in die Hocke aufsprang, als wolle ich beten, um dann dösend, diesig, schläfrig zurück in die Tiefen der Kissen der Lammfell-Liege im vierten Zimmer zu fallen. Schwelgend, betäubt, benommen, beklommen, fliehend und verloren, brach durch weißen Gardinen der Tag herein. Ich tanzte den Steppentanz, die Savannenglut um ihr Gehege. Müde vom Tageslicht und gesättigt von Ruhe, bewegten wir uns wieder in das Dampfbad, in dem wir alleine waren. Gossen Wasser auf die Steine und es fing ganz furchtbar an zu dampfen und nach Nelken, Kardamon und Opium zu duften. Von dem ganzem kondensierten Wasser, das uns erblinden ließ, von dem Geruch, der unsere Sinne verführend aphrodisierte und von Opium sediert, hockten wir auf einem dem Nabelstein, falteten unsere Hände ineinander, ich weiß noch, wie ich ihre straffen Brüste angespannt unter ihrem Gewand erahnte, den nackt habe ich dich ja nie gesehen und verglichen unsere Kräfte. Maßen auf einer Waagschale die Tragweite der bisher eingegangen Bindung. Tragisch, tragisch, wenn man schon weiter sein will, als man ist. Wir straften, schlugen und wälzten uns auf

dem erwärmten Steinboden. Was nun folgte kann ich chronologisch genau festmachen, beweisen und ad acta führen. Zehn Uhr fünf: eine Schelle trifft mein Gesicht. Eine Schelle fängt sie sich … Es muss von außen betrachtet, komisch ausgesehen haben. Wir auf dem Nabelstein im Hararet. Dampf über Dampf. Ich muss einen ihrer wunden Punkten getroffen haben. Denn, da war sie zu ende die kleine, knappe und kurze Hamamliasong. Wir waren noch im Dampfbad. Zehn Uhr Sieben: Ich hatte meine Knie auf ihren Oberarmen. Währenddessen Dampfgeschwader und Nebelschwaden aus dem Kessel aufstiegen, ging mir ein Grinsen durch die Visage. Zehn Uhr neun: vielleicht sagte sie es ganz ruhig. Vielleicht schrie sie auch. Es ist ein unerhörtes Rauschen in meinem Kopf, da wo die Erinnerung an diesen Moment liegen sollte. Manchmal denke ich noch daran zurück, an den Augenblick und Wimpernschlag, der dort wo meine Teile zusammengehörten eine Kluft riss und eine immerwährende Leere hinterließ.

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s ist ein unerhörtes Rauschen in meinem Kopf, da wo die Erinnerung an diesen Moment liegen sollte. Stellen Sie sich das vor mein verehrter Leser und Herr Atanassov, nicht mal ganze zwei Wochen waren das. Nichtmal dreißig Tage hielt unsere Affäre an. Nichtmal sprachen wir großes miteinander. Sie erzählte mir ihr Leid und ich hörte zu. Nichtmal schliefen wir miteinander, wir küssten einmal. Ich wusste ja nicht Einmal ob ihr Name tatsächlich: Noushin war! Ich kannte diese Frau überhaupt nicht. Per se, wir hatten überhaupt kein Verhältnis. Wir atmen Luft und stoßen Stürme aus. Ich fühle mich zugegebenermaßen etwas albern, ihre Worte zu zitieren. Zehn Uhr zehn: was sie mir jedoch, unmiss-

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Leonard, ich muss Ihnen nicht erklären: was für ein Wahnsinn das war. Zehn Uhr neunundzwanzig: Da stand der stille Junge, der ich damals war, dessen gelähmter Blick nur schweigend nach unten ging. Angriff und Flucht ausgeschlossen. Jetzt bloß nicht einfrieren. Wie eine Ziege, die sich tot stellt! Jetzt behalte dich nur. Warum nun gerade dieser Moment? Ob es davor keine Frauen gab, die mich verlassen hatten? Nun ich kann sehnlichst schwer schätzen, ob Sie meine Antwort zufrieden stellen wird, aber ich will Ihnen sagen, ich erkannte einerseits, es nicht zwangsläufig die Menge an Zeit, die wir miteinander verbringen mögen. Es nicht was wir dann miteinander machen. Achtzigtausend Zeichen und Vierzehntausend Wörter im Hamam werden von vierundzwanzig Minuten für ungültig erklärt. Andererseits hatte diese Frau etwas berührt, das zuvor nie berührt wurde. Für einen Moment schien es, als könne diese Frau, das Fehlende in mir austarieren, die Leere füllen und ich gab mich dem bereitwillig hin. Ich ließ alle Furcht liebevoll fahren. Heute sage ich, wieder einmal war ich bereit zur Verschmelzung – dem Untergehen in meinen Objekten. Idealisierung und Vernichtung – überall Autoaggression, was ich auch mache, unternehme, fühle, sein will – überall gibt es eine Abzweigung, die auf eine Fährte von Destrudo führt. Enttäuschung wird zu Isolation, wird zum Entzug essentieller Stimuli, wird zum mehr oder minder bewussten Entzug nötiger Reize und Beziehung wird zu Verschmelzung, wird zum Entzug von Autonomie, Untergehen in Nähe, was ich in Zeiten der Isolation nicht bekomme, damit überschwemme ich mich in Zeiten der Wärme, dass ich kollabieren soll vor Durst in dieser Hitze von Liebe. Was ich auch mache, ich muss aufpassen, überall bietet mir mein Geist Abwehrmechanismen in Form von Zerstörung an. Weniger bat ich sie, in eine filigrane Welt von Bindung und Vertrauen einzutreten, sondern vielmehr nahm ich sie bei der Hand und zehrte sie dorthin, wo sie mich regulieren sollte.

verständlich klar machte war: »Berthold Oppenheimer Lilienthal, ich will dich nie wieder sehen.« Zehn Uhr Zwölf: es war als hätten sich die Dampfgeschwader und Nebelschwaden verzogen, wie sie gekommen waren. Es war als hätte unsere beruhigende Atmosphäre, sich in eine Zone der Gefahr gewandelt. Zehn Uhr Fünfzehn: Ich packte mehr oder weniger gleichgültig meine Sachen zusammen, die ich überall im Badehaus verteilt hatte. Ich fühlte mich dort im türkischen Bad, nach einiger Zeit wie Zuhause – stellen Sie sich vor, ich fand mein Peştemal im Eingang zum Hararet. Meine Schuhe irgendwo im Camekan und meine Fliegerjacke war verschwunden. Zehn Uhr zwanzig: aus dem nichts, waren einige Telektschi erschienen, musterten mich mit Argwohn, sprachen mir unverständliche arabische Worte zu. Ich griff gerade die Türklinge, war im Begriff sie, wie aufgefordert, zu verlassen – für immer, wie die Frau sich zuerst vor mich – dann mich zur Rede stellte, was ich von ihr halte? Was ich fühle? Ob ich bleibe? Dass sie mir schon weh tun könne. Dass sie mir schon weh tun könnte… »Das ist ein Spiel Lilienthal. Ich wollte beweisen, dass ich machen kann, dass du dich in mich verliebst.« Lauter so in der Situation bedeutende, eigentlich aber fürchterlich bedeutungslose Phrasen. Zehn Uhr dreiundzwanzig: Und geduldig flankierten die Telektschi ihre Seiten, murmelten nun deutschen Worte, ich hatte sie geschlagen, ich hatte sie verraten. Vergeblich versuchte ich mit den Männer um meine Noushin zu reden, so war das nicht. Wir haben uns beide geschl… Wutentbrannt, wurde ich unterbrochen und darf froh sein, nicht erstickt zu werden. Wieder, denke ich, hatte ich eine Liebe gemeuchelt. Eine Beziehung im Keim erstickt, als wolle ich Whisky daraus machen. Wieder hatte ich eine Welt gesehen, in die ich nie eindringen würde. Einen Horizont, dem ich mich nie nähern würde. Ein verborgenes Land, welches ich nie erreichen würde. Wieder wurde ein Ideal in bodenlose Feindseligkeit getrieben.

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uns erschrocken, aber ohne Furcht an, mehr erDas waren die Momente, mein lieber Leonard staunt über den Schock unserer Verbindung. Andorra Atanassov, an denen mir das Scheitern Und dann? Dann ging ich. Und wie gefährlich schon auf den Lippen lag und ich nur noch ein das war. Flüstern davon entfernt war. Vielleicht war sie erbost, vielleicht dachte sie Wo ein wispernder Ton, ein beständiges Nein ich spiele ein wildes Spiel. Vielleicht dachte sie in mein Ohr säuselte. Eine singende Melodie, so irgendwas. Vielleicht dachte ich, und wusste es leise ertönte, dass ich selbst ganz still sein mussnicht. te, um ihren Klang zu hören. Ich habe mir diesen Eines Abends, vor flüchtigen Moment nie unserem Bruch, lagen wir aufeinander, ir- Das waren die Momente, an de- verziehen. Ich fürchte, habe mir nie vergendwo ich weiß nicht nen mir das Scheitern schon auf ich ziehen, die verlockenmehr, wir lagen so oft irgendwo, wann im- den Lippen lag, und ich nur noch de Offerte, zu kosten, mer mir nach Ende ein Flüstern davon entfernt war. zu siegen, endlich mal Mann sein. Ich habe zu Mute war und ich mir nie verziehen, sie in Melancholie und aus Schwäche nicht Autoaggression – Duo geliebt zu haben. Denn in dem Moment, als ich Infernale – drohte abzusinken, fuhr ich in das auf ihren Knien thronte und majestätisch vorgab Badehaus und rettete mich aus den Gefühlen, zu kontrollieren, die Situation im Griff zu haben, die von nichts können, nichts sehen, nichts wolzu entscheiden, fürchtete ich mich zusehends len – Augen-verschließen, Hände falten und davor, sie zu entkleiden, liebevoll zu entblößen, stumm sein, kündeten. schön zu finden, zu berühren, zu liebkosen, zu Eines Abends im vierten Zimmer lagen wir streicheln, stöhnen, rufen, japsend jammern zu aufeinander, bevor sie mich nicht mehr sehen hören und mich zu sehen, wie an mir nichts entwollte, und sagte: »wenn du jetzt nicht gehst, dann schlafe ich mit dir.« Meine Finger zittern erbebend, beim schreiben dieser Zeilen, wenn du jetzt nicht gehst. Was tat ich? Ich war still. Hockte auf ihren Oberarmen – das tat ich gerne, ich mochte sie hilflos sehen – und wir rauchten gemeinsam. Ich verrenkte mich, um neben uns, auf dem Holztisch, nach der Schachtel Zigaretten zu greifen. Blieb auf ihren Oberarmen sitzen. Thronte majestätisch auf ihrem delikaten, meint zerbrechlichen und reißerischen Körper. Zündete an. Hauchte einen ersten Zug aus, in ihr Gesicht, schloss sie ihre Augen, lächelte sie. Ich führte den rauchenden Papierzylinder an ihren Mund und ließ sie ziehen. Meine Finger an ihren Lippen, die kräftig Rauch in sich sogen, wie meine, wie ihre, wie meine – bis wir diese allerletzte gemeinsame Zigarette aufgeraucht hatten – dabei wichen meine Pupillen nicht eine Sekunden aus ihren, wir starrten

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versuche die Situation näher zu bringen, nicht wahr? Das ist nur ein Ausflucht, diesen ungeheuren unbeschreiblichen und unverkennbaren – diesen flüchtigen Moment greifbar (vor allem für mich!) zu machen, als wäre ich dank der erhofften Bestätigung und Rückendeckung (von ihr), also Beruhigung und Regulation, zu größter Konzentration und Erfüllung aufgestiegen und jäh in Zerwürfnis und Zweifel diffundiert.

sprechendes wächst. Wie ich zu einer adäquaten Antwort ihrer Lust nicht im Stande bin. Sexuelle Dysfunktion und Errektionsstörung sind eine Schande, schändliche Unbill, vermeintliche Tête eines Lebensabschnittes, welchen ich, aus Kasteiung(?) in Isolation verbringen soll – ich komme noch darauf zurück. ie sie, nicht am selben Abend – dem Zigaretten-Abend, so bekam jeder Abend mit ihr seinen eigenen Namen, Zigaretten-Abend, Abend der Häme, Abend der Scham, Abend der Schuld. Sondern an dem Tag, an dem ich sie geschlagen hatte, wie sie mich gescholten hatte, vor der Tür stand, sie mir sagte, ich solle gehen und mich nicht gehen ließ, ich war erstarrt. Zehn Uhr zweiunddreißig: ich lief unsicher und nervös im Hamam umher. Es blockierte sie noch immer die Tür, die Telektschi schützend an ihrer Seite. Ich ging ins Dampfbad, rauchte, ging in den Soguluku, wieder in den Camekan, suchte einen Aschenbecher. Fand keinen und rauchte eine nach der anderen. Taumelte ins vierte Zimmer und fiel über die Kissen. Zehn Uhr vierzig: ich drückte zitternd die Kippen irgendwo aus. »Ich kann machen, dass du dich in mich verliebst. Ich kann machen, dass du mich nicht vergisst«, schrie sie. Man kann sagen, dass hat mich ordentlich erschüttert. ie merken Atanassov, wie bildhaft ich Ihnen

Oft zwingt mein Geist mich, an diese eine Frau, aus dem Dampfbad zu denken. Dann hat er mir in der Vornacht, einen Traum beschert, der, wie sollte es anders sein; von der Frau aus Palästina erzählt und mir am Morgen ein so intensives körperliches Gefühl verschafft, ›als wachtest du neben mir auf‹, aber niemand wärmte die zweite und leere Hälfte meines Bettes, wie niemand meine Leere wärmt, wie ich niemanden an diese Stelle treten lasse. Dort wo sie gegangen ist, hat sie eine Armut und Disposition hinterlassen und mir eine Assoziation hinterlegt, die mich fortan für die nächsten Jahre bis heute, beim Anblick jeder nur vagen eventuell attraktiven und sozusagen womöglich passenden Frau, innerlich erzittern, erschaudern und erkalten lässt. Ich möchte mich an dieser Stelle, recht herzlich bei meinem Flight-Fight-or-Freeze System bedanken, dass es die Gefahr so vorsorglich abwehrt. Ich weiß auch nicht, liebes Psycho-Immunsystem, warum ich immer wieder schwach werde und Nähe brauche. Ich weiß auch nicht, warum mir so etwas schadhaftes wie Wärme wieder und immer in den Sinn kommt. Danke liebe Abwehrmechanismen, für eure Vorsicht und Nachsicht. Gerade weil ich nicht mit ihr geschlafen hatte. Weil dieses verdorbene Stück Mann, was ich damals noch nicht war, aber werden würde. Gerade weil meine triefenden Finger, die Haut zwischen ihren Beinen nicht berührt hatten. Gerade deswegen ist sie diese Art Saint geworden. Jean d‘arc aus Palästina. Nur einmal, als ich die Zigarette gelöscht hatte, berührten meine treifen Balken, wo Lippen sein sollten, die Haut die sich feucht um das Fleisch ihres Mundes spannte. Ich hatte ihr diese Fotografie von

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mir gezeigt – lachen Sie jetzt nicht Herr A! Der Abend des Bildes, diese Fotografie an sich wurde an meinem zwanzigsten Geburtstag geschossen. Auf dem Bild, hing ich über dem Geburtstagsgeschenk, das ich von meiner damaligen Freundin bekommen hatte, mit der ich auch zusammen wohnte… Stellen Sie sich das mal vor, ich war mit der damals fünf Jahre zusammen. Drei Jahre davon, teilten wir uns eine Wohnung. Beziehungsweise, teilten wir uns drei Wohnungen, denn wir waren in der Zeit unserer infantilen Beziehung dreimal umgezogen. Kindereien. Wir gingen noch zur Schule, waren also nicht die flüssigsten jungen Menschen, allen voran aus einer Monetärensicht. Man kann sagen, der Fluss unserer Finanzmittel, war eher ein Rinnsal. Verzeihen Sie das schlechte Wortspiel. Wie dem auch sei, war das der Grund, weshalb wir, dreimal recht kleine Wohnungen bezogen. Klein, um nicht zu sagen: winzig wie ein Schuhkarton und bedrückend eng, wie ein Flohzirkus. Wunderbar für Verschmelzungen jeglicher Art geeignet. Überlegen Sie mal, wir gingen auf die selbe Schule, in die selbe Klasse und saßen den ganzen Tag nebeneinander. Wir gingen zusammen aus und hatten dieselben Freunde. Wir gingen zusammen einkaufen und kauften dasselbe jede Woche neu – wie man ein junges Leben gewaltsam zum Stehen bringt – es gab uns nur als sich minder-liebende, doch miteinander schlafende, symbiotische Geschwister. Jetzt merke ich, wie ich sie idealisiert habe, denn ihre Meinung primär, an erster Stelle, alles andere zählte nicht. Sie groß und ich klein. Hielt sie sich nicht genauso, wie ich in dieser Art von Beziehung. Ich dachte ich wäre der Schwachpunkt und die Krux. Ich dachte, ich wäre das brüchige Glied der Kette… Fünf Jahre lief diese Verschmelzung und wissen Sie Atanassov, was ich interessant, amüsant, säuselnd süffisant und sagenhaft stupide finde? Dass ich nach der Trennung bis heute, niemals mehr eine Beziehung ausgehalten habe. Immer allein sein bedeutet auch, sich nie den prüfenden Blicken eines bestimmten und selbst erwählten kritischen besonders nahestehenden Anderen unterziehen zu müssen. Wie immer in Beziehung zu sein bedeutet, sich nie aus dem warmen Nest der Bindung zu wagen und zu stehlen, und die kritischen Blicke

der Anderen ohne die untrüglichen, zugewandten und wohlwollenden Augen eines Liebespartners zu ertragen. ch sage, das waren die Jahre der ersten Krise, meiner ersten suizidalen Krise. Ich erinnere mich noch, wir stritten oft. Meist um Banalitäten. Meist um den Einkauf. Ich rechnete ihr, haarspalterisch und pedantisch jeden Cent, den ich für uns – für sie ausgab, hinterher. Ich hatte dafür ein eigens gekauftes Notizbuch, in dem ich tabellarisch Buchhaltung führte. Wir stritten uns oft, über die Cent-Beträge, die sie mir noch schuldete. Wie soll ich sagen, aus heutiger Perspektive weiß ich natürlich, dass ich ihr nicht aus monetären Gründen die Rechnung machte, dass wir nicht stritten über was wir stritten. Es ist klar, dass es dabei um Abgrenzung und fehlende Autonomie ging. Autonomie, das verlorene Land der Autonomie. An meinem zwanzigsten Geburtstag, saßen wir beide in unserer Wohnung, dem bedrückenden engen Schuhkarton und Flohzirkus und auf dem Teppich war vorbereitet mein Geburtstagsgeschenk und wie ich darüber kniete, sagte sie: »schau mal her, und drückte ab.« Heute ist mir, sie hätte statt einem Foto – mich erschossen. Man konnte mir auf dem Bild die Nerven-Krisen, die Suizidalität – man konnte mir all meine Schwäche von der Stirn, aus den Augen ablesen, es lag mir auf den Lippen und ich war nur ein Deut davon entfernt, die Fresse aufzureißen… aber das, das habe ich noch nie gemocht. Denn was ich heute fühle, ist bodenlose Scham. Scham, die damals verhüllt gewesen ist in Suizidalität und Depression und Leere, die damals in Harmonie, Symbiose und Buchhaltung verborgen lag. zeigte ich Noushin, meiner sanften Natir Cousine Abu's meines Freundes, wie wir unsere Zeit im Hamam verbrachten, die Fotografie. »Was das für ein Zustand gewesen ist«, erzählte ich der lauschenden Noushin. »Nun zum Glück, bin ich das schon lange nicht mehr«, machte ich Späße über mein Alter Ego, der ich mich aus der Krise entkommen wähnte. Suzidalität ist eine Sache, die einen nie verlässt, sie kommt zurück und sie tat es zweimal. Ich hatte ja keine Ahnung, was da in meinen

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Tiefen auf mich wartet.

res wie persisch geworden ist. Ich weiß aber, hier spinnt mir mein Kopf ein Netz aus Täuschung und Lüge. Wäre ich Maler, Sänger oder Bildhauer geworden: ich wünschte mir, wäre ich mal Literat geworden. Ich müsste alles sein. Wem etwas innerliches fehlt und eine Sache so weit in sich internalisiert hat, dass er ihre Ausführung im Schlaf beherrscht, der wird feststellen; er verinnerlichte um innerlich das Fehlen auszugleichen, es lässt sich aber nicht durch Fähigkeiten, sondern nur durch Bindung ersetzen. Vielleicht auch eine Täuschung, also Obacht! Viele Menschen, die so sind, können alles, aber nichts. Die wissen überall bescheid, aber Profession haben sie nie erreicht. Der Mensch wird dann daher etwas neues zum internalisieren, ausgleichen und ersetzen suchen – er wird nichts finden, der arme Kerl. Ich bin so ein Mensch. Das heißt übrigens Reaktanz falls Sie das mal nachschlagen wollen. Wie auch etwas verinnerlichen, wenn es das Innere nicht gibt. Ich kann von Glück reden, dass es in meinem Fall, nur wenn es um Frauen geht so extrem ist. Man braucht den Anderen nicht zum unmittelbaren Überleben. Ich kann mich daher einigermaßen auf eine Fähigkeit verlassen, wie zum Beispiel das Schreiben und binden, stümperhafter Bücher und natürlich auf das Drehen und Dozieren. Ich empfand es übrigens immer stilvoller Frauen Literatur, statt Filme, zu schicken, wobei, das finde ich interessant, die meisten Frauen sich in Filmen wohler fühlen als in Büchern. Vielleicht weil, wenn sie im Film eine Rolle spielen, der Illusion erliegen, sie könnten mit-bestimmen, die Handlung lenken, entscheiden wie sie wirken – was natürlich, Unfug ist. Nur wenige können die Kamera vereinnahmen, die meisten werden, so leid es mir tut, von der Kamera besessen.

Leonard, davon schreibe ich Ihnen, hören Sie? Der ganze Brief ist durchsetzt von einem Fehlen, das auch schon, bevor ich Noushin die Palästinenserin kennenlernte, ganz klar – einer meiner vorherrschenden Charakterzüge war. Und am liebsten würde ich den Brief: Wie ein Versuch scheiterte und nichts als Leere erschuf, nennen. Ein Aderlass und Schropf, der mir Zeit meines Lebens – Lebenskraft entzog. Immerhin schreiben, konnte ich darüber ganz wunderbar, oder sind Sie da gegenteiliger Meinung? päter, als ich noch wusste wo sie wohnte, ich weiß nicht mehr wann, hatte ich Noushin ein Manuskript, bestehend aus literarischen Versuchen geschickt, gegliedert in Lyrik und Prosa. Hübsch zusammen gebunden, etwas dilettantisch und gespickt von Anfängerfehlern, aber wer bindet heutzutage schon noch seine Bücher selbst?

Ich habe oft das Gefühl, mich für eine gute Sache zu entscheiden und merke später, wie eine ähnliche Sache doch besser gewesen wäre. Aber das ist ein Trick meines Kopfes, denn wenn ich die andere Sache erlernt oder getan hätte, würde ich das selbe über die erste Sache denken. Verstehen sie? Wenn ich hebräisch gelernt hätte, meine ich es hätte arabisch sein sollen. Schreibe ich, denke ich: ich sollte Filme machen. Wenn ich drehe, denke ich, ich hätte Maler werden sollen. Wenn ich arabisch gelernt hätte, verfluche ich mich, dass es nicht etwas vollkommen ande-

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Sie war begeistert und raste fast vor Euphorie, über das Werk was ich ihr per Post – wir lebten in der selben Stadt – geschickt hatte. Ist das meine Chance, fragte ich. Dieses Buch zu binden, die Wochen, welche ich damit zubrachte, es war mir nur ihr Bild im Kopf. Ich hatte einen inneren Hund, genannt Manie, an der Erinnerung ihres Geruches riechen lassen und ihn auf sie abgerichtet. Das Buch sollte sie locken, sich mit mir noch einmal zu treffen – es kam nicht dazu. Sie blieb in einer Geschichte stecken, welche ich die Enttäuschung getauft hatte.

stehen, heißt Restriktion – wer schon aus Leere besteht, soll sie nutzen, die bahnbrechende Charakterstärke, der subtilen Leere. Nichts sein zu müssen, nichts zu fühlen, damit jeder Art von Rolle gerecht zu werden und ebenso, wie es ist, jedwede Aktion, jedwede Mimik wie eine Rolle und schwere Maske abzulegen. Mimikry der Affekte. Subtil, denn sie schleicht sich an, wie Melancholie. Subtil, denn sie zeigt sich nicht, als Leere – wer ständig müde ist, der soll wissen: er ist noch einen Schritt entfernt. Die Frage ist eher, Müdigkeit hie und da, ist ummantelnder Schutz oder verführende Rufe von Sirenen?

achdem ich am Tag meiner Zurückweisung, am Abend der Ohrfeige, der Schelle, der Backpfeife und Verbannung, endgültig aus dem türkischen Badehaus entkommen war. Noushin war wohl irgendwann aus dem Türrahmen gewichen und beiseite gerückt und ich flüchtete (Zehn Uhr irgendwas). Witzig, wie ich mich an jedes Detail erinnere, aber nicht, wann Noushin den Türrahmen verließ. Den ersten Schrecken überwunden, wandelte er sich in den folgenden Monaten zu einem schlaflosen Hadern und einem hässlichen Schaudern, dass ich für lange Zeit, überhaupt gar keine Frau mehr, weder anschaute, noch berührte. Meine Ahnung von sexueller Dysfunktion, wurde zur Realität der Funktionslosigkeit. War das Scham? Schämte ich mich meiner Abweisung? Ich hatte mich entblößt. Scham dem, der sich nackt zeigt. Scham dem, der unbewaffnet lieben will. Love's a battlefield – nur für neurotische Leute. Alle Frauen, jede einzelne nach ihr, waren mir nur lästig lässige und liederlich lachhafte Kopien meiner kapriziösen Kösem, die mich verneint, vergällt und vertrieben hatte. Diese Art von Frauen hinterlassen ihre Objekt zerstört zurück liegen, legen sich wie Erde zu Leichen, stehen auf und unvermindert – kein Umstand; keine Änderung – um unvermindert neue Andere zu finden, Andere zerstören, Anderen fühlen, Andere Leben leben und nieder gehen – mit dem Objekt – weshalb sollte man sich davor in Acht nehmen, flüchten und ausreißen? In Acht nehmen soll sich der, der diese Frauen zu lieben im Stande ist. Das Rezept zum wider-

nzwischen ist das Jahre her und ich stilisierte Noushin, die ich damals liebte, zu einer Ikone meiner Sehnsucht. Ich sage hier ganz bewusst stilisiert, da es sich um ein ergänzendes und reduzierendes Unterfangen handelt. Reduzierend, denn es geht nicht um sie als Menschen, denken Sie daran, Leo, ich kannte gerade einmal ihren Namen: Noushin und ergänzend, weil ich Noushin zur Lösung der inneren Leere auserkoren hatte, eine Aufgabe, von der sie nie etwas wusste und wissen wird. Ferner ist sie, durch diesen einen flüchtigen Moment unserer Übereinkunft zu einem Mythos von Frau aufgestiegen, dem sie nie gerecht werden könnte – und wohl auch nie sollte, weil es ja darum geht, ein Problem zu konstruieren. Nämlich Regulation zu suchen, und sie lieber außerhalb finden zu wollen. Ich will nicht lieben. Ich will verschmelzen, einverleiben, aussaugen und fallen lassen. Ich will Frauen, wie Feigen aussaugen und ein zähes Stück Haut zurück lassen. Ich will sie ernten und verrotten lassen. Man hat mir mal gesagt, ich wäre auf einem Rachefeldzug, das stimmt aber nicht, denn ich bin auf einer Friedensmission, das Kondom ist mein Blauhelm und ich bringe Liebe in alle Länder der Welt. Ich habe soviel zu geben. Noushin, ich teile deinen Namen in Nou– Shin. Bei -Shin fallen mir betäubt die Augen zu. Dein Name bedeutet reizend, süß und lieblich. Noushin dein Name zergeht mir auf der Zunge, wie frische Datteln. Ich will den Kern ausspucken und verschlucke mich an dir. Dein Name Noushin, springt mir nicht dreimal im Gaumen

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nem Platz aus beobachtete und sobald ich meine Augen und restliche Wahrnehmung auf diese Irgend-eine konzentriert hatte, setzte ich mich auf einen der hinteren Ränge und genieße das Schauspiel, welches mein Kopf produziert. Dabei manchmal ganz unflätige Gedanken in mich hinein spricht: aus diesem Becken sollen mal Kinder kommen? Diese Lippen und mein… Ein Leben ohne, wie soll, wie darf, wie kann das nur gelingen? Dich jetzt nicht wiederzusehen, ist Gift an dem ich zergehe. Singt umwerfend die Dummheit von Protagonist auf der einfältigen Bühne der Blödheit, tänzelnd und schwächelnd. Klatsch, Klatsch, Klatsch was für eine Show! Das ist alles – natürlich Quatsch. Woher ich das weiß? Weil es variable ist, weil ich die Frau nicht kennen muss. Weil mein Kopf Informationen in die Auserwählte projiziert und überträgt, die er überhaupt nicht wissen kann. Dahingehen bin ich schon sehr infantil. Jetzt stellen sie sich diese Affekte in Kombination der sexuellen Dysfunktion vor, also Errektionsstörung, also keinen Ständer bekommen. Einerseits diese unhaltbare Liebe auf alle und jede geworfen, wie die Decke meines Bettes über eine Liebhaberin, und andererseits der schleichende, flüsternde Gedanke, wenn es dazu kommt, was per se unwahrscheinlich ist, aber wenn: wird es nicht zum Verkehr kommen und das wird peinlich und ich kann diese Scham nicht aushalten. Da ist also diese riesen Annäherungstendenz, diese riesen Lust auf fleischlichen Konsum und ihr Antagonist die panische Angst keine Erektion zu bekommen um die Frau tatsächlich zu lieben, mit dem Hintergedanken, dass Frauen nur bei einem bleiben, wenn man es ihnen richtig besorgt – ein Leistungsmotiv. Und so trianguliere ich jeden Tag zwischen diesen drei Parametern. Es ist Wahnsinn zu versuchen, jeden für sich klein zu halten. Ich bin dafür übrigens sehr dankbar! Dichten Nebel puste ich durch den Salon. Das ist die formidabelste Verschleierung, die ich mir vorstellen kann. So etwas hält am Leben. Das ist Schutz. Ich bin vom Nikotin und wenigem Sauerstoff im Raum, benommen. Etwas ist in mir. Eine abtrünnige Lust und herrliche Unvernunft. Ich will in kaltes Wasser springen und hoffen, dass es unter Strom steht. Ich will tauchen und keine Luft für den Weg

herum und meine Zunge landet nicht kraftvoll an meinen Schneidezähnen – dazu fehlt dir ein T im Namen. nd wie ich in meinem Arbeitssalon sitze, wie ich das Kabuff – die Matratzengruft, mit dem schmalen Fenster gerne nenne. Die Weinblätter, Trauben, die Paste aus Auberginen und Knoblauch aufgegessen habe, meine Pfeife reinige, das alte Ding ist heute besonders schwerfällig, stelle ich feierlich fest: ich hatte meine abstrusen Frauenverhältnisse zu meinem Mittelpunkt gemacht. Doch es war etwas dahinter. Das schwerwiegender war. Warum auch immer, aber ich hatte entschieden, mich in Ablenkung zu verstärken. Um mich zu schützen? Ich weiß nicht, jedenfalls meine Aufmerksamkeit auf die vermeintliche Bindungslosigkeit richtete und mir vorschützte es handele sich dabei um ein Problem. Diese schreckliche Ambivalenz. Die Pfeife ist jetzt sauber und ich stopfe Tabak in das Loch . Eine Frau, die ich nicht Einmal kannte, war mir innerhalb von Stunden so wichtig erwachsen, dass ich es kaum aushielt, von ihr getrennt zu sein.

Etwas ist in mir. Eine abtrünnige Lust und herrliche Unvernunft. Eine Frau, die ich dafür schon Monate kannte, wir eine Art Beziehung hatten. Zumindest bezeichnen die das immer so. Diese Beziehungs-Frau wird mir plötzlich zuwider, dass ich sie nicht mehr sehen kann. Ein innerer, viszeraler Hass erobert dort, wo meine Zuneigung liegen sollte brisante Teile meines Charakters; wo ich die Frau in die Arme schließen sollte. Aber jede Umarmung, jede Berührung, jeder Kuss, jede Liebkosung – ist Gift. Gefährliches, lebensgefährliches Gift. Man presst die Lippen auf die Wunde, saugt kräftig und spuckt aus – hofft das letale Zeug ist noch nicht in die Blutbahnen eingedrungen. Ich lege die Beine auf meinem niedrigen Arbeitstisch ab und zünde die Pfeife an. Dann gibt es da wieder eine neue, die ich nur ein mal im Zug gesehen hatte, sie stetig von mei-

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brannt worden. Wie Ungeziefer mit Insektiziden einbalsamieren«, erzählte sie und ich hielt meine Kamera auf sie. »Wie Tiere, sich bei großer Gefahr zu Boden werfen, sich tot stellen und warten, ja darauf hoffen; dass die Gefahr und Bedrohung vorüberzieht und doch selbst, wenn die Krise überstanden ist, liegen sie noch – sich tot stellend auf dem Boden – außerstande sich zu bewegen«, erklärte sie mir und ich wusste nicht wozu sie das machte. »Sehen sie?«, ließ sich aber auch nicht beirren und zwinkerte in die Kamera. »Alles bleibt, wie es ist.« »Ihm ist die Bewegung genommen, Rahel«, entschloss ich mich dazu: aus ihrem Monolog ein Dialog zu machen und sprach allgemein in meinem verhassten Lehrerton: »der Mensch, ist ja ständig in Bewegung. Wissen Sie warum Bernstein? Weil er seine Bedürfnisse und Neigungen erfüllen muss. Das sind aber keine Triebe, denn das mit den Trieben, das war ein Irrtum – es ist gelerntes Verhalten, meint lautes Ja sagen zu verstärkenden Reizen. Das klingt profan? Ist es auch, furchtbar Ordinär noch dazu!«, schon interessant was dabei raus kommt, wenn der Dokumentarfilmer zum Hobby-Psychologen wird. »Was Sie darüber hinaus nicht vergessen dürfen«, schloss Rahel selbst auch im Lehrerton an, folgerte: »wir existieren nur in der Resonanz der anderen; unserer Objekte und die anderen existieren in unserer Resonanz. Die Bewegung ist eine Suche nach Spiegelung, Regulation, Integrität und Identität – das haben wir mal so gelernt, es gibt ja wie Sie gesagt haben, keine Triebe.« Ich war drauf und dran, auch sie einmal ihrer Kühnheit wegen zu überfallen, aber das bringt ja nichts, dachte ich damals. Also ließ ich sie reden: »man kann eigentlich nicht mal vermeiden, denn die Vermeidung ist nur eine antagonistische Annäherung. Auch entgegengesetzt ist ein verbaler Irrtum, aber lassen Sie uns dabei bleiben.« Es war schön mit Rahel. Wie wir beide im Orientzimmer des verbrannten Puffs herum standen, es kaum aushaltbar, nach nasser Asche und verbranntem Fleisch stank und wir von meiner Dokumentation immer öfter abkamen. Wir wie wild philosophierten – wir verstanden uns doch so gut!

nach oben sparen. Ich will, ohne Zelt und Proviant wandern gehen. Ich will, ohne Falschschirm aus einem Flugzeug springen. Ich will ein Seil zwischen zwei Hochhäusern spannen und nicht ohne Zuschauer auf dem Boden, einen Langen Stab in die Hand nehmen, mich auf die Mitte stürzen drei mal so tun, als würde ich stürzen, mich erst dann fangen, wenn ich von unten her schreie höre und kurz bevor ich die andere Seite erreiche, will ich das Seil hinter mir anzünden. Etwas ist in mir. Eine nie verlorene und kindliche Lust meine Grenzen aus zu testen. Aus einem Spiel wurde ein Duell mit meinen physischen Grenzen.

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SUMME MIR EINE MELODIE

Einmal hat die Mutter über Suizid geredet, nicht Suizidalität an sich, sondern jemand den sie kannte, der hatte sich umgebracht und sie sagte das, wahrscheinlich so voller Abscheu, dass ich Stundenlang den restlichen Tag irritiert war - ein Ton von bekannten Ekel.

u urück zu meinem Besuch im Orientzimmer des abgebrannten Bordells. Zurück zu Rahel Bernstein Tschkalowa und zurück zu mir. Ich hoffe, Leonard Andorra Atanassov, dass Sie soweit folgen. »Ist es nicht interessant«, tat meine Begleiter- und Führerin ihren Mund nach langem Schweigen wieder auf. »Das ganze Haus ist wie schockgefroren. Sehen Sie hie und da die eingebrannten Schatten der Paare? Ekstatisch ineinander geschlungene Akte. In einem Moment der Nacktheit von Brand, Gefahr und Bedrohung überrascht. Außerstande zu fliehen oder aufzubegehren. Ihm ist seine Identität und häusliche Integrität von innen her versenkt und ausge-

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ich eine Antwort gebe. Auf etwas, von dem sie weiß, ich habe keine Ahnung – will es auch nicht wissen. Ich hatte alles auf Band. Die Kamera ist mein Zeuge. Wissen Sie, zu filmen heißt: ich kann nicht verdrängen. Ich kann weder blendende Euphemismen noch schmeichelnde Dysphemismus auf die Erinnerung legen. Dazu muss ich die Kamera, auf jedes Stück gesprochenen Wortfetzen richten. Es gibt Tage, da sehe ich die Welt nur durch die Linse, als wäre sie das einzige Fenster eines finsteren Raumes. »Also?«, wartet sie ab und bricht dann heraus: »dann ist einer in Intrusion gefangen! Wissen Sie nicht, dass Ihnen das herzlich wenig bringt? Dass diese Gedankenlabyrinthe eine Schlaufe sind und wer den Mund nicht auftut, der wird sich in der Schlaufe verlieren«, spricht Rahel und bat mich auf das rußschwarze und nach Verbrennung riechende Orienthimmelbett. »Sprechen Sie aus, was Sie innerlich bewegt! Berthold, Sie müssen doch wissen, nichts ist heilsamer als menschliche Nähe!«, rief beschwingt, enthusiastisch und beflissen Rahel Bernstein Tschkalowa aus und rückte, wie wir beide auf dem Bett saßen, näher an mich heran. Ich nahm meinem Hut ab, zum ersten Mal und putzte seine Krempe. Es war irritierend. Zwiespalt und Ambivalenz Tschkalowa's Worte verglichen mit ihrem Verhalten. Ich wusste nicht: wie verhalten?, und ließ mich seufzend in die erloschene Glut des alten Bettes rückseitig fallen, feuerte meinen Hut in irgendeine Ecke und nach oben durch die Kamera schauend, die Zimmerdecke filmend, sprach ich: »Rahel, liebste Rahel, ich will nicht vieler Worte darüber verlieren und ich weiß auch gar nicht, was ich Ihnen sagen soll, außer dem, dass ich mich immer öfter dabei ertappte, wie ich einem innerlichen Rededrang nicht widersprechen kann. Folgen Sie mir? Und ständig Monologe mit mir selbst führe. Verstehen Sie, Rahel?«, wand ich mich beim Sprechen. »Ich beschreibe mir selbst, was ich gerade tue, wo ich gerade bin und was das für Querverbindungen schlägt. Woran es mich erinnert, wo in dem Karteikarten-Schrank meines Geistes ich es einsortieren soll und ich merke, wie mein Bewusstsein abdriftet und sich an Einsamkeit und

»Mein Lieber, stellen Sie sich einmal vor: wenn die Bedingung der menschlichen Freiheit die Bewegung ist – die Teilnahme an menschlich bidirektionaler Kommunikation. Leonardo da Vinci hat schon im fünfzehnten Jahrhundert gesagt: ›Bewegung ist die Ursache allen Lebens und das Gesetz der Notwendigkeit, dass alle Wirkungen ihren Ursachen auf kürzestem Wege folgen.‹ Führen Sie sich bitte einmal vor Augen, wenn ein Mensch, durch sagen wir ein erschütterndes und einschneidendes Erlebnis, die essentielle Fähigkeit zur Bewegung verloren hat. Er will sich bewegen, was machen, unternehmen, mit Menschen sein und was passiert? Er erstarrt nur. Was denken Sie?« »Absurd ist das!«, sagte ich laut und war froh, auf ihren Vortrag etwas erwidern zu können. »Nein, das mein Lieber… das ist das Fegefeuer«, schloss sie und es wurde still im Orientzimmer, des nach vergangener Menschlichkeit stinkenden und ausgebrannten und erstarrten Bordells. Nach einer langen Pause, in der ich mich nicht, wie für gewöhnlich in Gedankenstückwerke meiner Erinnerung verlor, setzte sie wieder an: »Herr Oppenheimer Lilienthal, was mich aber vielmehr wie brennend interessiert: Sie scheinen sich oftmals in eine Art endlose Gedankenmonologe und beständiges unbändiges Grübeln zu verlieren.« »Sie irren sich Rahel ich denken eigentlich überhaupt nicht.« »Wollen Sie wissen, woran ich das erkenne?« Ich schwieg, sie wird es mir ja so oder so erzählen. Was dann auch passierte. Ich bin wohl ein Hellseher.

Wissen Sie, zu filmen heißt: ich kann nicht verdrängen. »Dann will ich Sie was fragen: kennen sie das? Wenn die Augen so leer werden. Der Blick starr wird. Die Lippen sich zu einem Lächeln zwingen. Kennen sie diesen Ausdruck? Ist Ihnen das ein Begriff ? Ja oder nein? Antworten Sie!«, wieder pausiert sie, mich anstarrend, wartend, dass

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Isolation gewöhnt, ferner noch eine Strategie zum Überdauern dieser Situation entwickelt«, es musste mal raus. »Ich gewissermaßen eine Art selbstbezügliche Spiegelresonanz entwickelt habe. Sogar mir eigene fremde Personen erschuf, mit denen diskutiere – um mir meine Identität und Integrität zu erhalten. Meine Adaptionsfähigkeit, das sich mit der Situation arrangieren…«, sagte ich bitter und kalt auf dem Bett liegend. »Nun, also das: beherrsche ich tatsächlich ausgezeichnet«, fügte ich lachend und zynisch hinzu. »Sind Sie nun verschreckt und wollen mich nicht mehr sehen? Rahel, antworten Sie Rahel!«, rief ich verzweifelt, richtete mich auf und hielt meine Kamera auf sie. »Aber nein Benno überhaupt nicht«, hier wieder Gespräch mit der Kamera und nicht mit mir. Woran ich das erkenne? Daran, dass Menschen ausgefallen gestikulieren, sonderliche Mimen aufziehen und sich schwerfällig artikulieren – wie im Theater. »Ich kann sogar, außerordentlich nach empfinden, wovon Sie reden«, beruhigte sie mich. Ich ließ mich erleichtert ins Bett fallen – nicht ohne an die Kameraführung zu denken. Bernstein folgte mir und ließ sich letztlich rückseitig und ohne Bedacht ins Bett fallen, legte dabei ihre Hand auf meinen Brustkorb und ihr reizendes Köpfchen flüchtete sich, derweil in meine Armbeuge. »Es gibt nichts heilsameres, als menschliche Nähe. Berthold, das muss Ihnen klar sein. Erzählen Sie mir, wohin sich Ihre Gedanken gerade verflüchtigen. An

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Ich kann Ihnen dynamische Kausalitäten aufdecken, deren Existenz Sie nicht einmal ahnten. Ich sage Ihnen, ich muss meine Objekte, meine anderen vor meinen Aggressionen schützen, deswegen wandele ich, was da in mir brodelt, gegen mich selbst – eine bahnbrechende unbändige zu weilen suizidale Autoaggression, die zum Schutz, das heißt zu meiner Funktionsfähigkeit Pate steht, dass meine Objekt sich nicht von mir trennen, denn Trennung bedeutet mir, ich existiere – ich überlebe nicht. Ich habe einen latenten Hass auf alles und jeden entwickelt und sehe jeden Tag, wie ich meine Feindseligkeit ausbalancieren muss«, ich zitterte, das war auch ein Problem. Zitternde Kameraführung sieht scheiße aus. »Da sehen Sie es: wie autoaggressive Suzidaliät und mein Wille zu überleben nicht nur Hand in Hand gehen, sondern wie der Wunsch sich umbringen, aus dem Wunsch zu überleben stammt. Ich weiß es klingt verrückt. Aber Rahel, das ist ein Korsett, es ist ein Anzug, den ich stümperhaft zusammen nähte, damit ich nicht nackt durch die Gegend laufen muss.

was denken Sie?« »Streng genommen«, begann ich. »Ist es genau die Strategie des Überdauerns und Überlebens, welche zu meinem vorherrschenden Problem geworden ist. Solange schwöre ich mir schon, dieser – mein Zustand, wie er jetzt ist, wird vor rüber gehen und ich kämpfe, erhärte und werde Stein. Es ist als hätte ich zur Errettung meiner Seele, einen Preis auf sie ausgesetzt. tot oder lebendig.« erzweiflung Herr Atanassov, ist der Ton aus einem Tor ins Ungewisse. Verzweiflung macht sich keine Mühe mehr. Verzweiflung ist Risikokalkulation. Verzweiflung ist multi-polar, man kann zurück, man kann weiter – immer hat man's gewusst, egal wie's ausgeht. Der zweifelende Mensch, ist einer, der sich seiner Sache (dem Zweifel) sicher ist. Zweifeln ist wie Sinn in Religion suchen, weil Zweifel einem aus dem Alltag katapultiert und man in der Lage ist, sich von außen zu sehen. Glaubt man zumindest. Der Zweifel bestätigt sich selbst, denn wer zweifelnd außerhalb steht, der kann nur feststellen, er hat recht: die Sache lohnt nicht.

»(…)nichts ist heilsamer als menschliche Nähe!« »Wissen Sie Rahel, ich warte auf einen Ausbruch, einen Kollaps, aber er kommt nicht. Ich lebe jeden Tag, als wäre er schon vorbei. Ich sage mir, es wird vor rüber gehen und genau das ist der Fehler.« Immerhin wusste ich wo das Problem lag, ob es das auch löst, lässt sich arg bezweifeln. »Es muss Jahre her sein, seitdem ich einen authentischen Moment erlebte. Ich habe mich in eine Welt der Dinge von zweiter Ordnung verloren. Ich habe mich in Nachdenken, dynamische Modelle erfinden und nicht eins zu eins leben, geflüchtet. Ich bin zu einer Meta-Person geworden und habe mich selbst zu einem Konstrukt gemacht. Ich bin die ausgeschlachtete Menschmaschine. Ich bin ein Gerüst. Eine leere Hülle. Ein klappriges Skelett. Ich bin unmenschlich«, fiebrig und hustend. »Rahel, ich kann Ihnen herleiten, ableiten, analysieren und interpretieren, was mit mir ist.

Ich habe das leben verlernt. Rahel, ich habe das leben verlernt«, und ich zog während ich sprach eines der verbrannten Kopfkissen auf meinen Kopf und wimmerte darunter. »Weißt du irgendwo habe ich meine Zeit verloren und seither bin ich auf der Suche nach ihr«, hielt inne. »Aber ach!«, stieß ich unter dem Kissen aus und riss das Kissen von meinem Kopf. Schleuderte es, dass es quer durch den Raum flog. Nicht neben dem Hut landete, sondern im Kamin und indes es dort eine gewaltige Wolke aus Staub verursachte, versuchte ich mich, in einem Akt von Selbstbemächtigung aufzurichten – diese weinerliche Art – neben dem Lehrerton – an mir, war mir schon immer zu wider; aber ich konnte mich nicht hinsetzen, denn Rahels Hand ruhte bestimmend auf meinem Brustkorb und drückte mich in das Bett. Die Hand, welche ich dann vehement in Besitz nahm und mich widerlich ihr anbiederte.

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Ich schäme mich dafür, Rahel. Hören Sie Rahel ich schäme mich!«, rief ich zu ihr und sie, sie machte ein shhht-Geräusch, wie zu weinerlichen Kindern und tätschelte mich am Arm – Modus: alles wird gut. Ich legte meine Hände aufs Gesicht, als wolle ich Verstecke spielen und begann wieder zu erzählen: »ohne den Halt meiner Kollegen, ohne die Sicherheit der Filmschule, ohne diese Struktur…Wissen Sie ich hasse Struktur und ich brauche sie, wie eine Sauerstoffmaske. Ohne diese Sauerstoffzufuhr, ging ich noch mehr verloren, als ich es vor meiner Reise ohnehin schon gewesen war. Geplant hatte ich nichts. Mitgenommen hatte ich einen schwarzen Aktenkoffer, der geöffnet den Blick frei gab auf: Klamotten für eine Woche, jede Menge Bücher und Fünftausend Dollar, was in etwa für einen Monat reichen sollte. Wie ich nach sechs Stunden Flug am JFK Airport stand, auf mein Gepäck wartete, es vom Rollband nahm, es hinter mir her zog und den Flughafen verließ, die Sonne mich blendete, ich zugegeben ermaßen etwas desorientiert war – da wusste ich, auf den Schock der Zurückweisung, folgt zügellose innerliche Leere für die nächsten Monate und ich wusste, ich würde arbeiten müssen. Mein Geld würde mir gerade einmal für dreißig Tage reichen und ich hatte damals schon keine Lust mehr auf das Filmgeschäft. Der Koffer hing mir, wie, als wäre ich halbseitig gelähmt, als ein unbeweglicher Teil meines Körpers an der Seite. Ich stand im Fahrstuhl ausserhalb des JFK und wie ich nach oben Richtung Airtrain fuhr, wusste ich, ich würde etwas mit Film machen müssen und ich wusste, dass ich das nicht wollte. Aber Rahel wissen Sie, ich hätte damals alles mögliche machen können und ich hätte keine Lust darauf gehabt. Aber ich brauchte eine Wohnung. Ich war nicht ganz bescheuert und habe mich vorher gekümmert. Das heißt, währenddessen in der Filmhochschule nichts zu tun war, schaute ich auf Craigslist nach Wohnungen, Apartments und billigen Zimmern mit und ohne Fenster. Was ich schließlich fand, war mehr so etwas wie eine Übergangslösung. Ich schrieb dem Einsteller der Anzeige eine Mail, erhielt prompt Antwort und buchte das Zimmer für zwei Woche. Zeit, die ich mir gab, ein anderes Zimmer zu finden. Solange ich mich beschäftige und mir

»Ich glaube aber kaum, dass ich einerseits Ihnen von meinen, wie Sie es nennen: Intrusionen erzählen sollte, letztlich kennen wir uns überhaupt nicht und andererseits wüsste ich nicht, inwiefern uns das hier, bei meiner Arbeit weiter bringen sollte. Es geht nicht um mich. Es geht um das verbrannte Bordell und die Dokumentation, die ich im Auftrag der Filmschule darüber mache. Es geht nicht um mich.«

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Die blaue Stunde

JEDER ATEMZUG, ist ein Schritt in die falsche Richtung - nämlich in Richtung leben.

n wissen Sie, mein lieber Freund nd Leonard Andorra Atanassov und AdL rressat, was ich tat? Ich stand auf, lief zu meinem Hut, hob ihn auf, trabte zurück auf meine Platz, putzte meine Hutkrempe und begann zu erzählen: »nachdem ich von dieser Frau aus dem türkischen Badehaus verprellt, vergällt und verstoßen worden war. Aus dem Haus stürzte. Monatelang unmutig wankelte und unmündig taumelte. Den Winter über noch in der Stadt wohnte, unternahm ich im Spätfrühling am elften Mai einen Fluchtversuch.« Es gab eine herzzereißende Szene am Flughafen. Kollegen, sogar mein Chef und eine Studentin, die als einzige heulte, verabschiedeten mich und winkten mir, als ich durch das Gate und im Bauch des Flugzeuges verschwand – was ich Rahel damals im Orientzimmer nicht erzählte. »Mein Ziel war New York«, nun wieder zu Bernstein Tschkalowa, »nicht unbedingt originell, nicht wahr Rahel? Wozu auch originell sein? Ich wollte ja keine Bank ausrauben. In der Hauptstadt von Fashion, Music & Booze…

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Stadt zurück in eine Art Wild-West im hohen Osten gewandelt, waren Townhouses und Vorgärten verschwunden und niemand sah mehr nach Golf aus. Links und rechts Geschäfte, die nach den späten achtzigern oder frühen neunzigern aussahen und ich mich fragte, wie sich ein spanisch beschriftetes Begräbnisinstitut mit weißen, faltigen Vorhängen, neben einer West Indian & American Grocery, auf dessen Markise geschrieben stand: Fruits, Vegetables, Fresh Fish, Lamb&Goat, Cd's & Dvd's und Religous Item und einem Nagelstudio halten kann. Ich beschloss, der Frage nicht weiter nach zu gehen. Suchte die Treppen hoch zur Metro und steckte wieder Münzen in ein Münztelefon. Wahrscheinlich in einer Metrostation wie Van Siclen Avenue, Cleveland Street oder Norwood Avenue. Was weiß ich. Keine Ahnung. Ich habe über meine Verirrungen nicht immer Protokoll geführt«, lachte ich Rahel an, die im Bett neben mir saß. »Zweimal Umsteigen später, holte mich mein Vermieter Matt Myrtle-Wyckoff Avenue, L-Train, ab und ich folge einem dunkelhäutige und sehr schmächtigen Typen mit schmierigen und schwarzen Haaren. Ich mochte Matt. Er trug falsche Goldringe und war meines Erachtens noch nie im Gefängnis. Wir wohnten Cornelia Street Ecke Seneca Avenue. Neun Stationen mit der L-Train von Myrtle-Wyckoff nach Manhattan First Avenue. Matt war etwa einen Meter fünfundsechzig groß, schätze ich und trug stets ein weißes Hemd, auf dem ein Jaguarkrieger aufgedruckt war, ließ die oberen Knöpfe aufgeknöpft, dass ein silbernes Kreuz, welches mit unechten Diamanten bestückt war, hervor blitzte. Ich dachte immer Matt wäre Mexikaner, aber er kam aus Tegucigalpa der Hauptstadt Honduras. Ich wusste nichts über Matt's Vergangenheit. Ich wusste nicht, wie er von Honduras in die vereinigten Staaten gekommen war und auch nicht warum er, statt in Tegucigalpa zu wohnen in Brookyln Vermieter geworden war. Ich stellte mir immer vor, dass er beim Putsch vor zwei Jahren damals, als Honduras Präsident vom Militär abgesetzt wurde, flüchten musste. Nämlich weißt du Rahel, weil Matt ein Vertrauter des Präsidenten war. Matt, seine Goldringe, der Jaguarkrieger, das Diamantenkreuz und Zelaya der weg-geputschte Präsident wer-

Aufgaben gebe, ist alles okay. Ich hatte inzwischen den Flughafen und die Airtrain hinter mir gelassen, hoch über der Straße ratterte die Bahn und ich stand in der Metro – irgendwo J-Train. Ich weiß nicht mehr ganz genau wo, vielleicht Jamaica-station. Manchmal glaube ich, ich würde mir vorsätzlich Barrieren in den Weg räumen. Oder fahrlässig bestimmte Dinge nicht planen, dass ich wenn es soweit ist, ein Problem habe. Beim besten Willen, ich konnte die vollständige Adresse meines Zimmers nicht finden. Ich hatte mir, so wie es aussah, nur den Straßennamen notiert, nicht aber wo diese Straße lag. Das war nicht so clever oder aber Absicht. Dabei kam ich aus einer Großstadt! Und ich hatte angenommen, ich würde die Straße schon auf einer Karte finden. Irgendwo in Brooklyn. Immerhin hatte ich mir die Telefonnummer des Vermieters auf den Rand meiner zerfledderten Straßenkarte geschrieben. Wie gesagt Jamaica-Station Münztelefon. Keine Ahnung ob irgendjemand in dieser Stadt noch Münztelefone benutzt. Ich hatte ein paar Pennys in der Tasche und sie in das Münztelefon gesteckt und verstand leidlich kein Wort«, sagte ich lachend zu Rahel. »Gerade so eine andere Metrostation, von der man mich abholen wolle. Aber beileibe keine Zeit und ich wusste auch nicht, ob dem Typen von Vermieter meines Zimmers klar war, dass ich bereits auf dem Weg war. Das ist ein ewiger Test meiner Problemlösefähigkeit. Ganz dem Anschein nach hatte ich, eine falsche Station verstanden. Fuhr dort hin, stieg dort aus, verließ die Station und als man mich nicht abholte, dachte ich: laufe ich eben selbst. Townhouses, Vorgärten, Stadtvillen, mir kam der Verdacht, es wäre viel zu schön hier, für den Schuhkarton, indem ich wohnen sollte. Ich sprach den erstbesten Fußgänger an. Ein Mann in weißen Shorts und Poloshirt, sah aus als komme oder gehe er zum Golf. ›Man!‹, machte ich den Amerikaner in weißen Shorts nach und Rahel lachte. »Er sagt: ›go straight ahead, man!‹, was ich auch machte und mich in ein nirgendwo aus amerikanischen Vorstadtträumen verlor. Wahrscheinlich in Nähe des Forestparks. Zwei Stunden rum laufen später, ratterte die Metro wieder über meinen Kopf, hatte sich die

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Retrospektiv Rahel, sehe ich sicher, wie desolat und desinteressiert ich an allem war – aber auch nur retrospektiv. Einigen Wochen später hatte ich mich weitestgehend mit der Situation arrangiert. Meint: hatte Arbeit und Beschäftigung gefunden. Ich war als Assistent im Pratt Institut Brooklyn einer der hiesigen Kunsthochschule im Department of Film and Video untergekommen. Motto: Be true to your work, and your work will be true to you. Wissen Sie Rahel«, sprach ich im Orientzimmer auf dem Bett liegend zu ihr, die sie mir geduldig zuhörte. »Das war alles sehr merkwürdig. Warum war es merkwürdig? Weil alles, mein Leben dort, wie geschmiert ablief. Die Wohnung, der Job, alles war ganz einfach. Noch vor meiner Abreise warnte eine dieser verdrossen Verflossenen: Izabella; sei vorsichtig die Stadt kann dich aufreiben. New York ist eine harte und gefühllose Stadt. Für mich lief alles wie von Selbst und ich hasste es. Wenn Menschen mir sagten, wie viel Glück ich hätte im Pratt zu arbeiten, sofort eine Wohnung in der Nähe gefunden zu haben (Flushing Ave. zweihundertzweiundneunzig, die Wohnung nach Matt's Zimmer ein besserer Schuhkarton), dann hasste ich diese Menschen. Je besser es dort wurde, desto größer meine Verachtung. Nach den Seminaren im Pratt ging ich mit meinen Kollegen regelmäßig in eine Bar auch in Brooklyn, aber Williamsburg: Luckydog,«, erzählte ich Rahel, starrte auf meinen Hut, den ich wie ein Lenkrad drehte und dabei putzte. »In der Divebar gab es eine Frau, die ich dort an einem Abend kennenlernte.« Schätzungsweise fünfunddreißig, sechsunddreißig etwa zehn Jahre älter als ich damals. Die Art von Frau, die immer Daddys Prinzessin war und nach zwanzig Jahren noch immer nicht gemerkt hat, dass sie erwachsen geworden sind und nie eine Prinzessin sein werden. Ekelhaft unterwürfig und bettelnd nach Aufmerksamkeit. Gibt dir Komplimente, damit sie deine Prinzessin werden kann. »Ich muss Ihnen sagen Rahel«, palaverte ich weiter in meiner Erzählung, putzte den Hut und war sonst auch ganz anständig verlegen. »Diese Zeit in New York City, das war eine ganz besondere Herausforderung.« Retrospektiv denke ich: wenn schon Ironie, dann hätte ich lakonischer erzählen müssen.

den nach Costa Rica gebracht, von wo aus Matt nach New York flüchtet. Ich sehe es gerade zu vor mir, wie der Expräsident Matt Geld gibt und ihn nach New York schickt. Soweit meine Fantasie.

Er trug falsche Goldringe und war meines Erachtens noch nie im Gefängnis. Obgleich wir in einer heruntergekommenen Gegend waren, sofern es das New York überhaupt noch gibt, schien mir alles ganz respektabel zu sein. Acht Stufen einer kleinen Treppe auf der Straßenseite des Hauses führen in einen doppelt gesicherten Hausflur. Wir kämpfen uns ein enges Treppenhaus nach oben, Geruch von Reinigungsmittel und kommen schließlich in Matt's Wohnung an. Ein weißhäutigen und kahlköpfiger Mann in Unterhemd mit Tomatensaucenresten begrüßt uns. Matt setzt sich stöhnend auf das Sofa und schaltet einen Flachbildschirm an. Der weißhäutige mit roten Flecken leistet ihm Gesellschaft. Ich stehe verloren im Wohnzimmer, wie nicht abgeholt und kratze ein paar Worte aus meinem Hals, wo ich denn schlafe und finde mich in einem etwa zehn Quadrat Meter großen Zimmer wieder, in dem eines von vier Betten in zwei Doppelstockbetten für mich reserviert ist. Das war kein Couchsurfing das war ein Joint Venture, eine semiprofessionelle Vermietungsgesellschaft, die mein honduranischer Vermieter Matt und der weißhäutige weniger legitim betrieben. New York ist eine teure Stadt. Ich fühlte mich wie die Schaben, die Nachts in der Küche im Waschbecken eine Schabenpoolparty veranstalteten. Matt neigte dazu, die Tür von innen abzuschließen. Wenn ich oder einer der drei anderen Männer, mit denen ich diese zwei Wochen im Zimmer schlief, die Wohnung verlassen wollten, mussten wir Matt, der Poker auf seinem Pc spielte, bitten aufzuschließen und er bat uns, wenn jemand fragt wer wir seien, zu sagen wir wären Freunde, die zu Besuch sind. Eine Hand wäscht die andere.

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fast konspirativ. Sie gab mir eine Adresse und einen Umschlag, ›und diesen Umschlag müssen Sie in einen noch größeren Umschlag packen und noch folgendes hinein tun…‹«, erzählte ich Rahel damals auf dem Orientzimmerbett liegend, indes ich durch das flammen-zerfressende Himmelbett, die verrußte Decke filmte. »Bernstein, das Leben ist manchmal eine sonderbare Angelegenheit. Tags darauf, machte ich mich auf zu der Adresse, die mir meine österreichische Chefin gegeben hatte. Ich verstand ihr Englisch übrigens besser, als ihr Deutsch. Neunundfünfzigste Straße, gegenüber des Central Parks. Es dauerte eine Weile bis ich mich in die unscheinbare Weinbar schlich, hatte ich doch angenommen: das ganze sehe etwas na ja unseriöser aus… Mit dabei hatte ich den Umschlag, der den kleinere Umschlag beinhaltete und noch dazu einen Zettel auf dem meine Augenfarben, Körpergröße, mein Geburtsdatum notiert war und auf den ich einen Fingerabdruck meines Daumens gepresst hatte. Als ich das am Vorabend vorbereitete, fühlte ich mich, wie im Kriminallabor mit mir selbst. Das pressen meines Daumens auf das Tintenkissen und dann auf den Zettel… Und Hundertundfünzig Dollar hatte ich auch dabei«, es schien als lausche Rahel meiner Geschichte ganz interessiert. »Es war bereits, wie soll es anders sein, dunkel als ich die Weinbar erreichte. Ich wurde sogleich freundlich von einem Kellner empfangen. Es war unnötig gewesen, dass ich in die Bar geschlichen war. Zog meine Mundwinkel künstlich und souverän nach unten, riss die Augen auf und zeigte mit der Rechten, diskret auf den Umschlag in meiner linken Hand, die ich halb hinter meiner Hüfte verbarg.« Rahel, Rahel du warst eine ganz großartige Zuhörerin. Ich hatte inzwischen die Kamera weggelegt, aber nicht ausgeschaltet und putzte liegend die Hutkrempe ab. »Der Kellner bat mich Platz zu nehmen, schenkte mir ein Glas Wein ein und nach einer guten viertel Stunde Warten meinerseits – sicher, ich gab mich unbekümmert, weitestgehend. Nach einer viertel Stunden Däumchen-drehen und langsam am Gläschen Wein nuckeln, wie ein Säugling, der Angst hat, die Mutter könne sich abwenden, begrüßte mich ein gut gelaunter

»Eine Art Ausbildung und Vorbereitung auf einen Test, eine Selektion und Auslese, Spreu von Weizen trennen und mich vom Leben. Noch Heute warte ich auf die Prüfung, die ich mir damals prophezeite, für die ich mich damals in Miseren, wie Madeleines in Marmelade, tauchte und tunkte. Das ist auch schon eine Weile her. Ich war auch nur ein halbes Jahr dort. Mein Touristen-Visum war begrenzt. Auch die gekaufte gefälschte Staatsbürgerschaft machte da keinen Unterschied. Das steht auf einem anderen Blatt. Rahel, das muss ich Ihnen schnell erzählen!«, rief ich und setzte meinen Hut auf, derweil ruhte die Kamera, auf den Kamin gerichtet, auf meinem Schoß. »Das muss ich Ihnen erzählen, das ist wie abgeguckt aus einem Film, ist mir aber tatsächlich passiert. Scheinbar, bin ich doch nicht so unbrauchbar, wie ich das immer denke. Immer dieser Gedanke«, schweifte ich noch weiter, im Bett sitzend ab, während Rahel hinter mir lag. »Eines Tages kommt jemand und bestätigt mir: du bist falsch. Wie dem auch sei«, suchte ich mich wieder zu konzentrieren. Fand das mit dem Hut albern, legte ihn diesmal allerdings neben mich und ließ mich dann wieder rücklings nach hinten fallen. »Im New Yorker Pratt Institut rief mich eines Tages in der Pause zwischen zwei Seminare meine damalige Chefin in ihr Zimmer. Ich setzte mich auf den Besuchersessel und erwartete Schlimmes, wie ich das immer tue. Ich vergrub meine Hände in meinem Schoß, wie ein Schuljunge beim Direktor. Sie müssen wissen Tschkalowa, ich hasse diese infantile Seite an mir. Meine Vorgesetzte allerdings, eröffnete mir, ganz zu meiner Überraschung, wie überaus beeindruckt alle Angestellten, Studenten und Dozenten von meiner Arbeit seien. Es ging überhaupt nicht darum, mich zu entlassen, wie ich das dachte, als ich diesen Tribunalsweg in ihr Büro lief. Sie war übrigens Österreicherin und ich hatte mir Zuhause über die Filmhochschule ihre Mailadresse besorgt, daher der Kontakt. ›Wir hätten nur ein Problem‹, sagte sie. ›Sie brauchen eine Staatsbürgerschaft oder eine Arbeitserlaubnis Mister Oppenheimer.‹ Nun also doch Entlassung dachte ich. Schon war ich erleichtert und wurde wieder überrascht. ›Ich habe dazu eine Lösung, die natürlich, dass werden Sie verstehen, unter uns bleiben muss!‹, flüsterte sie

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Ich bin eine gefälschte Person. Ich bin eine gefälschte Person Rahel!«, rief ich, wiederholte mich und sprang auf, stand mitten im Raum. Feder flogen mit mir im Raum.

kleiner, wahrscheinlich aus Südamerika stammender Mann: Carlos. Carlos stellte sich vor, gab seinem Kellner ein Zeichen und riet mir, ihm unauffällig zu folgen. Ich ließ das Glas Wein auf dem Tisch stehen. Wir erreichten den Keller der Weinbar. Carlos schaute sich noch einmal um und wies mich an, ihm den Umschlag samt der Hundertundfünfzig Dollar, auszuhändigen. Beides tat ich. Kriminalität. Erst bewunderte ich Carlos und sein kleines Labor. Fühlte mich gut, unten im Keller. Fühlte mich verwegen«, dass ich das gerade einer Polizistin erzählte, ist schon lustig. »Dann gehst du raus aus der Weinbar, suchst dir irgendein Restaurant, fragst sichtlich unter Stress… und kotzt in die Toilette. Als du den Restroom verlässt, steht davor schon eine Schlange und du fragst dich, was gucken die denn so, entdeckst einen Rest Kotze am Kinn. Alles, was du denkst, als du das Restaurant verlässt und ich das Schild der Weinbar aus fünfzig Meter Entfernung sehe… Wie armselig dir dieser Typ Carlos… Du denkst dir, Kotze vom Mund wischend, wie armselig dir Carlos vorkommt. Ich dachte mir, wie viel Mitleid ich eigentlich mit dieser traurigen Gestalt von Greencard-Fälscher hatte. Enchanté du manieriertes und exaltiertes Scheiß-ich. Zwei Wochen später, durfte ich meine gefälschte Staatsbürgerschaft abholen. Klar ist, ich konnte diese Art von Staatsbürgerschaft weder am Flughafen vorzeigen, noch staatlichen Verwaltungsorganen, doch für's arbeiten reichte diese schlechte Kopie. Im Pratt Institut erzählte ich: ich hätte in der Lottery gewonnen. Wie glücklich ich sein soll mit der EU und US Arbeitserlaubnis in der Tasche, sagte man mir. Ich liebte es, zwischen den Hochhäusern entlang zu laufen, Häuserblock um Häuserblock zu überwinden. Im Central Park eine Runde spazieren zu gehen, mich auf die Felsen zu setzen, zu lesen, zu schreiben. Die Stadt war mein Ort des Schreibens. Rahel, ich habe nie soviel wie dort geschrieben und noch nie so viele Manuskripte nachträglich entsorgt, wie die aus New York City. Ich komme noch darauf zurück. Und Fotos schießen, auf zu stehen, mich in ein Kaffee zu setzen, wieder Schreiben und die ganze Zeit eine Hand auf meiner Hosentaschen zu wissen und die kleine beige Karte fühlen. Die gefälschte Identität.

Ich versank in einem Reigen aus Wut und Ekel »Ich liebte es diese kleine Karte mit mir rum zu tragen«, ich zog Kreise im Orientzimmer und fühlte mich angenehm beobachtet. »Wissen Sie Tschkalowa«, schulmeisterlich –wie mit dem Zeigestock in der Hand, »etwas falsches ist an mir. Ich bin mit einem Fehler geboren. Ein Fehler, den ich nicht (be-)greifen kann. Vielleicht die Rache und Quittung für frühkindliche Vernachlässigung, Hospitalismus oder das Gefühl das ungewollte Kind einer Affäre zu sein – ich weiß es nicht Rahel. Ich weiß nicht«, pauserte, stand im Raum, schaute Rahel in die Augen. »Diese Karte ist ein Fehler, den ich vorzeigen kann. Das falsche Stück Identität und ihr Beweismittel. Ich liebte das. Seither brauche ich immer etwas falsches an mir, in meinem Leben und muss und muss Fehler über Fehler produzieren, mitunter Filmfehler, dafür bin ich übrigens berühmt – für meine Filmfehler. Frau leitende Kriminalpolizistin, Sie müssen wissen, ich will den Kinogast oder Betrachter meiner filmischen Werke weder primen noch mit sublimen Botschaften versorgen, dass können andere erledigen«. Seminar im Orientzimmer. Privatvorlesung für Rahel. »Was ich will ist irritieren. Ein Film sollte weh tun wie ein Stein im Schuh. Wer Spaß haben will, sollte es mit Sex versuchen. Lars von Trier«, sagte ich Augenzwinkernd und suchte nach einem geeigneten Tisch, wo ich mich rauf setzen konnte. Fand keinen und legte meinen Arm stattdessen auf dem Kamin ab, dass ich seitlich zu Rahel stand. »Die Zuschauer werden es nicht merken. Sie werden keine Ahnung haben, nichts wissen – aber das Gefühl haben irgendetwas stimmt nicht«, sagte ich Zeigefinger hebend, pausierte, schaute geradeaus auf die ordentlich verzierte Tür des Orientzimmers und schwieg zufrieden.

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Atanassov, ich will, dass die Menschen, die meine Filme sehen, das selbe Gefühl haben, wie ich es mein ganzes Leben hatte und haben werden. »Ich muss immer überall…«, fing ich wieder an. Löste mich vom Kamin. Taumelte rüber zu Rahel, die noch immer im Bett lag und stand eine Weile vor ihr und dem Orientbett mit ausgebrannten Himmel. »Ich muss immer vorzeigbare Fehler erzeugen« Atanassov, das haben Sie sicherlich bemerkt: auch in diesem, Brief wimmelt es vor Fehlern »Verstehen Sie das Rahel? Können Sie das nachvollziehen?«, und wechselte wieder in dieses infantile Ich. Rahel schwieg und hörte mir zu. Sie hatte schweigend soviel Macht über mich. Sie brauchte nicht reden, eine Augenbewegung und ein Kopfdrehen reichte und ich lag wieder neben ihr im Bett. ebenbei Atanassov, mit mehren Frauen gleichzeitig zu verkehren, die eine auf die Wange küssen und der anderen noch einen Text schicken – simultanes Lieben. Diverse Objekte in mir, als primäre, exklusive Objekte zu repräsentieren – das selbe Prinzip von Falschheit. Manchmal legte ich ganz offensichtlich den Schmuck einer Frau auf meinen Nachttisch, indes eine andere zu Besuch war. Siehe

neben dich. Siehe du bist nicht die einzige. Siehe das Falsche. Siehe mich an. Sag meinen Namen. Siehe das Falsche. Sag meinen Namen. »Dieses halbe Jahr. Dieses verfluchte halbe Jahr. Rahel, ich kann dir sagen, ich zählte jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde. Die Zeit stand still. Ich war in dieser großartigen Stadt: New York City – Fashion, Music & Booze, wie mir immer wieder beschienen wurde. Immer wieder fragten Freunde aus der Heimat, wie ich es geschafft hatte mich so schnell zu assimilieren…«, sprach ich, die Kamera wieder in der Hand, auf Rahel gerichtet und der Hut lag neben mir. »Assimilieren sagten sie natürlich nicht, aber so etwas ähnliches«, Schulmeister-ich. »Für mich war es Assimilation, statt Integration. Für mich war es, untergehen in meiner neuen Identität. Und ich habe nie soviel geschrieben. Filme machen; viel mehr Schreiben ist leben, auf einer selbst erschaffenen Bühne, wie Negation. Ich bin mein eigener Antiheld«, sagte ich und hatte die Kamera auf mich selbst gerichtet. »Ich versank in einem Reigen aus Wut und Ekel«, erzählte ich wieder großspurig der lauschenden Kriminalbeamtin und kam nicht zum Punkt. Ich werde gesucht von denen, die nicht nach mir fragten; ich werde gefunden von denen, die mich nicht suchten; und zu den Heiden, die meinen Namen nicht anriefen, sage ich: Hier bin ich, hier bin ich! – Jesaja Fünfundsechzig. Ich habe ein Problem mit Zahlen as ist eine Prüfung Herr Andorra Atanassov. Wie ich in meinem Zimmer sitze, wie mein Leben sich auf die Schlafzimmercouch, das Arbeitszimmer und die Küche reduzierte und wie ich Ihnen diesen Brief schreibe, an meine dummen Gedanken von früher denke, höre ich noch meine Worte, wie ich zu mir selbst sagte: ich muss eine Strategie zum Überdauern dieser Situation finden. Vor allem, darf ich diesen Brief an Sie Herr Atanassov nie beenden, denn es ist mein

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schenken. Jedenfalls bemühte ich mich; die Alte nicht anzuschauen. Da ich aber wusste…«, hebt der Mann hinter der Kamera den Zeigefinger und wedelt damit herum, wie ein aufgeregter Hund. »…wo sie sitzt, musste ich wohl ab und an rüber geschaut haben. Dann, sage ich Ihnen Rahel, kommt die kleine Dralle rüber und setzt sich neben mich auf den Hocker. Ein Schwall aus Galle, flutete meine Kehle und ich würgte die Flut wieder nach unten. Aber nicht doch!«, schrie ich Rahel plötzlich an, schüttelte mich, dass mir die Kamera beinahe aus der Hand fiel und beugte mich über sie. »Nicht doch! Du darfst nicht denken, dass mich die Frau anwiderte. Ich will nicht, dass du glaubst ich wäre chauvinistisch. Es war mein Begehren sich einem solches Wesen, wenn auch subversiv anzubiedern.« »Das denke ich nicht Herr Berthold. Erzählen Sie weiter. Ich höre zu.« »Rahel wissen Sie, es ist überhaupt ekelhaft, wenn ich so etwas wie Gefühl zu lassen muss… Wir kamen also ins Gespräch«, legte ich mich hin und Rahel kuschelte sich wieder an meine Seite im verbrannten Bett des Orientzimmers. »Sie kennen das. Es lohnt nicht der Worte, zu berichten, was wir uns da sagten.« Es ist der Kontext, der spricht. »Ich bemerkte, wie sie näher und enger kam, obgleich die Bar gänzlich leer war und wie ich innerlich mich

Abschiedsbrief und mit seinem Ende, endet auch mein Leben. »Diese Frau im Luckydog der Divebar wo ich mit Kollegen billiges Bier und Whisky soff… Diese Frau jedenfalls«, ließ mich neben Rahel ins Bett fallen und suchte wieder Anschluss, Rahel zu erzählen, weshalb ich bin, wie ich bin. »Die saß da brav und zurecht gezuttelt, auf ihrem Höckerchen und vergnügte sich damit, wie blöde durch die Gegend zu glotzen. Ja ich glaube fast: Sie zählte die Flaschen! Nun, ich setzte mich nicht dazu. Ich war noch nie ein Freund dieser leichten Begegnungen – mein Intellekt hat sie mir stets verboten. Ich saß also ungefähr drei bis vier Hocker von der vermeintlichen Dame entfernt. Trank meinen Schnaps einen nach dem anderen und merkte, wie ein niederes Begehren in mir aufstieg.« Leo, wissen Sie, was ich meine. Diese Art von einem beständigen unausweichlichem Trieb, wie eine Fressattacke, Kühlschrankmeuterei und danach beschmiert vom Fraß, weiß man eigentlich gar nicht mehr, warum man das getan hat. Aber es ist erst Einmal Ruhe. Angst-gelöste Ruhe. Ich verschreibe mir Frauen, Körper Leiber und Fleisch, als Selbst-Medikation. »Und mit dem Begehren, entstand ein Ekel«, langsam weckte ich Rahels Interesse und filmte sie, wie sie inzwischen sich liegend auf ihren Ellenbogen stützte und mich oder die Kamera anschaute. »Wir hockten da sicherlich mehr als eine Stunde so nebeneinander, ohne dem anderen Beachtung zu

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ebenso zügellos erwiderte. Als ich ihr jedoch befahl: ›go down on me!‹ und sie in die Knie zwang, dazu ihren widerwilligen Kopf nahm und ihn nach unten stukte, als wären wir im Schwimmbad und ich wolle sie ertränken – und mein Genital in ihrem Mund versenkte, da war ich überrascht: mit welcher Liebe und Hingabe sie es mitten auf der second Street irgendwo zwischen Bedford und Driggs Avenue, zwar Nachts, dennoch annahm und wie heftig sie sich mit meiner Befriedigung und Erheiterung beschäftigte. Ich schaute zu ihr runter, sah ein rundes Paar Lippen und eine Hand an meinem erigierten und beinahe verschwundenen Penis, und sah eine wunschlos glückliche Frau, die ihre Enttäuschung über das Ende der Prinzessinenzeit in eine Fürsorge, die bei dem männlichen Genital anfing und aufhörte, gewandelt hatte«, pausierte und wartete kurz ab und schloss mit: »das nennt man wohl komplexe Reaktionsbildung«, und lachte laut los. Währenddessen wir noch auf dem Orientbett lagen, mein Hut und die Kamera angeschaltet neben uns, fing Rahel an mir die Brust zu streichen. Ihre Finger an meine Lippen zu führen, dann hinüber zu den Wangen, wieder runter auf die Brust, als erregte sie meine widerwärtige Geschichte geradezu. »Ich erschauderte über mich selbst. Wie wir uns mitten auf der Straße vergnügten und ich nahm die Fremde hoch, drängte sie zwischen Driggs und Roebling in eine Art Garten, dessen Gartentor offen stand, öffnete ihre Kleider und machte mich noch an Ort und Stelle über sie her. Nachts in Brooklyn. Urban Gardening zwischen Unkraut, Apfelbaum, seltenen Kräutern und Gewürzen. Es interessiert Sie, was die angebetete Unbekannte dazu sagte? Nun aus ihren Lippen drang Widerwillen und widerliche Lust in einer Tour. We can not… we're not allowed to… we shouldn't… I don't want that… take me know!«, machte ich ihre Stimme und das Gestöhne albern gackernd nach. Auf englisch natürlich sie war ja Amerikanerin. »Das Ganze ging bis zu ihrer Haustür Havemeyerstreet Ecke third Street in etwa Zehn Metern Abstand: nach links raus aus dem Garten, ein paar Meter laufen, mitten auf der Kreuzung Roeblingstreet penetrieren; die Roebling bis zur third runter laufen, hofiere; laufen, zwi-

zwar von ihr entfernte, doch auf ihre Spielerchen: die flüchtigen Berührungen, die knappen Augenblicke, wenn sich unsere Blicke trafen, ihr kleines verschmitztes, prinzessinnenhaftes und unterwürfiges Lächeln, mein großkotzig aufgesetztes Grinsen – mehr als einging. Heut nehm‘ ich dich, dachte ich, als einer meiner Teile versessen die Flaschen zählte und mir die Hand zwischen ihre Schenkel glitt. Sie diese zusammendrückte, als wolle sie…Du weißt schon, was ich meine. Ein Trauerspiel und Spießrutenlauf, sage ich dir.« Wissen Sie mein lieber Atanassov: Hieraus gibt es kein zurück. Was getan werden muss, muss eben getan werden. Ordinär finden sie? Zum Würgen und Spucken finde ich. Wer von verbotenen Früchten isst, braucht sich über Übelkeit, Magenschmerz und Scham nicht wundern. »Da saßen wir also«, fuhr ich in meiner kleinen Erzählung fort. »Und tätschelten, tuschelten und kuschelten auf unseren Höckerchen. Weil ich es aber nicht leiden kann, soviel Anstand ist in diesem Tier – Mensch, Mann, mir – noch vorhanden, wenn vermeintliche Paare sich in der Kneipe, in der sie sich gerade erst kennenlernten, schon gegenseitig an die Genitalien fassen. Beschloss ich die Rechnung zu fordern und mit der Dame in meinem Arm das Lokal zu verlassen. Eine Dame zum töten. Natürlich habe ich für uns beide gezahlt, alles andere wäre doch unhöflich. Nun«, sagte ich zu der in meinem Arm liegenden Rahel und spielte dabei mit meiner Kamera. »Nun, werden Sie denken: eine kleine Geschichte profan und zum sterben langweilig. Nun, will ich Ihnen sagen: wie wir auf der Straße standen, packten mich erneut diese infernale Mischung aus Wut und Ekel. Die neue Triebfedern meines Lebens«, sagte ich süffisante und wir lagen noch immer im Orientbett. Ich legte die Kamera irgendwo hin, ließ sie laufen und griff gedankenlos Rahels Handgelenk und drückte zu. »Schlagen Sie Ihren Routenplaner auf Rahel!«, drückte fester zu. »Luckydog Bedford Avenue, zwischen erster und zweiter Straße. Ich nahm die Alte mit um die Ecke zweite Straße und küsste sie, wie aus heiterem Himmel. Es war weniger schockierend, dass sie meine Küsse

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mein eigenes Inferno. Ich habe Dante, aber nie gelesen. Überlegen Sie sich das mal, als ich Zehn Jahre alt war und in die dritte Klasse ging, hatte ich eine erste Freundin. Wir küssten uns schon, wie wir es bei den Erwachsenen unseren Eltern gesehen hatten und taten so, als würden wir miteinander schlafen, wie wir dachten, die Erwachsenen unsere Eltern würden es tun. Wie gut, dass wir uns dabei nicht auszogen. Wir wussten aber noch nicht, dass man sich verabreden muss, um sich außerhalb der Schulklasse zu sehen. Ich erinnere mich, wie ich Tag für Tag, nichts besseres mit mir anzufangen wusste, als in ihrer Straße vor ihrem Fenster auf und ab zu laufen und dabei fiktive Gespräche mit meinem Mädchen zu führen. Wie albern ist das? Ich habe das ganze Nachmittage lang gemacht. Stimmt, dass ist nicht lustig, aber witzig finde ich, dass ich mich dahingehend kein Stück geändert habe. Einerseits diese große Leere, die sich in Sehnsucht niederschlägt – ich hatte damals das selbe Gefühl von Unempfindsamkeit, wie heute, nur ohne die offen destruktiven Anteile – und als Widerpart, die psychische und physische Unmöglichkeit diese Suche zu beenden oder besser beenden zu wollen. Denken Sie sich das mal, ich hätte einfach nur klingeln müssen. Die Angst vor Zurückweisung ist zuweilen so stark, dass ich außerstande bin, halbwegs rational oder überhaupt zu agieren. Das ist eine Peinlichkeit und erfüllt mich mit Scham. Dieses Erfüllen-müssen von Beziehung und diese riesen Angst davor, die notwendigen Verletzungen, auf diese verdammte ambivalente Lösung darauf hatte ich nur eine Antwort.

schen Roebling und Havemeyer malträtieren und Richtung Kreuzung laufen«, berichtete ich, als Rahel auf meinen Oberkörper stieg. »Und auf dem Hausdach der Amerikanerin, konnte ich währenddessen ich sie von hinten vögelte, die nächtliche Skyline Manhattans sehen. Es ist kein Gerücht, die Stadt schimmert orangen.« as war ein Anblick mein lieber Andorra Atanassov, die Insel bei Nacht von der anderen Seite gesehen. Mein Guter – wie geht es eigentlich ihrer Frau? – Ein Anblick, den ich nie vergessen werde. Rahel küsste mir den Hals und biss mir in die Finger. Ich habe das schon sehr oft erlebt: dass Frauen, die einen wollen, einen unterwürfig beißen und so zu signalisieren suchen, dass sie genommen werden möchten. Sie öffnete mein Hemd und mit ihren Zähnen zupfte sie Haare aus meiner Brust. Und ich erzählte das Ende der Geschichte: »nach einer Weile, verlor ich die Lust an der damaligen Hausdachliasong. Fragte höflich, ob ich mich in ihrem Gesicht ergießen dürfe. Sie verneinte und ich ergoss mich unhöflich über ihren Brauen, Wimpern, Augen, Wangen und was sonst noch in ihrer Visage so klebte. Hören Sie Rahel, diese Akte, klingen nach wilden Abenteuer. Ich enttäusche Sie nur ungern – es ist der reinste Hass, der aus mir spricht«, sprach ich schwer-atmend.

…laufen, penetrieren; laufen, hofiere; laufen, malträtieren und laufen penetrieren…

eonard, der Mensch ist ein schwache Tier, dass lieben muss. Dass aus einem Fluch entstanden ist und mit einem ihm auferlegten Fluch geboren wird, dem: lieben zu müssen. Liebe an sich, hatte in den letzten Jahren für mich eine solch schmerzvolle Qualität angenommen, dass sie mir abgrundtief zu wider wurde. Aus der Angst und dem lieben müssen, dieser immer währenden Sehnsucht in meinem Leben. Was du am meisten brauchst, ist das gefährlichste, was du kennst. Manchmal brennen Finger auf meiner Haut, wie Pech und kommt Liebe hinzu, entzündet sich die schwarze Masse. Pech und Liebe zwei Brandkomponenten für

»Rahel, machen wir uns nichts vor. Der Hass gilt nicht den Frauen, den Objekten und den Anderen an sich. Der Hass, gilt nur mir, der ich es nicht wage, eine illustere Frau anzugehen. Nicht nur das, auch eine, die mir nicht von vornherein unterlegen ist. Es gilt dieser Zorn nur mir selbst, der ich mich lediglich an die hässlichen und indifferenten Menschen traue und an denen meine Wut darüber auslasse«, er-

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klärte ich der, inzwischen auf mir sitzenden und ihre Hüften schwingenden nackten Rahel Bernstein Tschkalowa. Auf den Federkissen, wo vor ein paar Stunden noch die Nutte und ihr Freier vögelten und dann inmitten des Aktes von den Flammen verschlungen wurden und das ganze Zimmer sehr herrlich nach ihren verkohlten Ausdünstungen stank. Bei einem Dreh einige Monate zuvor, hatte ich mir zwei meiner Rippen gebrochen. Ich weigerte mich mit einen Kamerakran zu arbeiten und stieg eigenmächtig auf ein Hausdach, weil ich der Meinung war, dass Kamerakräne ein zu statisches Bild erzeugen. Leider waren auf dem Dach einige Dachlatten locker und ich rutschte gefolgt von Kamera und Dachlatten das Dach hinunter, fiel dabei mit den Rippen auf einen Stein und das korbförmige Gestell meiner Brust trug davon: einige ernsthafte Risse, die nicht so recht verheilen wollten. Rahel, allerdings, wie sie auf mir ritt. Man muss den Teufel schon mal beim Namen nennen. Rahel schien zu merken, ich hätte Schmerzen. Statt sie jedoch abließ von mir und meinem zerbrochenen Krug von Brustkorb, griff sie in ihre Tasche und holte eine Tube Creme hervor und während sich ihre Finger, wie Fassetten eines Fächers auf meinen maladen Oberkörper legten, schmierte sie mir die Brust mit der schmerzstillenden Creme ein. Ich bin ein Hypochonder sondergleichen und Rahel meine Placebo-Ärztin. »Lilienthal!«, dringt es stöhnend aus den wunderbaren Lippen Rahels und ihre klatsch nassen und, wie Hühner, gerupften Haare legen sich wie Federn auf meine Brust. »Liebste, folgen Sie, meinem Atem!«, riet ich ihr, indes sie ihre Beine um meine Hüften wickelte, ihre Hände Abdrücke auf meinen Schulterblättern hinterließen und ich in ihre Ohren wispernd flüsterte: »Rahel, folgen Sie meinem Atem. Rahel, folgen Sie ihm. Schließen Sie Ihren Mund und ziehen Sie Stürme durch Ihre Nüstern.« Es rasen Nadeln unter die Haut und treten wieder aus. Schwindender Geist. Ich schreibe dir sechshebige Jamben auf den Rücken. Unsere Herzen pulsieren, von Wollust gepackt, im Takt unserer Atemstöße. Aufgesperrte Augen geifern gierig fassungslos, in meine Pupillen. Starren gerade aus und verlieren sich.

Blaue Stunde, Kleiner Tod und… Platzangst. Agoraphobie, immer Angst an bestimmten Orten. Immer Raumangst in engen Räumen. Immer innere Panik zu ungünstigen Momenten. rgendwann war ich unmündig geworden. Womöglich war ich schon immer unmündig und wusste es nur nicht, dann weiß ich jetzt, mein Leonard Andorra Atanassov, wie Sie diesen meinen Brief Lesen, Sie sollen wissen: ich bin unmündig. Ich bewege mich doch nur zwischen Unempfindsamkeit und Aggression. Das ist es doch, was dieses mein aufstrebendes Leben geworden ist und in der Mitte, denke ich, es ist alles, wie es immer war und dann geht's wieder driften und verlieren und scheitern. Es sind zwar zugegeben ermaßen einige Frauen mit denen ich bisher in meinem Leben schlief, aber selten war eine dabei, die ich auch intellektuell begehrte. Wie denn auch ? Ich hatte mich zwar im Kulturbetrieb niedergelassen, aber es war egal, weil ich keinen dieser Menschen für voll nahm. Weil ich meine Mitmenschen schon verurteilte, bevor sie sich mir vorgestellt hatten. Weil ich gern dieser schlechte Mensch gewesen bin. Ich liebte es zu sagen, pass auf dich auf mein Herz, ich bin kein guter Mensch. Das wirkte natürlich einmal vorbeugend, also Scham-präventiv: im Bett war ja nicht so viel los. Sexuell-asexuell. Sexuell wann immer es nicht möglich ist. Zum Beispiel wenn ich auf den Schoß meiner Studentinnen schaute, ich hatte nie ein Verhältnis mit einer von denen. Asexuell wann immer es zu geplanten sexuellen Handlungen kam. Ich bin der gute schlechte Mensch vom Kunstbetrieb, der dann erst seine Existenz spürt, wenn die Unerwählte keuchend unter mir liegt. Ich bin ein Fels, der erst ins rollen gebracht werden muss. Der die Gute stundenlang vögelt. Es ist zu einem mechanischem Akt verkam, der nicht seinem Lustgewinn, sondern der Absicherung seiner Existenz diente. Es können Gedanken sein, – wie Gift . Eine Sache; die vorher, wenn auch kläglich, die aber funktionierte. Meist begrenzte sich mein Interesse auf die Möglichkeit: die Beute zu erlegen oder anders gesagt: erlegt zu werden. Der von der Beute erlegte Jäger – am Ende suchte er sich in den Vor-

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dergrund zu drängen und behauptete ständig, er hätte das Ganze angeleiert, dabei hat der Hase sich selbst erschossen. Oder ist mein Bild von Mann und Frau antiquiert und obsolet? Als der Braten dann vor mir lag oder stand, je nach dem, schien es mir absurd ihn zu verzehren. Ich begehrte nicht die Dame, sondern nur die Möglichkeit, sie auf mich zu fixieren. Leo, vergessen Sie nicht, es handelt sich dabei keinesfalls um einen Sport, den ich aus Langeweile betreibe und Überfluss an Zeit. Ich brauche immer wieder neue Objekte, vorzugsweise neue Frauen, wie Sauerstoff, wie Schlaf, wie Nahrung, um zu wissen, um zu fühlen, um zu existieren. Allerdings, heißt das wiederum nicht, dass ich – armes Opfer meiner Affekte – unablässig jeden Tag eine neue Ische brauche. Ich fastete mal eine Woche, mal drei Wochen und manchmal ganze Monate, bis wieder explosionsartig meine Triebe sich bemerkbar machten und wie sie es taten! Sie haben es ja gerade gehört von Luckydog bis zur Havemeyer. So sehr, dass die Frauen, wegen der Male und Wunden auf ihren und meinem Körper, erst einmal den Kerl, der ich geworden war, nicht mehr bei sich halten wollten. Ich war abhängig von der Gunst der Geliebten. Überaus Interessant fand ich, dass es keinen Unterschied machte, wie viel Frauen ich zu mir nahm. Ich konnte über Wochen, überhaupt nicht berührt werden und dann innerhalb eines Wochenendes von zehn verschiedenen, geküsst, liebkost, verführt und überschüttet werden von guten Worten. Es änderte nichts. Es ist und bleibt kein Unterschied. Je mehr ich konsumiere, desto mehr brauche ich auch. Es hat eine Weile gedauert, bis ich erkannte: dieses Bedürfnis ist unmöglich zu befrieden und zu bedienen. Es war nicht ich, der liebte. Ich war es, der geliebt wurde und sehnlichst schwerfällig und gebrochen, sprach und äußert ich mich, spitzte die Auserwählte die Ohren und wollte liebe Wiederworte zu ihren Komplimenten hören – von mir, der ich es nicht mal zustande brachte, auch nur die geringste Form von Interesse zu empfinden. Als ich Sechs Jahre alt war, ich hatte bald Ge-

burtstag – für Kinder eine große Sache, saß ich im Auto. Mein Vater fuhr und wir sollten eine Freundin meiner Mutter besuchen. Es hieß, ich würde mein Geschenk schon eher bekommen. Meine Erinnerung verwischen. Ich saß auf meinem Platz links im Auto und hinter meinem Vater. Schaute aus dem Fenster und ich schwor mir, wenn ich schon nicht auf Menschen mit Gefühlsausdruck antworten konnte, dann werde ich es zumindest vorgeben. Ich werde da eine Freude aufsetzen, wo sie erwartet wird, dachte ich damals. Wie dumm, ich wusste nicht: Manipulation macht einsam.

Zum ersten Mal geschah der Abbruch, als ich einundzwanzig Jahre war. ie fragen sich wie ich es trotzdem schaffte, Frauen zu umgarnen? Sie in mein Netz zu locken? Sie zu stehlen? Es muss und muss an jeder dieser brüchigen Verbindungen etwas falsch sein. Ich brauche etwas, dass mir sagt, was du hier tust ist nicht richtig, eben falsch. Wenn ich Ihnen ein Exempel nennen darf: als ihre Affäre, wenn ich weiß, du betrügst deinen Mann mit mir, bin ich hin und weg und handlungsfähig. Wenn ich weiß, meine netten Wortspielchen stürzen dich in dein Verderben, dann gibt es nichts, was mich abhalten könnte, dir Rosen von Worten ins Ohr zu soufflieren. Hass um Hass, ist ein Vehikel, mich am Leben zu erhalten – eine Entdeckung, die ich erst kürzlich machte; seitdem geht es mir viel besser, denn ich gefalle mir als Behemoth, Ziz und Leviathan. ls ich noch versuchte, der gute nette Kerl zu sein, denn man hie und da stehen lassen kann… Ist das ein Rachefeldzug? Wenn, dann will ich ihn Friedensmission nennen. Als ich jedenfalls dieser gute Mensch sein wollte, wunderte ich mich, wie selten ich es schaffte, für die, vor mir sitzende und vermeintlich eher weniger Angebetete, meiner Fresse einige Komplimente

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abzuverlangen, die ich der liebsten um die Hüften, wie Rindertalg, schmieren konnte – es wunderte mich, wozu ich dazu unfähig war. Wozu es gut sein soll, die Fresse nicht aufzukriegen. Kommen Sie mir nicht mit Selbstschutz – ich hasse dieses populär psychologische Konstrukt. Lassen Sie uns lieber über Angst reden. Sie mich, wegen der heraus-gewürgten Worte, küsste. Ich den Kuss erwiderte. Das Spiel so hin und her ging.

und Denunziation. Als Dank für Gut sein und Nett sein und Richtig sein – beschenkte ich mich selbst, wie zum Geburtstag, mit sexueller Dysfunktion. So zu sagen, bediente ich mich einer kognitiven Sichel aus grauem Stahl und Feuerstein und entfernte das Genital aus meinem Kopf. Ich war fassungslos. Zum ersten Mal geschah der Abbruch… Wie ich es bis dato nenne, keinen Ständer zu bekommen. Abbruch, weil ein roter Faden von Lust, abbricht – verschwindet da sein. Man kann sich das wie ein Gespräch vorstellen, dem die Themen ausgegangen sind. Wie ein Ruderboot, dessen hölzerne Ruder mitten auf dem See abgebrochen sind. Das ist das Gefühl von Abbruch. Du bist mit einem Ruderboot, mutig oder nicht, in die Mitte eines Sees gerudert und dann, wie aus heiterem Himmel, brechen und bersten die Ruder, aber still, unter Wasser und du hast nicht genug Mumm zu sagen, es geht nicht mehr. Zum ersten Mal geschah der Abbruch, als ich einundzwanzig Jahre war. Wie geniert man ein Problem, welches einem von der tatsächlichen Sache… Ich will es nicht Problem nennen, weil mir das zu defizitär scheint. Welches einem von der tatsächlichen Sache ablenkt – in zehn Schritten. Vielleicht sollte ich veröffentlichen, dann brauchen wir aber einen besseren Titel. Ich hatte das Lieben verlernt. Ich hatte vergessen, wie es ist, mich für eine Frau zu interessieren. Wie es ist, mich von einer Dame inspirieren zu lassen – und andersherum, versteht sich, nicht wahr? Alles Marker für eine Manifestation einer allzu bekannten Störungsgruppe – den Affektivenstörungen. Es heißt, es würde aus schwarzer Galle, lateinisch Melancholia zwei Krankheiten entstehen: Krebs und Depression.

»(…)auf meinem Bett – dem verlorenen Königreich.« Ich ihre Schenkel packte. Meine Hände an ihre Brüste fassten. Ich sie mit nach Hause brachte und spätestens; als ich sie wild, gespielt und vorgetäuscht gegen die Küchenwand meiner Wohnung drückte und ihr die Kleider vom Leib riss, sie küsste, ihr das Geschlecht aus-leckte, bis sie bettelnd, auf meinem Bett – dem verlorenen Königreich, darum bat in sie einzudringen… Ich schon wusste, als ich sie noch gegen die Wand in der Küche presste, dass in mir und an mir nichts passieren wird, von mir nichts zu erwarten ist und spätestens dann, ging das routinierte Interview in eine neue Runde. Es gibt den vorgetäuschten Orgasmus und die vorgetäuschte Lust und Erregung. Das Pendant zum letzteren, empfinden wohl die meisten Männer als einmalig diskreditierend. Ganz besonders, weil sie vielleicht noch hofften, wenn sie sich nur anstrengten, würde eventuell noch Blut in ihren trägen, matten und erschlafften Schwellkörper von Penis fließen. Gefickt habe ich die Küchenfrau dann doch und zwar im Schlaf. Wir sind ohne Sex eingeschlafen – ging ja nicht. Aber kurz bevor wir aufwachten, fing ich an sie zu penetrieren und wachte dann erst selbst auf, als sie schon stöhnend unter mir lag. Zu dem Verlust meines Interesses und meiner Begierde an anderen Menschen, soll heißen Frauen, gesellte sich dazu: die Unfähigkeit der Erregung und Vollziehung des rein physische Aktes. Verlust meiner Libido. Entmannung und selbstauferlegte Diffamierung, Verleumdung

achmittag, ich sitze an meinem Sekretär und schreibe Ihren Brief, Herr Leonard Andorra Atanassov. Draußen scheint die Sonne, es scheint warm zu sein, für einen Februartag. Ich kann weit und breit keinen Schnee entdecken. Dächer, Hof, Fenstersimse und so weiter, alles räkelt sich in monotonem grau über grau. Die Sonne liegt auf meinen Händen, wie fremde Hände, warm und beruhigend. Amüsiert Sie meine Schreibweise? Finde Sie

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es witzig, wie süffisant ich mit diesen für mich brisanten Themen umgehe? Lassen Sie sich eines gesagt sein, würde ich diesen Dingen: Leere, sexuelle Dysfunktion, Hass und Isolation, mit dem ihnen gebührendem Ernst beikommen wollen, würden mir wohl die Fingern beim Schreiben versagen und wie Stöcke brechen. Letter um Letter, liegt Sonnenlicht auf meinen Fingern und mir ist heut zum Späße treiben zu mute. Es liegt ein süßer Duft in Luft und ich haue in die Tasten, wie als ob draußen vor der Tür meine Henker warten und ich jeden Moment ihr Einbrechen erwarte.

Ein Balanceakt meiner lieber Leo, ich weiß nicht, ob Sie ähnliche Erfahrung machen durften. Ein Schluck zu viel und es ist aus mit der lieben Lust und Leidenschaft.

Einen zu wenig und es fängt gar nicht erst an. Das Konzept Betäubung und Bindung empfand ich schon immer(!) als sehr Valide. Da ich mich nun nicht unbedingt als den Bindungs-freudigsten Menschen beschreiben würde, schien mir oft der Ausweg in die Flasche, als ein sehr sagen wir: adäquates Vaginal-Surrogat. Atanassov, und damals war ich nicht mal zweiundzwanzig. Haben Sie eine Ahnung – können Sie sich vorstellen, was das für einen Jungen diesen Alters bedeutet? Währenddessen seine vermeintlichen Freunde und Kollegen, von ihren Beutezügen berichten und erzählen, wie sie die eine oder andere zum Beischlaf bezirzt hatten. »Die hat ein paar Schenkel Alter und dann dieser Arsch. Weißte enge Hüften,

Wenn ich nackte Haut vor mir liegen sah und es sich in mir nichts regte und eher noch verstummte und mehr erkaltete und sich alle meine Extremitäten zusammenzogen – ein Gefühl wie beim Eisbaden – und es mir nicht gelang, Mann zu sein. Ve rstehe n Sie, was Kontext ist? Da entdeckte ich das Trinken, als Lösung zur Verschleierung des allgemeinen Zustandes und zur, um ehrlich zu sein, Scham-Verhüllung. Bekanntlich ermaßen ist sowohl das Über-Ich, seine Gewissenskonflikte, als auch Angst in Alkohol lösbar. Und in der bei-nahen Bewusstlosigkeit, dem transzendierenden Zustand, gehörten meine Triebe wieder mir. Es ist so schön, mal wieder Herr im Haus zu sein!

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desaströsen Stories. Ich sitze daneben und langweile mich neidisch. Wenn ich mein Leben noch Einmal leben könnte, dann würde ich alles genau so machen – non, je ne regrette rien oder fragen: muss das wirklich sein, können wir es nicht einfach gut sein lassen? Meine Geschichte ist, dass es keine Geschichten gibt. Wozu auch diese ganzen Albernheiten? Meine Tragödie ist, dass es keine Tragödie gibt. Mein Drama ist, dass die Schauspieler nicht zur Aufführung kommen. Wie ich in der Ecke stehe, mitten mit dabei bin, wie ich in der Ecke stehe und meine Affekte mich überwältigen. Ich bin nichts als ein abgebranntes Freudenhaus. Ich habe mir die Oberfläche eines Charakters auferlegt – eines spaßigen Kameradens. Dazu habe ich mir noch ein Paket an Meinungen und Steckenpferde gezüchtet und diese fleißig mit Kunst und Wissen gefüttert, welche daraufhin so freundlich waren, mir eine achte Hautschicht auf meinen Körper zu legen. Unter dieser obersten Hautschicht liegen verborgen, die sieben Schalen der Hölle. Mein Brief an Sie Herr Atanassov, sollte die Überschrift: ›Beatrice aus Palästina‹, tragen. Was ich auch tue, wie ich mich auch bemühe, wie ich sie auch verfluche, diese Frau, Noushin bleibt bei mir, ohne es zu ahnen. Nabokov würde zynisch sagen, diese Urszene ist mir auf den Leib gebrannt, wie Pech und Federn. Oder sie hat eine Urszene angefacht, wie Petroleum. Merken Sie‘s, wie ich Verantwortung auf meine sogenannte Freunde übertrage? Wie ich sie eine Stufe über mich stelle und erwarte, dass sie etwas wissen, was ich ebenso über sie nicht weiß. Dass sie mir von der Stirn ablesen sollen… lassen wir das.

aber da sitzt ein Fleisch drauf, das glaubste nich.« Ich war erstens noch nie an solchen Diskussion…, hätte ich diese disqualifizierenden Gespräche fast genannt; interessiert und zweitens aber, war ich immer schon ein außerordentlich guter Schauspieler. Ich wusste meine innersten Zerwürfnisse unter einem Deckmantel, der Naivität, des Spaßes und der Heiterkeit zu verstecken. Es war nicht nur Versteckspiel, es war auch Trotz. Ich wollte auch so sein. Ich wollte einer dieser Typen sein. Ich wär' so gern ordinär. Ich wär' so gern ordinär. Und frei von dieser scheiß-Angst, scheiß-Panik und diesem scheiß-Ich. Ich saß mit am Tisch, in einer Bar, in einem Restaurant oder auch in der Kantine einer der Filmhochschulen hier oder in Brooklyn und wenn die anderen prahlten. Ja dann prahlte ich einfach mit. Wie ich die alte auf der Straße vögelte. Die Andere, während des Aktes schlug. Nicht mal den Namen der letzten kannte und sie da liegen ließ, wo ich mit ihr fertig geworden war. Und ich brüstete mich mit noch dutzende und diversen anderen Formen der Erniedrigung. Innerlich: wie ich da am Tisch mit meinen Kumpels und Kollegen saß, innerlich war nur gähnende Langeweile, Leere und der, der ich da hockte, Fragte sich, was für stupide Freunde er den habe, die etwas derart offensichtliches wie meine Lügen, meine falsche Spiele und Manipulation nicht darüber was ich erzählte, sondern wie ich darüber fühlte – wie sie das nicht sehen konnten. Wie es kein Stolz war, wie es verkappte Versuche waren, Hass Raum zu geben und Hass, als Deckaffekt auf Trennungsangst und bodenlose Furcht nicht zu existieren, zu legen. Ich bin ein sehr infantiler Mann. Wahrscheinlich beeindruckte ich meine Freunde und Kollegen auch mit der Anzahl an Frauen mit denen ich mich schon vergnügte – nur, dass es mir eben nicht das geringste bedeutete. Wie sie alle immer ihre kleinen Beziehungsgeschichten haben. Wie sie sich schon wieder, auf die oder die eingelassen haben, obwohl sie das eigentlich nicht wollten und irgendwie, wegen eines unbekannten unwiderstehlich wirkenden Triebes – dieses verfluchte Unbewusste – überhaupt nicht widerstehen konnten, jetzt sich aber schämen – sie tun es nicht. Sie schämen sich nicht, sie brüsten sich mit ihren möchte-gern

Manchmal glaube ich, es ist mir alles vorherbestimmt. Denken Sie nicht, ich würde an Schicksal oder dergleichen glauben, soweit ist es noch nicht und zwar noch lange nicht. Ich bin davon überzeugt, es muss in allem was ich tue, was wir machen; es muss ihm immer ein Vorteil inne wohnen. Jeder Mensch hat eine Idee wie er sein möchte – er hat eine Vision von sich selbst und er sucht diese Ahnung und Idee zu bestätigen.

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Der Mensch muss sein, was er sein kann. Man kann nur machen, was man machen kann. Lachen Sie jetzt? Zurecht, sie haben mich erwischt, eiskalt – ich bin Humanist. Ihnen erscheint das Trivial? Mir auch! Weshalb ich Ihnen das trotzdem erzählt habe? Nur um Ihnen eine andere Einfühlungsmöglichkeit in meine Wirklichkeit zu geben.

kann man Versuch der Regulation auch Suche nennen. Vielleicht kann man Suche, auch Selbst-Entfremdung nennen und vielleicht kann man Selbst-Entfremdung, auch Eigen-Verantwortungs-Abgabe nennen (verzeihen Sie das Wort). Manchmal ist das exerzieren dieses existenziellen Humanismuses eine ganz schöne Bürde. Mir ist schwindelig vor Eigenverantwortung,

Ich bin ja kein schlechter Mensch. Meinen Vorteil so zu bewerten, Sie erinnern sich an den Anfang des Briefes, Wirklichkeiten sind aufgebaut aus Konstrukten, die sich aus Erfahrungen zusammensetzen. Erfahrungen bestehen aus Beobachtung, Bewertung und Evaluierung der ersteren in Konstrukte transformierten Stimuli. Sie merken schon diese altkluge Lehrerart, die ich den Brief durchweg annehme, hat was von überleben, wenn ich Ihnen noch so oft erzähle und sie belehre, was Realität sei, muss sich das doch auch auf meine Realität niederschlagen, muss ich doch überhaupt so etwas wie Gefühl, Sinn und Prüfung für Realität entwickeln können. Überleben wollen. Jedenfalls meiner Situation muss etwas vorteilhaftes anhaften, es muss einen Zweck haben derartig zu bewerten, zu beobachten und zu evaluieren, wie ich es tue und der Vorteil muss größer sein, als sein Nachteil oder mindestens, muss es die, für mich, Realität mit der höchsten Nachvollziehbarkeit sein. Mein intendiertes Handeln, fühlt sich richtig an, deswegen mache ich es – das ist der einzige Bodensatz in dem alles einen Sinn ergibt. Es gibt nichts, was falsch ist. Selbst das Falsche ist das Richtige. Wenn Richtig, sinnvoll meint. Aber auch der Bodensatz, der einem das, was man abgeben wollte, wieder auf die Schultern hievt und vielleicht war Abgabe genau die Intention. Vielleicht kann man Abgabe auch Gelassenheit nennen. Vielleicht kann man Gelassenheit auch Versuch der Regulation nennen. Vielleicht

Sinn und Selbstwirksamkeit. Letztendlich bin ich davon überzeugt: auch wenn alles anders gekommen wäre, wenn ich meine Bedeutung nicht in dieser ehemaligen Tätigkeit des Filmens verloren hätte, wenn diese Frau mich nicht aufgeweckt hätte, um mich für immer Schlafen zu legen. Vergessen Sie nicht Schlaf ist Todes Bruder – meine Mörderin also. Wahrscheinlich ist egal, was passiert wäre und ist. Ich befände mich in der selben Position. Noushin hätte einen anderen Namen, einen anderes Gesicht, das Filmgeschäft würde – was weiß ich – vielleicht sogar die Gastronomie sein. Letztendlich wäre es kein Unterschied. Wie ich diese Sätze schreibe, weiß ich nicht, ist das nicht Teil des Problems, zu sagen: es gibt keinen Unterschied, egal was passiert wäre, stünde ich vor dem selben Ergebnis, rührt dass nicht daher, dass es einen Unterschied machen sollte? Weil ich wie stumm durch mein Leben treibe und was auch immer bei mir anzuschließen sucht, auf taube Ohren stößt, weil ich alles was mir passiert zu Variablen machen? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich würde genauso das Destruktive suchen, klingt mir so logisch. Genauso bewerten und genau dasselbe von meinem Leben erwarten, ist das nicht logisch, wäre das nicht so? Und würde mir selbst nicht gerecht werden. Würde was immer ich auch tue, mache, erschaffe, nie zufrieden sein. Aber vielleicht stimmt das gar nicht und ich habe nur die falschen Sachen verfolgt und jetzt sage ich egal, was ich verfolgt hätte: ich hätte mich, die Arbeit, mein Leben und

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verabschiedet. Sie war in einen anderen Stadtteil gezogen. Ich habe begriffen, dass ich nie wieder auf diese Art lieben werden. Das ist keine Reue. Sie wissen was ich meine, diese Art zu lieben, diese Mischung aus Erwachsen werden und noch Kind sein. Diese herrliche Unvernunft. Sich Hals über Kopf, koste es was es wolle, zu verschießen. Nicht darüber nach zu denken. Will ich dieses Reine zurück? Ich denke nicht. Noushin wohnte nicht mehr bei mir. Kurz nach dem das Hamam schloss, war ich jede Woche mindestens ein oder zwei Mal dort, wo der Eingang gewesen ist und ich ließ das einzige Gefühl, was in mir noch unverfälscht existiert… Ich gab dem Verlust freien Lauf. Ich lief die Straße des Bades rauf und runter, wie ich das als Kind schon machte und bemühte mich, wie blöde in die Hamamfenster zu schauen, was mir nicht gelang, weil sie zu hoch waren. An der Ecke des Häuserblocks angekommen, fragte ich einen Fremden nach der Uhrzeit, machte kehrt und lief zur anderen Ecke, hielt vor dem Eingang inne, ließ das Gefühl des Verlustes sich wieder auftürmen und fühlte dem Moment nach, als mir etwas verloren ging, ich will dich nie wieder sehen, lief weiter zur gegenüberliegenden Ecke und frage Jemanden nach der Uhrzeit. Wie ein verirrter Straßenköter, der sein Herrchen verloren hat. Irgendwann wurde es dann Abend, ich war beruhigt, melancholisch, aber nicht verzweifelt und machte, dass ich Nachhause kam. Das jede Woche ein bis zweimal. Ich sagte damals und muss meinen, der Prozess der Verarbeitung, die verdammte Intrusion hält bis heute an, ist zu einem tumorartigen Grübeln geworden und in all meine Lebensbereiche metastasiert. Ich träume nicht mehr täglich, doch aber wöchentlich von dir.

alle Menschen um mich herum beschissen gefunden, aber eigentlich habe ich keine Ahnung, eigentlich habe ich es nie anders versucht. Machen wir uns nichts vor. Sein Leben gestalten, heißt vor allem es zu Bewerten. Ein Beispiel: Wenn Sie mich fragen, ob ich mich an meine Kollegen von damals erinnere, dann fällt mir ein Name ein: Shawn Scott. Er ist der einzige gewesen mit dem ich ab und an mal, etwas trinken war außerhalb von Luckydog. Shawn spielte Gitarre und war im Pratt eher für die niederen Assistentenjobs da. Er machte das mehr oder minder schlecht. Er war einer dieser vernachlässigten Jungs, die später einmal sagen: die Gesellschaft ist an mir gescheitert. Kurze schwarze Haare, leichte Tendenz zu Glubschaugen, war Shawn nicht hässlich. Wenn wir nicht im Luckydog waren, fuhren wir nach Manhattan wo Shawn regelmäßig in kleinen Clubs vor einer noch kleineren Anzahl an Zuschauern Konzerte gab. Er trug dabei Cowboystiefel und marschierte auf die Bühne zum Galgen. Shawn kam aus Texas und zog jedes Jahr in eine andere Stadt. New Orleans, South Carolina, Virginia, Washington, Philadelphia und New York. Shawn Scott gehörte dem Stamm der Kiowa an. Das waren Indianer aus dem Gebiet zwischen Texas und New Mexico. Seine Mutter oder Mutters Mutter war eine Kiowa und sein Vater Texaner. Es heißt die Kiowa wären besonders große und schlanke Menschen, beides traf auf Scott nicht zu. Das war ihm egal, denn es ging ihm nicht um irgendein Indianertum. Oder das sein Vater oder Opa beides Soldaten bei der U.S. Army seine Mutter oder Oma vergewaltigt hatte. Es ging ihm auch nicht um die Wiedergutmachung historischer Ausrottungsaktionen der Texaner gegenüber den Kiowa. Worum es Shawn Scott ging, das waren fünftausend Dollar, die er jedes Jahr vom U.S. Government pünktlich zum fünfundzwanzigsten Dezember bekam. Reparationsgeld für die Nachkommen der indigen Bevölkerung Nordamerikas. Von diesen fünftausend Dollar finanzierte Shawn die jährlichen Umzüge. Als ich die vereinigten Staaten verließ, war er auf dem Weg nach Boston.Inzwischen ist er, wie ich hörte, bei der U.S. Army und verlobt.

Wir liegen in einem Bett. Liegen wir in meinem Bett? Wie zwei aneinander angepasste Formen, wie Sandburgformen und Sand schlafen wir unter der Decke. Meine Arme liegen über deinem Körper, wie sich überschlagen Wellen. Ich umarme dich von Hinten über deinen Rücken und deine Hände halten meine, wie sie um deinen Bauch greifen. Es ist morgen. Sachte und langsam lösen deine Finger meine Hände von deinem Körper, wie Wasser Sandburgen flutet

nzwischen gibt es das türkische Badehaus nicht mehr. Noushin hatte sich nicht von mir

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und verschwinden lässt. Ein Nuscheln, deiner Stimme, dringt zu mir. Als ich meine Augen öffne, sehe ich deinen schwarzbraunen Haarschopf. Du drehst dich zu mir um, verworren suche ich die verschwommenen Konturen deines Gesichtes auszumachen. Und ich suche in meinem Kopf dein Gesicht. Dort wo die Erinnerung an es liegen sollte, ist eine Haut farbige und neutrale Fläche getreten – Noushin du hast kein Gesicht. Du hast in meinem Traum dein Gesicht verloren. Wo ich deine nuschelnde Stimme hörte, ist ein leises indifferentes Brabbeln getreten. Mein Geist hat begonnen dich in Fragmente zu zersetzen oder ich kann die Stelle wo die Erinnerung an dich in meinem Kopf liegen sollte, nicht finden. Manchmal glaube ich, du bist in mir gestorben. Was bleibt ist – Leere. Dein blankes und leeres Gesicht und mein ausgeleertes Herz. Ist es nicht lächerlich, wie man immer zu glauben versucht ist: alles was ich tue, das hat für mich später einmal eine Bedeutung. Dieses und jenes wird mir einmal nützlich sein. Ich frage; wann wird dieses eine Mal sein und werde ich dann, noch immer sagen, das was ich gerade tue und erfahre, wird mir Einmal nützlich sein. Werde ich dann eines Tages immer noch fragen, wann dieses eine Mal sein wird? Das ist eine Ausbildung – irgendwann werde ich die Abschlussarbeit, ein Examen ablegen und mit einem Knall zurück in die Gesellschaft brechen und die Zeit der Unbedeutsamkeit wird vor rüber sein.

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Rückzug II

ERST ALS ICH mich reingewaschen hatte, von jedem meiner Bilder frei gemacht hatte und jedes Skript einer vorgegebener Situationen abgelegt hatte, konnte ich erst tun, was die abgewaschenen Bilder verlangten. Hieß das – sie waren weniger fort-gewaschen, doch um das Gefühl beraubt, dass mal, hier bewusst, dass sie mal erzeugen sollten und hier nun, ab hier, möglich die Vorgaben zu Erfüllen – ohne Gefühl – wie bitter & ironisch das ist.

ufwachen, klopft es gegen meinen Kopf. Ich liege auf meiner Couch. Aufwachen. Mein Schädel dröhnt. Mir sitzen Messer hinter den Schläfen. Ich kann die Augen nicht öffnen, als wären sie versiegelt. Aufwachen schreit es durch meinen Kopf, durch das Zimmer – habe ich das geschrien? Aufwachen. Ich kann nicht aufwachen. Seile aus Träumen zerren an mir. Wenn aufwachen, wie auftauchen vom Grund eines Sees ist, dann stecken meine Füße in Beton. Ich träume von einem Balkon. Es ist Nacht – in meinem Traum. Mein Geist – ich identifiziere die Wohnung, von der ich träume als meine Wohnung. Das ist der erste Denkfehler. Ich will die Küche umräumen, optisch vergrößern und verschiebe einige Schränke, unter anderem auch den Kühlschrank und dahinter geht ein Treppe zu einem etwa anderthalb Meter tieferen Balkon, der aber insgesamt höher als die Wohnung ist. Über einen eigenen Kühlschrank mit holzartiger Tür verfügt. Sowieso besteht dieser Balkon aus Holz. Holzfußboden, Holzbänke, Holzvertäfelung an der Decke und eine Art Gitter aus Holzbrettern – alles die selbe Farbe, sieht aus wie eine finnische Sauna – schützt vor dem Rausfallen, schirmt den Balkon von der Außenwelt ab und bietet den Blick feil auf eine fremde Stadt, die die eigene ist. Beifallsbekundung, Freudentaumel und ich frage mich, warum hat der Vermieter den Balkon nie erwähnt? Warum habe ich all die Jahre nichts von dem Balkon gewusst? Nun ist die Küche vergrößert und gibt es eine Art Sommer-Wohnzimmer und alles ist fremdartig an dieser Wohnung nur eines nicht: meine Identifikation. Der zweite Denkfehler: daran zweifeln sich mit dem guten zweifelsfrei zu arrangieren.

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Du musst aufwachen, denke ich und liege auf dem Sofa. Aufwachen. Aufwachen. Und es ist noch dunkel draußen, bevor der Morgen graut. Ich sitze in meiner Wohnung auf der Couch. Wieder der Blick in den Spiegel und wieder ist dort nichts, als der Umriss eines fremdes Körpers, zu sehen. Es ist irgendwann Nachts. Die Gegenwart. Ich habe noch nicht geschlafen und diesen fahlen Geschmack im Mund. Dieses leicht brennende Jucken im Kopf an der Hirnhaut(?), dieses Gefühl als hätte ich Drogen: Ecstasy, Speed oder Kokain genommen und komme langsam runter, dieses Gefühl also von: Neurotransmitter allen voran Serotonin und Dopamin sind aufgebraucht. Eigentlich kenne ich das nur von exzessiven Wochen Drehen, Schneiden und Arbeiten. Wenig schlafen, wenig esse, viel Kaffee trinke und viel Stress haben. Das wundert – nicht zu sagen: irritiert mich, weil ich doch gar keinen Stress habe. Ich mache doch nichts anderes, als in meiner Wohnung auf ein Ende warten und Ihren Brief schreiben. Ich fühle mich aber wie ausgebrannt und dabei glücklich und ich weiß: ich habe keinen Anlass für Glücksgefühle. Ich habe das oft nach hypomanischen Phasen. Hypomanisch, weil manisch sein, ich mir nicht leisten kann. Self-monitoring funktioniert also noch. Ich muss Ihnen, meiner lieber Adressat und Freund Leonard Andorra Atanassov, ich muss Ihnen von einem neuen Gefühl erzählen. Hören Sie, ich habe etwas neues an mir entdeckt. Es mag Ihnen sonderbar erscheinen – meine Augen sind nicht mehr meine Augen. Was soll das bedeuten? Ich weiß schon, dass Licht durch meine Hornhaut tritt, danach sich in meine vorderen Augenkammern bewegt und durch meine Iris weiter an meinen Sehnerv geleitet wird und auf meiner Retina ein umgedrehtes Bild dieses distalen Reizes abgebildet wird. Physiologisch ist mir das nicht unklar. Unverständlicherweise, habe ich die Beziehung zu diesem umgedrehten Bild verloren und was ich sehe verunschärft, als bald ich es aufgenommen habe. Nicht aus Physiologie, sondern aus Desinteresse. Als würde ich meine eigene Anwesenheit verlieren. Ich träume und schlafe nicht.

Dazu liege auf dem besagten Polstermöbelstück und verabschiede meinen Geist in den Schlaf, bevor er jedoch in einen Schlafzustand abdriftet, halte ich mein Bewusstsein aufrecht und verbleibe in dem Moment kurz-vor-demeinschlafen. Oft lese ich dabei. Was ich lese, bleibt mein Geheimnis, nicht allerdings wie ich das verstehe, Lesen und Schlafen.

(…) als würde ich meine eigene Anwesenheit verlieren. Mich selbst nehme ich dabei, aus einer fremden und äußeren Perspektive wahr. Ich weiß noch, dass ich in meinen Körper stecke und zugleich ist mir klar, ich befinde mich nicht in diesem Körper. Ich bin zu einem Quietisten geworden. Ich störe mich daran und wenn Sie nun glauben, ich würde die Bibel lesen, muss ich Sie enttäuschen. Ich glaube doch gar nicht an einen Gott. Self-monitoring funktioniert also nur halbwegs. Lesen, das Buch auf den Bauch legen, in den Buchstaben versumpfen. In Träumen von Phrasen versinken. Erwachen und weiter lesen. Roten trinken, lesend einschlafen und unlesend erwachen. Viele meiner Bücher, haben Knicke dort, wo ich eingeschlafen bin. Das ist ein tiefer in Lettern versunkener Schlaf. Wenn ich es richtig und gut anstelle, dann kann ich mitunter für Momente zwischen Text und meinem leben, der Situation dem Kontext schwerlich unterscheiden. Wenn ich das bemerke habe ich es richtig gemacht – ist dann allerdings vorbei; verständlich, nicht?. Wenn ich vom Lesen, Träumen und Liegen sartt bin, dann setze ich mich auf die Sofakante und deute, was ich dort am Grund meines Seeboden wie Flugzeugwracks gesehen habe. Manchmal finde ich dann im Schönen das

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Destruktive und muss über mich lachen, wie auf das Schöne hereinfallen konnte. Die Sache ein neues Zimmer in der Wohnung zu entdecken, ist so etwas schönes, dass sich als etwas destruktives entpuppt. Denn es verstärkt und erhält ein destruktives Moment – mein isoliertes Leben. Ich deute die Entdeckung des neue Zimmers, als den Wunsch zur Veränderung, ohne aber etwas ändern zu müssen. Der Traum als infantile Bühne wartet mit dem Stück: Regression auf. Wenn Realitätsregeln logisch transzendent sind und ich sie im Traum aushebeln kann, wie Flugzeugwracks vom Seeboden heben. Das Alte um das Neue ergänzen sich im Traum und dabei ignorieren sie, dass man sich vom Alten trennen muss, um das Neue zu erleben. Das Paradoxe ist im Traum das logische und die Starrheit der Realität ist im Traum paradox. Heute ist übrigens Montag. Sie wissen Einkaufstag. Inzwischen variierte ich den wöchentlichen zu einem monatlichen Einkauf. Bei genauer Planung, reicht es auch für dreißig Tage, schätze ich. Wenn ich mir angewöhne a) wenig zu essen und b) was dann übrigen bleibt einzufrieren. Ich lebe, wie im Atomkrieg und muss kichern, wenn ich so einen Quatsch aufschreibe. Als ich heute vor dem Supermarkt stand, hatte dieser bereits geschlossen und ich schaute gierig in die noch beleuchteten Fenster und ich war voller Neid, auf alle Menschen, die sich an Öffnungszeiten halten können. Ich dachte der Laden hätte vierundzwanzig Stunden sieben Tage die Woche auf. Schmählich lief ich den Weg zurück zur U-Bahn. Ich erreichte die Bahn knapp, das rote Einsteigesignal über der automatischen Schiebtür leuchtete bereits panisch. Ich stürzte in den Wagon und wurde von den anderen Fahrgästen, wie wahnsinnig(,) observiert. Drei Stationen, dachte ich, als ich

dort hechelnd und keuchend an der Stange zum festhalten hing. Sie fühlte sich schmierig an und meine Hände rochen nach dem langen Zylinder aus Metall. Ich hangelte mich von Stange zu Stange behutsam, aber stocksteif fast katatonisch und motorisch erstarrt auf einen Platz. Wenn dir einmal der Gedanken gekommen ist: Menschen beobachten dich, wirst du das nicht wieder los. Ich hörte einen Penner vom hinteren Bahnabteil zu uns kommen und hörte ihn irgendetwas hinter sich her ziehen. Er stellte sich breitbeinig vor seinen Ziehwagen, der unter einem Ziegenfell Berge von U-bahn und Straßenzeitungen beherbergte, mitten in die Bahn. Ich dachte: er müsse stinken, denn die Leute hielten sich die Nase zu und wandten sich ab. Ich habe mir angewöhnt, das ist der ewigen Opposition und Reaktanz geschuldet, anders als die


langweilig, zum sterben langweilig,« schnalzt er und es klingt ein wenig verzweifelt. Zum dritten Mal. Eine Frau nimmt das Telefon aus ihrer Tasche und nimmt den Hörer ab. »Du musst ganz laut reden«, schreit die Frau ins Telefon. »Aber kommen Sie«, wieder der Obdachlose, »wenn wir was Ordentliches zustande brächten, gäbe es das Blatt nicht,« die gewohnte Ironie. » Ich bin in der Bahn es ist total laut hier«, ruft die Frau am Telefon. Der Obdachlose lacht. »Haben sie das Gehört? Zustande brächten(?), das meine Damen udn Herren ist der Konjunktiv!«, er schaut sich um. »Ja deine SMS habe ich bekommen!«, schreit wieder die Frau ins Telefon. »Wissen Sie Leute unter uns: ich habe das Blatt frisiert. Wissen sie was ich meine? Ne? Woher auch? Also ich hab heute morgen neben einem Kiosk einen Stapel einer schönen Zeitung von der respektablen Seite gelesen und es hat mich nicht mal viel Zeit gekostet, jedenfalls habe ich den Stapel wie er da lag mitgenommen und habe diese Zeit genutzt um interessante Teile aus dem guten Blatt zu nehmen und sie in die Straßenzeitung zu stecken. Um sie aufzuwerten!«, Pause für Dramaturgie – zeigt keine Wirkung. Die Leute schauen desinteressiert an ihm vorbei. Die Frau frisst ihr Handy auf und kreischt durch die Bahn: »nein!, ich bin dann zum Abendessen da«. Der Obdachlose unbeirrt: »was halten Sie davon? Und das alles für einszwanzig kriminelle Handlung mit inbegriffen. Das ist ein Angebt, das können sie nicht ablehnen. Quid pro quo!« »Okay Tschüß!«, schreit die Frau ins Telefon und hält es dabei mit einem Abstand von etwa zehn Zentimetern vor sich. Was mir noch klar wurde: die meisten Menschen besitzen wahrscheinlich das selbe Niveau an Intellekt, Geist und kognitiven Fähigkeiten und intellektuelle Unterschiede sind keine Differenzierung zwischen klüger und dümmer, sondern zwischen Interessen, also sich und seine kognitiven Fähigkeiten fordern und fördern. Neben dem fußen, und das wurde mir klar, die Leute mit selben Denkfähigkeiten auf unterschiedlichen Funktionsniveaus und das meint hier und jetzt Angstregulation. Erfolg ist ein Gradmesser durchgestandener Angst.

meisten Leute, solche Menschen immer direkt anzuschauen und denke darüber, das ist die Gegenübertragung: der strenge Blick. Ich war überrascht. Meist redet ab dieser Stelle eine jämmerliche Stimme über Marter und Leid und Armut wie über bösartige Geschwüre. Der aber, blähte sich auf und hielt einen Moment inne. Ich dachte er hatte das schon so oft gesagt und jedes mal, wenn er es erneut sagen muss, in der sich vom Bahnhof trennenden Bahn steht, dann wird der Moment länger bis zum Text-aufsagen-jetzt. Bis er stumm wird – dann ist der Moment dauernd, bleibend und zeitlos. War er aber noch nicht. Und wie ich feststellte, sprach da eine noch dazu unheimlich eloquente und intelligente Stimme, fast schon von beißender Ironie.

»Wieder einmal eine neue Ausgabe dieser kulturell wertvollen Zeitung. Wieder einmal meine Damen und Herren kann ich Ihnen, nur Ihnen in aller Exklusivität, Ihnen meine teuren und teuersten ein Exemplar der aufsehenerregend, infamosen, ruhmreichen und von dureichtriebender Durchschlagskraft zehrender Zeitung anbieten. Für nur einszwanzig. Überlegen Sie sich das. Hier finden sie herzzerreißende Geschichten über Naturkatastrophen und gescheiterten Persönlichkeiten, wie mir oder wie mich? Das entscheiden Sie. Sprach und Grammatikfehler oder nicht.« Hier wurde mir zum ersten mal klar, dass ich die Gefühle der anderen in mir fühlen kann – den strengen Blick, der einem nur die Ironie als Ausweg lässt. Ein Telefon klingelt. »Also mein hochverehrtes Publikum, was ist? Der eine oder andere liest doch sicher gern. Einszwanzig, seid ihr denn so geizig?«, ließ seine Eloquenz nach und lief er den Wagen ziehend durch die Bahn an mir vorbei – was will man auch erwarten? Das Telefon klingelt erneut. »Leute, Leute, ich weiß Straßenzeitungen sind

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leicht auf, eine normale Frau hat sich, indes ich den Obdachlosen beobachtete, mir gegenüber gesetzt. Sofort schaltete ich in einen anderen Modus. Nämlich dem: du musst jetzt attraktiv wirken. Sie hatte zerfahrene Haare, einen guten strengen Blick. In zwei Jahre, dachte ich, aber werden dir die Wangen einfallen und die noch glatten Lippen bersten. Essentiell für diesen Modus ist, ich muss geheimnisvoll, stringent und unnahbar wirken. Wie gut, dass ich so zwanghaft bin und immer ein Buch einstecke, wenn ich das Haus verlasse. Sie schaute mich an, dachte ich. Ab und zu, hob ich meinen Blick von den Zeilen und stierte in ihre Augen. Wenn dann zufällig, ich las ja mein Buch. Ich liebe es dabei auszusehen, als würde ich angestrengt nachdenken und ihr den Titel, nicht aber zu sehr, unauffällig hin zu halten. Das Buch hieß Intimitäten. Sie interessierte mich nicht. Ich bewege mich oft beim lesen. Eine Art Schokeln. Aber unruhig und defokussiert. Die Bahn erreichte die nächste Station – noch eine, dachte ich. Ich finde, wenn ein Zug oder eine Bahn in die Station einfährt, klingt das oft, als würde ein beharrliches Rauschen nachlassen. Wie als würde sie aus einem Tunnel auftauchen. Als lärme zwischen den Stationen ein schier unerträgliches Brummen und Quietschen, wie Flugzeuge starten. Die U-Bahn übrigens verläuft oberirdisch und zwischen der vorletzten und der Endstation überquert sie einen Fluss. Manchmal bleibt sie auf der Brücke stehen. Selten kommt es mir so vor, als könne ich in die Zukunft sehen, denn wir stehen auf der Brücke. Ich neige nicht zur panischen Anfällen. Auch nicht zur Agoraphobie. Vielleicht schaute ich kurz irritiert aus dem U-Bahnfenster auf dem Fluss hinab. Vielleicht wünschte ich mir auch, die Fenster zu öffnen und zu springen. Wenn diese Gedanken mir zu nahe rücken, werde ich zum Kind und denke mir kleine Spiele aus. Fremden Leuten im Bahnfenster in die Augen schauen, nicht wissen: schaut die nach draußen oder mir in die Augen. Sie nicht wissen zu lassen, schaue ich sie an oder schaue ich nach draußen runter in den Fluss. Tiefstürzen in den Fluss. Untergehen im Fluss.

Die Bahn fährt in den Bahnhof. Die Frau legt auf und steckt das Telefon wieder in die Tasche. Erste Station geschafft – noch zwei. Schweiß liegt auf meiner Stirn. Meine Herzfrequenz ist eindeutig zu hoch. Ich muss mich zusammen reißen. Mundtrockenheit, ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich darf nicht ins Krankenhaus fahren. Benommenheit und Taubheit. Ich darf jetzt die Kontrolle nicht verlieren. »Nicht einer?«, lärmt der Obdachlose durch den Bahn. »Denkt Ihr ich mache das zum Spaß? Also dann ficken Sie sich bitte ganz herzlichst ins Knie!« Ich schlucke und würge meinen kleinen Anfall nach unten. Wie ein Stein liegt er mir im Magen. Die Türen öffnen sich, der Zeitungverkäufer samt Ziehwagen und Ziegenfell, verlässt unseren Wagon, ich drehe mich nach ihm um und sehe, wie er einen Wagon weiter hinten, samt Wagen und Ziegenfell einsteigt – wahrscheinlich den selben Text rezitiert. Ob dieses Mal der Moment zwischen Luftholen und Text sprechen länger ist? Wie der Bettler, der singt, der mit Gitarre von U-Bahn zu U-Bahn zieht und spielt. Der, der zerknüllte Gedichte aus der verlotterten Hose zehrt, zu großen Rezitationen ausholt und der, der den selben Text auf der immer gleichen U-Bahn Bühne spricht und sein eigener Schauspieler geworden ist, alle haben eins gemein – sie haben sich auf ein Leben mit sich und nicht den anderen eingelassen. Alles schizoide Persönlichkeiten nach Riemann. Und hier sind sich der Bettler und der Künstler gleich – was sie auch produzieren mögen. Und unterscheiden sich darinnen dass der Künstler es schafft sich so weit interessant zu machen, dass er einen Markt auf sich fokussiert, wohin gegen des Bettlers Publikum von ihm genervte Fahrgäste oder Fußgänger sind. So gesehen habe ich mich selbst nicht verändert, nur bin ich vom Künstler zum Bettler geworden. Wissen sie was ich bemerkenswert witzig finde und worüber ich ein wenig lachen muss? Wissen sie das Herr Atanassov? Nein, dann sag ich's ihnen! Aus allem egal was es ist, versuche ich krampfhaft eine Lehre zu machen. Ist das nicht witzig? Scheiß Sublimierung. Ich drehe mich wieder um, schrecke innerlich

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Die Bahn steht noch immer, sie muss jetzt weiter fahren. Ich werde die Gedanken nicht los. Der Fluss ruft nach mir. Lesen hilft. Mich in ein Buch vertiefen hilft. Ich schokelte also wieder und beugte mich nach hinten, wieder nach vorn, nach hinten, versunken, meditierend lesend, abgeschlossen lesend, nach hinten, nach vorne, die U-Bahn setzt wieder an, nach hinten, nach vorne, schokeln, lesen… Und beim dritten Verbeuger, sah ich aus meinem Augenwinkel, wie die Unbekannte, ihre Postion wechselte. Eine grobe Erregung durchfuhr mich. Wenn die anderen nur wüssten, was in mir vorgeht, wenn ich besonders gelangweilt aussehe. Sie streckte mir ihren Fuß entgehen. Meine Augen rissen sich von den Zeilen fort. An sich war sie sehr, wie soll ich sagen? Sie war sehr casual, einfach gekleidet. Normal und langweilig. Gemütlich. Schlurfig. Irgendein Pullover, eine zerlotterte blaue Jeans, eine Art Ballerinas, aber abgetragen. Leidlich unattraktiv. Ich senkte meinen Kopf gen Buch und Zeilen und entdeckte aus der zerlotterten, ollen und zerrissenen blauen Jeans, ragte ein in Spitze gekleideter Fuß. Es war gut, dass unsere U-Bahn gerade in die letzte Station einfuhr, ich konnte mich kaum noch auf das Lesen meines Buches konzentrieren. Und dann – dann sahen alle Frauen gleich aus. Jede das selbe Gesicht. Keine unterschied sich und sie schauten mich alle mit den selben Augen an und warfen den selben Blick auf mich. Wenn ich mir aussuchen könnte, mein Leben noch einmal zu leben, würde ich bestimmt fragen, ob denn einmal nicht genug gewesen ist. Alle das selbe Gesicht. Wie ich dort, sozusagen in Gesellschaft war und mehr noch auf dem Bahnsteig selbst, unter Menschen, überkam mich das Gefühl der Fremde, als wäre ich ein lebloses Stück Fleisch, zwischen lebendigen Organismen. Ich spürte schon noch meine Menschlichkeit, allerdings nicht so sehr, wie meine Unmenschlichkeit. Kennen Sie den Unterschied? Menschen lieben und fühlen, Unmenschen nicht.

das ist, ein Unmensch unter Menschen – das brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern. Der Weg zu meiner Wohnung, für mich nichts als der Gang nach Canossa. Gregor lass dein Haar herunter. Derweil habe ich mich auf die Couch gelegt. Ich fröstele ein wenig. Zum frotzeln war mir aber nicht zu Mute. Mein linker Nasenflügel zuckt willkürlich und unwillkürlich. Hypochonder oder Somatisierer ist das letzte was ich sein will. Ich fühle meinen Herzschlag. Ich glaube übrigens es wird langsam Frühling draußen. Überall in meiner Wohnung liegen, Kassetten, Tonträger und Filmmaterial. s ist mir etwas peinlich, der Abend, an dem ich diese levantischen Köstlichkeiten aß, war schon so etwas wie ein Höhepunkt der vergangenen Monate. Ich liege auf der Couch. Unter mir liegt ein Dachsfell. Die stoppeligen Dachshaare, kratzen meinen Hinterkopf. Meine Füßen reiben sich angeregt aneinander. Meine Hände liegen auf meinem Bauch und er selbst macht glucksende und gluckernde Geräusche. Nichts zu hören, außer ein dumpfes städtisches Dröhnen, von weit her. Ich fühle mich, als hätte ich mir eine Zelle inmitten eines Wohnhauses eingerichtet. Ich schweife ab. Bedrohlich, hämmern die Schritte der Nachbarn über mir, in meine Wohnung. Wie die, der Menschen neben mir, es herrscht ein reges Treiben. Vielleicht feiert man Irgendetwas, es sind viele Schritte zu hören und dumpfe Musik geht durch die Wände hindurch. Wenn ich daran nur teilnehmen könnte. Es ist Unnütz und es ist zu spät. Letzte Woche ist mir eine Palme eingegangen. Ich hatte vergessen sie zu gießen. Und eine Lampe habe ich auch kaputt gemacht. In den letzten Tagen war ich sehr zerstreut und auf der Suche, nach weiß Gott was für Dingen. Ich fand etwas Leinwandstoff und ein paar verzogene Keilrahmen und habe daraus eine Zwei mal Ein Meter große Leinwand gebaut. Ich dachte ich hätte keine Farbe mehr. Tatsächlich fand ich noch zwei Dosen mit Titan- und Zinkweißen Pigmenten, dazu noch einen Eimer altes Acrylat. Und ich stellte fest, dass ich den Aschenbecher seit einer Weile nicht geleert hat-

ine Stimmung die anhielt, bis ich die Wohnungstür erreicht hatte. Was für eine Farce

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te, ich weiß Asche ist oft nicht lichtecht und so stellte ich zwei Reihen verschiedener Weißtöne her. Zwei Worte gehen mir seit Wochen nicht aus dem Kopf: Was bleibt (?). Ich habe die gesamte Leinwand verschieden Weiß gestrichen. Warme Weißtöne weiter unten und kalte Weißtöne weiter oben und mit einem dem ursprünglichen Weiß nicht unähnlichem Weiß, druckte ich in die linke Ecke: die Worte: Was bleibt (?). Zuvor habe ich aus einem großes Stück Linoleum die besagten Wörtern ausgeschnitten und sie mit weißer Druckfarbe bestrichen. Weshalb ich mir die Mühe mache? Meine Motive sind gänzlich intrinsisch. Ich denke mir, wenn ich mein eigenes Leben regelrecht verachte, wie in einem Tunnel gefangen bin und dieses äußerliche Leben da Draußen ausgesprochen an mir vor rüber zieht, Sie wissen wahrscheinlich worauf ich hinaus will… nur Zeit, in der man sich selbst verachtet ist verschenkte Zeit und ist nicht ein jeder, nur einmal

Man ist jeden Tag mit sich vor Gericht. In einem Punkt hat der Mensch keine Wahl und das ist zu leben, denn es gibt nichts, außer dem Leben. Ich habe mit dem Filmen aufgehört, arbeite auch nicht mehr in Filmhochschulen, ich bin von der Bildfläche verschwunden. Überall liegen alte Kassetten, Ton- und Datenträger herum, angefangene Dokumentationen, ungeschnittene Filme, hunderte sogenannte Projekte, unveröffentlicht und für die Publikation nicht bestimmt. Es nicht gut genug. »Gegen welches Gericht kämpfst du an?«, fragte mich mal eine Affäre. Manche Erinnerungen bleiben eben. Ich muss und muss, Satz um Satz schreiben, denn dies ist mein Abschiedsbrief, wenn die letzte Interpunktion gesetzt ist – endet mein Leben. Daher darf ich diesen Brief nie beenden. Einige Zeilen, unter diesem Satz, finden Sie wieder, die aktuellsten lyrischen Errungenschaften – leider gespickt mit Rechtschreibfehler. Ich bin so unkonzentriert.

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auf au uf der Welt. ›Warum leben wir nicht, wo wir doch do och wissen, dass wir nur ein einziges Mal da sind, nur ein einziges und unwiederholbares Mal, sind Mal auf dieser unsagbar herrlichen Welt!‹ Mitnichten haben also etwas zu verschenken. Das wusste schon Frisch. Die Antwort aus der Stille. Daher die Literatur und die Kunst, weil ich mir dann später sagen kann: du hast zwar deine Person, dich selbst und alles was dich betrifft gehasst und verachtet und du hast dich selbst kasteit, geschunden und hast gefastet, Leben entzogen – doch geschaffen hast du auch. Es ist also die Beschwichtigung eines künftiges Ich's und vor allem Über-ich's.

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nahm ihr nicht übel, dass sie sich weigerte. Stattdessen machte ich ein paar Aufnahmen. Hüpfte wie ein aufgeregtes Kaninchen und mimte den großen Regisseur, den ernsthaften Dokumentarfilmer, verrenkte mich – Yoga mit Kamera – albern. Noch lächerlicher ist aber, dass man mich als Kamerakaninchen ernst nimmt. Anton Nihad Lindbergh hatte inzwischen auch Kamera-Schienen durch das Pentagramm von Foyer eines niedergebrannten Edelbordells gezogen. Überschwänglich sich überschlagende rußschwarze Fetzen von Papier, fragile Bestandteile von überworfener Struktur, einer nüchternen Welt – wandern durch das Bild. Ich setzte die Kamera auf einen Schienenwagen und nahm einige Fahrten auf. Ich mag das – ein paar Fahrten – als Übergang zwischen den Szenen. So kann sich der Zuschauer auf den Wechsel einstellen, könnte man meinen oder ich will das für den Wechsel, dass ich mich… lassen wir das. Wussten Sie übrigens, dass eine Theorie besagt: Déjà-vu's entstehen wenn Kurzeit- und Langzeitgedächtnis für einen Moment nicht aufeinander abgestimmt sind. So beruht das Déjà-vu auf der Überstimmung von Situationsmerkmalen früherer und gegenwärtiger Momente, dabei kann ein Element der Situation, wie ein Geruch oder das Aussehen eines Objektes, der Blick eines Menschen bekannt vorkommen, was dann nach pars-pro-toto Prinzip auf die gesamte Situation übertragen wird – schon kommt mir das ganze bekannt vor. Übrigens sind Déjà-vu's oft Begleiterscheinungen von Neurosen und Psychosen, wenn ein Mensch den Rückzug antritt. Erst jetzt, wie ich meine Bilder bekommen hatte – die Kamera diktiert und ich folge – erst jetzt fallen mir die: unter Ruß verborgenen Vertäfelungen der gefliesten Wände, die auf dem Boden eingefassten Mosaikpflaster und die im Mauerwerk eingearbeitet Pilaster auf… Ich hatte hier kein Déjà-vu, sondern eine Erinnerung, die sich mir aufdrängte. Ich suche mich noch zu wehren, bleibe stehen, schüttele mich, versuche abzuwerfen und zu vergessen, davon zu laufen, zu entkommen – kann mich dem nicht erretten: abermals von einem Sturm aus Erinnerung davon getragen zu werden. Gegenwart verhindern – paralysiert mich – als träumte ich.

Al-Andalus

ALS ZWÖLF JÄHRIGER war ich mit meiner Familie, das heißt Vater, Mutter und Fünf Jahre jüngere Schwester, in Pula Kroatien. Das heißt am Strand liegen und sich in der Sonne wälzen. Das heißt Abends Kinderportionen von Pasta verdrücken und sich den Mund mit Tomatensauce beschmieren und die Mutter schimpfen hören, wenn Hemd und Hose auch mit-aßen. Das heißt vergessen spielen und mit der Schwester, statt Sandburgen, weil der Strand ein Steinstrand war, Kieseltürme bauen. Das hieß für mich meinen Vater beobachten, wie er den jüngeren Frauen nachsah. Das bedeutete seine Augen verfolgen und sehen, auf welche Körperteile er stierte, und es hieß also zwei Wochen lang sich im Hotelzimmer zu verstecken und so zu tun, als wäre ich früh-pubertär. Sie können sich vorstellen Herr Atanassov, wie abscheulich ekelhaft ich meinen Vater betrachtete, der geilende alte Vater, meine Mutter an der Seite, meine Schwester schiefe Kieseltürme bauend und da ist der Vater und geiferte, aus dem Familiennest und da war ich, der ich aus dem Familiennest schlich, und da erwische ich retrospektive, mein alter Ego, wie ich projiziere und eigentlich nicht meinen Vater verurteile, sondern mich, weil ich Vaters Blicke verfolgte, weil ich Vaters Blicke in mir lebte, weil ich mich schämte. Scham und Schuld für Vatersblicke und meine Gedanken, mich zu entfernen von Mutter und Schwester – was ich nicht durfte.

erschwitzt, keuchend, außer Atem, außer Puste und etwas peinlich berührt, kamen Rahel Bernstein Tschkalowa und ich aus dem Orientzimmer zurück in die sternenförmige Vorhalle des abgefackelten Puffs. Ich hatte meinen Hut wieder auf dem Kopf, hielt verschränkt die Arme vor meinem Mantel – den Gürtel hatte ich ja verloren und ich fühlte noch Einmal das selbe Unbehagen in mir aufsteigen, dass ich auch schon anfänglich in diesen Häuslichkeiten fühlte. Dem Gefühl von Wiederholung, von: ich habe das schon erlebt. Ich weiß das schon. Was auch passiert, es überrascht mich nicht. Mehr diese grundlegende Haltung, die ich mir über die Jahre antrainiert habe.

Heißt das Déjà-vu über Déjà-vu oder gehört das zur Verdrängung und Dissoziation in meinem Kopf und gewinnen hier verdrängte Inhalte meines Lebens an Raum? Agoraphobie ist was für Angsthasen. Ich wollte Tschkalowa‘s Hand greifen und

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ndalusien. Leonard Andorra Atanassov habe ich Ihnen denn davon schon erzählt? Für einen Moment fühle ich mich, als wäre ich nicht im Bordell, sondern in dem andalusischen Café in Jerez de la frontera, welches ich aufbauen half. Ein Glanzstück und repräsentatives Objekt meiner inneren, ständig in Konkurrenzkampf, von einander nichts wissenden, ahnenden und verfeindeten Anteilen meines Charakters, verborgen, versteckt und verdeckt, von dieser glänzenden Persona meiner elenden Visage.

konnten schon Einmal Wochen vergehen. Möglich, dass ich zwischendurch das Leben genoss. Ich weiß Leonard, nicht gerade besonders. Ideal- und Über-ich, Mama und Papa, sind enttäuscht. Ich Sohn, die Enttäuschung, damit kann ich umgehen. Ich war schon immer ein ganz außergewöhnlicher Freigeist und Intellektueller… Hier wird mir auch klar unter welchen Umständen ich also produktiv sein konnte, nämlich wenn Über-Ich noch vom vor-nächtlichem Alkohol sediert war. Ich muss aber nichts desto trotz bagatellisieren und sage: Aufgaben, die ich nebenbei erledigte. Als könnte ich das nicht, ehrlich aus mir heraus sagen: das ist es woran ich arbeite. Allem was ich tue, dem füge ich eine Falschschirmfunktion an. Habe ich ja sowieso nicht ernst gemeint. Ich wusste ja schon zu Anfang, dass… Wenn ich mich angestrengt hätte, dann… Es ist mir ein Wunder, wie ich mit der Einstellung, so weit kommen konnte.

ie folgenden Ereignisse spielten sich noch vor dem Einsatz im Bordell ab und damit auch, bevor ich ein…, dann ein zweites Mal, worauf ich nun zu sprechen komme, aus der Heimatstadt floh. Ich weiß aber auch nicht so recht, Chronologie liegt mir nicht. Das muss noch vor Noushin gewesen sein. Vielleicht sogar noch vor meiner Tätigkeit in der Filmhochschule. Nein, das kann nicht sein. Es muss schon während meiner Zeit als Dozent gewesen sein. Die Ereignisse meines Lebens, sind wie eines dieser Magnetbilder, schüttelt man sie, kommen sie durcheinander. Das städtische Leben war mir rein Bindungstechnisch zu wider. Ich war einsam, fühlte aber einen Druck mich in Gesellschaft zu begeben und gleichzeitig ein Gefälle – denn eigentlich wollte ich das überhaupt nicht. So war ich unter Menschen und tat nichts, als die Menschen um mich herum abgrundtief zu hassen und während wir uns unterhielten, wünschte ich dem einen oder anderen, die eine oder andere Krankheit, verlassen oder gekündigt zu werden, oder andere persönliche Katastrophen. Ehrlich gesagt, retrospektiv betrachtet, komme ich mir lächerlich vor. Meist endete das, Sie ahnen es, in Trinkgelagen, an deren Ende ich unheimlich betrunken, aber besänftigt in ein Taxi stieg, brav meine Adresse aufsagte und aus dem Auto in mein Bett fiel, bis Mittags schlief und den restlichen Tag, damit verbrachte auszunüchtern und meine Kopfschmerzen zu bekämpfen. Nebenbei machte ich noch Aufgaben, die mehr zu erledigen waren, als das sie mich in irgendeiner Weise forderten. Wie die Korrektur von einigen Manuskripten, Rohfassungen von Filmen zurecht schneiden, oder meinen Kommentar abgeben auf die Arbeit eines anderen Regisseurs. So

Allem was ich tue, dem füge ich eine Falschschirmfunktion an.

Weiter im Text. Ich wusste es wäre das vernünftigste unter Menschen zu sein und deshalb drückte ich mich hin zu: Stadtfesten, belebten Plätzen, tosenden Cafés bei Nacht, Restaurants, Museen, Konzerten – überall wo Menschen waren, wo enorm viele Menschen waren – ein grauer Schleier aus Hass und Lethargie, Behemoth und Leviathan umgaben mich stets, wollte ich menschlich sozial sein. Wollte ich Kontakte schließen. Wollte ich einer dieser jungen Männer sein, die schon wussten wohin sie wollen… lassen wir das. Tatsächlich führte ich die beiden, Leviathan und Behemoth, wie zwei Haustiere an Hundeleinen gassi und der Vogel saß mir, wie ein Piratenpapagei, auf der Schulter. Jeschua ist gestorben. Jeschua ist für Sünden gestorben. Jeschua ist für die Sünden der Menschen gestorben – aber nicht für meine. Jeschua ist nicht für meine Sünden gestorben. Es gibt nichts besseres, um sich einsam zu fühlen und Isolation zu bestätigen, als belebte, vitale und tosende Orte. Vollgestopft mit Men-

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führen. Ständig sich mit einem mannigfaltigen Novum an Reizüberflutung zu überschütten, wie unterm Mistelzweig stehen und mit Teer übergossen werden – fehlt noch das Federkleid. Sie haben eine Sendung verpasst? Macht nichts schauen Sie morgen wieder rein, es kommt ja das selbe… Ich liebe jeden Tag im Zug sitzen, Flugzeug fliegen, mit dem Auto fahren, ich könnte mich nicht lebendiger fühlen, als wenn sich meine Umgebung bewegt. Wozu ich das so sehr brauche? Nun ja, jemand wie ich, der keinen Charakter hat, der nichts als ein leeres, unbeschriebenes Stück Papier ist, der tendiert dazu, ständig mit allem möglichen Objekten oder Aufgaben verschmelzen zu wollen. Offensichtlich Verlust von Autonomie und für einen wie mich, brandgefährlich. Dann kommt der Hass ins Spiel. Das heißt Distanz. Aggression heißt Distanz und Anerkennung, manchmal ist das Leben paradox. Meist ging ich vor jeder dieser Geschäftsreisen, also Fluchtversuchen einen neuen Anzug kaufen, dass ich Einmal über fünfundfünfzig Anzüge in einem Monat kaufte – Fünfundfünfzig Federkleider für das autoaggressive Huhn, dass sich die Federn aus der Brust klaubt. Das kam daher, dass ich an einem Tag gleich zwei oder drei Ziele ansteuerte. Es war nicht einfach, jedes Mal ein passendes Model zu finden und brachte mich Zeitlebens in enormen Zeitdruck, der mich zudem horrende Summen kostete. Es war mir jedoch möglich, über eine bestimmte Zeit einen privat Kredit bei meiner Bank einzufordern, dass ich dieses Leben, was mit leben oder Lebendigkeit gänzlich wenig gemein hat, dennoch, trotz aller lebens-verneinenden Umstände oder soll ich Affekte sagen?, in einer unsagbar komfortablen Art und Weise zu führen in der Lage war. Zumal eben, jemand mit diesem Pensum an Arbeit, verdient auch gut und spart dazu enorm, das alles wurde ja bezahlt. Ein bisschen wie ein Kind fühlte ich mich da nach zwei bis drei Monaten reisen. Unterbrochen wurde diese Reiseflucht eigentlich nur Einmal, in all der Zeit. Und das war, als einer meiner Arbeitgeber einen Auftrag absagte, den ich im Namen der Filmhochschule angenommen hatte. Einen Vortrag, gerade einen Vortrag. Ich nahm das sehr persönlich, reagierte nie wieder auf seine Anrufe. Dann noch über

schen, die einander zugewandt sind. Man selbst aber geistergleich und totenbleich durch bezogene Massen schlurft. Was macht man dann? Konsum, Fressen, Konsum, Saufen und nochmals Konsum. Kauen, Schlucken, Würgen. Am einfachsten ist es auf Stadtfesten, dort frisst und trinkt man sich von Stand zu Stand, steht in Schlagen, wartet in endlosen Warteschlangen sucht Bedürfnisse zu erfüllen, die Konsum nicht stillen kann – und die restliche Zeit tut man so, als würde man jemanden verfolgen, suchen und natürlich nicht finden. Besonders die langen Warteschlange sind ein Geschenk. Für wen das ganze? as man für die Anderen tut, tut man für sich. Für die Anderen, als Objektrepräsentanzen, im eigenen ich. Die Anderen, die Objekte stehen dabei Pate, als funktionstüchtige Variablen eigener Unzulänglichkeiten. Als ergiebige Fläche zur projektiven Identifikation. Nicht aushalten können meiner eigenen Anteile; verrufener Persönlichkeiten, frappierender Eigenschaften und von Eiter, wie Scham, überzogene Wunden, die sich stetig von neuem am Anderen entzünden, an Objektbeziehungsrepräsentanzen vergiften. Marter und zermürbende tagtägliche Routine, deren brisanten Kopfschmerz, ich schon lange nicht mehr spüre und nur mehr, als dumpfe Begleiterscheinung, Sekundärleid und insuffizienten Effekt, einer schwer tragenden Last und mitunter, sogar, wenn ich ihn denn mal wahrnehme, als greifbare Erleichterung verstehe. Dabei ist das nicht mal gelogen, es ist in der Tat eine Art Suche, statt einer bestimmten eine unbestimmte Suche, fehlende Anteile auszufüllen, was ein Leben lang nicht gelang. Die Ausbruchsgedanken belebten schon lange mein Blut. So oft es irgend möglich war, ging ich auf Geschäftsreisen, nahm Aufträge an, die mitunter Zwei Tagesreisen entfernt waren. Logi und Hotel wurden bezahlt, trotzdem war das zu erledigende nicht der Reise wert und meine Auftraggeber, hatten mehr als Dank für mich über. Sie wussten nicht, dass beständiges Reisen die einzige Möglichkeit war, mich von mir selbst zu entfernen. Ständig auf Achse sein, bedeutet ständig neue Dinge sehen, neue Menschen treffen, die selben Gespräche wieder und wieder zu

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mein Lieblingsthema Beleuchtung und die Beetwas anderes als Aufmerksamkeit. Manchmal deutung des Lichts, farbliche Ausleuchtung spewill ich auch nur überrascht werden – einfach zifischer Szenen, als Marker für unterschiedliche so mal wundern. menschliche Situationen im Film. Ich weiß noch, ich saß unzufrieden in einer Etwa Zehn Uhr, las ich von der Bahnhofsuhr Art Rosengarten, Zeitung auf dem Schoß, wetzab. Ich rauchte Pfeife zu der Zeit Virginia #1 Tate unruhig die Cowboystiefel unter mir. Holte bak, hatte meine Sonnenbrille auf und wetzte mein Telefon aus meiner Innentasche. Beobachmeine Cowboystiefel, die ich damals öfters trug, tete, eine Gruppe Jugendliche im Rosengarten auf dem Bahnhofsboden und Dreck aus fernen rauchen. Sie paffen und husten und ich stecke Ländern, knirschte unter meinen Stiefeln. Ich das Telefon wieder ein. Nehme den Hut ab und war noch nicht in den Zug gestiegen. Wartete fahre durch meine Haare. Niederlagen bereiten dick in Fliegerjacke eingepackt, ein Fuß auf dem mir Schwierigkeiten. Ich kann das schwer ertraAktenkoffer auf dem Bahngleis, dieses modergen. Es ist einfach… niemand hat das gern. Was nen Hauptbahnhofs. Dem wichtigstem Eisensoll ich sagen? Atanassov, ich bin nicht gut im bahnknoten der Stadt, wie man sagt und der Scheitern. höchster Turmbahnhof Europas. Zugegeben ich Am weißen Holzgerüst ranken Rosen und war gelangweilt und fütterten mich mit belangbaumeln über mir. Ich wähle die Nummer der losen Details über diesen Bahnhof, der in einem Filmhochschule. Es dauert bis man mich mit Gebiet stand, an der die Gentrifizierung der meinem Chef verbinden kann. Ich hatte mir Stadt, wie ein ICE am Provinz-Bahnhof vorbei eine Aussage parat gelegt und wollte nichts, als gerauscht war. Ich dachte schimpfen über diese immer, hier müssten die unzuverlässigen AufBürogebäude wie Pilze traggeber. Die Gruppe aus dem Boden schießen. Wenn ich mein eigner Leser Jugendlicher zieht an Zehn Uhr zehn, mein mir vorbei. Ich warteTelefon klingelte und ich wäre, würde ich schimpfen – te auf meinen Chef und bemerkte das Klingeln fürchterlich schimpfen. sogar sie schauten mich erst beim dritten Anruf. spöttisch an. Ein Pärchen Absage. ›Es tut uns sehr setzt sich neben mich auf leid Herr Oppenheimer die Bank. Sie setzt sich Lilienthal, leider ist unseauf seinen Schoß. Sie re Intendantin verstorben. Schlaganfall. Wirktrinken rote Getränke aus Plastikbechern – ich lich schlimm. Alle sind sehr betroffen. Wir müsnahm an: Spritz oder Bitter mit Soda. sen daher Ihren Vortrag…‹ Mein Chef geht ans Telefon. Mir fällt die ZeiIch hatte einen Frosch im Hals. Ein ungetung aus dem Schoß. Beim Versuch sie in der wöhnliches Kratzen verhinderte sprechen und Luft aufzufangen, das Telefon auch. Ich entschulich japste ein zerrissenes: ›Ja‹, ins Telefon und dige mich. Er wusste schon bescheid. legte auf. Herr Winters macht auf mich immer einen Ich kenne eine perfekte Heilmethode gegen unsagbar chaotischen Eindruck, ständig verHalsschmerzen: Durchschneiden! Hitchcock. gisst er Meetings, Deadlines und Projekte. Er Es konnte mir nichts schlimmeres passieren. war hochgewachsen bestimmt zwei Meter, hatNichts was mich mehr enttäuscht hätte, als jetzt te schon früh eine Glatze bekommen, ging nie ohne Mütze aus dem Haus. Er hatte ein ganzes zurück in meine Wohnung zu fahren und ich Sortiment an Hüten, Mützen und Kappen. Er beschloss wie ich war in einen Stadtteil meiner hatte für jedes Wetter, für Regen, Sturm und Heimatstadt zu fahren, in dem ich bisher noch Sonnenschein eine andere Kopfbedeckung. Am nie gewesen bin. Ein billiger Trick – ich weiß. liebsten jedoch trug er ein graues Armycap, mit Ich fand da jedoch nichts interessantes. Interdem er, nach eigener Aussage, eine Zeitlang in essant, wenn ich von interessant rede, meine ich der Aravasenke verbrachte. Auf halber Strecke etwas, einen Menschen, der zufällig an mich hezwischen dem Toten Meer und dem Golf von ran tritt und mich bewundert. Ich bin auf einer Akaba selbst einen Film drehte und eine Reise, chronischen Suche nach Wirksamkeit. Das ist

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konnte es passieren dass egal wo, Herr Winters auf ein Vieraugengespräch bestand. Und wenn er richtig sauer war, konnte es passieren, dass ihm währenddessen das Armycap vom Kopf fiel. Meine Sorge war also berechtigt, ich wollte mich mit diesem Mann nicht anlegen. Keine Lust, betreten wegzuschauen, wenn ihm die Kappe runter fiel. Er wusste bescheid. Kein Problem die Sache. ›Machen Sie mal Urlaub. Alles okay.‹ Machen Sie mal Urlaub? Machen Sie mal was? Zeitung und Telefon landeten wieder auf dem Boden, dieses Mal hatte ich sie geworfen. Ich soll Urlaub machen. Alles okay? Sprang ich auf und stoß mir beinah den Kopf am weißen Gerüst. Das Pärchen starrte mich an. Ich machte drei Schritte auf die zu und sagte temperamentvoll: »ich soll Urlaub machen. Urlaub! Ich!«, schrie ich. »Das kann doch nicht wahr sein«, und trabte davon. Langeweile getrieben schlich ich zurück zum Bahnhof und arrangierte mich mit dem Gedanken endgültig nach Hause zu fahren. Meine Reiseflucht zu unterbrechen und ein paar in den eigenen vier Wänden zu verbringen. Nichts gab wo vor ich mich mehr fürchtete. Sicher ich hätte auch einfach mehr in der Filmhochschule machen können. Aber das war wie ein zweites Zuhause. Dasselbe ist mit Menschen, die ich zu gut kenne. Ein und dasselbe Theaterstück mit jedem Menschen, der bei mir ist. Erst übersteigerte Idealisierung, gefolgt von: ich überschütte dich mit meinen Konflikten. Bis du der Konflikt bist und zum finish, kommen wir wieder auf mich zurück und in deinem Gesicht sehe ich mich und nehme reiß aus. Ich fürchtete nicht die Decke fällt mir auf den Kopf, den sie liegt bereits auf dem Boden. Irgendwo auf halber Strecke zum Bahnhof in unbekannten Häuserschluchten und auf fremden Straßen lag dort am Straßenrand wie hin-

auf den Spuren von Jean Louis Burckhardt unternahm, einem Schweizer Orientreisenden und eine viele beachtete Dokumentation über Petra die verlassene Felsenstadt, schuf. Als Jean Louis Burckhardt am zweiundzwanzigsten August achtzehnhundertundzwölf die Stadt für Europa neu-entdeckte. Seitdem jedenfalls trug Winters fast ausschließlich das graue Armycap. Manchmal neigte er zu cholerischen Ausrastern und kurze Zeit später wollte er wieder auf große Familie machen. Wenn er einen auf dem Kieker hatte,

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tiefe Krise und weckte eine latente Melancholie, dass ich schwarze Galle spuckte. Freizeit und Krise, nicht die besten zwei Komponenten für das Erfolgsmodell. Ich war eine Art Handelsreisender ohne Handel. Also blieb ich ein Reisender und vom Reisenden blieb ein Flüchtender. Flüchten heißt suchen, suchen heißt nicht finden, nicht finden heißt sich entfernen, sich von sich entfernen heißt… – wehe dem der dann aufhört zu reisen. Vier Wochen verbrachte ich im Hamam und nachdem Noushin und Abu mich wie ein Kuckuckskind verstoßen hatten, saß ich erneut auf der Straße und musste den Rückzug in meine Wohnung antreten – diesen Urlaub rumkriegen. Sommer. Ich schwitze im Stehen. In der Küche liegt eine rechteckige Form aus Licht auf den Fliesen. Meine Haut, schmierig. Ich stehe im Rechteck, wärme meine Füße, trinke ein Glas eiskaltes Wasser aus dem Kühlschrank, schaue aus dem Fenster in den Hinterhof, beobachte Sonnenblumenköpfe im Wind wiegen, beobachte die Sonne die Hauswand wie Spinnen oder wie Efeu entlang laufen und klettern, neige denn den Kopf und hebe ihn Richtung Himmel. Wenn Sie mir verkitschte Religiosität attestieren wollen, werde ich sauer. Und ich beobachte jetzt teilnahmslos Wolken wandern. Aber geöffnet ist das Fenster nicht. Aber meinen Durst kann das kalte Wasser nicht stillen. Aber beruhigen können mich wiegende gelbe Köpfe nicht. Aber Formen suche ich in den Wolken nicht zu erkennen. Ich nehme den Kopf aus dem Wolkenbett und blicke auf meine Hände und sie rufen: ›tue etwas. Mach etwas. Du darfst nicht aufhören, dich zu drehen.‹ Aus dieser Situation ohne Aufträge, wegen Urlaub… Das läuft in der Filmhochschule so: die Aufträge laufen zunächst in der Schule zusammen, wie in einer Art Sammelstelle und werden von dort aus an die Mitarbeiter und Studenten verteilt, seien es Gesuche nach Kamerafrauen oder Männern, Kameraassistenten, Regisseuren, Regieassistenten oder Hilfsarbeiter, Statisten, Komparsen, selten Schauspieler – für die gibt es extra Agenturen. Manchmal versieht der Auftraggeber den Auftrag schon mit einem Personalwunsch. Das heißt dann: für den Vortrag über Belichtung wünschen wir uns Herrn Oppenheimer Lilienthal. Oder für die Doku-

geworfen, das türkische Hamam. Und ein Mann in Fliegerjacke und Cowboystiefel, mit Aktenkoffer und Tabakspfeife betrat das Gebäude, als wolle er es nicht mehr verlassen. Für ein paar Wochen konnte meine Flucht vor Leere, Gleichgültigkeit und Taubheit mit einem halbwegs adäquaten Ziel – oder Flüchtlingslager aufwarten. Als das Bad geschlossen wurde, auch das habe ich Ihnen schon gesagt, baute ich oft die Straße, in dem sich das Bad befand in meinen Spaziergang mit ein. Manchmal, retrospektiv ist es mir peinlich, manchmal machte ich mich mitunter schon mehre Stunden früher auf, um Zeit auf der Straße des H. zu verbringen. Eine Schwäche, wie sollte es anders sein, ist die größte primäre Schamquelle und jetzt auch sekundäre, mich darüber zu schämen. Ich hatte also Urlaub. Familie, Kinder oder Freunde mit diesen Sachen hatte und wollte ich mich nicht abgeben. Meine Freunde waren meine Kollegen oder die Menschen, mit denen ich am meisten Zeit verbrachte waren Kollegen, also Freunde – rein quantitativ betrachtet. Ich empfand es als hinderlich, blockierend Menschen außerhalb meines Berufsstandes kennenzulernen, das war reine Zeitverschwendung und pure Ablenkung. Ich durfte mich nie ablenken. Ich muss schaffen und weiter schaffen. Das ist das einzige was zählt. Mit Freunden schafft man nicht. Mit Freunden hält man sich auf. Wenn ich mal mit sogenannten Freunden unterwegs war, fühlte ich mich behindert und ich wurde sauer auf diese Menschen, weil ich sie als meine Behinderung sah. Ich hasste es, wenn Menschen mich daran hinderten zu arbeiten. Make Art Not Friends. Allerdings muss ich zugeben, hatte ich keine äquivalentes Patent, wenn es hieß: Urlaubszeit. Sicherlich habe ich auch hierfür profunde Abwehrmechanismen. Einer davon ist Literatur. Schreiben ist diese Sache, die ich mache, wenn von Außen kein für mich adäquater Job reinkommt. Infantiler Trotz. Kindliches Bocken. Mehr ist das nicht. So hatte ich also Urlaub, und keine Ahnung, was ich mit diesem Urlaub anfangen solle. Ich hatte nicht nur Urlaub. Die Sache mit Noushin, dem Badehaus und Abu – meinem Verrat, das alles trieb und stürzte mich in eine

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schaute ich das was ich da zusammen geklaubt hatte an, schämte mich – weil es so plakativ und geradlinig war – und sortierte es zu den dutzenden anderen unfertigen und unvollendeten Projekten. Es war auch nicht mehr, als ein paar Bergaufnahmen, die ehrlich gesagt überall her sein konnten. Da hätte ich mich auch gut an die Brenner-Autobahn stellen können, den Verkehr filmen können und über das Verkehrsaufkommen berichten können. Alles können und nichts wollen. Vielleicht sollte ich eine Doku über meine Hilflosigkeit machen. Unter dem Aggressiven lauert das Gelangweilte, unter dem versteckt sich das Depressive, unter dem Melancholischen verhüllt sich Leere und Leere heißt, nie Beziehung erlebt zu haben und unter dem: sich nie bezogen gefühlt zu haben, ist verhüllt: die panische Angst des Kindes, allein gelassen zu werden. Alles nur Konstrukte und Hobby-psychologie. Am Ende ist Aggression nur eines, nämlich Aggression. Alles andere, alle Deutung ist ein geben. Und geben muss niemanden etwas, schon gar nicht unbewusst. Den Menschen zu psychologisieren ist ein Geschenk und jeder muss für sich überlegen, will er dieses Geschenk geben. Was die einen Luxus, Lotterleben und einen Traum nennen, rufe ich ein leidiges Leben! Ich musste immer schneller reisen. Wenn es anfänglich noch genügte, an irgendeinem Ort eine Woche zu bleiben, ging das später nicht mehr und ich musste täglich abreisen, zureisen, durfte nie ankommen. So gesehen, kann ich sagen, Reisen war eine Art letzter Rettungsversuch, ein finales Ablenkungsmanöver, vergessenes Heimlich-Mänover, weil ich das Wort so mag und oft das Gefühl habe, mich am Leben, wie am roten Apfel, zu verschlucken. Wer geistig nicht ausgelastet ist, der muss sich körperlich soweit erschöpfen, dass ihm das geistige vergibt – oder bis es eben aus Erschöpfung, die Fresse hält. Was sonst Bindung und Beziehung an Zeit bedarf, muss ersetzt werden. Eine Woche besteht aus hunderachtunsechszig Stunden, ein Monat folglich aus sechshunderzweiundsiebzig und ein Jahr aus achttausendundvierundsechzig Stunden – rein rechnerisch betrachtet. Diese achttausendundvierundsechzig Stunden müssen verlebt werden, dazu muss gestaltet und geplant werden. Den meisten Menschen

mentation wünschen wir uns Lilienthal und Lindbergh. Dann landet in meinem Postfach eine Anfrage, ob ich nicht Lust hätte… Habe ich meist nicht und mache es trotzdem. Ohne Auftrag jedenfalls, entwickelten sich aus den Geschäftsreisen grundlose Trips und fühlten sich für mich, wie illegitime Reisen an. Ich fuhr in diverse Städte, übernachtete dort, bildete mir irgendeinen Reisegrund ein, manchmal war da einiges an Einfallsreichtum gefragt – mir Sinn und Zweck einzutrichtern. Sie erinnern sich an New York. Meist waren Literatur und Filme drehen meine Deck-Legitimationen, entweder weil ich ein Buch gelesen hatte und sehen wollte, wie bestimmte Orte aussahen und sich anfühlten, um zu vergleichen zwischen Beschreibung und vermeintlicher Realität – wie bei die Lehre der Sainte-Victoire – weil ich selbst über diesen oder jenen Ort schreiben wollte oder um einen Film zu drehen und schließlich reiste ich ganze Monate, beliebig von Ort zu Ort. Meist waren die Ergebnisse auch nicht so schlecht. Ein guter Pilzsucher war ich allerdings nie. Ich will hier mal beispielsweise den Versuch einer Dokumentation nennen, über das besagte Buch, dazu ließen sich ganz anschaulich über Bilder des Berges und Wanderungen von hier nach da Passagen des Buches lesen und nebenher Deutungen vornehmen, wie jemand Schreib-Legitimation sucht. Im Heil jemandes, der zwar keine Schreib-, dafür aber mehr als Mal-Legitimation gefunden hatte. Im übrigen eine schöne Doppelung. Ich mag so etwas. Autor, der dem Maler nach schleicht und Filmschwein, wie auf der Suche nach Trüffeln. Sau, die den Autor auf seiner Suche nach dem Maler verfolgt. Die Trüffel waren dann doch nur vergammelte Pfifferlinge, wie sich später herausstellte. Vielleicht kann man daraus ja noch ein Theaterstück machen, wie ich den Autor verfolge, wie er den Maler verfolgt. Wie alle sich dem Berg anbiedern und Zuflucht suchen und manche sie finden und manche nicht. Wenn ich mein eigner Leser wäre, würde ich schimpfen – fürchterlich schimpfen. Vielleicht werde ich vorher aber noch verrückt, bevor der erste Satz geschrieben ist. Wer muss den dann überhaupt schreiben, der Autor, ich oder der tote Maler? Die Welt ist ein Irrenhaus. Nach etwa fünfzig Prozent der Arbeit,

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mit denen ich mir meinen Weg durch Europa bahnte, ob ich da schon wusste, ich würde in Jerez de la Frontera landen weiß ich nicht, aber Windkrafträder verschandeln jede Landschaft, das kann ich Ihnen sagen. Weil ich nicht vollständig auf den Kopf gefallen war, hatte ich die Verbindungen zur Filmhochschule als ich Andalusien ankam wieder aufgenommen, dort hatte ich nun so etwas wie Urlaub, auf unbestimmte Zeit, genommen, man schätzte mich aus irgendeinem Grund und ich hatte mit Lindbergh Kontakt gehalten, der mir in mein fernes Exil Arbeit schickte. Fragen Sie mich nicht, ob die Aufträge durch die zentrale Stelle zur Auftragsverteilung ging oder er vorher ein zwei für mich passende Jobs beiseite legte. Man muss seine Steckenpferde kennen! Atanassov wenn Sie ein Fuchs sind, dann bin ich auch einer – mindestens ein Hase. Warum fragen Sie?, weil ich die Tickets für die Busreisen gefälscht hatte. Man muss sparen wo man kann und sehen wo man bleibt. Stellen Sie sich nicht so an Leonard! Denken Sie nicht, ich bin jetzt auch noch professioneller Fälscher. Wollen Sie wissen wie ich's gemacht habe? Sie können ja so oder so nicht widersprechen, nur nicht-lesen können Sie und das werde ich nicht erfahren. Von daher: ich bin ganz einfach zu den Orten der jeweiligen Stadt gelaufen, wo die Busse ihr Ziel hatten und meist fanden sich in den überfüllten Mülleimern – Müllmann möchte man nicht sein – eine Sammlung an alten Tickets, wovon ich ein paar in den nächsten Copyshop mitnahm. Dort im Copyshop oder wie ich liebevoll sagte: Bastelstube, schnippelte ich dann die Tickets zusammen kopierte sie et voilà!, fast wie gekauft. Einmal ist es mir passiert, dass sich so ein Busfahrer eine Liste mit den Namen gemacht hatte. Da war ich logischerweise nicht drauf, aber er war ein guter Kerl und ließ mich trotzdem rein, vor allem weil der Bus nur halbvoll war und ich ein gültig aussehendes Ticket besaß. Eine Katastrophe immer die Busfahrer. Proletarier auf Räder, die so oft mit dem Bus fahren, dass sie denken, sie wären in ihrem Wohnzimmer. Einer von denen hat über die Alpen seinen Hund und seine Frau mitgenommen. Irgendwie hatte ich gehofft, der fickt seine Frau in der Pause und der Hund guckt zu, während alle anderen Raststätten-Fastfood essen sind. Das wäre we-

fällt nicht auf, wie sie ihr Leben organisieren und ihre Zeit verbrauchen. Treffend sind an dieser Stelle Menschen, die dir sagen: sie hätten keine Zeit. Sie haben nicht tatsächlich keine Zeit, sie haben ihre Prioritäten anders gesetzt und verleben ihr Wochenkontingent an Stunden, mit dem, was für sie die viabelste Art und Weise darstellt, bestimmte Gefühle in ihnen zu erzeugen. Wie auch meinen Erwartungen an die anderen. Sich beschweren, spricht von enttäuschter Erwartung. Wieder das panische Kind im erwachsenen Mann. tanassov Sie Fuchs(!), ich weiß, wie viel Selbstoffenbarung in meinem Aussagen steckt. Ich weiß, Sie werden nun denken, wie infantil ich bin und welches immense Maß an Scham, in jeder dieser Verurteilungen steckt. Die Irrfahrt, Telefon, Uhr und Kalender hatte ich abgelegt und war überzeugt: ich käme dem Bodensatz meiner Existenz näher. Wohlgemerkt, Notizbuch, Füller, Kamera und Equipment hatte ich nie beiseite gelegt. Intention war Selbstfindung, dabei ist es oft Flucht, manchmal muss man sich aber auch entfernen, um sich zu nähern. Manchmal kann man einer Sache auch hundert Namen geben und kommt trotzdem nicht zum Punkt. Statt mich meinen existenziellen Fragen an zu schließen, ließ ich mich für einen Augenblick in Jerez de La Frontera nieder. Einer umtriebigen Stadt in der andalusischen Provinz Cádiz, dem südlichsten Punkt Europas. Die lange Zeit umkämpfte, wilde und geliebte Stadt der Mauren und Christen. Deutlich zu sehen an der San Salvador Kathedrale, auf einer Moschee aufgepropft, wie Sand auf Kleckerburgen und an dem maurischem Gefängnis namens Alcazar. Man siehe auch an dieser Stelle die Hagia Sophia Istanbul, Moscheen-Recycling ist das und ich finde das sehr vernünftig. Wozu ein neues Haus bauen, wenn man Halbmond nur mit Kreuz tauschen muss. Nun war ich kurz mal polemisch, verzeihen Sie! Dass ich damals schon hochverschuldet war, habe ich tunlichst für mich behalten, obwohl ich sicher bei meiner Rückkehr eine Gehaltserhöhung bekommen hätte. Aber was soll der Geiz?, dachte ich und fuhr mit dem Bus nach Andalusien. Eine Tortur an sich. War es nicht nur einer dieser Fernbusse sondern gleich ein dutzend,

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nigstens clever gewesen. Lasst die Kinder aus dem Bus Burger fressen – er saß dann aber mit Frau und Köter draußen vor der Raststätte, trank Kaffee und erzählte Busfahrergeschichten von einem Unwetter, das er beobachtet hatte, wie es sich in den Bergen verfangen hatte – ich konnte einen wabbeligen Burger essend, weit und breit nur Hügel entdecken. Dass ich mich gerade selbst Hase genannt habe… Aber ich wollte Ihnen von Andalusien erzählen. Ein Glück, wie gesagt der Kontakt zur Hochschule von der ich wie mit Aufgaben betreut auf eine Forschungsreise geschickt worden war – Sie wissen ja ich kann gut illusionieren. Filmschnipsel, die ich auf meinem Computer zu einem Ganzem zusammen fügte, Anfragen zu Drehbücher und weitere Aufträge der Hochschule, auch über buchhalterische Fragen. ›Mein lieber Herr Lilienthal, wieder und wieder stellen sich Ihre Arbeiten, als unnachgiebig mondän heraus, wenn ich so sagen darf. Ich brenne darauf Ihr Geheimnis zu erfahren, aber verraten Sie‘s mir nicht! Sonst müssen Sie sich ihren Urlaub, wohl bald selbst finanzieren. Sie werden übrigens reichlich vermisst. Es vergeht kein Tag, wo nicht jemand nach Ihnen fragt. Wie geht es Ihnen denn? Ich wette fabelhaft! Apropos ich hoffe doch sehr, dass die Checks bei Ihnen inzwischen eingetroffen sind. Man weiß ja wie die andalusische Post arbeitet… Mit besten Grüßen, A. N. Lindbergh‹

Existenzlosigkeiten verloren hat, der begrüßt dankend den guten K., vermisst er K. lass uns über das Schloss reden, als es sei es etwas was wir erreichen könnten und lass uns unsere Rede ein Austausch sein, für das, was wir nicht haben können. Es war immer leicht für mich einen Rahmen zu schaffen und mir Strukturen zu erfinden. Literatur und Film waren nie mehr als zwei Werkzeuge zum Aufbrechen der Gegenwart. in heißer Sommernachmittag in Jerez. Einer dieser ungünstige Tage in de la Frontera. Die Stadt glühte. Palmenwedel hingen matt zu Boden, wie erschlaffende Räder zu Tode gelangweilter Pfauenmännchen. Katzen und Hunde lagen in Häuserecken, vor den Hunden eine aus dem Maul triefende Sabberspur – undankbar zu Boden getrieben von der erdrückende Last, der unsagbar Hitze spendenden Sonne, wie verhätschelte und über-versorgte Kinder. Ich schleppte mich von Schatten zu Schatten, hielt meine Stirn mit einem nassen Tuch bedeckt, dessen Feuchtigkeit in einem Rinnsal vorbei an meinem Schläfen flüchtete und mit meinem Schweiß in Flüssen mein Gesichter hinunter stürzte und beständig Salzwasser, wie aus Brackwasserteichen, auf mein Hemd tropfte. Beschlossen meiner Busreise ein Ende zu setzen, flüchtete ich mich durch quietschende Schwingtüren in ein dunkles, fensterloses und kühles Café. Neben Palmen und Agaven bewohnt von Straßenkötern und Katzen, die sich selbst domestizierten und zu Haustieren machten. Mehr zu Nutznießern unter den kühlen Händen des Café-Montefiores, wie ich den Namen von einem langsam schaukelnden Schild über den Schwingtüren erfuhr. Draußen Totenstille. Die Siesta Diktat der Hitze. Ich suchte mir einen Platz in der Mitte des schlauchförmigen Cafés und nahm mir etwas kalten Granatapfelsaft mit Mineralwasser und Zitrone und trank dazu einen Mocca. Konzentration war nicht drin. Die Hitze hatte mir jeden Nerv geraubt. Nicht nur das, sondern auch jegliche Lust genommen. Ich lehnte mich zurück und genoß das Flüssige, währendessen ich das Feste, die Arbeit nicht beginnen konnte. Ich habe mich bisher in diesem Brief mehr als ein Arbeitstier und Workoholic vorgestellt, das Atanassov ist aber nur die halbe Wahrheit. Oft

Irgendwie hatte ich gehofft, der fickt seine Frau in der Pause und der Hund guckt zu. er so sehr, wie ich, außerhalb des Lebens steht, ohne gestorben zu sein, der hat eine glasklare Sicht, der kann strukturiert und konzentriert ab-arbeiten. Ersatz und Substitution will ich noch anhängen. Die Sache mit der Zweiten Ordnung. Die Sache mit dem Konstruktivismus. Eine Sache, die in Spanien nicht sehr nützlich war. Wer sich in Absurditäten und

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und der Cafébesitzer, ein kleinerer, kompakter, kurzbeiniger und bald halbglatziger Kerl, wie Danny DeVito, verschwand vor Wut schnaubend und warf die Schwingtür des Cafés in ihre träge Angel, dass ich, von dem kreischenden Geräusch, nur so innerlich zusammen zuckte, die verschiedenen Dosen Kaffee auf dem Regal neben mir nur so klirrten und die trägen Haustiere aufschraken, wie Heuschrecken auf Feldern, die ihre Flügel unter Tropfen von Insektiziden dahin ätzen sehen.

arbeite ich achtzig bis neunzig oder mehr Stunden die Woche und habe schon nach der Hälfte keine Lust mehr. Was mich weiter antreibt zu arbeiten, ist so einfach, dass es mir peinlich ist zu äußern. Irgendwo hatte ich mal gelesen Schuld für die Arbeitssucht seien ein übersteigerter Geltungsdrang und Narzissmu. Mag sein, sage ich, aber gesagt ist damit noch nichts. Ohne dass ich mich pseudopsychologischen Konstrukten hingeben muss, kann ich sagen: ich weiß einfach nichts besseres mit mir anzufangen. Und ich weiß das jede Minuten. Ich schütze mir selbst vor, vertieft in meiner Arbeit zu sein, doch wir beide wissen, es stimmt nicht, das ist nur ein Spiel. Attanassov!, kommen Sie mir nicht mit: dann ruhen Sie sich doch aus Oppenheimer und genießen Sie das Leben Lilienthal. Ich beuge mich wieder nach vorne. Füller zurück in der Hand. Das ist kein Comeback. Drücke die Feder ins feste Papier der Karteikarte. Die Feder biegt sich und das Papier knarzt. Ein Fleck aus Tinte hinterlässt dort seine Spure, wo das Wort stehen sollte. Ich bringe nicht einen Satz zustande und beuge mich zurück, um eine Stubenfliege zu beobachten. Langsam, denn die observierte Fliege darf nicht wissen: sie wird beobachtet, deswegen habe ich mir eine Sekundärtätigkeit gesucht und sie im Versenken von Granatapfelkernen in mein Glas gefunden. Nicht so sehr, dass es das Insekt verjagt hätte, aber mindestens so, dass sie mir das Täschungsmanöver abnimmt. Der Zweiflügler hatte inzwischen Platz neben meinen Tintenfass genommen. Mit jedem Kern, der sich zu Boden stürzt, sprudelt Mineralwasser gen Wasseroberfläche, wie ein Unterwasser-Geysir als er auf dem Glasboden aufschlägt. Die Fliege reibt sich die Hände, als plane sie einen einen Überfall auf meinen Tintenfass, und meine Stuhl knarrt. Schon als ich durch die Schwingtüren trat, mir einen Platz in der Mitte des gastlosen Café's suchte, waren zwei Stimmen aus der Küche des Café zu hören, die sich Zeit ich im Café verbrachte und Beobachtungsstudien nachging, in ein heftiges Diskutieren in andalusisch akzentuierten Spanisch wandelte. Eine Tür knallt auf. Ein Luftzug vertreibt die Fliege und fegt mir durch die Haare. Ich beuge mich nach vorn und drücke Tintenkleckse ins Papier und schaue von meiner anstrengend anmutenden Arbeit auf

Literatur und Film waren nie mehr als zwei Werkzeuge zum Aufbrechen der Gegenwart. Das besondere des andalusischen Spanisches ist, die Aspiration des Buchstabens ›s‹ in der Mitte oder Ende eines Wortes. Das selbst für Spanier aus anderen Regionen, höchst ungewöhnlich ist. Gemeint ist das Aushauchen von bestimmten Buchstaben. Im Deutschen ist es deutlich bei dem Wort Kalt zu hören. Sprechen Sie es einmal vor sich hin, mein lieber Herr Leonard Andorra Atanassov. Khahlt, hören Sie das? Ihre Worte mehr aushauchend, als zu mir sprechend, setzte sich die leicht verheulte Tochter des Besitzers an meinen Tisch. Was wohl daran lag, dass ich eben der einzige Gast war. Aus reiner Höflichkeit, unterbrach ich meine Arbeit, Lyrik-Korrektur (auf Karteikarten), und trank mit der Dame etwas Kaffee, in den wir spanischen Brandy kippten. Man muss die Feste… Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Nach einer Weile braucht er einen Drink. W. Allen Was mich in diese Gegend verschaffte. Was ich gerade Arbeite. Ob ich Frau und Kind hätte. Weshalb mein Spanisch so brüchig war. Wir sprachen deswegen englisch miteinander. Woher ich überhaupt stamme. Ich mache also gerade Urlaub. Die Sache mit Frau und Kind, damit hätte ich längst abgeschlossen. Immerhin etwas Spanisch konnte ich. Ich bin zufällig in Jerez de la Frontera gelandet. Fernbus,

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verstand sie nicht. Ich sei deutscher. Wenn Sie an Homo Faber denken, muss ich Sie enttäuschen, der war Schweizer, mochte den Deutschen auch nicht sonderlich. Unter den zerlaufenen Augen, lachte sie. Lachten wir. Martinez und ich. Dann inmitten unseres Gespräches machte sie sich Luft und erklärte: dem Café ginge es schlecht und sie werden im nächsten Monat, wohl weder Miete noch Bestellungen bezahlen können, geschweige denn für schlechte Zeiten etwas Beiseite legen – wir sind bereits in diesen Zeiten, sagte sie mit rauer und brüchiger Stimme, warf ihren Blick in Richtung der Schwingtür und ich dachte: wo die Liebe hinfällt… Zumal es noch ein dutzend Schulden gebe und ihren Pflichten als Schuldner, kämen sie schon lange nicht mehr nach. Da horchte ich auf. Wenn es Menschen schlecht geht, bin ich zur Stelle. Ich liebe es Stück für Stück, Schritt um Schritt, durch deren Misere zu gehen, mich in deren Unglück zu wälzen. Die schwarzen Tage und dunklen Nächte der Anderen fallen

miert, statt Kosten zu senken. Wir saßen bis tief in die Nacht im Café, alles was ich anzubieten hatte, war einen Film über das Café zu drehen und zu sehen, dass er im andalusischen Fernsehen ausgestrahlt wurde.

ch bin nicht bescheuert. Es ist natürlich Quatsch einen Werbefilm über das Café zu drehen, am besten noch mit Vater und Tochter, die harmonisch ihr Café Tag für Tag betreiben und dann beim andalusischen Staatsfernsehen um Sendezeit zu betteln – das wäre wie Kosten reduzieren, das heißt in und vor allem aus Defiziten zu denken. Defizite füllen aber keine Cafés. Mitleid mag Tugend sein, mag vielleicht auch erstrebenswert sein, aber niemand gibt gerne aus Mitleid Geld aus, es sei den für Humanitäres dann ist Mitleid wirksam, wie Ablassbriefe, aber Mitleid füllt keine Cafés. Zumal ich mich auch ekelhaft fühlen würde, in dieser makellosen Umgebung, in dieser schönen und reinen… Was sonst? Sagt Ihnen El Floridita was? Das ist eine Bar auf Kuba im Zentrum Havannas. Warum ich Sie erwähne? Weil Hemingway dort jede Nacht dreißig Daiquiris getrunken hat und einige seiner Bücher dort schrieb. Ich soll Sie nicht weiter mit Gerüchten langweilen?

von mir ab, wie Dreck von Elefantenhaut. Das Leid der anderen, ist mein Heil. Es braucht solche Menschen, die sich in Drangsal, Schmerz und Marter geborgen fühlen, wie in Mutters Bauch, oder nicht?… Ich nennen das aber nicht so, ich sage: da packte mich mein Mitgefühl, insbesondere weil die Tochter auch sehr hübsch war. Ich sagte ihr, Buchhaltung finde ich langweilig. Ich schaue nicht gerne auf die Kosten. Ich finde, man sollte lieber schauen, dass man den Gewinn maxi-

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Darum geht es doch! Bis Heute sitzt ein aus Bronze gegossenes Konterfei Hemingways am Tresen, das jeden Tag einen Daiquiri vorgesetzt bekommt, wie Papa Doble ihn mochte, mit der doppelten Menge Grapefruitsaft und Maraschino, ein kroatischer Likör aus Maraskakirschen der Familie Luxardo, statt Zucker. Natürlich aufs Haus – toten Ikonen zahlen

an. Wir machten uns einen Spaß daraus. Ließen Komparsen tanzen und Hauptdarsteller Verrückte spielen. Stellen Sie sich mal vor, sie wären psychotisch. Sie wissen nicht wie das gehen soll? Stellen Sie sich vor; Sie wären heute Morgen aufgestanden, wüssten: ihr Bett, ihr Schlafzimmer, ihr Bettvorleger, ihre Wohnung, ihr Schlafzimmerspiegel – man soll sich keinen Spiegel ins Schlafzimmer stellen (erster Fehler). Sie wanken durch Ihr Schlafzimmer und sie beschleicht das seltene Gefühl: irgend etwas stimmt nicht. Irgendetwas ist anders. Sie wissen, aber nicht was anders ist. Sie wissen nur, etwas ist nicht so wie es gestern noch war. Wie Ihr Tag seine Stunden zählt, wird das Gefühl: Irgendetwas stimmt hier nicht, stärker und irritiert Sie mehr. Sie denken aber alles sei wie vorher. Nur eines noch bemerken Sie, irgendwie sind sie merkwürdig träge im Kopf und dazu sonderbar teilnahmslos. Am Ende

nichts. Überall hängen Fotos von Hemingway. Warum denken Sie, fliegen Leute extra wegen El Floridita nach Kuba? Sie wollen dem Mann, der sich mit einer Schrottflinte selbst erschoss, sie wollen einmal neben seinem Alter Ego aus Bronze sitzen. Ein Foto schießen und sich cool fühlen. Was Sie brauchen ist ein Mythos. (Denken Sie mal an Psychoanalyse.) Deswegen klebten wir zwei, die Tochter des Cafébesitzers und ich, an jede Hauswand, verteilten in jeder Bar, sogar in Kirchen waren wir… Ich weiß nicht mehr, wie viele Flyer wir verteilten, aber am nächsten Tag, stand vor dem Café eine zweihundert Meter lange Schlange. Menschen über Menschen, alle wollten Sie in einem Film über Al-Andalus mitspielen. Noch in der kommenden Woche fingen wir zu drehen

Ihres ersten psychotischen Tages (alles gute nochmal!), fragen Sie den Schaffner im Zug, ob er diese Person, die um den Wagon bei voller Fahrt kreist, fliegt und wie eine Fledermaus flattert – was für eine Frechheit – ob er die Person, die von außen an die Zugfenster klopft und zu Ihnen spricht, ob er die auch sieht. Das ist ja wohl eine ungeheure Frechheit. Sie schreien ihn an, man müssen den Zug anhalten, man kann doch nicht verantworten… man will doch nicht dulden… man darf nicht zusehen, wie… Sie sollen sich mal ausschlafen, sagt der Schaffner und locht ihr Ticket. Wir lachten uns tot! Tochter und ich saßen im Café und lachten uns tot, über die dilettantischen Versuche der Anwärter verrückt-sein

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überspringen Sie hier, ich geben Ihnen ein Zeichen, wann Sie weiter lesen können.

spielen zu wollen. Mit Katastrophen und fest gefahrenen Situation war ich vertraut. Wer so sehr in Scheitern und Verderben, Leid und Unglück verliebt ist, kennt sich da bestens aus. Innerhalb einer Woche schrieb ich das Drehbuch im Schreibrausch. Im Schlafzimmer meiner neuen Geliebten, der Tochter, wie ich Martinez nannte. Tochter. Sie verstand kein Deutsch und dachte das wäre ein eigentümlicher deutscher Name. Wir saßen über dem Café im Schlafzimmer. Das Café schlossen wir für eine

Sprechen Sie es einmal vor sich hin, mein lieber Herr Leonard Andorra Atanassov.

Woche. Mythen speisen sich vor allem aus einer artifiziellen Diskrepanz innerhalb der Zielgruppe. Ich gab mich als mondäner ausländischer Regisseur in Panamahut und beigen Anzug, der extra nach Andalusien gekommen war um diesen Film zu drehen. Ich sehe mich und Martinez im Schlafzimmer sitzen. Ich auf der Bettkante, davor der Spiegel. Martinez fährt mir durch die Haare. Martinez legt meine Haare zurück und lässt sie nach vorne springen. Ich schaue Martinez an. Sie blickt im Spiegel zurück. Neben uns das Manuskript. Die weiche Bettkante. Der Geruch. Martinez. Tochter Martinez. Soviel jünger war sie nicht. Es war wie Theater spielen. Jeden Tag kamen Gäste und wollten ins Café. Der Vater nervös, deckte schon die Tische. Nichts da, nicht mal Kaffee zum mitnehmen gab es. Du willst was gelten, mach dich selten. Menschen sind so leicht zu manipulieren sage ich und denke lachend an mich selbst und meine Mythen von Frauengeschichten, die auf dem selben Prinzip beruhen. Lobe den Brunnen, in den deine Schwiegermutter gefallen ist, aber schöpfe kein Wasser daraus, andalusisches Sprichwort. Wir schrieben gemeinsam das Drehbuch (auf spanisch und englisch). Das war eine gute Woche. Besser geht‘s nicht. Wir erschufen eine Art Rick‘s Café Américain in Jerez de la Frontera. Sie wollen was vom Plot hören? Nicht, Nein? Dann

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Also doch interessiert? Es ist eine einfache Geschichte. Eine Stadt wartet auf einen Sturm. Der Sturm kommt aber nicht. Eine Regisseurin und ein Journalist reisen in die Stadt. Sie wollen sehen, wie die Stadt Stück für Stück zerfällt, im irrigen Glauben an den Sturm. Ein Sturm wird kommen. Die Menschen nach und nach legen ihre Arbeit nieder, verstecken sich in ihren Häusern, beten, dass sie verschont würden und der Himmel ist blau, keine Wolke. Nicht einmal ein seichtes Lüftchen bläst durch die leeren Gassen der kleinen Stadt. Regisseurin und Journalist werden Tag für Tag mehr und mehr in die falsche Prophezeiung hinein-gesogen — wie in einen Sturm. Landen schließlich im Gefängnis. Und müssen die Stadt verlassen. Als sie jeder für sich, denn sie wurden getrennt gehalten, an der Stadtmauer stehen, dürfen sie nicht passieren, denn ein Sturm wird kommen. Es ist zu gefährlich die Stadt zu verlassen, wenn sie nun aber den Sturm leugnen, kommen sie in Gefängnis. Eingesperrt, werden sie nur freigelassen, wenn sie versprechen, die Stadt zu verlassen, wollen sie die Stadt verlassen… Dreh und Angelpunkt des Filmes ist ganz unbemerkt, das Café Montefiore. Wann immer die beiden ungestört reden wollen, sind sie im Café. Flüchten ins Café, als sie verfolgt werden. Treffen sich im Café. Lieben sich im Café. In dieser ausweglosen Situation finden beide jeder für sich unterschiedliche Lösungen, mit der Situation umzugehen. Er assimiliert und spricht auf dem Marktplatz und predigt, man müsse sich verstecken vor dem Sturm. Scheiß Konformist. Sie erhängt sich im Café Montefiore. Scheiß Opportunistin. Als kleinen Scherz schrieb ich das Stück noch einmal mit meiner Schreibmaschine auf 50 gelbe Karteikarten ab, indes Martinez in unserem Bett über unserem Café lag. Im Schlafzimmer umherwandelte, als würde sie schlafwandeln. Sie auf den Boden schlafen legt. Unter meinen Schreibtisch kugelte, als würde sich einen Berg runter rollen. Fing sie unter mir, misslungene Karteikarten auf. Lektorierte jede einzelne. Kritisierte Form und Gestus. Martinez, Martinez,


nie mehr lieben ohne Martinez. Lesen sie von hieran weiter! Es waren einige Wochen vergangen. Der Film ein Erfolg. Abends. Das Café-Montefiore bereits geschlossen. Wir konnten uns kaum halten vor Gästen und Reservierungen und avancierten zum beliebtesten Café der Stadt. Ich holte noch die Kreide beschriebenen Schilder ins Haus, sowie ich Stühle und Tische zusammen kettete. Wir saßen im Café unter einer schwarzen Bauhauslampe, an einem der Tische und auf dem stand eine Flasche Sherry. Das Café war gerettet. Der kurzbeinige und kahlköpfige Vater – stolz wie blöde. Öffnete eine Flasche Sherry nach der anderen. Ich hatte geleistet. Als Dank schlief Martinez die Tochter des Cafébesitzers mit mir und stöhnte bis ins Vaters-zimmer, das fand ich ekelhaft. Auch diese natürliche Bezahlung meiner Leistung – widerlich. Wie ich mich um das Café gekümmert hatte, sorgte sie nun für mich. Stereotype Wunschvorstellung eines jeden (narzisstischen) Mannes, der ohne Helden- oder Antiheldenepos nicht auf dieser Erde sein kann. Papa bezeichnete mich wohlwollend, als seinen Hijo. Klopfte mir auf die Schulter und erzählte mir, wie wir durch das Atrium des Cafés schlenderten, was er noch machen wollte. Hie und da gab es leerstehende Räume. Er wollte immer ein Restaurant in Melilla, der spanischen Exklave in Marokko, eröffnen. Ich meinte, ich wolle mir kurz die Beine vertreten und die Beiden schauten aus den maurischen Fenstern des Cafés, wohlwollend mir hinterher. Bevor es zur Hochzeit kam, packte mich wieder das Reisefieber. Ein Restaurant in Melilla habe ich nicht eröffnet. Es gab nichts mehr zu tun in Jerez de la Frontera. Mein Auftrag war erfüllt. Wozu sollte ich noch bleiben? Glücklich werden? Ja, das kann ich nicht. Das will ich nicht. Ich glaube immer, die Welt würde mich vermissen. Ich müsste noch große Taten vollbringen und irgendetwas retten. Der Moment, wo meine Ferien anstehen, ist der Moment, wo ich mich nutzlos fühle – ist der Moment, wo ein rasender Zorn, alles Leben unmöglich macht und ich sehen muss, Siebenmeilenstiefel anzuziehen und aus zu reißen, zu flüchten und ab zu hauen. Es-

kapismus auf geflügelten Schuhe und Gorgonen jagen gehen. Martinez, du stehst in unserem Schlafzimmer und Wind weht dir unsere leichten weißen Gardinen ins Gesciht. Martinez, ich produziere Stereotype von Momenten. Martinez, dann schiebst du dir den weißen Stoff aus dem Gesicht und Sonnenstrahlen zeichnen sich auf deiner Haut ab. Martinez, das habe ich schon erlebt. Martinez, du drückst dir die Hand gegen die Stirn als würdest du in der Ferne etwas suchen. Martinez, immer wieder das selbe. Martinez, wo bist du? Martinez vermisst du mich?

Natürlich aufs Haus – toten Ikonen zahlen nichts. anach dann also wieder in der vom Winter gefrorenen Heimatstadt, dumm durch die Gegend laufen, breit getretene in Packschnee eingedeckte Pfade meiden, ein Labyrinth aus verbotenen Wegen bauen, nur Neuschnee betreten –und Andalusien, Martinez und ihren Vater missen. Vermissen, was ich nicht leben kann. Sehnsucht nach meinem Leben. Sehnsucht nach einem Leben ohne drakonische Angstaffekte und brachiale Panikmomente. Irgendwann eines Februar-Morgens, ich lag auf dem Fliesen meiner Küche, klingelte das Telefon und Anton Nihad Lindbergh war am Apparat und wir fuhren in das verbrannte Bordell. Ich wünschte ich könnte all meine Frauen in einer Reihe aufreihen und nach Geschlecht sortieren und in Affekt gruppieren, ich will aber keine Kategorien, Allegorien dieser verschiedenen Frauen; ich kotze diese Worte. Die kumpelhafte, über Spitznamen Annäherung. Mich zu verwirklichen, meine Identität finden heißt meinen Penis in so viele Fotzen wie nur irgend-irdisch möglich zu stecken. Ich kann an der Alltagssprache ihrer Fußstellung schon erkennen, wie sie ihre feinen Beine um meine Hüfte schlingt. Ich kann am Grad: wie hoch sie ihre Schulter beim Reden zieht, sagen wann sie bereit ist: aufzumachen. Je niedriger desto – logisch nicht wahr. Das Gegenteil

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kommt aber häufig vor, das ist verschieden, je nach dem ob Sex entspannen oder aufregen soll. Machen Sie mir daraus ein Vier-Felder-Schema! Ich wünschte ich könnte sie alle einmal aufreihen und nach Fußstellung sortieren und nach Schulterspannung gruppieren, nackt ausziehen und jede noch Einmal küssen. Liebevoll sein können, hieß für mich in aller erstere Linie, Reih und mein Glied: so richtig schön… kommen Sie Atanassov sagen Sie das Wort! Fällt ihnen nicht ein? Was haben sie denn die letzten hundert Seiten gemacht? Neurotisch sein. Angst in Aggression in Angst in... Lassen wir das, sage ich augenzwinkernd. Das schwierige ist, man muss und man darf nicht von Beginn an zerstören wollen. Das wäre ja auch dumm sich darauf einzulassen. Man muss es langsam anstellen. Man muss sich drosseln. Man darf sich nicht umbringen. Man muss die Geschwindigkeit senken. Man muss, man muss, man muss, man muss Mensch werden. Meist wollte ich die Frauen dazu kriegen mir von selbst zu sagen, in mein Ohr zu flüstern oder zu rufen – das ist ihnen überlassen – das Ziel ist, dass die mir sagen, sie wollen mit mir schlafen. Dann schlüpft aus dem Fixierungs-Kokain ein wunderschöner Schmetterling. Ihnen gefällt der Film nicht, ja dann schalten sie doch um oder beschweren sich bei der Regie unter folgender Rufnummer... Lassen wir das. Und wenn ich müde bin von meiner Frauen-Reihe, sollen sie die Reihe aufsprengen und sich häufen. Ja ich möchte dass alle Frauen mit denen ich je schlief, sich zu einem Hügel aufhäufen dann habe ich einen Berg an Weiblichkeit

bekämpfen. Das heißt, man darf den Anderen nicht aus Selbstsinn und Eigennutz, bekämpfen Bevor mein Haar ausfiel, wurde es schwarz. Menschen wollen geliebt werden, ich will nicht geliebt werden, ich will gehasst werden. Noushin, Noushin, wann immer ich mit einer anderen Frau unterwegs bin, fühlt es sich an als würde ich dich betrügen

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Rückzug III

FREMDGEHEN. Du musst fremdgehen. Du gehst dann nicht aus Abenteuersucht fremd, oder weil du Abwechslung suchst. Du musst mit anderen, als deiner Frau schlafen um Distanz aufzubauen. Und du musst diese Distanz aufbauen, weil du sonst von der Nähe deiner Frau aufgesogen, aufgefressen und konsumierst wirst und in ihrer Fremde verschwindest, deshalb musst du fremd gehen, aber niemand wird, aber niemand – soll das verstehen.

ieder weckte mich einer meiner Träume mitten in der Nacht, dass ich aufschreckte. Im Bett saß. Die Decke auf meinem Schoß lag. Mir die Augen rieb. Dieser fade Geschmack im Mund und mich vergewissern musste, kann ich noch unterscheiden zwischen Traum und Hier? Der Traum: Ich befand mich in meinem Schlafzimmer. Noushin meine Palästinenserin aus dem türkischen Badehaus saß auf dem Perserteppich und sie blätterte in einem meiner geschriebenen und gebunden Bücher. Währenddessen ich meine Plattensammlung durch blätterte, redigierten wir den literarischen Salat, welchen ich produziert hatte. Wir waren in ein Gespräch verwickelt. Etwas über das Buch, seine Ästhetik und Wirkung und so etwas wie meine Intention. Es war Nachmittag oder früher Abend. Meine Vorhänge waren jeweils an den Enden des Fenster zusammen gerafft. Von draußen her, eroberte Tageslicht das Zimmer. Ein Gefühl von: wir saßen hier schon eine Weile.

ann immer ich in ein Umfeld kam, dass mir offen… ja das mich sogar warmherzig, wohlgesonnen, sogar philanthropisch empfing. Wann immer ich geliebt wurde, musste ich mit Hass entsprechen. Ich bin zu ewiger Opposition verdammt. Ich bin nichts als ewiger Opponent, Widersacher, Nemesis und mein eigenes Feindbild. Man muss sich innerlich aushöhlen und dann seine Feinde in der leeren Hülle durch seinen Mund willkommen heißen, das heißt sie einsaugen. Lippen schließen und Hölle über den anderen, den Feind herein brechen lassen. Man darf jemanden nicht mit fairen Mitteln

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Noushin, Noushin, da wo ich nach dir rief, wo ich bei dir sein wollte, waren meinen Illusionen von Zweisamkeit: Hilfe-rufe, ein sich Retten-wollen vor sich anbahnender unerhörter wahnhafter Episode und unbändiger Leere.

Noch bevor wir über die Ursache diskutieren konnten und zusammen, so mein Gefühl, hatten wir eine zwar stumme, jedoch ganz großartige Kultur der Diskussion, Heiterkeit und (falscher) Harmonie.

Ein traumhaftes Taumeln lag in der Luft und sie selbst war angefüllt von einer mich betörenden Sinnhaftigkeit, Konzentration und Relevanz – all die Dinge, die ich für mich verloren glaubte – nun nimmer mehr missen wollte. Als wären diese Tage der Deprivation, Abstinenz und des Reizentzuges hinfort gewaschen, wie Asche den Ganges hinunter fließt und die Leute unten Flussabwärts ihre Wäsche, in der Asche der Toten waschen. So will ich aus Ablenkung – Fokus gewinnen, aus Leere – Sinn extrahieren, aus Langeweile – Bedeutung schöpfen, wie Alchimisten Gold herstellen. Ich fand die gesuchte Platte. Legte sie auf den Plattenteller. Löste die Nadel aus ihrer Verankerung und führte sie auf die Schallplatte. Währenddessen Noushin mich, auf dem Bett sitzend fragte, ob jener Fehler gewollt war, ob ich nicht die Geschichte laut lesen wolle… Weshalb ich überhaupt jegliche Regeln der Kommasetzung missachte (ich sagte ihr: du musst die Sätze atmen, einsaugen, ausspucken und dir deine erbrochene Gedanken anschauen) und ob die Geschichte einem bestimmten Plot folge oder aus eher randomisierten, diffus aneinander gereihten Situationen bestehe. Wir waren beide sehr erstaunt und verwundert darüber, dass die Schallplatte sich zwar drehte, die Nadel durch die Rillen, aus dem stummen in den klingenden Teil kroch und doch kein Ton aus den Lautsprechern drang. Irritiert schauten wir uns fragend an. Ich untersuchte die Technik, überprüfte Kabel, Lautsprecher und Schalter. Ich zog den Stecker aus der Steckdose und steckte ihn wieder ein. Schlug auch einmal kräftig, aus Verzweiflung auf die durchsichtige Plastikabdeckung und fand keinen Fehler. Wir schauten uns an und lachten. Da fiel mir auf, dass auch wir nicht tatsächlich miteinander sprachen, sondern ich schlicht wusste, was sie – und sie was ich sagte, aber wir hörten nichts. Und lachten uns stumm an. Ich lachte auf – schamvoll auf. Es existierten in meinem Traum, die Erfindungen: Ton und Geräusch schlichtweg nicht.

Es existierten in meinem Traum, die Erfindungen: Ton und Geräusch schlichtweg nicht. Noch bevor wir uns über den Ursprung des verstummten Plattenspielers auslassen konnte, ertönte es in meiner eigenen Stimme donnernd aus dem Flur: »das ist nicht die Wirklichkeit.« Ich erschrak wie gesagt und wurde aus meinem Traum gerissen. Es war dunkel und ich dachte zunächst: jemand wäre in die Wohnung eingebrochen, denn ich glaubte ein Geräusch eine Stimme aus dem Flur vernommen zu haben. Also schloss ich meine Zimmertür ab, trank einen Schluck Roten, soll ja Mut machen und legte mich weinselig wieder schlafen. Atanassov Sie wollen wissen, was mich an: »das ist nicht die Wirklichkeit«, so sehr erschreckte? Das will ich Ihnen sagen. Oft habe ich Zeiten, Episoden in diesem Leben wo mir ein Satz im Kopf schwebt. Ich ihn ab und an, hier und da rezitiere und er so etwas wie zu meinem geheimen Gebet avanciert. Wie ein kleines Vaterunser – für Ungläubigen. Was mir die Wirklichkeit entzog, sollen Nachts mir meine Träume bringen, deswegen will ich jeden meiner Tage, nur um ihretwegen verleben. Die Essenz und das Gebet dieser Tage. Dieser Satz aus dem Traum, war das Pendant, der Antagonist zu meinem Satz. Der Satz, der mir Tagträume, Ideenflucht und auch ein Stück weit Wahn rechtfertigte. Manchmal ist der Traum mir selbst die Bürde und der Widersacher. Obwohl ich sage immer: der Widersacher, vielleicht bin ich auch selbst Nemesis und Mephisto.

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ittag, Nachmittag oder eine Tageszeit, wo ich milchig Licht durch meine Vorhänge brechen beobachten kann, schon lange nicht mehr weiß ist das noch Traum? Schlafe ich noch? Wenn dem so ist, was ist das für Traum? Und kann ich ihn Albtraum nennen? Ich kann mich nicht entsinnen mich gefürchtet zu haben. Brich mir nicht das Herz. Irgendjemand bricht dir das Herz. Der einzige vertretbare Zustand dieses Daseins ist: wenn ich nichts tue, wenn ich wie erstarrt, wie eine wächserne Schaufensterpuppe auf dem Dachboden meine Zeit absitze. Wenn ich mich nicht bewege, agiere und verhalte, kann mir mein Gedächtnis Kurzzeit oder Langzeit auch kein Schnippchen schlagen, Déjà-vu über Déjà-vu, die in Jamais-vu über Jamais-vu münden, feuern Neuronen unbeständig maßlos und schicken mir Illusionen von falschem Schrecken und Irrtümern über Irrtümern. Noushin sitzt auf meinem Bett und korrigiert Texte, das ist nicht die Wirklichkeit. Ich durchsuche meine Plattensammlung, das ist nicht die Wirklichkeit. Wir witzeln, lachen, spaßen und diskutieren, das ist nicht die Wirklichkeit. Ich erwache, erschaudere und kann nicht unterscheiden ob ich noch albträume – das ist die Wirklichkeit. Ich sitze auf der Couchkante und mein Kopf fällt mir aus dem Rumpf. Auf der Kommode gegenüber steht der mit dunklem Holz gerahmte Spiegel. Ich muss mich zwingen wach zu bleiben. Er ist zur Hälfte verdeckt durch eine Leinwand. Auf der Leinwand ist aufgetragen: eine dilettantisch zusammengeklebte Collage, einer Frau deren rechter Arm auf einem Baum ruht. Daneben zwei Stapel einen gebundener Bücher und einen Videotapes. Unfertige Projekte, abgestoßene Passion, die sich nett auftürmen und mir den Spiegel höhnisch flankieren. Pläne, Ideen, Visionen und Vorhaben, die ich nicht übers Herz bringen im Müll zu entsorgen, wo sie hingehören, aber auch nicht fertig bringe, eine runde Sache daraus zu machen – das ist die Wirklichkeit. Eine fremde Person sieht sich im Spiegel auf der Couchkante sitzen und auf der Leinwand sind Blasen, aufgequollen von Salzsäure und es riecht nach fauligen Eiern. Schlaftrunken, drängen meine Augenlider sich den Pupillen auf, fader Geschmack hinter

den Lippen, unwillkürliches Schmatzen und willfähriges Grimassieren gegen ein Spiegelbild, beinahe wie zügelloses Ticken – das ist die Wirklichkeit. Die unbekannte Person in meinem Spiegelbild, ahnt meinen Gesten voraus. Inzwischen ist es Sommer. Sommerlicher Wind schlägt gegen das Fenster. Wie Fahnen wehen meine Vorhänge in den Raum hinein. Ich muss das Fenster geöffnet haben. Es ist heiß oder mir ist heiß. Die Person im Spiegel ist fürchterlich abgemagert. Dünne Arme sehen aus wie aus dem Rumpf ragende Stelzen. Habe das Gefühl, nicht mehr in der Lage zu sein, mit der Oberfläche meiner Haut Temperatur zu messen. Ich fahre durch meine Haare. Die Person fährt sich durch die Haare. Die Sonne scheint durch meine Gardinen, die Sonne scheint auch durch die Gardinen der Person – es ist trotzdem dunkel im Zimmer und im Zimmer im Spiegel. Milchig, dumpf und dämmerig. Ein Hass hat sich auf mich, wie ein durchnässtes Kleid, wie ein Netz aus falschen Worten, gelegt.

(…) entstand eine Pflanze – die sich anschickte, die Menschheit zu geißeln. Ich habe das Gefühl: die immer selben Worte, für immer dieselben Sachen zu benutzen. Ob schon neurologische Einschränkungen vorliegen?, ich denke nicht. Obschon das klamme Kleid mir Hals und Gehirn zuschnürt, aber wer muss schon sprechen um zu denken? Irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas bahnt sich hier an. Irgendetwas braut sich zusammen. Irgendetwas kommt auf mich zu. Ich habe dieses Gefühl, diese Stimmung, als würde sich bald etwas verändern, als würden Vorhänge von Fahnen von Standarten von einem fernen Leben erzählen, mein Leben erschüttern, mein Leben verändern. Wollen sie es beenden?

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Die Lippen der Person im Spiegel sind rot verfärbt. Sie hat Blasen auf den Lippen und zerzauste Haare, auch sind dort Falten auf ihrer Stirn und Augenringe unter ihren Augen. Meine Lippen fühlen sich an, wie ein Schützengräben. Temporäre Pseudo-Prosopagnosie – wenn ich Gesichter nicht mehr erkennen und zuordnen kann oder Depersonalisation, suchen Sie sich ein Fachwort aus, Atanassov! Wenn jemand aufbricht, die Grenzen seines Seins zu erkunden, darf er sich nicht wundern, über bisher ungeahnte Größen. Heute habe ich mich entfernt. Ich bin auf einer guten Mischung. Heute habe ich mich entfernt. Entfernt von dir. Ich habe merkwürdige Erinnerungen an mich. Ich warte auf ein Schnipsen und Klicken. Ich warte, aber es will mir mich nicht schicken und ausknipsen. Ich muss mich zusammenreißen – das ist die Wirklichkeit.

Wie Ceres keuchte und die Innenseiten des Gewächshauses beschlugen und Morpheus Samen aus ihrem Geschlechtsteil auf den Boden des Gewächshauses tropften, entstand eine Pflanze – die sich anschickte, die Menschheit zu geißeln. Tanzend näherte sich Prosperina den strahlenden Blumen, als sie nur noch wenige Augenblicke von der Pracht entfernt war, da tat sich auf im Weidenboden ein enormer Schlund. Die Blumen verschwanden und statt ihrer stieg empor der Gott der Unterwelt und was Prosperina für wunderbare Narzissen gehalten hatte, waren die goldenen Dornen an Plutos Wagen. Der bärtige Totengott stieg ab von seinem Vehikel, nahm und küsste die Hand Prosperinas. »Werde meine Gemahlin. Regiere die Toten mit mir. Steig in meinem Wagen.« Doch die Tochter der Ceres, allerdings weigerte sich und als Pluto sie gewaltsam in den Wagen zerrte und nur die Sonne zeuge davon war, da schrie Prosperina und nur ihre Mutter, die noch im Gewächshaus mit Morpheus beschäftigt war, konnte sie hören. Da hatte der mächtige Bruder des Jupiter, die junge Tochter schon an den Altar geführt und der Göttervater selbst sprach die Worte und vermählte sie. Noch in der selben Nacht raubte Pluto der Prosperina ihre Unversehrtheit, zu jeder Stunde einmal. Bis er jedes Partikel Unschuld aus dem jungen Leib der Göttertochter heraus gekratzt hatte.

Pluto war nicht dumm. Als er sich in die schöne Proserpina verliebte, wusste er, ihre Mutter Ceres würde es nie zu lassen, dass er Pluto die wunderbare Proserpina in sein tief-düsteren Tartaros mitnehmen würde. Aber wusste er auch, die Unerfüllte würde ihn vergrämen und so fragte er missmutig seinen Bruder den Jupiter. Heftig entbrannte zwischen beiden eine erschütternde Diskussion, dass der Berg nur so bebte. Am Ende war Jupiter der Dialektik müde und er packte seinen Bruder an der Schulter und riet ihm, wenn er so sehr darauf brannte, dann solle er Proserpina in die Unterwelt entführen und sie dort zum Altar bringen. Fernab der Augen ihrer Mutter spielte die junge Prosperina auf einer Weide. Sie spielte weniger, als das sie vertieft in Büchern las, wie sich die Welt um ihre eigene Achse dreht – als über dem Rand ihres Buches, sich ein Quadrat aus Narzissen dröhnend aus dem Boden erhob. Sie dachte sich bei den gelben Blumen: ›nur meine Mutter konnte sich anschicken, mir derartig Nachricht zu überbringen‹, und Prosperina legte ihre Literatur beiseite. Zur selben Zeit und weit weg, besuchte Morpheus die Mutter und Göttin der Pflanzen und der Fruchtbarkeit, in ihrem sakralen, sagenumwobenen und strahlendem Gewächshaus und verführte sie.

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Er wird Sie sonst eines Tages, wie dilettantische Geheimdienstagenten Überschatten, Ihnen die Kehle zu schnüren, die Synapsen und Neuronen verderben und in der Abwesenheit von Licht, was Schatten ist, gehen Sie zu Grunde. Wenn Sie sich einmal für die Gleichgültigkeit, als Abwehrmechanismus und Lösungsstrategie einer Über-Erregung entschieden haben, dann passen Sie auf, dass Sie im Schlaf nicht ersticken, weil Ihre Lunge teilnahmslos wie Sie sind, vergisst sich auf zu blähen. Wenn einmal der Blasebalg Ihres Körpers seine Ventilation per se aufgeben hat, dann müssen sie tunlichst aus Ihrem Schlafapnoe-Syndrom erwachen, sonst droht Ihnen der Tod durch Lethargie.

Leben und das Interieur einer Wohnung. ES WAR GUT und richtig, den Rausch der ganzen vielen Feste zu erleben. Es war gut sich mit Lastern – wie es heißt – zu überhäufen. Es war gut, sich in Tobsucht zu koksen, zu saufen und zu ficken, denn Dank dessen, ist der symbolische Mythos dieser diversen Orgien abgefallen und ich habe die Begeisterung dafür verloren und das wäre nicht schlimm, aber Suche und Sehnsucht danach nicht verloren und menschlich sozialer Exzess ist zu einer optionalen, niemals obligaten Erfüllung geworden, denn es nichts mehr als ablenkende Versenkung einer Sinnlosigkeit, aber es ist Zeit ein wirksames Surrogat zu erfinden. Vielleicht muss man die Versprechen nehmen, die Tätigkeiten nicht leben und sondern nur sehen, wo ist hier der Unterschied zwischen erfüllten Versprochenem und unerfüllten Wünschen, und sicherlich niemals den geheimen inhärenten Zweck vergessen. Erfahren – ohne zu antizipieren. Bewahren – ohne zu definieren.

n jeder großen Stadt eine Frau zu kennen, ist wohl die beste Art und Weise zu reisen zumindest aus einer ökonomischen Perspektive. Wer dann noch ein billiges Transportmittel findet, weiß was ich meine. Wissen Sie Atanassov, Fernweh ist nichts anders als Flucht vor sich selbst. Das habe ich jetzt schon ein paar Mal angeschnitten. Sie müssen Satelliten installieren, Franchising anfangen und ihr eigener Subunternehmer werden. Eine Frau pro Stadt in Jerez, in New York, in Wien, in Zürich und in Paris. Starten sie ihr Vacation Joint Venture, gründen Sie Fialen. Wer besser betucht ist, braucht sich mit den Weiblichkeiten und Menschlichkeiten nicht abfinden und mietet oder kauft sich diverse Wohnungen oder Häuser auf dieser Welt. Geld ist Bindungsprotektion. Man muss sich das Leben angenehm gestalten, dachte ich immer. Verstehen Sie? Wenn man einmal den Bezug zum Leben verloren hat – man muss es sich einrichten, wie eine Wohnung, mein lieber Leonard Andorra Atanassov. Sie wissen doch, die Existenz geht dem Wesen voraus. Verstehen Sie? Sie, ich und alle anderen müssen um jeden Preis die Relation, die Verbindung zum Leben wiederherstellen. In meinem Falle, was ich zur Verschleierung nötig habe. Wenn Sie einmal in ihren eigenen Schatten getreten sind… Weshalb Ihnen das auch immer passiert sein mag. Wenn Sie einmal ihr eigener Schatten geworden sind – Sie müssen sich um jeden Preis, auf Teufel komm raus, von diesem Schatten lösen.

Dann müssen sie tunlichst (…) erwachen, sonst droht Ihnen der Tod durch Lethargie. Ich will etwas weiter ausholen. Als der Mensch das Fleisch entdeckte, als der Mensch das Feuer entdeckte und als der Mensch entdeckte das Fleisch und seine Nahrung zu braten, hatte er mit einem Mal eine ganze Menge Zeit. Wissen Sie, Schimpansen und andere Menschenaffen verbringen zweidrittel ihres Tages, damit Nahrung zu sammeln und aufzunehmen. Nüsse, ungekochte Hülsenfrüchte und Beeren. All das, verspricht nicht sehr viele Kalorien und auch die gewonnene Energie, ist beträchtlich höher, wenn Nahrung vorher gekocht wurde. Es ist auch weniger Energie nötig, sie zu spalten und aufzunehmen. Ein doppelseitiger Effekt also. Sodass der moderne Mensch, es nicht mehr nötig hatte: stundenlang auf roher Nahrung herum zu kauen. Es ist ganz logisch, dass ihm nun mindestens ein drittel mehr Zeit zur Verfügung stand. Heutzutage steht ihm wohl ein noch größeres Kontingent zur Verfügung, logisch nicht? Sicherlich es ist nicht nur das Beschaffen, man muss ja auch Geld verdienen. Leonard Andorra Atanassov, Machen Sie mir daraus keine

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Milchmädchenrechnung, Sie Pedant! Worauf ich hinaus will; diese Zeit musste irgendwie genutzt werden. So entwickelte sich der Mensch. Urbanisierung, Domestizierung und zuletzt Ackerbau, der dreimal unabhängig auf der Welt auftrat – die neolithische Revolution. Das geschah wahrscheinlich parallel, zirkulär, wie alle Dinge. Ich glaube nicht an lineare Kausalität. Elftausend Jahre ist das her. Inzwischen müssen wir weder Jagen, noch, die meisten von uns jedenfalls, Tiere züchten oder einen Acker bestellen. Wie es scheint, war nun einfach faul rum liegen nicht drin. Vielleicht weil der Mensch die Bewegung gewohnt war und er sich so sehr nach seinen Gewohnheiten richtet, dass er ohne seine Muster sich sehr unwohl fühlt, sodass sich zu den Städten, dem Ackerbau und der Viehzucht die Kunst und der Mythos gesellte, der sich in Religion und Wissenschaft aufspaltete. (Natürlich gab es das auch schon vor der neolithischen Revolution). Dazu entwickelte der Mensch in seiner Freizeit die Sprachen (oder er verteilte sich und daher die Sprachen, jedenfalls hatte er paar neue Hobbies) und er wurde ein ungemein soziales Tier. Man sagt evolutionär gesehen ein mega Selektionsvorteil. Ich hasse diese scheiß Argumente die klapperige Mono-Kausalitäten und billige Syllogismen aus der Evolutionstheorie ziehen. Diese Verlegenheitsscheiße, nichts für ungut Charles. Du hast uns wirklich ein großes Theoriegebäude geschenkt und ich muss schon aufpassen, dass man mir jetzt keinen Kreationismus anhängt. Sie wissen doch, dass ich Atheist bin! Das Soziale jedenfalls bot dem Homo S. S. einen großen Selektionsvorteil gegenüber den anderen Affen- und Menschenarten. In Sachen Absprachen und vor allem Wissensweitergabe, so musste nicht jeder Mensch, das Rad neu erfinden. War es denn schon erfunden oder würde überhaupt erfunden werden, je nach geographischer Lage. Es ist ja hinlänglich bekannt, dass Maya, Inka, Azteken und andere mesoamerikanische Indianer, nie das Rad erfunden noch Lasttiere domestizierten. Eine Regel für die Argumente, die auf der Evolutionstheorie basieren: wenn Sie etwas mit natürlicher Auslesen, zufälliger Mutation, Anpassung, Diversität und Selektion beweisen wol-

len, suchen Sie sich große Effekte. Erklären Sie nicht den Unterschied zwischen Mann und Frau mit Beerensammeln und Jagen. Klotzen und nicht… Lassen wir das. Wenn schon Entwicklungstheorie dann verbinden Sie sie mit Bipedie, Werkzeuggebrauch oder Artensterben. Folgen Sie soweit? Der Mensch die Krone der Primaten. Vielleicht hat ihm die fehlende Betätigung auch an eine andere Frage geführt – die Frage nach dem Sinn. Das würde sich zumindest retrospektiv einer gewisse Unlogik entbehren. Und zu guter Letzt, nach der Urbanisierung der Welt, Domestizierung von Tier und Pflanze, Religion, Wissenschaft, Kunst und Sprache, kam die gähnende schwer tragende Langeweile. Verstehen Sie Atanassov? Der neurotische Mensch malte bunte Tiere in den Felsen und trommelte ganze Tage auf Tierhaut. Haben Sie einmal den Bezug zur ihrem unbewussten Zeitmanagement verloren. Ist Ihnen einmal die Reinheit, Richtigkeit und die Authentizität ihres Lebens abhanden gekommen, dann… Lassen wir das. Sie wissen worauf das hinaus läuft. Ich wünschte ich könnte Tag ein, Tag aus, auf Hülsen, Nüssen und rohen Früchten herumkauen. ch neige zur Übertreibung. Nicht nur deswegen verabredete ich mich mit bis zu zehn Frauen am selben Tag. Je sinnloser, ordinärer und zufälliger mir meine Existenz schien, mit desto mehr Frauen musste ich mich vergnügen und von einer zur anderen rennen. Wobei mir noch Geschlechtsflüssigkeit der ersten an Glied und Fingern klebte, und ich schon in die nächste eindrang und meine Finger in ihrem Haarschopf versenkte. Ich erzähle das so einfach, aber mit mehren Frauen an ein und demselben Tag zu schlafen, erfordert Planung! Das braucht ein gesundes Maß an Organisation. Vor allem, wenn Sie sich ein Spiel daraus machen. Was ich damit meine? Par Exempel, Sie haben beschlossen und es sich zum Ziel gesetzt: sie müssen mit drei Frauen zu Hause in ihrer Wohnung am selben Tag im selben Bett schlafen. Wenn die drei voneinander nichts wissen, jede denkt, sie wäre die einzige… müssen Sie sich anstrengend!

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Das kleine Gespräch. Man die Gardine beiseite schiebt und fahles Licht den Raum flutet. Die kleine Plauderei. Man das Fenster öffnet, auf die Straße blickt und die Menschen geschäftig umher laufen. Das bisschen witzeln und lachen. Sich aus dem Fenster lehnt, die Arme über das Fensterbrett baumeln lässt und einmal die Augen schließt, durch die Nase einen großzügigen Atemzug macht und so etwas wie ein kleines Lächeln zeigt. Das Fenster wieder schließt, sich umdreht und die gerade geliebte im Bett noch liegt. Man so zur ihr rüber schaut und es leer ist – kein ermüdender Monolog im Kopf, der spricht. Kein mich dauerndes routiniertes Fragespiel. Kein verneinender Filter, der einem Wirklichkeit verzerrt. Jede Erwartungshaltung ist an eine Wirklichkeit angepasst – das ist die Negation des Absurden, der Existenzlosigkeit und Zusammensetzung von Erwartung, Beobachtung und Bewertung und gesunder Antizipation. In diesem Moment, der spricht, ›in diesem einzig und allein in diesem meinem Leben, gibt es eine Klarheit, Bedingungslosigkeit – eben einen Sinn.‹ Ich muss Ihnen sagen mein Freund und Feind, das ging so lange gut, bis sich das Absurde, gefolgt von innerer Starre, sprachlosem Entsetzen, Verlustigung humaner Werte und die Erwartungslosigkeit, Lethargie et cetera, in mein Schlafzimmer schlich und dasselbe Sinn-raubende Fragespiel sich in mir auftat, das sonst nur draußen vor dem Fenster mich quälte und da schwand sie – meine letzte Zufluchtsstätte, das letzte bisschen Existenz. Ich habe Ihnen vom Abbruch berichtet. Das Zepter ließ fallen der König Midas. Alles musste verkommen zu verdorbener Ästhetik. Das Königreich meines Schlafzimmers ging verloren. Alles aus Gold. Scham und Schuld meine neuen Eselsohren, waren nicht zu übersehen. Wann immer ich nun die Gardine beiseite schob und das selbe fahle Licht in den Raum trat, warf es einen Schatten auf mein Bett und

Ich rate Ihnen: die erste lassen Sie bei sich übernachten, dann schlafen Sie so oder so mit ihr zum Frühstück. Die nächste bestellen Sie zu um drei oder vier, dann haben Sie etwa vier Stunden Zeit, das sollte für einige Male – sich die Scheiße aus dem Hirn vögeln – reichen. Aber Achtung!, denken Sie daran, immer etwa ein bis zwei Stunden Luft zu lassen. Man weiß ja nie. Vielleicht werden Sie die Nachmittagsaffä-

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eberall; wo ich auch hinschaue überschwemmt, überrollt, überkommt und überfällt mich ein überwältigendes Gefühl von unbändiger Scham.

re nicht mehr los. Dann jedenfalls, wenn Sie sie rausgeworfen haben, bestellen Sie Nummer drei zu um neun oder zehn. Mit der haben Sie wieder mehr Zeit, daher bietet sich Kino oder ein Restaurant an. Danach schleifen Sie die Auserwählte liebevoll mit Nachhause und Überraschung, besorgen es ihr, wie sie noch nie… Lassen wir das. Sie schläft bei Ihnen und am nächsten Morgen, beginnt das selbe Spiel und täglich grüßt das Murmeltier. Haben Sie den Rechenfehler bemerkt? Habe ich das schon erwähnt? Der Geschlechtsakt an sich spielte hierbei für mich, eine sekundäre Rolle, es ging darum, diese zwei Momente auszukosten: Den Moment dabei, die Frau so lange zu vögeln wie ich wollte. Love Me Tender. Entscheiden zu können, da zu sein, jemand spürt mich – I'm existing. Und ich existiere sicher, solange deine Schenkel sich um meine Hüften schlingen, wie Lianen um einen Urwald… Lassen wir das. Last but not least: den Moment danach, wenn der Akt an sich vorüber war und die Welt sich auf diesen einen Augenblick verschränkte – wieder existieren.

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lichkeiten, es gibt eine Wirklichkeit, mag sie noch so zusammen und zurecht geschustert sein. Es ist alles davon abhängig, wie ich es bewerte. Oder aber, dass muss ich Ihnen gestehen, ich bin inzwischen auf den Gedanken gekommen: womöglich war es gar kein vorschützender Versuch zur Verschleierung, sondern wildes Aufbegehren. Eine Herausforderung. Wie in das besagte Meer schwimmen und schauen, wo der Tod lauert. Sie erinnern sich. Diese Einzelkämpfe sind das fatale. Wer sehen will, wie er scheitert, der… Lassen wir das. Es ist doch ganz klar. Ich erwarte zu scheitern, ich werde alles wie ich es beobachte, als gescheitert bewerten. Wenn ich, also mich nie an die Frauen binden wollte, es aber überprüfen musste, indem ich stupide mit dutzenden schlief oder mich von unzähligen abweisen ließ und mir dann selbst bewies, dass es unnütz ist. Überraschung, ein Gefühl lässt sich nicht erzeugen. Noushin da wo du warst, existierte nur der Hilfeschrei. Rette mich von alldem. Ich hätte, wohl auch das Kon-

eigentlich entspricht das nicht der Wahrheit, es leuchtete das Bett geradezu in Neon-röhrenlicht aus. Die Magie, der Zauber und das Okkulte waren fort und da lag irgendein Mädchen und in mir stieg ein Ekel auf, wie ich aus dem Fenster starrte. Ich saß auf dem Fensterbrett, beobachtete die Leute draußen, rauchte, wendete mich schließlich der Schlafenden, in meinem Bett zu und ich dachte an den Gestank ihres Geruches, wie er sich in meine Kissen legte. Was es mich für eine Mühe kosten wird ihre olfaktorischen Fußspuren aus meinem Zimmer zu löschen. Wie ihr grotesker Schatten sich in meinen Spiegel brannte, ein Abdruck ihrer Körpers sich auf meine Couch gegenüber legte, als wollten Spiegelbild und Sofa-abdruck mir die Komödie und Lachhaftigkeit meines Lebens vorspielen. Überall wo ich auch hinschaue überschwemmt, überrollt, überkommt und überfällt mich ein überwältigendes Gefühl von unbändiger Scham. Abbruch. Sexuelle Dysfunktion. Errektionsstörung Fluch und Segen. Fragt sich was besser ist. Ich bin ein Schatten und Opfer meiner Selbst. Pathogene Erscheinungen häufen sich. Ein Spiel mit ernsten Problemen, das ist Kunst. So ein Satz von Schwitters, ich dachte der machte nur Quatsch. it vielen Frauen zu Schlafen, war ein Versuch die Absurdität meiner Existenz zu verschleiern – ihr ein Stück Sinn zu geben. Wie ich auch suchte. Wie auch meine Augen vom Fensterbrett, jede Ecke des Zimmers observierten – Sinn war nicht zu finden. Weniger blumig gesagt: Ich hatte den Kontext verloren und mich selbst, in möglichen Wirklichkeiten. Es gibt keine möglichen Wirk-

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träre herausfinden können, aber hatte ich das denn je gesucht oder gar gewollt? Und das will ich noch hinzufügen: bisher sprach ich nur von mir, wie ich erwarte und bewerte, wir dürfen die Person mir gegenüber nicht vergessen. Diese Fragespiele und Gedankenmonologen, sie schlagen sich nieder in meinem Verhalten. Wenn ich mich schon Hals über Kopf in die Dame verliebte, sie mich aber erst begrüßte, was soll denn dabei herauskommen, als Distanz? Besonders, weil ich nur Frauen gut finde, die sind wie ich es bin. Haben Sie was gemerkt? Richtig, es gibt keine zwecklose, ungerichtete Erkenntnissuche, nicht die reine Epistemologie, denn hier schwingt unweigerlich mit: die beständige Suche, mir generell eine Art Schuld anzuhaften. Dieses immerwährende Gefühl von: ich bin schuldig und Bedürfnis mir dafür eine legitime Geschichte meiner Schuld zu spinnen. Verstehen sie Hochdruck? Verstehen Sie es, sich keinen Raum zu geben und zu erwarten, dass man wie eine Maschine funktioniert?

rbeitstitel: Der Berg Kasbek in neun Akten Ein Unbekannter macht sich von einem Felsen los. Ein Greifvogel flieht. Der Unbekannte läuft gebückt und eine Kette rasselt. Er tritt auf einen Vorsprung, richtet sich auf und laut ruft er ins Tal: »Akt i Der Mensch steht auf und schaut gähnend durch die Felder von Eden. Akt ii Der weibliche und der männliche Mensch suchen sich jeweils ihr Gegenstück, und einige vermehren sich. Akt iii Der Mensch verbringt ⅔ seines Tages mit der Nahrungsbeschaffung, deren Aufnahme, Verdauung und Ausscheidung. Akt iv Der Mensch entdeckt neben dem Feuer – die Bratpfanne.

ch hatte mal eine Frau, die konnte ich mit einem schlichten Vers nicht beglücken. Die Alte wollte gleich eine ganze Ballade ihr gewidmet wissen. Als ich unter Druck, Tränen und Schweiß ihr das nächtlich geschriebene Werk vorlegte, fragte sie nur: »wo ist meinen Novelle?« Daraufhin, gab ich lediglich zu verstehen: »willst du nicht gleich einen Roman?« Auf ihre Antwort: »eigentlich wird nur ein Epos meiner gerecht«, packte ich meine Koffer und schrieb diesen Paragraphen. Sehen Sie meinen eigenen Anteil? Was ich erwartete müsste sich in mir bewegen, welches Gefühl in mir aufsteigen müsste, was ich dachte kann diese Frau in mir erreichen, dass ich still-schweigend akzeptierte, was ich dachte, sie würde dafür erwarten, dass sie sich so und so fühle, was ich dachte wie sie sich fühlen will. Sodass ich ihr dies und jenes als Bedingung brachte, weil ich einen Rückkopplungseffekt auf meine eigene Gefühle erwartete. Was Beziehung verkompliziert sind die unausgesprochenen Deals und Verträge. Die Rechnung auf dem Küchentisch. Die eingelösten Checks. Die überzogene Kreditkarte. Dispositionskredit in Sachen Liebe.

Akt v Mit einem Male stellt der Mensch fest, dass ihm nun, durch die verringerte Nahrungsbeschaffung-, deren Aufnahme- und Verwertungsdauer, und neben Jagen, Schlafen und Vermehrung, eine enorme Menge an Zeit zur Verfügung steht. Akt vi Der Mensch sucht die neu– und liebgewonnene Zeit zu füllen und entdeckt zuerst die Kunst und gleichzeitig die Mythen, da raus die Religion und schließlich die Wissenschaft. Akt vii Der Mensch erfindet den großen Krieg, um so die Nachfrage zu erhalten und zu generieren. Akt viii Am Ende, da steht der Mensch und betrachtet sein Werk, und als letztes fällt ihm in seinen Menschenschoss neben Kunst und Religion, Wissenschaft und Mythos, Krieg und Frieden, Streit und Aussöhnung, die alle eins sind, Die gähnende schwertragende Langeweile.

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Akt xi Der Mensch war letztlich und ursprünglich als ein großes Projekt geplant. Es stellte sich jedoch unverzüglich heraus, dass er unheimlich leicht ablenkbar war.«

Zwiespalt unter Literaten ICH HATTE DAS GEFÜHL die abrahamitische Tochter, wolle mich konsumieren. Jede Streicheleien, jeder Kuss, jedes Rücken-kraulen – war wie Gemüse waschen, Fleisch schneiden, Gewürze schnippeln – kochen, fressen und unbändige Leere ausgleichen. Auch ihr Genital, schien mich zu verschlingen, und war ein fleischiges Ungetüm von ungewisser Stärke, aber eindeutigem Willen. Lappen über Lappen, hingen Häute über Häute, rot, blutrot gefärbt – konsumieren mich – sitzen wie Austern, öffnen ihre Klappen und fressen. Das erste Mal, dass ich das Genital einer Frau mit einer Auster verglich. Kein Zitronensaft, sondern mein Sperma versüßen diese Fett triefenden vom Vögeln geschlauchten, hängenden Lippen von Häuten über Lappen, fett triefenden Öffnungen, unbändiger Lubrikation, auffressender Güte, konsumierender Leere. Hier konnte ich… Hier kann ich so oft ich will, der Melancholie und versteckten Feindseligkeit widerstehen. Hier kann ich meine Finger durch deine Haare fahren lassen, deine Blicke erwidern und nichts, wirklich meine Liebste, wirklich mein Herz, wirklich du süße Tochter Abrahams, du Hybrid aus deutsch und jemenitisch und wirklich du, hier fühle ich nichts, denn deiner Leere. Ich will jemanden haben, wie dich, nur Zehn Jahre jünger, Zwanzig soll sie sein, bildschön und nicht so müde und abgekämpft. Junge neurotische Frauen, meldet euch bei mir.

nd nachdem Prometheus sich von den Menschen los sagte, nimmt er seine Kette und der Adler landet auf seinen Schultern. Hinter sich zieht er einen Wagen mit einer neuen Spezies - den sich tummelnden und reckenden Ameisen. Gesenkten Hauptes geht er ab.

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s war ein kalter Tag im Februar. Bordelltag. Draußen herrschte arges Schneetreiben. Undurchsichtiges Schneegestöber, dass die Hand vor Augen unsichtbar wurde. Vielfache Kälte, kriecht unter viele Schichten Jacken und Mäntel, wie Zwiebeln eingepackte Menschen. Wer kann bleibt zuhause und hofft auf das Wunder: Zentralheizung oder reibt seine Knie am immer zu heißen oder zu kalten Kachelofen. Die Stadt war wie Eigelb unter Eiweiß gefangen. Kinder machten sich einen Spaß und öffneten das Fenster und kippten Eimer Wasser gen Boden, welches noch in der Luft gefror. Rohre platzten. Öffentliche Verkehrsmittel genauso unbeholfen, wie Menschen auf Glatteis, die in den Zwiebelschichten aussehen wenn sie laufen, wie Pinguine. Zu kalt für ein menschliches Herz. Khahlt – hören Sie das? Auch im verbrannten Bordell, wo ich mich seit dem frühen Morgen des Tages befand, war es klirrend kalt. Konnte ich meinen eigenen Atem sehen. Waren Fenster, sofern sie noch vorhanden waren, von innen mit einer Schicht Eis belegt. War das Blut toter Huren gefroren. Anton Nihad Lindbergh und ich waren mit dem Auto gekommen. Ein Frösteln war mir un-

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ter die Haut gekrochen. Ein alter silberner Citreön und wir beide Anton und ich in Trenchcoats wie aus Agentenfilem! Ich weiß nicht mehr, wie lange wir in dem Haus gewesen sind. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mich dem ausgesetzt hatte. Freiwillige Reizexposition in vivo, als hätte ich weiße Tücher von Mamas Gesicht gezogen und mache umgekehrte Verhaltenstherapie. Nihad hatte einen Faible für alte französische Dinge. Rahel Bernstein Tschkalowa und ich; Berthold Oppenheimer Lilienthal, wie merkwürdig es ist, seinen eigenen Namen zu schreiben. Wir drei stehen in dem sternenförmigen Foyer des abgebrannten edel Freudenhauses. Anton hatte die Schienen wieder abgebaut und eingepackt. Das Bordell, welches mich dank seines Interieurs auf eine Reise in die Vergangenheit nach Al-Andalus entführte und an die Geschichte von der Entführung der Prosperina erinnerte, nun war ich damals wieder in der Gegenwart gefangen. Wieder gefangen, klingt als wäre ich mal frei gewesen. In der Gegenwart hört sich an, wie etwas gutes. Ich damals kein gefangener der Gegenwart, sondern meiner Vergangenheit und meiner Zukunft. Meiner (Ich-) Ideale und meiner (Über-Ich-) Werte. Wie fanden Sie die Geschichte der jungen Prosperina?

brennungen unterlagen oder Ihnen etwas angetan worden ist«, spricht und pausiert, wartet meine Reaktion ab und folgert: »sie haben sich gegenseitig den Geist vergiftet. Bis sie der Verunreinigung ihres Geistes erlagen«, warnte mich meine Rahel. »Meine Liebe«, fing ich daher aufgeblasen, anmaßend und prätentiös an. »Sie wissen doch, ich brauche für meine Dokumentation und die korrekte Darstellung des verbrannten Bordells – ich brauche dafür jeden erdenklichen Eindruck. Ich brauche jedes Korn an Information. Wissen Sie filmen ist wie konsistentes Beweismittel-sichern«, sprach ich bettelnd. »Mir darf nichts enthalten und verschlossen bleiben, sonst fehlt uns am Ende was. Und wir wundern uns, wie wir noch nicht verstanden haben. Ich will nicht, dass die Leute uns verurteilen können. Niemand darf über uns urteilen. Aber Menschen, Sie und ich, fällen immer ein Urteil, deswegen müssen wir es den Menschen schwer machen, wir müssen sie daran hindern uns zu verurteilen«, rief ich ihr enthusiastisch zu. »Also seien Sie nicht so schüchtern, nehmen Sie keinen Rücksicht auf mich und zeigen sie alles, was sie wissen.« Meine Hand klopfte auf ihre Schulter und: »manche Sachen muss man ertragen, um danach schlauer zu sein«, in meiner Stimme dabei, eine seltsame Ironie und wenig witziger Galgenhumor.

eeilen Sie sich bitte. Folgen Sie mir, Benno. Ich will Ihnen noch ein letztes Zimmer zeigen. Aber«, sagte Rahel und huschte in meinen Gedankengang und hielt inne. »Ich will Sie auch warnen, das rote Varieté übertrifft wohl bei weitem… Bei weitem alles, was Sie zuvor zu Gesicht bekamen. Will sagen, nicht was die Leichen angeht, da sind Sie mittlerweile auf einem guten Stand.« Den Hut auf dem Kopf und die Kamera in der Hand auf ihren Rücken gerichtet, folgte ich ihr. Und ich spreche leise, ohne dass Rahel mich hört, auf das Band der Kamera: »etwas gefährliches haftet diesem Haus an, eine verborgene Feindseligkeit. Ich habe das Gefühl man ist mir nicht wohl gesonnen.« »Nein, das ist der Raum in dem die beiden Schriftsteller, A.K. und S.Z. zu Grunde gingen und damit meine ich nicht, dass sie ihren Ver-

Bei weiten, hatte sie gesagt, übertrifft der nächste Raum das bisher Gesehene, und bei weitem, meint nicht groteske Bilder, von verbrannten Huren oder verkohlten Freiern, vergangener Menschlichkeiten, Resten von Homo S.S., sie meinte, die beiden Schriftsteller hätten sich den Geist vergiftet. Und bei weitem, sollte sie recht behalten. ch will von vorne anfangen. Der Raum an sich, ging wie alle Räume vom Foyer ab. Rahel übernahm, wie gewohnt die Führung. Sie schaute sich öfters um, als würden wir verfolgt. Das war mir suspekt. Ich hielt die Kamera auf sie. Meine Wirklichkeit durch die Linse.

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dunkeln Flur drang, verschwand im Schlüssel. Das Schloss rastete ein, eine Tür knarrte und nachdem ich geblendet von Helligkeit, wobei mir das Licht nur im Kontrast zur erlebten Dunkelheit hell vorkam. Nachdem ich wieder sehen konnte, fanden wir uns auf der Tribüne eines ordentlich ausgekohlten Theaters wieder. Die roten Sitze waren überzogen von Asche und Ruß, aber verbrannt sahen sie nicht aus. Der Saal war relativ klein und maß etwa Zwanzig Reihen á Dreißig Sitze, links und rechts flankierten die niederen Reihen Logen, die ihrerseits noch einmal von erhöhten Reihen einer Loge übertrumpft wurden. Zur Bühne führte eine hölzerne Treppe, die knarrte und leicht nach gab, als wir Richtung Bühne nach unten schritten. Das Theater insgesamt war sehr kompakt, fast gedrungen – wirkte wohl auch so, weil enorme Balustraden die Sitzreihen überragten und mit Figuren verzierte Säulen sich Seite für Seite an jeder Sitzreihe aus dem Boden stampften. Hier konnten viele Menschen auf engen Raum und dazu noch komfortable, zusammengefasst werden. Meine Hände streifen die Balustrade, ich schlürfe durch Schichten von Staub und Asche, wie durch Herbstlaub und mit jedem von Bernsteins Schritten, wirbelte sie die verbrannten Reste der zu Boden gestürzten Decken auf, als gebe man Tinte in ein Wasserglas. Es ist sehr still. Der Raum verschluckt jeden unnötigen Ton. Auf der Hälfte des Weges zur Bühne hielt sie plötzlich inne und spricht: »in diesem Raum mein Lieber konnten Sie allerhand an Unterhaltung finden. An manchen Tagen, war dies ein Theater, das durchaus erregende Stücke spielte und ich meine damit: Stücke die den beflissenen Geist ausgesprochen mit Ideen, Bildern und Visionen überfließen konnten. An wiederum anderen Tagen gab es Kabarett, Oper, klassische Konzerte – man bemühte sich wirklich sehr, eine breite Schicht der Bevölkerung anzusprechen. Das Bordell war so etwas, wie der Versuch, die Menschen einander gleich zu machen. Ihnen zu zeigen, sie unterliegen und müssen alle die selben Bedürfnisse und Neigungen, in verschiedenen Ausprägungen und Stilen befriedigen. Wenn Herrschende beherrscht werden wollen und Beherrschte herrschen. Schwache über Mächtige regieren, wenigstens für einen

Mir kam das Ganze sehr geheimnisvoll vor. Als sie sich versichert hatte, dass niemand uns im Foyer beobachtete, sprach sie: »Berthold, helfen Sie mir diesen Schrank zur Seite zu schieben.« Ich legte die Kamera (ließ aber laufen) auf diese Art Kleiderschrank und wir schoben das unerwartet leichte Möbelstück zur Seite und dahinter verbarg sich ein schwarzer Vorhang, der sämtliches Licht absorbierte. Sie schlüpfte durch einen Spalt im Vorgang, der sich in der düsteren Ecke des Foyers befand, welcher mir bisher noch nicht aufgefallen war (wie auch der Schrank) und als ich zögerte zu folgen – vor dem Vorhang unbeweglich stand – zog mich eine Hand, aus dem Vorhang kommend, gewaltsam durch den Stoff und ich ging gefügig mit. Durch Tücher über Tücher, als würde ich in Tüchern über Tüchern langsam untergehen. In den Tüchern Noushins, dachte ich betäubt und griff in einem letzten Moment die Kamera und verschwand mit Rahel in der Dunkelheit. in Tasten-klicken geht durch meine stille Wohnung, die ich seit Wochen nicht verlassen habe. Ein Schreibmaschinen-klacken hallt durch die Räume, die ich zu meinem Gefangenenlager, eisigem Gulag und Labyrinth erklärte. Es wird vielleicht um elf oder um zwölf sein. Ich habe eine Kanne Tee gekocht und trinke die würzige Sud, versetzt mit Milch und Honig. Mein verehrter Atanassov, ich höre noch heute, wie ich an meinem Schreibtisch sitze, in der Ruhe meines Zimmers, Ihren Brief schreibe – ich höre noch heute Rahels klackende Schritte, als wäre es die Schreibmaschine, denn sehen konnte ich damals im geheimen Gang des Bordell nichts. Jeder Anschlag ist ein Aufsetzen von Rahels schwarzen hochhackigen Schuhen. Wir bewegten uns durch einen gänzlich düsteren Tunnel – pitch-black. Am Ende sah ich ein Öffnung, nein ein Schlüsselloch, aus dem unauffällig ein Lichtschein entkam, wie eine Möglichkeit in ein neues und verborgenes und verstecktes Leben. Es stimmt nicht, dass ich tastete, ich fühlte mit meinen Fingern, die ich vor Augen nicht sah, durch die Dunkelheit. Etwas klimperte. Tschkalowa fluchte. Etwas fiel zu Boden. Etwas suchte sie. Etwas fand sie, hob es auf und da – es war ein Schlüssel. Das Licht, das schlüssellochförmig in den

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Augenblick Rollen vertauschen, sehen wie es ist. Mancher wird weniger im Varieté unterwegs gewesen sein, spielte man, sagen wir nieveauvolle Stücke«, lachte sie krankhaft laut auf. »Der wird sich eher anderweitig vergnügt haben. Neben Akrobatik, Zirkusshows und Artistik, war das Varieté, auch gelegentlich Kinotheater und es gab derbe Filme zu sehen, von urtümlichem Ekel und primitiv provokanten und prahlerisch privaten Gelüsten.

Verhüllte Scham ist die Geißel der Moderne. Mann, wie Frau, saßen in den Reihen, mit den Händen zwischen den Beinen und leise heftig unterdrückten sie Atmen, Keuchen und wimmerndes Stöhnen, man wollte die anderen ja nicht stören, schaute man gebannt wie gespannt, was die Leinwand wohl heute zu bieten habe…« Und wie Rahel erzählte, flackerte eine Erinnerung auf, wie ich meine erste Freundin im Kino zum ersten Mal küsste und mich der Küsse wegen, vor den anderen Leute, schämte. Verhüllte Scham ist die Geißel der Moderne. Bernstein verwies mich, als wir noch immer auf halber Höhe waren, nach oben zu schauen. Am Ende des Saals gab es ein Fenster. »Sehen Sie dort oben den Vorführraum? Dort arbeitete Babette. Sie war nicht nur eine begabte Filmvorführerin, sie war auch – das wird Ihnen gefallen – eine talentierte Regisseurin und Schauspielerin und es war nicht selten, dass einer ihrer Filme gezeigt wurde und die Leute, nur um ihretwegen kamen. Manchmal war der Puff ein reinstes Kinotheater und die Nutten hingen faul Schaumwein saufend in der Loge ab. Weil Menschen aller gesellschaftlicher Schichten, sich einen Film ansahen. Babette, die Fremde, integrierte, was niemand gerne zu gibt. Dieser Segen von Frau. Sie die Strippenzieherin der Integration. Ihre Filme sorgten dafür«, erzählte Rahel und setzte den Gang zur Bühne fort. »Dass Bauarbeiter und Arzt nebeneinander saßen, dass Anwalt und Friseur diskutierten, dass Psychiater und Patient einander unkontrolliert gegenüberstanden, dass Menschen verschiedenster Perspektive und von

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mannigfaltigsten Sorten, sich einander manchmal sogar widersprechenden Anschauungen und Meinungen fröhlich im Austausch standen. Babettes größte Leistung allerdings war; dass Sie die Menschen bewegte ihre Rollen abzustreifen, um sich in neue Kostüme auf alte, aber auch gänzlich unbetretene Bühnenbretter zu wagen. Wozu ist denn Kunst sonst da, als die Menschen zusammen zu führen. Die beschämenden Verächter und gelangweilten Desinteressierten und die freien Gönner und lobenden Bewunderer. Wie verwunderlich und merkwürdig, denn wissen Sie Herr Lilienthal, wie schlichtet man einen Streit zwischen zweier sich ausschließenden Denk-Pragmatiken? Indem man ihnen sagt, sie sollen sich tunlichst vermeiden und aus dem Weg gehen«, führte die Kriminalbeamtin lange und euphemistisch aus und fügte noch hinzu: »was denken Sie Berthold, wie hat Babette es getan?« »Getan?«, fragte ich irritiert und selbst unerwartet über die Frage. »Ich weiß nicht was Sie meinen.« »Kommen Sie! Stellen Sie sich nicht dumm, Lilienthal«, ermahnte Bernstein Tschkalowa mich, blieb stehen und stemmte wieder, die Arme auf ihre Hüften und versperrte mir den Weg. »Was soll das für ein Ratespiel sein? Ich hatte gedacht, verehrte Rahel, Sie seien anspruchsvoller und würden auf stupide Spiele verzichten. Also gut, es scheint Ihnen ja angemessen wichtig zu sein. Ich weiß es nicht«, stammelte ich weiter. »Keine Ahnung, am Ende wird sie sich noch an einer ihrer Filmrollen aufgehangen haben.« »Falsch, falsch, falsch und nochmals falsch« sagte sie und bewegte ihren Kopf wie ein Specht, der meißelnd eine passende Stelle im Baum sucht. »Ich hatte ihnen wohl ein größeres Maß an Cleverness zugeschrieben… Überlegen wir also noch Mal,« begann Rahel ihr süßes Schauspiel, indes sie näher an mich heran trat und ihre Augen sich tief in meine bohrten. »Wissen Sie denn schon, wer den Puff in Brand gesteckt hat? Nicht? Also ihre Orientliebe, kann es wohl nicht gewesen sein. Ich weiß, sie denken immer noch gerne an die. Immer noch keine Idee? Dann folgen Sie mir«, sagte sie überlegen lächelnd und schüttelte ihren hübschen Kopf.


Im nächsten Moment stand ich im Türrahmen des Vorführraumes und musste mir die Hand vors Gesicht halten, der Gestank aus verbranntem Filmmaterial, einem stechenden Gas, dazu noch ein bis zwei vollkommen unbekannten Noten, hatte mich beinahe mein Bewusstsein gekostet.

Filmschnittkonsole identifizierte. Mir war diese Art zu arbeiten sehr angenehm. Ich will es mal übertrieben sagen, wenn auf der Bühne die Vorstellung lief, zeichnete Babette auf, was dort passierte und später, wenn das Publikum gegangen war, nahm sie das Material und ließ es durch die Maschine laufen, zwar erstellte sie damit vermutlich nur einen linearen Schnitt und doch, sehe ich es geradezu vor mir, wie der geschnittene Film der Bühnendarbietung, über den Projektor an die Leinwand gestrahlt wird und davor ein angeregtes Publikum sitzt.

Von Babette Weit und Breit keine Spur. Der enge Raum, bestimmte Gerüche – wieder machte sich ein Gefühl von Übelkeit breit. Platzangst. Agoraphobie, kontrollierte Panik Du fragst dich was das ist - du fühlst dich benommen. Du fragst dich: warum immer Beklemmung in engen Räumen? Warum immer Panikattacken in engen Räumen?

Sehen Sie Herr Atanassov, was das bedeutet? Richtig, Babette musste dieses Zimmer nie verlassen. Tagelang konnte die Meisterin des Vorführraumes in ihrem Reich verweilen und arbeiten und es gab, nichts in der weiten Welt, das sie hätte ablenken können von dem seduktierenden und beruhigenden Widmen, dem magischen Tête-à-tête, dem talmudistischen Traum von Relation, die eine einsame und alleinige Tätigkeit von Schaffen an Sinnhaftigkeit und Gerechtigkeit zu produzieren im Stande ist. Manchmal finde ich das im Filmen oder Schreiben. Das ist gewissermaßen mein Ideal von Arbeiten. Ich war sichtlich irritiert. Bis auf leichte Schmöker- und Rußspuren, waren diese, so obsoleten, wie nützlichen Gerätschaften vollständig intakt. Sie haben dem Feuer gestrotzt, wie ein unbearbeitetes Trauma, der Integration. »Oppenheimer, tun Sie mir einen gefallen und schauen mal in die Kamera, ob Sie eine Kassette finden?«, sprach Rahel insgesamt sehr schwärmerisch und auffällig ruhig, mehr als wüsste sie bereits die Antworten auf die Fragen, die sie stellte. Ich stand noch im Türrahmen. Bisher hatte ich noch jeden kleinen Gesprächsfetzen, jeden unnützen Weg durch das Bordell, noch hatte ich jedes bisschen gefilmt, aufgenommen und konserviert – was meine Augen betrachten, will ich durch die Kamera sehen, soll mein Publikum seinerseits betrachten. Dort nun aber, fand ich es unnütz zu drehen und schaltete zum ersten Mal, während meines Besuches die Kamera und mein Mikrofon aus. Das schlimmste ist immer der Gedanke, wenn ich jetzt ausschalte, kommt die eine Szene,

ahel, schritt zügigen Schrittes in den Raum, als sie in der Mitte ankam, drehte sie sich zu mir um. »Und was sagen Sie? Ein toller Raum, nicht wahr? Schauen Sie mal hier, der Projektor für die Vorführungen.« Wegen der Übelkeit, hielt ich mir die Hand auf den Bauch, sah dennoch klar die alte klapprige, angeschmökerte, größer als erwartete, von grauen Metall überzogene Kiste – die wohl letztlich einen Filmprojektor darstellen sollte. Kennen Sie, Herr Atanassov, den Geruch, von gelöschten Feuer? Jetzt komme ich darauf! Hier roch es nach verwässerter Asche. Komisch ich erinnere mich auch daran, dass mein Kindergarten und Hort, als ich sieben war, abgebrannt ist und es genauso roch – aber da ist noch etwas. Noch etwas, aber ich kann mich nicht erinnern. Noch etwas im Kindergarten und Hort. »Sehen Sie daneben, diesen schwarzen und antiquierte Kasten? Das ist eine Kamera. Zur Aufzeichnung der Bühnendarbietung. Und schauen sie mal, was sich dort neben der Kamera befindet«, führte mich Tschkalowa in gewohnter und lieben-gelernter Weise, durch den Vorführraum. Ich musste meinen Blick einige Minuten dort verharren lassen, was ich später als eine alte

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des Werk getanzt? Kann ein Streichholz einen ganzen Puff nieder brennen? Kann ein Funke ein ganzes Volk entzünden?« Jetzt waren wir in der Quizshow angekommen. Rahel dreht am Rad und ich schreie: nein die Frage kann nicht beantworten. »Er kann«, schloß sie und blickte mich an und hielt sich für clever, so wie sie aussah. »Eine Idee am rechten Ort zur rechten Zeit, sie wird aufkeimen und sich durch die Menschen tragen, weil sie ausspricht, was unausgesprochen schon Tonus des Volkskorpus war. Gewissermaßen, das Selbe Konzept, wie das der inneren Vision, die sich nach außen trägt, wie das der selbst erfüllenden Prophezeiung und so weiter. Das kennen Sie ja. Was denken Sie spielt dabei noch eine immense Rolle?«, war die nächste Frage in der Quizrunde, auf die ich keine Antwort wusste und Rahel keine Antwort hören wollte. »Richtig, verdeckte Scham. Aber was ist mit Babette?«, R. pausierte, beobachtete meine Reaktion und setzte wieder an: »ich kann Ihnen sagen, das Bild der im Kreis tanzende Babette, es ist nicht abwegig, aber die Gute fing erst zu tanzen an, als der ganze Saal schon brannte. Die roten und schweren Vorhänge in einem Funkensturm auf das Parkett der Bühne stürzten und krachten, die sitzenden Zuschauer erschrocken aufsprangen, kreischten und voll panischer Angst orientierungslos durch die Saal rannten.« Rahel kicherte ironisch, fröhlich laut lachend und unter glucksenden Geräuschen verließ sie den Vorführraum und wir standen ein paar Meter erhöht, blickten nach unten Richtung Bühne über die vielen von Rußfetzen bedeckten Sessel, als wäre es schwarzes Konfetti –Weltuntergangsparty. Ich hatte die Kamera wieder in der Hand, meinen Hut auf dem Kopf und hielt mir den Mantel zu. Ich war unentschlossen. Einmal die Aufnahmen gestoppt, gelang es mir nicht mich zu motivieren wieder einzuschalten. »Was für eine Nacht das gewesen sein muss, wie im Zirkus, wie im Zoo, wie im Affenhaus – endlich war der Mensch mal, wie er ist«, was für ein Populist Rahel war! Aber ich mochte das. »Lilienthal Sie Löwe, stellen Sie sich das doch mal vor. Die Zuschauer, welche an den Rändern der Sitzreihen saßen hatten Glück, denn sie konnten dort wo Teile der Vorhänge auf den Gängen

wenn ich jetzt den Stift absetze, kommt mir der eine Gedanke. Filmen und Schreiben haben ungemein viel gemeinsam. Man denkt immer, man könne eine Idee einfach später aufschreiben, aber das geht nicht. Man kann sie nur im Jetzt, wo sie gekommen ist, aufschreiben. Was übrigens schon zu einigen beinahe-Verkehrsunfällen geführt hat – witziger-weise hatte ich immer nur Angst um meine Manuskripte, nie um mich. Nicht ausschalten können, nicht den Stift ablegen können – Obligate eines zwanghaften Regisseurs und Literaten. Ich ging hinüber zur Kamera, zu diesem uralt Kasten von einem technischen Gerät. Suchte einen Moment das nach Verbrennung riechende Gehäuse ab. Erfühlte tastend die Peripherie. Als wäre es ein hüstelnder Mensch und ich Arzt. »Atmen Sie jetzt mal tief ein. Ja ja gut. Noch ein wenig. Halten Sie die Luft an und…«, grinste ich zu Rahel, die unverständlich schaute. »Ausatmen. Ja pusten Sie did ganze Luft raus. Ja bravo. Stellen Sie sich vor, sie müssten aus Ihren Füßen Luft pusten«, machte ich Späße mit dem Kamerakasten, auch wenn Rahel es überhaupt nicht komisch fand. Langsam spürte ich einen wachsenden Widerwillen gegen Ihre Art und Weise mich durch das Bordell zu führen. Immerhin war ich der Regisseur und das war meine Dokumentation. Rahel konnte gerne einen kleinen Teil davon einnehmen, aber letztlich verantwortlich war ich und deswegen musste auch ich die Entscheidungen treffen. »Berthold«, rief sie und einem ruckartigen Schnappen, sprang eine etwa Taschenbuch große Klappe aus der Gerätschaft . In der Tat, feil bot sich eine Betamax-Kassette, die ich eigentlich für ausgestorben gehalten hatte. Ich fischte die unbeschriftete Betamax aus dem Kassettenfach und übergab sie an Rahel Bernstein Tschkalowa, wie eine Mordwaffe, vorsichtig mit Pinzettengriff. »Vielen Dank!, erinnern Sie mich später daran, denn Sie müssen das Video auf der Kassette sehen, aber zurück zu Babette«, ich war ihr Gefangene. Rahel sagt spring und ich frage wie hoch. Sie sagt folge mir und ich sage ja! egal wohin. »Was meinen Sie Lilienthal, war sie die Brandstifterin? Was denken Sie, hat Babette einen Haufen aus unveröffentlichten Filmmaterial genommen, ein Streichholz darinnen versenkt und ist dann um ihr imperfektes und brennen-

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ße Augen machen und hysterisch Zigarren und Pfeifen paffen. Ein letztes Mal drehen Sie sich um, sehen die hilflosen lethargischen ihr Ende begriffenen Menschen – unten in der Mitte des Saales. Schaukeln sie wie Papierschiffe in der Badewanne«, klettern wir selbst wieder eine Leiter nach unten in Richtung der Sitzreihen. »Und benommen stürzen Sie hinab«, sagt sie und bleibt auf der Leiter stehen. »Sehen noch einmal, wo Sie gerade hinauf geklettert waren. Erinnern sich an Ihre Hoffnung, die Sie hat bergen lassen, eine Kraft aus Ihrem Körper, deren Existenz Sie sich nicht bewusst waren, weil Sie sich zeitlebens verflucht und gehasst haben und nicht wussten, dass Fluchen und Hassen, viel Kraft kostet und wie sie diese Erkenntnis erlangen, zergehen Sie wie ein Stück Käse im Ofen, wie all die Anderen in den Flammen und der Glut der feurigen Brunst«. Sie springt von den letzten Leitersprossen und landet halbwegs elegant neben einer Sitzreihe roter Sessel. Klopft sich etwas Staub ab und hüstelt. Ich trotte hinter ihr her. Wundere mich, sie spricht die ganze Zeit von den vielen verbrannten Menschen und ich kann nicht eine Leiche entdecken. »Erschöpft und glücklich müssen die Gesichter ausgesehen haben«, sagte sie den Saal überblickend. »Als Sie oben in der höchsten Loge ankamen und noch dachten, man wolle Ihnen nach oben helfen, statt Sie in den Tod zu stürzen«, spricht die leitende Kriminalbeamtin, klopft und putzt zwei der roten Sitzsessel ab. »Tote kann man nicht anklagen, ihre Schuld bleibt ungesühnt«, breche ich mein Schweigen und lasse mich auf einen der Sessel von Rahel einladen und wir sitzen wie die Zuschauer in den Sesseln und ich filme: Sesselreihen, den Blick zur Bühne, Rahel wie sie so tut, als würde sie Popcorn essen und mir eine imaginäre Tüte der Süßspeise in die Kamera hält: »willst du auch … echt lecker … nom nom …«, tut sie so als würde sie kauen und es stank noch immer nach nasser Asche. »Feindseligkeit«, sage ich. »Überall wo Sie nur hintreten Feindseligkeit, aber niemand hasst sie. Wer ist nur der Feind?« »Herr Berthold, ich bin froh, dass Sie wieder ein bisschen reden! Auch wenn es etwas wirr ist. Wissen Sie, was ich lustig finde?« Pause. Sie erwartete tatsächlich eine Antwort. Die Quizshow war anscheinend vorbei.

noch nicht brannten, auf die erhöhte erste Loge klettern«, zeigte sie auf die entsprechenden Stellen im Raum. »Von dort aus hievten sie ihre schweren Körper hastig weiter über die schönen Säulen und imposanten Balustraden auf die oberste und zweite Loge. Fühlen Sie das? Können Sie das Gefühl spüren, die brennende Glut im Nacken und Sie unter Todesangst klettern um ihr Leben«, sagte sei konspirativ und beinah drohend und wahnhaft. »Die Menschen, die sich die besten Plätzen mitten in der ersten Sitzreihe gesichert hatten, wurden von dem Feuer sehr unfair behandelt und verbrannten noch bei dem Versuch auch nur in die Nähe der oberen Loge zu stürzen, zu stürmen und vergeblich zu hasten – um dem sicheren Flammentod zu entgehen. Menschen in Panik, Stampede aufgeschreckt wie von Pan's Flöte«, sprach Rahel und wirkte auf mich, als hätte sie den Text dazu einstudiert. »Der Versuch«, ging es weiter. »Schneller als das Feuer zu sein. Ein treibender Tumult, ein tollwütiger Trubel und ein tosendes Tohuwabohu – muss das gewesen sein«. Ich ärgerte mich diesen Satz nicht auf Band zu haben und schaltete meine Handkamera wieder ein, die mitunter nichts mehr, als ein Diktiergerät war. »Herr Oppenheimer Lilienthal, stellen Sie sich vor: Sie haben es geschafft, sich durch wütende und panische Menschenmassen zu kämpfen, sind ferner schon an brennenden Vorhängen empor auf die erste Loge geklettert und als hätte sie das, noch nicht vollständig erschöpft, haben Sie einen Teil des Vorhanges mit Ihren Zähnen abgerissen und sind damit, wie auf Palmen, an den Säulen in Richtung Ihrer vermeintlichen Rettung geklettert. Überall schreien Menschen und fallen panisch übereinander. Mit letzter Kraft, erreichen Sie den Vorsprung der obersten Loge – denken an das Fenster des Vorführraums, das sie über die zweite Loge erreichen können und Sie denken: bloß raus hier. Doch als Sie sich, mit dem letzten bisschen körperlicher Energie, was Ihnen zur Verfügung stand, auf den Balkon schwingen wollen, da bemerken sie einen Fuss auf Ihrer Schulter und einen zweiten glänzend geputzten Lederschuh auf ihrem Kopf, eine Hand packt kraftvoll Ihren Arm, eine zweite legt sich auf Ihren Brustkorb und durch das Geländer des Vorsprunges erkennen Sie Gesichter, die Monokel tragen, gro-

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»Bernstein, ich habe keine Ahnung«, sagte ich geradeaus, sie nicht anschauend und war genervt. »Also«, begann sie unbeirrt und grinste in die Kamera. »Die Menschen hatten versucht sich vor dem Feuer zu retten, als wollten sie einstürzenden Wassermassen entkommen – wie ungünstig nur, dass sich Feuer, anders als Wasser, von unten nach oben ausbreitet. Blöd«, platzte ihr hier ein schallendes Gelächter aus den Stimmbändern. »Wenn man sich für eine ungünstige Strategie zur Lösung eines Problems entscheidet«, klatschte Rahel brausend, selbst über dieses gelungen Ende, ihrer kleinen Reise in meine Vorstellungskraft und ihre Stimme schepperte durch das verbrannte Theater. »Feuer, Wasser, Sturm haben Sie nicht so oft gespielt als Kind, oder?« »Aussichtslos, wie der Mensch von seinen Themen, Geschichten und seinem familiären Erbe eingeholt wird, wurden die Puff-besucher von den Flammen überrascht«, folgerte ich knapp. »Eine Sache Rahel, müssen Sie mir dennoch erklären, ein Feuer breitet sich zwar schnell aus, aber es bleibt nicht unbemerkt, wieso waren die Zuschauer nicht in der Lage – wieso hatten sie sich nicht früher versucht zu retten?«

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Viele kleine Steine? – das ist Sand.

Panik-Attacken sind wie im Flugzeug durch Gewitter fliegen, gewogen zwischen Hoch und Tiefdruck, kracht der Flieger reißend durch beinahe feste Dampfgebilde und man meint die Flügel würden bersten, sagt dann, wenn nicht hier dann im nächsten Sturm und man schwitzt sich die Außenhaut schmierig. Nur für mich: wenn dich das Flugzeug in die Turbulenzen führt dann hat dich dein Radarsystem beschissen.

ut, dass Sie fragen! Es war wegen des Stückes. Sie waren gebannt von dem Dialog zweier Schriftsteller. Beide hatten sie einen Roman über Gefangenschaft geschrieben. Beide hatten sie lang und breit erläutert, wie es ist eingesperrt und abgeschnitten zu sein. Der Eine schrieb über ein düsteres und sowjetisches Gefängnis für politische Häftlinge. In dem die einzige Möglichkeit sich zu unterhalten – Klopfzeichen waren. So pochten die Wände des Gefangenen R. und erzählten vom Leben der Anderen: wenn einer der Häftlinge zum Verhör verschleppt wurde, sie warnten ihn, wenn er selbst zum Verhör geholt wurde und ein bisschen erzählten sie auch von der Welt da draußen und was passiert ist, seitdem er in seiner Wohnung eines Nachts verhaftet wurde – seit diesem Tag hatte der Mond die Sonne verdunkelt. Das andere Buch, spielte in einem Hotelzimmer. Über Wochen sollte der Protagonist nun da sitzen. Nur ab und an, wurde er ebenso zu Verhören, aus dem Zimmer geholt. Nebenbei bemerkt, denken Sie mal daran, ihr einziger Mensch, die einzige Quelle von Menschlichkeit und Kommunikation ist ihr ärgster Feind und er weiß, nein er arbeitet mit ihrem Entzug an Kontakt. Wie lange würde Sie Lilienthal, aushalten ohne zu zerbrechen – obwohl, für sie wohl eine ganz günstige Ausgangssituation«, sagte Rahel und wir saßen noch in unseren Sessel und ich filmte uns noch dabei. »Als er eines Tages im Warteraum zum Verhör, ein Buch im Mantel eines Offiziers entdeckte, es einsteckte und fortan dieses Buch, welches ihn zunächst enttäuschte, weil es nichts als ein Buch über Aufstellungen im


Schach war und dann jedoch sein Überlebensmittel wurde. Später soll, was ihn gerettet hat – später soll es ihn an den Rand des Wahnsinns treiben und beinahe den Verstand kosten. Denn er litt an einer Schachvergiftung und der andere aus dem Sowjetgefängnis, der litt an dem Verlust des Wortes ›Ich‹ – es war zu Fiktion, zu grammatikalischer Fiktion verkommen. Kommen Sie nun bitte zur Bühne Herr Lilienthal. Hören Sie auf die Bühne sollen Sie kommen!«, rief die Furie von meiner Führerin. War aus ihrem Sessel aufgesprungen und schnellen Schrittes Richtung Bühne gelaufen. Ich holte sie ein und war, wie wir den Gang neben den Sitzreihen entlang spazierten, gespannt, bis zur Ungeduld, was mir Rahel Tschkalowa damit hatte sagen wollen. Wer diesen beiden Schriftsteller, die sie A.K. und S.Z. nannte – ich war begierig darauf wer diesen beiden Menschen waren, die da von Gefangenschaft sprachen. Knarrend gingen wir das Parkett hinunter. Es war schon sonderbar, wie der Raum offensichtlich Feuer gefangen hatte und zwar nicht zu knapp, aber dennoch nicht vollständig verbrannt war, sondern das Feuer irgendwann, so schien es, fast von alleine ausgegangen sein musste, nachdem es die wesentlichen Teile zerstört hatte und lediglich ein funktionierendes Gerüst, von dem was es mal war, gelassen hatte. Als hätte selbst, das Feuer nicht anzünden können, was schon ohnehin brannte. Als könne es nicht zerstören und zerstreuen, was schon zerstört und zerstreut ist. Die Bühne, ganz zu meiner Enttäuschung, war unspektakulär. Simple Holzlatten, dienten als Parkett und Untergrund. Links und rechts standen jeweils ein Sessel und in der Mitte ein Tisch, mit Austern als Aschenbecher und zwei Pfeifen lagen darin. Ein handgeknüpfter, aber völlig hässlich entstellter Perser, lag zur Hälfte über den Latten und einem der Sessel. »Das Leben ist eine Bühne – spielen Sie Benno! Hampelt Sie herum Benno! Poltern Sie! Singen Sie Benno! Machen Sie Krach! Tanzen Sie Benno! Kokettieren und hasardieren Sie

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cken und wollen mich erstechen. Dieser Brutus von Freund. Was macht er gerade? Mir brannte die Frage auf der Zunge. Ich war kurz davor, die Sache abzublasen und zurück in das Foyer zu stürmen. Ihn inflagranti delicti – auf frischer Tat zu erwischen, zu stellen und Konsequenzen – eine rote Linie – zu ziehen. Was macht er gerade?, die Frage zermürbte mich und wunderte mich zugleich. Ich sah ihn vor mir. Mir nichts dir nichts verträumt steht er tatenlos im Foyer. Um ihn herum arbeiten Beamten, sichern Spuren und finden Beweise. Er da in der Mitte und macht: nichts. Läuft durch die Spurensicherung. Beugt sich über die Arbeit der Anderen. Das faule Stück. Dreht Däumchen. Setzt sich auf die Rezeption, liest oder weiß Gott, schreibt. Manchmal habe ich ihn gesehen, wie er sich heimlich Notizen macht. Es kann nur einen Berthold Oppenheimer Lilienthal geben. Manchmal glaube ich fast, er assistiert mir in religiösen Eifer anbetungsvoll, weil er mich vergöttert. Weil er weiß, was für ein Talent ich bin und er hofft darauf, ein Stück vom Talent-Kuchen abzukommen. Nicht einmal Krümmel soll das Schwein bekommen. Nicht Einmal riechen soll er daran. Nicht Einmal sehen soll er den. Da haben wir das Problem. Jeden Schritt den er mir folgt, muss ich höllisch aufpassen, dass er sich keine von meinen Eigenheiten abschaut, kopiert, einstudiert und am Ende sich zu Eigen macht. Nein, Nein Anton du wirst meine Persönlichkeit nicht in dich absorbieren. Du Parasit. Was machst du gerade?, dachte ich wieder und es wurde still in meinem Kopf. Kam gerade der bärtige Puffleiter zu Nihad rüber geschlichen und hat er eine Kristallglas Karaffe mit im Gepäck, gefüllt mit etwas leichtem Schnaps. Gehen die beiden gerade schwankend Arm in Arm den Schnaps saufend, in einen noch geheimen Raum, pokern und besprechen in Zigarettendunst, wie sie mich am besten täuschen können.

Benno! Legen Sie eine Maske auf und agieren Sie«, trompete Rahel auf der Bühne mit offenen Armen und großer Geste. »Seien Sie bloß nie leise. Verstummen Sie nie. Passen Sie auf, dass Sie Ihre Stimme nie verlieren. Haben Sie gehört Berthold, passen auf den Ton auf, der aus ihren Lippen dringt«, warnte Rahel feindselig. Dort wo die beiden Schriftsteller gesessen hatten, waren noch ihre Schatten über geblieben. Jeder der beiden, hatte zusätzlich noch einen Beistelltisch auf dem sich, wie sollte es anders sein, Schnaps befand. A.K. hatte seine Beine übereinander geschlagen und die Arme waren verschränkt. Als eingebrannter Schatten hatte S.Z. den Kopf zwischen dem breit-beinigen Schritt zu hängen und seine Hände auf den Lehnen des Sessels. Indessen ich noch suchte, die Szenerie zu begreifen, was mir nicht gelang, rollte Bernstein ein Gestell vor sich her, auf dem ein Fernseher stand, der ein weißes Rauschen zeigte. n diesem Moment – und ich erzähle Ihnen das Herr Atanassov, weil es so merkwürdig ist. In diesem Moment, wie Rahel den Fernsehschrank auf die Bühne rollte, musste ich plötzlich an Anton denken. Sie wissen ja, ich denke nie an Anton. Dieser Mensch, ich arbeite mit ihm zusammen und das auch nicht ungern, aber sobald er von der Bildfläche verschwunden ist – und das war er ja. Ich im Varieté, er wo auch immer im Puff, vielleicht vögelte er ja eine tote Hure. Sobald Anton Nihad Lindbergh aus meinem Augenlicht gewichen ist und war, ist mir diese Person, dieser Mensch fremd, als hätte ich ihn noch nie gesehen und schon gar nicht wollte ich diesen mir fremden Menschen kennen lernen. Anton ist mir nur gut, solange er in meiner Nähe ist und ich ihn herumkommandieren kann. Sobald er verschwunden ist, ekele ich mich geradezu mich mit so jemanden abzugeben. Na ja die Not, denke ich dann… Die Not macht nicht erfinderisch sondern wahllos und gleichgültig. Ich fragte mich, was macht er wohl gerade? Redet er mit wem? Versaut er mir die Dreharbeiten? Will er mir ins Werk pfuschen? Ich weiß schon, wenn ich nicht genau hinsehe, schlampt er. Spielt mit seiner Kette. Wenn er denkt ich sehe ihn nicht, stieren neidische Augen auf meinen Rü-

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»Also Lindbergh ich weiß ja nicht, was du dir so eine Mühe gibst.« »Sie wissen nicht, wozu der im Stande ist.« »Ach was, der mag ja ganz gute Sachen machen mit der Kamara und co., aber ist er auch clever, ich glaube nicht.« »Aber.« »Nein, Nein nichts aber, wir machen das wie zu vor und gut is«, spricht der Puffleiter zuversichtlich mich zu täuschen. Anton ich wusste es. Ich wusste du willst mich täuschen. Aber so nicht. Mich führst du nicht hinters Licht. Du denkst doch nicht, dass ich dich darauf anspreche. Du würdest es so oder so bestreiten. Nein, ich schlage dich mit deinen Waffen und lasse mir nichts anmerken und dann, wenn du denkst: ich säße in der Falle und du müsstest nur noch die Reißleine ziehen, dann eröffne ich und du liegst am Boden und es ist aus mit: Anton Nihad Lindbergh. Rahel wird mir zur Seite stehen. Rahel wird mir helfen, dich zu besiegen. Stimmt doch oder Rahel? Du hilfst mir, nicht? Anton, was machst du gerade? Spielst du mit deinem Gebetskettchen? Weißt du schon, dass ich weiß…? Du bist nicht dumm. Du bist clever. Was machst du gerade? Du sitzt mit dem Bordellbetreiber im Pokerzimmer und ihr zockt, raucht und sauft. Gewinnst du? Bist du sicher? Der ist ein Spieler. Ich sehe dich, wie du ruhig die Karten hältst und Pokerface(!) dir nichts anmerken lässt. Deine Frau, dein Kind könnte neben dir sterben und du würdest keine Miene verziehen. Kühl pustest du frischen Rauch unter die, über den Tisch hängende Glühbirne, und verdrängst die tief liegenden Dunstwolken der dutzenden Zigaretten, die hier schon geraucht wurden. Tief liegen eure Blicke, verdeckt unter Schirmmützen und verborgen hinter schwarzen Sonnenbrillengläsern. Im Sekundentakt schmeißt ihr Karten auf den Tisch, als spieltet ihr Krieg und Frieden. Ihr habt schon lange aufgehört Pläne auszuhecken, zu sprechen und mich zu hintergehen. Aber ihr habt nicht aufgehört zu spielen. Die Karten fliegen leicht, wie getragen auf den Tisch. Nicht einmal zucken die Augenlider, wenn ihr verliert. Nicht einmal zucken die Mundwinkel, wenn ihr gewinnt. Nicht einmal rührt sich das versteinerte Gesicht. Eure versteinerte Haltung. Nichts bewegt sich hier, außer den Karten und

den Dunstschwaden. Manchmal zittern die erstarrten Pupillen. Manchmal schrecken eure Pupillen, wie als träumtet ihr, von links nach rechts. Dann nur, weil ihr das Spielfeld scannen müsst. Schnapsglas suchen und neue Kippe anstecken. Euer Pokerspiel ist längst zu einer Art Schach geworden, wo ihr beiden die meisten Züge jedoch, verdeckt und verhüllt unternehmt. Wenn beim Schach jeder Zug offen ist, sind nur ein winziger Teil eurer Züge bewusst, sichtbar und nachvollziehbar. Immer die Frage, wenn ihr den Anderen täuscht, der Andere euch täuscht. Täuscht ihr dann nicht euch selbst? Kann wenn beide täuschen überhaupt von Täuschung gesprochen werden? Selbst wenn nur einer täuscht, täuscht er dann oder hat er sich nur gedacht, er wählt sich eine Rolle zu agieren aus? Wäre nicht zu Täuschen eine Sache außerhalb? Ihr beiden bedient euch doch nur dem vorhandenen Rollen-Repertoire eurer niederen Persönlichkeit. Weil ihr denkt, dass wäre eine gute Idee sich zu verhalten, um etwas bestimmtes zu erreichen. Würde dann nicht jeder Mensch den ganzen Tag vor sich hin täuschen. Blasiert geistern Luftschlösser aus Zigarettenqualm durch die Pokerkammer. Bleich sind eure Gesichter. Puffleiter und Lindbergh, ihr seid keine Menschen mehr. Seit wann? Ihr seid keine Menschen mehr, seitdem der Betreiber dich aus dem Foyer abholte, dir ein Glas in die Hand drückte, wie du auf der Rezeption saßest, dir einschenkte und ihr zum ersten Mal auf meinen Untergang prostetet und in die Kammer gegangen seit. Seitdem wir dieses Haus betreten haben, sind wir gestorben und haben Bewusstsein verloren. aben Sie noch die Kassette?«, fragte Rahel v dem Fernsehschrank kniend und die vor Rollen fixierend. Ich beugte mich zu ihr und gab sie ihr. »Na bitte, danke und jetzt kommen Sie her, setzen Sie sich, ja zur Not auf den Bühnenboden«, schallte es durch den Saal in Rahel‘s Stimme. »Sitzen Sie bequem? Ja? Sehr gut, dann hier die Fernbedienung, wenn Sie das sehen wollen, müssen Sie es schon selbst einschalten.« Ich setzte mich auf die Bretter der Bühne, nahm meinen Hut ab und putzte wie in Übersprunghandlung die Krempe. Nahm die Fern-

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selbst, hast du nichts geschafft.« »So ist das eben, jeder muss tun, was er tun kann. Vor allem die letzte Idee, diesen Typen zu unterstützen, der diese abgedroschene Ausstellung abhielt, eine Reihe schwarzer und eine Reihe weißer Bilder, was besseres ist ihm nicht eingefallen und du unterstützt das auch noch. Was für ein dummer Mensch, du bist.« »Lass mich, ich hielt das für eine gute Idee.« »Was du einen guten Einfall nennst, dafür würde ich mich schämen.« »Und was bist du? Du bist doch nichts weiter als ein verängstigtes Kind, dein Gift ist mein Gift ist dein Gift.« »Nichts kannst du. Nichts bist du. Nichts wirst du.« »Ohne mich kannst du nicht existieren. Die Negation ist nichts und das weißt du. Daher bist du verbittert, weil du nur verneinen kannst und wer verneint, muss wissen, was es heißt Ja zu sagen. Aber dieses Ja liegt dir nicht, weil du dich fürchtest, weil du dich kasteist, weil du denkst, du könntest mit Kritik irgendetwas erreichen.« »›Gedanken leben ebenso von der Bestätigung wie vom Widerspruch‹, hast du mal gesagt. Beziehe dazu Stellung!«, die beiden Kontrahenten starren sich an. S.Z. schaut vorbei an A.K., der die Pause S.Z.'s ausnutzt: »und was willst du schon sein, als ein Vögelchen, das auf dem Rücken liegt und sich füttern lässt. Wie du es mit dem Vater und der Mutter getan hast. Schön vorgeben, du würdest studieren und etwas wertvolles würde aus dir werden, dabei hast du nur gesoffen, dich mit Frauen getroffen und deine Zeit vergeudet.« »Wenn du noch einmal sagst, es sei sinnlos, was ich bin, bringe ich dich um. Der Hass hat ein besseres Gedächtnis als die Liebe. « Was mich irritierte, war Rahels Lachen. »Passen Sie auf Lilienthal, gleich schlagen sie sich die Köpfe ein. Gleich bringt einer den anderen um.« Ich wendet mich von Rahel ab, die lachend hinter mir stand.

bedienung entgegen und drückte auf einen schwarzen Knopf aus Gummi. Das weiße Rauschen verschwand. Stille im Varietétheater. Ein schwarzer Bildschirm und plötzlich taucht in weißer Schrift vor meinen Augen ein verwackelter Schriftzug auf. Hostilität er Titel wich aus meinem Augenlicht und es erschien auf der Mattscheibe, das graue und unscharfe Bild zweier sich gegenüber sitzender Männer. Die Kamera, auf beide Männer, aus der Entfernung, gerichtet stellte langsam scharf. Es war etwas fieberhaftes dabei, ich wackelte mit den Beinen und meine Hände rieben sich aneinander. Noch immer ist kein Ton zu hören. Noch immer ist das Bild unscharf und schärft sich in schier unmenschlicher Geduld. Bereits waren die Vorhänge, welche inzwischen wie gescheiterte Feuervögel auf dem Boden lagen, im Video zu erkennen. Es waren drei an der Zahl. Zwei Außen und einer innen. Nun schoben sich auch Grieß und Schlieren über den Film. »Schwachsinn, sage ich dir«, sprach das scharfe Bild eines der beiden Akteure, wobei er sich den Perserteppich über seine Schulter zog und süffisant mit dem Wort Schwachsinn spielte und das ›S‹ von Sinn, summte und riesige Augen machte. »Schwach-Sinn? Was willst du damit sagen?«, fragte S.Z. energisch und lehnte sich nach vorne über den Sessel, auf dem er saß. »Ich will damit sagen, dass du Schwachsinn redest und nichts als Schwachsinn im Kopf hast. Jede deiner Ideen ist bekloppt. Ich finde dich einfach scheiße.« »Wenn du noch einmal sagst, dass meine Ideen bekloppt sind, komme ich gleich auf einen, für dich sehr schmerzhaften Gedanken.« »Ja? Auf welchen den? Na komm. Keine Scheu.« »Kannst du eigentlich noch etwas anderes, als meine Ideen für bekloppt zu klären? Ich meine, immer mäkelst du an meinen Einfällen, aber

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gung ihres Kopfes, meine Aufmerksam wieder auf den Bildschirm. »Du willst ein Schreiber sein? Jede deiner Phrasen, ist eine Farce, ist ein schlechtes Stück menschlicher Kultur-Mutation. Wer soll, das denn lesen? Du sagst, zu veröffentlichen ist Schwäche…« »Das ist es auch!«, platzte S.Z. A.K. unterbrechend ein. »Es ist ein Versuch Regulation, Sinn und Identität von Außen zu erhalten, die von Innen her kommen sollte«, sagt er nun merklich trotzig. »Ich sage dir, Schwäche ist, sich davor zu fürchten bei einer Publikation zu scheitern und abgelehnt zu werden, aber was ist ein Werk ungelesen? Du bist nichts mehr als ein unerwünschtes Kind. Es war einfach zu spät dich abzutreiben, nun bist du da und irgendwie zieht man dich groß. Jeder Mensch ist eine Insel, die sich nach Vereinigung mit dem Festland sehnt. « »Ich muss dir ehrlich sagen, deine Worte prallen an mir ab, als wäre ich ein Fels und du der Wind.« A.K. lacht laut und übertrieben. »Aber noch schlechter, als deine Sätze, sind deine Vergleiche. Mich vergräbt es im Boden, so sehr schäme ich mich, derselben Sorte Mensch, wie dir anzugehören. Aber eines kannst du: Humor oder ist das eher eine Art Selbst-Persiflage? Klär mich auf, wie es ist sein eigener Clown zu sein?« »Drei Jahre habe ich nicht geschrieben. Ob gut oder schlecht – du verstehst das nicht«, sagte S.Z. »Es spielt keine Rolle. Die Qualität des Werkes ist irrelevant.« »Drei Jahre hattest du nicht geschrieben? Und war das schlimm?«, fragt A.K. sarkastisch und höhnisch. »Das Fegefeuer«, antwortert S.Z. lakonisch. »Und dann?« »Dann brach es wie ein wundersames und heilsames Feuer zurück in mein Leben und ich – ich schrieb.« »Sehr rührselig, schreibst du das mal in die Autobiografie? Und ach, wenn wir schon mal dabei sind, was wolltest du noch werden… Arzt?«, wechselte A.K. das Thema. »Gespräche wollte ich führe – zur Heilung«, stammelte S.Z. unsicher.

Plötzlich trat in die Mitte der Beiden eine dritte Person. Die beiden, die sich gerade noch in unbekümmertester und zerfleischenster Manier im Dialog auseinander genommen hatten, schwiegen nun. Wie zwei Jungen schauten sie sich verschmitzt an, als hätten sie etwas verbrochen. »Noch zwei Minuten meine Herren. Noch zwei Minuten, dann ist Schluss.« Ich drehte mich wieder zu Tschkalowa um. Inzwischen saß ich im übrigen in einem der Sessel, eine kleine Kopfdrehung und ich sah die mit verschränkten Armen hinter mir stehende Rahel – irgendwie schien mir, verstand sie ihre Rolle hier, sei meiner Aufklärung geschuldet – in ihrem schwarzen, aber nicht düsteren, sondern eher distanzierten Aufzug, diese Art Reiterhose, die sie trug und darüber ein paar schwarze lange Lederstiefel. Die Bühne war für eine Varietébühne, relativ klein. Geradeso passten die beiden Sessel, die beiden Beistelltischchen und der größere Tisch in der Mitte, gerade so fand das rollende Gestell, welches als Fernsehschrank diente, hinter dem mittleren Tisch Platz. Vergleichend drehte ich zum Fernseher und wieder zu Bernstein und entdeckte eine Ähnlichkeit, zwischen der auf dem Video aufgetauchten und der hinter mir stehenden Frau – sie waren dieselbe Frau, aber ihren Stimmen unterschieden sich. Rahels Stimme, war so etwas wie ein liebliches und weibliches Nuscheln, eine Art unbekannter verführender Akzent, der mich alleine schon beim Zuhören reizte, erregte und bezirzte. Manchmal wenn sie sprach, bewegten sich nur ihre Lippen, aber ihr Atem war stumm, manchmal musste ich dann nah an sie heran gehen und merkte, wie ich näher kam, wurde sie lauter. Die Frau aus dem Video, die Rahel eben unheimlich ähnlich sah, die eben Rahel war, hatte eine, rauhe kratzige, gebrochene und tiefe Stimme und ihr Ton hatte etwas abwertendes, umtriebiges – eine tiefe bittere Ironie klang aus dieser Stimme. Zwei Minuten hatte die Frau gesagt, und dann? Was würde sein in zwei Minuten? Rahel, die ich in Gedanken versunken und leer angeschaut hatte, lenkte, mit einer ruckartigen Bewe-

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sich, leicht erschrocken, als hätte sie ihren Einsatz verpasst, schaut auf, kritzelt was auf die Karteikarte und spricht: »Sie haben noch sieben Minuten meine Herren. Noch sieben Minuten.« Nach dem Diebstahl und nach dem die Frau gesprochen hatte, drehte sich S.Z. zur Wand und kehrte dem Publikum in den nahe liegenden Sitzreihen den Rücken. Erst als A.K. wieder zu sprechen anfing: »soll ich dir ein Geheimnis verraten mein lieber Kollege?«, drehte sich S.Z. wieder dem Gesche-

»Du kannst doch nicht mal, dir selbst helfen. Da willst du dein Ungeschick, bei anderen Leuten ausbauen? Das Selbe Prinzip wie die Schwäche der Veröffentlichung. Nichts kannst du. Was bist du nur für ein Mensch? Sinnlos, sinnlos, sinnlos bist du!«, und bei jedem Sinnlos nieste A.K. Es war als pumpten ihn die Nieser auf und wie ein Blaseblag, der sich Stufenweise auf bläht. Er wurde größer und gewaltiger und dabei streichelte er seinen Bauch. S.Z. steht nun auf, geht zu A.K. hinüber und klaut ihm den Perserteppich, der daraufhin empört aufspringt, den Dieb aber nicht fassen kann und mit einer abwertenden Geste, sich wieder auf dem Sessel fallen lässt. Er lehnt sich zurück, spielt mit seinen Haaren und: »wenn du nur endlich der wirst, der du bist und diese lächerliche Maske von Persönlichkeit ablegst – ja dann könnte ich Gefallen an dir finden und dich los lassen.« Wie S.Z. hörte was A.K. sagte, krümmte er sich leicht und legte sich die Hand auf den Magen, als wolle ein pochendes Geschwür, Gastritis kontrollieren oder ein Gift unterdrücken. Die giftigen Worte der anderen und die eigenen giftigen Worte. »Welche Strategie lässt mich überdauern, was du gegen mich wirfst? Ich habe bereits eine eingeschlagen…«, äußerte S.Z. in resignativen Tönen. »Eine Taktik, die deinen Angriff in nichts unterscheidet. Werde Teil von dem, was du nicht bezwingen kannst. Es ist so, Gedanken leben von der Bestätigung wie vom Widerspruch.« »Na endlich, entkommt dieser Visage mal ein Gedanke, der nicht gänzlich verfehlt ist. Jede Art der Abwehr gehört hier zu uns. Du kannst dich deiner Abwehrmechanismen nicht erwehren. Deine Versuche dich zu Distanzierung bringen dich nur näher an mich heran«, sagte A.K. teuflisch und mit aufgerissenen Augen. »Es muss aus dem Repertoire, was mir an Verhalten zur Verfügung steht, eine Art existieren, mich zu Geben, die nicht darinnen endet, alles, was ich bin, zu verdammen, zu verfluchen und zu zerreißen.« ie unbekannte Frau hat sich inzwischen an den Tisch gesetzt und spielt lieblos mit einem kurzen gelben Bleistift und einer Karteikarte. Als die beiden kurz pausieren, räuspert sie

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hen zu und fragte: »was soll das sein?« »Hör mal, wir müssen uns nicht streiten. Wir müssen auch nicht miteinander kämpfen«, taktische Pause! Es ist still. Für Minuten starren sich die beiden Schauspieler an. Man hört das Flüstern der Leute im Publikum auf dem Videoband. Manche denken das Stück ist vorbei. Manche fangen dann an, zu klatschen. Man hört auch Pfiffe. Die Schauspieler starren sich an. Manche Gäste werfen ihren Mantel über die Schulter und wollen schon den Saal verlassen. Dann dreht sich A.K. dem Publikum zu. »Wenn du einfach akzeptierst, dass es keinen Unterschied macht, ob du nun lebst oder nicht. Tod oder lebendig, du warst nichts, bist nichts und wirst nichts.« Die Leute bleiben erschrocken stehen. Woraufhin, wie zu erwarten, S.Z. wortlos zu toben beginnt, die Frau, mit den Augen rollt, aufsteht, sich über den Tisch beugt, erneut etwas auf die Karteikarte kritzelt, dann die Bleistift hinter dem Ohr verstaut und die Bühne elegant verlässt. A.K. springt aus dem Sessel. Er gestikuliert einigermaßen ruhig, als wolle er für eine Idee begeistern. »Ich weiß es klingt harsch, aber dein ganzes Leben eben suchst du einen Platz und Sinn zu finden. Bist du nicht langsam selbst schon auf den Gedanken gekommen, dass es vielleicht gar keinen Ort gibt, wo du richtig und echt sein kannst? Ich meine Hoffnung mein Lieber, ich sehe das genauso wie du… Hoffnung ist ein hohes Gut, aber manchmal ist es besser die Hoffnung zu begraben und zu verscharren wo sie hingehört, nämlich auf den Friedhof neben der Zuversicht.« Deutlich zitternd, läuft S.Z. nun über die Bühne, macht einige Drehungen und umkreist seinen Sessel, wie ein ausgehungertes Raubtier, auf verzweifelter Suche nach Beute. »Diese Suche

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aufzugeben, heißt mich selbst aufgeben. Mich scheinen wie eingefroren, auch Rahel, die hinter Selbst aufgeben, heißt mich verlieren und mich mir steht scheint, wie angewurzelt, ein leises Flaverlieren heißt, zu Grunde gehen.« ckern durchzieht den Bildschirm. »Komm, keine falsche Scheu. Ich kann es fühUnd dann, dann wurde es schwarz. Wie das len, wie es dich zieht, zu erkunden, was dich im Video anfänglich sich schier weigerte, Fokus zu inneren zersetzt. Lass dich auf deine Konflikte transportieren, so ist es in einem Zucken von ein. Nimm meine Hand, ich führe dich.« Abschied davon geschlichen, eher Hals über »Mein Untergang, ist dein Aufgang. Aber Kopf geflüchtet und zurück bleibt ein weißer mein Tod ist auch dein Tod. Wir gehören zuPunkt in der Mitte der Mattscheibe. sammen und schließen einander aus – wir könFragend schaue ich zu Rahel. Fragend, weil nen nicht existieren und doch tun wir es. Wer ist ich mich schon daran gewöhnt hatte, dass Rahel Virus und wer ist Wirt?« entscheidet; Rahel sagt, was wir machen. Rahel »Ich kann sehr gut, ohne dich leben. Dein spricht und ich folge. Sag, spring und ich fraEnde, wäre eine Bege wie hoch? Rahel freiung.« würdigt mich keines »Nein, dein »Es muss aus dem Repertoire (…) an Blickes, weist aber Ende, wäre meine stumm – ihr Blick ist Verhalten (…) eine Art existieren, mich kalt, die Falten hoch Befreiung.« »Wenn du dein zu Geben, die nicht darinnen endet, al- zu ihren NasenflüEnde nicht woll- les, (…) zu verdammen, zu ver- geln zucken leicht test, weshalb räkelst – auf den schwarzen zu zerreißen.« du dich denn da- fluchen und Bildschirm, dass ich rin? Was ist deine mich wieder umgrößte Schwäche? drehte. Sie sieht verDie Angst vor Einbittert aus. samkeit, nicht wahr? Weshalb gehst du nicht Der Titel: Hostilität, erscheint erneut auf in Beziehung? Ich bin nur hier, weil du Ersatz dem Fernseher, schwindet lahm und ein unbrauchst. Ich bin dein Untergang und deine scharfes Bild, fokussiert sich langsam und: Existenzbestätigung. Ich bin der Schatten, der »Schwachsinn, sage ich dir«, sprach plötzlich dich übernommen hat. Ich bin die Seuche, die das scharfe Bild eines der beiden Akteure, wovon deinem Körper Besitz ergriffen hat, aber bei er sich den Perserteppich über seine Schulter was hast du getan, als ich kam und dich infizog und süffisant mit dem Wort Schwachsinn zierte? Was hast du gemacht? Ich sei der Tumor. spielte und das ›S‹ von Sinn, summte und riesige Ich sei Krebs. Ich sei dein Widersacher, sagst du. Augen machte. Ich sei eine pervertierte Kopie deiner Person. »Schwach-Sinn? Was willst du damit sagen?«, Wo du schwach bist, fülle ich die Lücke. Wo du fragte S.Z. energisch und lehnte sich stark nach Verteidigung brauchst, bin ich eingetreten. Mit vorne über den Sessel, auf dem er saß. offenen Armen hast du mich empfangen. Mit »Ich will damit sagen…« ilienthal«, unterbrach Rahel. »Haben Sie geBeifallsbekunden hast du dich selbst zu Grunde nug, oder wollen Sie noch sehen, wie es ausgerichtet.« geht? Nicht? Nun dann schauen wir weiter«, S.Z. fällt resignierend auf den Sessel und es fragt Bernstein mehr rhetorisch, indes ich sie gibt nichts, was seinen Kopf aus seinen Händen, hinter mir sprechen höre und auf den Bildheben könnte. schirm starre. Am Bühnenrand steht eine Frau im Schat»Wissen Sie mein kleiner Benno, die Krux an ten des Scheinwerferlichts und abseits der Puder Sache ist, es scheint, als ende das Stück an blikumsblicke und die Frau ruft zu den Männer dieser Stelle und als würde es sich schlicht wielaut flüsternd: »Meine Herren Sie haben noch derholen und bis auf einige wenige Details, ist fünfzehn Minuten. Meine Herren noch fünfdas Stück lediglich ein sich repetierendes Schauzehn Minuten.« spiel. Langweilig denken Sie?«, ich fühlte mich Wieder herrscht Stille. Die beiden Schauspieertappt und sah sie an. ler und Literaten sitzen in ihren Sesseln und

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»Dann sage ich Ihnen, darum geht es. TauDas dient der Selektion. Man will somit erchen Sie ein, in die Triaden der Ich-Hostilität. reichen, dass Zuschauer, die von dem SpektaVon redundanten Diskussionen, ausladenden kel der Ich-Auflösung, die sich nicht einfühlen Argumenten und pompösen Distraktionen. können, gelangweilt gehen. Nur wer versteht, Am Ende Bleibt nur eine Frage zu stellen – was wird fasziniert bleiben. Alle anderen werden bleibt(?). Aber sehen Sie selbst. Es ist mir übSchimpfen, kritisieren und fluchen. Hier spalten rigens nicht klar, ob sich das Stück tatsächlich sich Zuschauer unbewusst, wie das Stück an sich wiederholt oder seine Aufzeichnung.« gespalten ist. Die einen begeistert der Abgrund, Aufs höchste gefasst und von einer andaudas Destruktive und Auflösung in Hostilität, die ernden Neugierde überfallen, widmete ich mich anderen werden meckern. Triangulieren zwierstaunt wieder dem Video – wie es wohl ist, ein schen Verachtung, Beifall und Langeweile. und derselben Sache immer weider anheim zu Letztendlich haben beide Protagonisten, jefallen? – als plötzlich der Kasten ein sonderbares der für sich, erkannt ein Leben wie dieses, ist Geräusch von sich es nicht Wert gegab. Ein Quietschen lebt zu werden. Ein und Fiepen. Ziehen » (…) Tauchen Sie ein, in die Triaden der Sinn, der sich nur und Zerren. Wieder aus gegenseitiger Ich-Hostilität. Von redundanten Diskus- Negation und Abblickte ich zu Rahel – Bäumchen wech- sionen, ausladenden Argumenten und hängigkeit ergibt, sele dich – sie regte pompösen Distraktionen. Am Ende Bleibt ein derartiger Sinn, sich nicht, als wäre nur eine Frage zu stellen – was bleibt(?).« ist des Lebens nicht sie zu einer Salzsäuwert und beide erre erstarrt. hoben sich von ihLot, du musst deirem Sessel, schauten ner Frau sagen, sie synchron auf ihre darf sich nicht umdrehen. Sie darf nicht sehen. Uhren, trafen sich in der Mitte der Bühne, umTaubes und sprachloses entsetzen. armten sich, verließen die Bühne und der inEs war zu spät, als ich die Geräusche der Gezwischen brennende Vorhang fiel, stoppte nicht, rätschaft, als Zerstören des Videos identifizierte, sondern Krachte auf den Bühnenboden.« hatte sich das Videoband bereits im VideorekorWie es dann weiter ging mein lieber Atanassov, der unwiederbringlich verhäkelt und in einem, wissen Sie, die Zuschauer sprangen panisch und von diesem langen Quietschen angekündigten erschrocken auf. Einige klatschten aus Irritation Geräuschen, riss das Band der Kassette, wie der – nicht wissend ob der Brand zum Stück gehöre. rote Faden, die Verbindung meiner Identität Wie die Schauspieler abtraten, schickten sie in und ihrer Wirklichkeit. den Tod ihre Zuschauer. »Zu schade«, rief Tschkalowa aus und schlug Ich saß noch einen kurzen Moment im Sessel sich auf die Oberschenkel. »Nun hat sich diese von S.Z. und suchte zu verarbeiten, was ich geFrage von selbst geklärt. Seien Sie froh. Ich bin sehen und erzählt bekommen hatte. es auch so. In so weit es Sie interessiert, nur dem geneigten und aufmerksamen Zuschauer entging nicht, wie die beiden Protagonisten, zwar im Gros dasselbe sagten, doch aber ihre Stimmung und vor allem ihre Widerstandsfähigkeit und Resilienz langsam dahinsiechte. Man erkennt das in der Mimik. Leichtes Zucken der Gesichtszüge. Diese Schleife endete nach Sechs Stunden, das Bild wurde schwarz und es erschien in derselben Schriftart, die Frage – was Bleibt (?) »Sechst Stunden«, sagte ich leise. »Sechs Stunden.«

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Lösung. Die Lösung ist Teil des Problem. Das Problem ist Teil der Lösung – erschreckend alles ergibt immer wieder Sinn. Sprache ist nur ein Handschuh, für den selbst geformten Gipsabdruck, den wir Realität nennen. Vor allem für einen immer wieder formbaren Abdruck. Realität und Wirklichkeit sind also mehr so etwas wie Knete… So ist die Lösung die Antwort, das Pendant des Problems. Wir sollten im übrigen nicht vergessen, jedes sogenannte Problem unterliegt eine Intention, es hat eine Existenzberechtigung – wie jede Lösung ihre Existenzberechtigung besitzt. Um etwas zu lösen, wenn das möglich ist, muss man andere Formeln anwenden und eine andere Sprache zu Rate ziehen. Besonders die andere Sprache befragen. Jede Sprache ist für sich, ein anderer Knete-Handschuh, abgenommen von einem anderem Gipsabdruck, der eine andere Wirklichkeit widerspiegeln soll. Ich spreche aber nicht, von einer anderen Sprache an sich. Nein eine Sprache der Wirklichkeit. Eine andere Erzählweise, ob nun tatsächlich eine andere Sprache, ob persisch, hebräisch oder arabisch ein Unterschied machen würde ist eine andere Frage. Die englische Sprache jedenfalls, macht keinen Unterschied. Obgleich das sprechen einer anderen Sprache, aber das fühlen eines anderes Gefühl ist. Weil es nicht die verdammte eigene Sprache ist, weil sie nicht nach Verlieren, Scheitern und Verderben klingt – das ist aber keine generelle, sondern ein höchst persönliche Sache. Ich zum Beispiel habe nie in anderen Sprachen geträumt, nie auf englisch gedacht, das Deutsche, als Sprache (nicht als Nation…) ist einfach zu stark, es ist neben Herzschlag und Atem, eine dritte Größe, die ich zum Leben brauche. Ich weiss also: sich unaufhörlich in Lettern, in sphärische Musik und sich in absurde Kunst verlieren und verlustigen zu wollen, bedeutet schlichtweg: dem System des Problems eine adäquate Antwort, aus seiner eigenen Dimension, zu geben. Der Lösungsversuch als Vertiefung und Verstärkung. Sie sind ja nicht bescheuert und haben längst erkannt, worüber ich rede, nicht? Richtig über die Unsinnigkeit und sinn-schaffende Authen-

Rückzug IV

Unbändige Sehnsucht nach inniger emotionaler Verschmelzung. Ich will nicht aushalten was gärend in mir gähnende schwer-tragende Leere heißt. Entweder verschmelzen oder zersetzen. Entweder Nähe oder Distanz. Wir verbringen unser Leben versunken in Melancholie - schnippen - und vorbei ist unsere Zeit, unsere Generation vergangen, ist schlicht nicht mehr.

ommerlicher Wind schlägt gegen das Fenster. Ich laufe wie im Schützengraben durch meine Wohnung. Erzähle vor mich hin. Tue so, als würde ich jemanden, einer persischen oder arabischen Frau natürlich, die Wohnung zeigen. Man tue magisches Denken und Pars-pro-toto-Abwehr in einen Topf und zerkoche beides über Wochen. Willkommen, das ist die Küche, schau unter dem Kreuz an der Wand, kannst du sühnen. Oh ja, ich vergaß der falsche Gott. Komm weiter das ist der Flur, Badezimmer und am Ende des Ganges, mein Arbeitszimmer und mein Schlafzimmer. Schön nicht? Wunderbar, nicht? Tam tam. Mein Leben ist zu einer Einbahnstraße, ohne Wendemöglichkeit, zu einer Wanderung durch einen endlosen Flur und Graben geworden. Unmissverständlich beschließe ich festlich, bis sich der Zustand und die Situation nicht geändert haben, mich unaufhörlich in Lettern, in sphärische Musik und absurde Kunst zu verlustigen und zu verlieren. Das tückische an Lösungsversuchen wie diesen und mir brennt die Hirnhaut bei dem Gedanken. Das heimtückische: die logisch und vernünftig erscheinende Lösung, der Versuch etwas los zu werden oder zumindest, etwas zu durchstehen, zu überleben, wie in meinem Falle – ist in aller erster Linie – Teil des Problems. Was soll das bedeuten, fragen Sie sich mein verehrter Herr Atanassov, tun Sie das nicht? Das soll heißen, die erste Lösung, die Ihnen einfallen wird, sie stammt aus einem Assoziationsnetzwerk, ist aus der selben Welt konstruiert, spricht die selbe Sprache und rechnet in den selben Formeln, wie das zu lösende Problem. Zumal Einteilungen in Lösung und Problem eine persönliche Angelegenheit ist – die auch genau andersherum geheißen könnten. Die Lösung ist das Problem. Das Problem ist die

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meinen Situation sagen, ich sei verzweifelt auf der Suche nach Sinn entweder in Beziehung oder in Beschäftigung – finde es zuweilen in Psycho-pathologie. Es lässt sich schon so, wie Frankl es vorschlägt, einfühlen. Aber wissen Sie, Frankl kam mir immer vor wie so ein Nischenprodukt, entweder zu hoch oder zu niedrig im Supermarktregal. Da ist Antonovsky und seine Salutogenese schon greifbarer. Salutogene Faktoren und Pathogene Faktore. Antonovsky hatte einfach das bessere Marketing. Sorry Vik. Ich ertappe mich dabei, mich zu freuen,

tizität der Abhängigkeit zu seinen eigenen Defiziten. Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, sagt Frisch und ich stimme zu und füge hinzu: und das ist gut so. Wehe dem der seine Erfindungen, die er sein Leben nennt, immer wieder verwirft. Wehe dem der sich selbst nicht in seiner Erfindung akzeptieren kann. Ich sitze wieder auf meiner Couchkante und streichele das Dachsfell. Und inzwischen habe ich mich selbst wieder im Spiegel erkannt. Die Episoden der Depersonalisierung haben immer etwas erschreckend kühles und gefühlloses – generelle Affektarmut. Darum geht es ja auch, sich gleich zu schalten und zu betäuben – wie Neuroleptika schlucken. Jetzt bin ich aber wieder einigermaßen wach. Ich war schon lange nicht mehr in meinem Arbeitszimmer – der Raum macht mir Angst, ich fürchte mich davor, schaffen zu müssen. Ich würde so gerne mal wieder raus vor die Tür gehen und mit Menschen reden und witzeln und lachen und dumme Sachen machen. Ich würde gerne auf Baustellen spielen, durch ewig lange Rohre klettern. Würde ich gerne mal wieder sinnlos in einer Bar trinken, dort irgendeine Ische anmachen und sie mit nach Hause nehmen. Ich habe seit Wochen diese Wohnung nicht verlassen. Das ist die Anbetung der Einsamkeit. Und bin zu meinem eigenen Gefängniswärter geworden. Das ist die Glorifizierung der Isolation. Eine Übervorsicht hat mich eingesperrt. Das ist die Mystifizierung der Phobie. Und so ganz ohne menschlichen Kontakt, so ganz ohne Kommunikation und Austausch, fühle ich mich unheimlich zurückgebildet und degeneriert. Viktor E. Frankl würde zu meiner allge-

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weil ich ein Wort wie Degeneration nicht vergessen haben, was dem widerspricht – ganz und gar degeneriert zu sein. Der Schmerz einer Abweisung kann auf zweierlei Art und Weise betrachtet werden: zum einen, als Identitäts-Falsifikation, der abgewiesenen Person aus der Sinn-erwartung und -antizipation, das heißt Erwartung ein Stück Identität zu geschoben zu bekommen, resultiert also zum anderen die Enttäuschung über das ausbleibende Sinngefühl, welches körperliche Gefühle versprach. Falsifikation und ausbleibende Verifikation. Also ein doppelseitiger Feedback-effekt.

tigung, also Aufgaben und Herausforderungen, nennt F. die Krankheit und hier sehe ich auch die Destruktivität. Ja so trivial kann es gedacht werden. Thanatos der verkannte Sinnsucher. Dann gewinnt Destruktivität eine neue Quelle: die Langeweile. Zerstören, weil ein fades Leben sonst nichts bietet. Ferner halte ich mich im Zustand der Langeweile, aus Genuss. Soviel also zur Kybernetik der Destrudo. Psychopathologisch und nicht-Psychopathologisch scheinen mir dann zu irrelevante Kategorien zu verkommen. Denn die Entscheidung zur Herausbildung einer Störung ist die intendierte Suche nach Sinn und auch nach Möglichkeit die Zeit seines Lebens zu organisieren. Natürlich so einfach ist es nicht, den so denke ich, sind ausgebildete Störungen oft nur die artifiziellen und chronifizierten Artefakte einer ehemaligen verzweifelten Suche nach Sinn. Und zwar in der Art von: die Geister, die ich rief. Das bedeutet der Umkehrschluss ist hiernach ungültig. Man kann den Kuchen, nicht wieder zu Mehl, Eier, Zucker und Wasser machen. Ich will den Sema tanzen wie ein Derwisch, sterben bevor ich sterbe, verlieren was ich besitze und verlieren soll mich der Besitz.

Ich ertappe mich dabei, mich zu freuen, weil ich ein Wort wie Degeneration nicht vergessen habe, was dem widerspricht – ganz und gar degeneriert zu sein. In Sachen Fähigkeiten muss ich mir die Wohnung anschauen. Sie haben ja keine Ahnung, was hier innerhalb kürzester Zeit entstanden ist an Kunst und Literatur. Anteile der Literatur, die kleinen mythischen Geschichten, habe ich bereits in den Brief verflochten, sowie die lyrischen Ausflüge. Ich bin der Meinung, man kann schon sagen: Depression ist Sinn-entzug, dahingehend eine Hilflosigkeit und Manie ist angespannte Suche nach Sinn. Natürlich Erfahrungssuche und Erfahrungsentzug, was ich mit Sinn gleichsetze. Die wirksame Erfahrung ist Sinn. Und noch Selbstaktualisierungstendenz von Rogers will ich hinzufügen. Manie ist natürlich noch viel mehr. Ein bisschen auch, der ausgelebte Heldenepos. Manie ist wie die geflügelten Schuhe Perseus anzuziehen und Andromeda zu retten und wenn alles nichts mehr hilft, den Kopf Medusas nehmen und die Gegner versteinern. Unendliche Kraft und retten-können, was in Beziehung schief gegangen ist – begradigen. Als dritte Straße, als dritte Säule, die auf der Suche nach Sinn zu beschreiten wäre, auf die sich zu stützen wäre, neben Beziehung und Beschäf-

eres, die noch im Gewächshaus erschöpft lag, ahnte was geschehen war, und flüchtete vor dem liebestollen Morpheus. Eine seltene Argwohn hatte die Göttin der fruchtbaren Felder beschlichen – ihrer Tochter sei etwas geschehen. Neun Tage soll sie nun suchen. Neun Tage wird sie keinen Ambrosia verspeisen und nicht einen Tropfen Nektar trinken. Bis sie am zehnten Tage auf Hekate trifft, die Göttin der Rituale, Magie und Nekromanie, der Türschwellen, Zwischenwelten und übersinnlichen Übergängen, welche Ceres von dem Raub ihrer Tochter berichtet. Ihr jedoch nicht sagen kann, wer nun Entführer und Täter ist. Also führt Hekate, die Mittlerin zwischen den Welten, die inzwischen ungeduldige Göttin der Fruchtbarkeit zu Helios dem Sonnengott, dessen wachsamen Augen nicht eine Tat auf dieser Erde entgeht und so spricht er zu der suchenden und er sagt ihr, was geschehen war. Darüber so sehr erbost und verbittert, schwört Ceres dem Olymp ab und tritt unter die Menschen als eine alte Frau. Sie findet ihren Weg nach Eleusis, wo sie sich an einen Jungfrau-

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enbrunnen im Schatten eines Olivenbaumes niederlässt . Dort liegend und schlafend wird sie von drei jungen Frauen entdeckt, die sie wecken und wissen wollen, wer sie sei. Ceres erzählt den drei Königstöchtern sie käme von einer Insel unweit von Rhodos und wäre von Piraten überfallen worden. Nur mit letzter Kraft hätte sich retten – an Land ziehen können. Woraufhin sie in das Königshaus eingeladen wird. Aus Trauer und Wehmut lehnt sie jeglichen Trank und jede Speise obligatorisch ab, möchte nur etwas Kykeon zu sich zu nehmen, dem breiigen Gemisch aus Getreide, Wasser, geriebenen Ziegenkäse und Honig. Und keinen Wein, denn Wein stammt aus den Händen Bacchus und heißt er und Pluto seien eine Person. Im Haus übernimmt sie die Pflege des spätgeborenen Königssohnes, denn sie heimlich mit Ambrosia einbalsamierte – unsterblich sollte er werden. Doch als sie ihn als letztes in Feuer tauchte – die Feuertaufe der Invulnerabilität – unterbrach die Mutter des Sohnes, das Ritual und so blieb der Sohn sterblich, vulnerable auf Erden. Ceres darüber erzürnt, so sehr, dass sie ihre wahre Gestalt preis gab. Überschäumend vor Zorn noch immer, über den Verlust ihrer Tochter, war aus dem Königshaus geflüchtet und nieder gesunken auf dem Boden einer Höhle. Ließ sie alle Pflanzen, die auf und unter der Erde gediehen, die hoch hinaus, nicht höher als ein Haus und niedriges Gewächs wie Gras und die, welche im Wasser wuchsen – aus Trauer und Zorn ließ Ceres alle Pflanzen verdorren, vertrocknen und verrotten. Als der gesamte Erdball grau verfallen war, schickte sich Hermes an, über das Übel zu berichten und Jupiter sendete Hermes zu seinem Bruder in der Unterwelt um Prosperina wieder frei zu geben. »Du darfst mir diese Frau nicht wieder nehmen, sie ist die Schlichterin meiner zerstrittenen

27 Sinne. Wer ist sie nur, dieses ungezählte Frauenzimmer? Mein Bruder ich bitte dich, deiner dir, du darfst mir niemals diese Frau rauben.« Jupiter jedoch blieb keine Wahl und er blieb unnachgiebig, wie Marmor. Doch noch bevor Prosperina das Reich der Toten verlässt, gab Pluto ihr einige Granatapfelkerne als Wegzehrung mit. Die nichts Ahnende isst von den Kernen. Granatapfelsaft rann ihr die Mundwinkel herunter. War süß in ihrem Gaumen und sauer auf ihrer Zunge. Tropfen der roten Flüssigkeit verlieren sich auf ihrem Kleid, was sie nicht wissen kann: niemand der jemals, von den Früchten der Unterwelt gekostet hat, niemand, der sich zum fressen hat verleiten und verführen lassen, kann dauerhaft in der Oberwelt verweilen. Und so lebt Prosperina acht Monate auf der Mutter Erde und vier Monate regiert sie als Königin das Reich der Toten. In diesen vier Monaten, in denen Mutter und Tochter getrennt sind, wächst auf der Erde nicht ein Korn, es ist kalt und windig. Diese Zeit nennen wir Winter und wenn Prosperina aus dem Totenreich zu ihrer Mutter fährt, so nennen wir das Frühling.

M -eine Mutter war eine sehr geschickte Frau.

eine Mutter war eine sehr Geschickte Frau. Ich kann das an drei Punkten fest machen. Als meine Mutter zwanzig war, wurde ihr von ihrem Gynäkologen gesagt, sie könne nie wieder schwanger werden. Das war nach einer Abtreibung. Eine Sache, die sie vermutlich nicht vergessen hatte, denn sie schlief mit Männern ohne zu verhüten. Einer dieser Männer war verheiratet, und hatte drei Kinder gehabt – gehabt weil eines bei einem Fahrradunfall gestorben war. Er hatte also noch zwei Kinder. Als seine Ehefrau erfuhr, dass er eine Affäre mit meiner Mutter hatte und noch dazu, dass diese Frau standfest behauptete sie könne unter

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keinen Umständen usw. schwanger werden, als diese Frau mit mir schwanger war, von dem Vater mit zwei lebendige Kindern und einem Toten Kind – gerade eben als das dritte und erst geborene Kind verstorben war. Als seine Ehefrau erfuhr, dass meine Mutter schwanger war, sagte sie, wenn irgendjemand von der Existenz dieses Bastardes erfährt, werde ich mich scheiden lassen. Mein Vater beendete das Verhältnis mit meiner Mutter und verschwieg zwanzig Jahre lang meine Existenz vor seinen Kindern Alexander und Julia. Wenn sie nun denken, dass er ihnen davon erzählte, als sie alt genug waren, dann irren sie sich. Ich war es, der Kuckuck im Nest, der beiden Geschwister parallel Briefe schrieb. Das löste eine Familienkrise aus. Ich war entzückt. Seine Frau nach zwanzig Jahren drohte ihm wieder die Scheidung an. Es fühlte sich nach Rache an und Genugtuung an. Seitdem genieße ich bewusst das Falsche. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war ein Brief. Ich sei, wie ein Vogel, der auf dem

Rücken liegt, seinen Schnabel aufsperrt und sich Füttern lässt, statt flügge zu werden. Da war ich schon seit vier Jahren ausgezogen und seitdem auch selbstständig. Es schmerzte, denn dieser Brief diente dazu mich zu schmerzen. arum nun meine Mutter eine sehr geschickte Frau war, will ich Ihnen sagen, Herr Leonard A. Atanassov. Ich nehme an, sie hatte ein intuitives Wissen darüber und fühlte was für ein abgeschlossener Giftschrank in mir lauerte, aufgeschlossen zu werden und baute ein schönes Nest für mich. Mein Stiefvater und Vater meiner Schwester war ein einfacher Mann, der wie ich seinen eigenen Giftschrank mit sich herum trug. Von seiner eigenen Mutter geschlagen und misshandelt, floh er mit zwölf aus diesem feindseligen Haushalt, gab vor Waise zu sein und landete schließlich im Waisenhaus. Gut gemacht junger Herr Papa. Dort war es auch dort im Waisenhaus, als er zum ersten mal erkannte, dass ihm das verspielen von Geld Genugtuung bereitet. Im Waisenhaus bekam jedes Kind ein Taschengeld, dass er nach einer Woche im Hütchen spielen hinter dem Haus verzockt hatte und sich daraufhin Geld borgen müsste. Zwei Qualitäten, die ihn sein Leben lang begleiten werden. Als meine junge Mutter mit mir von der Hausnummer sechzehn in die Hausnummer zehn und elf zog, wohnte dieser Mann zwei Stockwerke über uns und er roch, wie damals im Waisenhaus, als er vorgab ohne Eltern zu sein, die Gelegen-

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oder der erkaufte Preis von Mutters Schachpartie. Das hieß auch, unser Geld zu verzocken und sich bei den Nachbarn Geld zu borgen. Das erste mal, dass ich so etwas wie: Fremdscham fühlte. Als ich ihn beobachtete, aus meinem Zimmer durch die Gardinen, versteckt hinter dem Stoff, wie er rüber schlich, anklopfte und irgendwie – verstanden haben ich zum Glück nichts – irgendwie mit Händen und Füßen erklärte; er, wir brauchen Geld. Wahrscheinlich hat er mit uns Kindern argumentiert, Essen, Schulgeld, Zukunft. Das erste Mal, dass ich mich meiner Existenz schämte. Das zweite Mal um genau zu sein, als die Mutter meiner unbekannten Geschwister und Frau meines leiblichen Vaters, darauf bestand meine Existenz geheim zu halten und besser noch zu tilgen – eine Urscham. Seither fühlt sich jeder meiner Entwicklungsschritte wie metastieren an. Der Stiefvater war Maurer. Bei uns war nicht viel Geld zu verdienen. Meine Mutter überredete ihn außer Landes zu gehen um dort Geld für uns zu verdienen, ein bisschen Reparation zu zahlen, dass er den ausgeschütteten Giftschrank wieder abträgt und insgeheim uns Kinder langsam von ihm zu entwöhnen. Schäfermatt. Geschickte Mutter. Manchmal frage ich mich, warum meine Mutter dieses ganze Brimborium von drei Punkten und Schachzügen veranstaltet hat und ich frage mich dann: Mutter, wovor hattest du Angst? Eines Tages werde ich an dem Krankenbett meines Stiefvaters stehen und ihm Lebewohl sagen. Ich habe in diesem Leben um mal ehrlich zu sein Atanassov, immer Schwierigkeiten gehabt eine Rolle für mich zu finden. Gerne band ich mir den Heldenepos meiner Mutter auf den Rücken. Höre sie noch heute von Indigokindern reden. Besondere Kinder, überdurchschnittlich intelligent und überdurchschnittlich kreativ und ich höre sie zu mir sagen: ich sei eines dieser Kinder. Ich teile diesen Heldenepos gerne in zwei Arten der Epen ein. Der globale Epos, den hatten wir gerade. Prämisse: das Kind muss etwas besonderes werden. Und der zweite, der Situative Epos, beschreibt welche Funktion ich in

heit und fackelte nicht lange und ergriff sie beim Schopfe. Meine Mutter witterte ihrerseits, den neuen Verehrer und ließ sich auf ihn ein. Wohl wissend, dass ihr Junge – ich – einen Vater brauche. Hauptsächlich, weil ihr Junge einen Vater brauchte. Das war ihr erster geschickter Zug. Ich nehme ihr das sehr übel. Ihre Liebesfähigkeit, Beziehung aus Liebe – Ihre Bauern Eröffnung, gespiegelt von meinem Stiefvater, der die Chance ergreift und sich ihr ebenbürtig fühlt. Dieses kühle und vernünftige Soziale-Organisieren habe ich von ihr geerbt – wurde mir zeitlebens von Frauen geworfen: du bist so kalt! Dann wird es für ein paar Jahre langweilig. Ich werde älter, meine Schwester kommt zur Welt. Meine Mutter arbeitet in einer Videothek. Übrigens nimmt sie dazu immer ein Schreckschuss-Pistole mit, zu ihrem Schutz. Mein Stiefvater hatte noch eine Tochter Marilyn. Die beide gingen eine Abend aus oder so. Ich spielte mit Marilyn, schoss einen Ball auf den Ofen im Wohnzimmer, fand oben auf dem Ofen die Pistole und schoss meiner Stiefschwester in den Oberschenkel. Es waren ja nur Platzpatronen. Auch meiner Mutter wurde langweilig. Daher beschloss sie eine Ausbildung zu machen. Sie wurde Heilpraktikerin. Dabei setzte sie geschickt auf meinen Stiefvater, der mich und meine leibliche Schwester zu Hause bespasste, während sie ihre Ausbildung machte. Manchmal habe ich das Gefühl, meine Mutter hat für mich eine Menge Bauernopfer gebracht und von mir als Opfergabe den Heldenepos verlangt. Den Mann ins Haus holen, ihn Zuhause abstellen, die Ausbildung für ein besseres leben, mir ständig sagen, so wie der ist, so ein Loser wirst du nicht, aber nimm erst Einmal dieses Ersatzmodell von Vaterfigur – das war Punkt zwei. Ihr dritter und letzter Schachzug: das Ersatzmodell von Vater hatte ausgedient und ich war alt genug, er musste abgeschoben werden. Zumal sein Nutzen langsam von seinen Kosten überhöht wurde. Ich habe ja schon gesagt, dass er dem Glücksspiel verfallen war. Die Sucht-Pathologie des Stiefvaters, war der Schwachpunkt

Mein Leben wird von zwei großen Ängsten beherrscht.

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der Beziehung zwischen Mutter und Stiefvater einnehmen sollte. Nämlich dem des Delegierten und Retters, an der Stelle wo meine Mutter sich nicht vom Stiefvater trennen konnte, der fast im wöchentlichen Takt Krisen produzierte. Je mehr meine Mutter ihn intellektuell an die Wand spielte, desto gravierendere Krisen brachte er Heim. Praktisch sah das so aus: Mutter und Schwester lagen weinend in meinem Bett. Ich war etwa zwölf, nach dieser Szene standen Mutter und ich in der Küche und sie flößte mir den Gedanken ein: so ein Mann wirst du nicht und holte schließlich den Stiefvater wieder ins Haus. Das hatten wir schon. Was wir eben nicht hatten, dieser Satz: so ein Mann wirst du nicht, das war ein Trennungsversuch – so schaffte sich die Mutter Abstand vom Stiefvater über meinen Rücken und ein Delegationsauftrag noch dazu. Noch heute wenn wir darüber sprechen, spricht sie mir jede Gemeinsamkeit mit dem Stiefvater ab – Identifikation verboten, daher ist mir alles Verlieren zu wider, daher sind Menschen, die Opfer ihrer selbst sind ekelhaft. Interessant das gerade meine Mutter einen Beruf ergriffen hat, in dem sie anderen Menschen helfen will.

Diese beiden antagonistischen Ängste, Held und Antiheld, These und Antithese, sind die Triebfedern meines Verhaltens und höchst wahrscheinlich ein Grund, weshalb mich Menschen gespalten nennen. Dabei gibt es so etwas wie Spaltung überhaupt nicht. Es geht nur darum Ängste abzuführen. Es richtet sich alles nach der Angstabwehr. Je nachdem welche der beiden Ängste intensiver erlebt wird, muss anders abgewehrt und abgeführt werden. Menschen sprechen dann von Spaltung, das ist großer Quatsch. Ich bin noch immer dieselbe Person. Wer ist der Gegner? Das Gift in mir. Meine Mutter vererbte mir zwei Dinge. Meine Leere und ihren Kampfgeist – die Leere nicht zu akzeptieren. Mich umzubringen bedeutet meiner Mutter ein Schnippchen zu schlagen, Rache an der Person, die mein Leben so gefeiert hat.

ein Leben wird von zwei großen Ängsten beherrscht. Ich nenne sie meine zwei Kardinals-Ängste. Erstens: die Furcht nicht zu existieren, dass der Blick der Anderen durch mich hindurch geht. Wie durch den gläsernen Menschen. Ich muss also wie ein Hampelmann vor den Augen der Anderen herum hüpfen, Späße treiben, ernst sein, Theater spielen und ein ganz besonders intensiver Mensch sein. Jeder Augenblick kann der letzte im Blick des Anderen sein. Man muss dafür sorgen, dass die Blicke bleiben und nicht weichen. Und was, wenn ich den Fokus der Anderen auf mir liegen spüre? Und was, wenn ich dusche in der Aufmerksamkeit der Anderen? Zweitens: die Furcht, konsumiert zu werden. In den Blicken der Anderen zu schwinden. Aufgefressen zu werden vom Interesse an meiner Person. Also müssen Menschen enttäuscht werden, dass sich ihr Blick abwendet. Sie Interesse verlieren und mich ignorieren. Wenn die Blicke sich abwenden, muss ich dafür sorgen, dass sie bleiben…

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wagen, wie eine übergroße fahrbare Bahre, anpacken könne. Der zweite nun auch am Wagen dran, setzte ein: »ach, es ist schon klar, wie diese bahnbrechenden Affekte, eine bestimmte Gruppe von Menschen in einem Strom aus Störung mitreißen. Für mich stellt sich diese Frage nicht. Wie eine kalte Dusche, Sie verstehen. Verrückt werden, heißt um die Dusche herum tanzen. Sich vor Wahn bewahren, bedeutet immer wieder unter die eiskalte Dusche zu springen und es auszuhalten.« »Und eigentlich muss ich sagen, würde ich das auch sehr verrückt finden, wenn Sie nicht verrückt würden… Dieser verfluchte Wagen, wo soll man denn hier anpacken, rutscht doch gleich die erste tote Nutte runter«, sagte er sichtlich verärgert und wollte nicht eine der Toten berühren. Räuspert sich lautstark und: »wenn die Welt auf einmal die Drehrichtung ändert, auf Tage keine Nächte folgen und alles was zu Bode fällt augenblicklich wieder nach oben schnellt. Das wäre Wahnsinn, wenn Sie darauf nicht mit verrückt-werden reagieren. Dann sind Sie wahrlich verrückt.« »Aber die Angst, wissen Sie die Angst, die hält einen ab. Die verrückt machende Angst, bewahrt dich vor der kalte Dusche und

Bordell klingt wie Borderline Eigentlich ist egal, was ich den ganzen Tag mache, denn ich handele nur mit Variablen, die ich zur Hilfe nehme: Hostilität zu reduzieren. Jeden Tag aufs neue fühlt sich ein Glas Feindseligkeit und ich muss sehen, wie ich die bittere Brühe herunter würge

ahel Bernstein Tschkalowa und ich verließen das Varieté zügig und nahmen denselben Weg, den wir genommen hatten um in das Theater zu gelangen. Mit dem Unterschied, dass mir der lange dunkle Flur nicht mehr gespenstisch und unheimlich vorkam, den es handelte sich nur um einen gewöhnlichen Flur, in dem kein Licht war. Wir standen etwas orientierungslos im Foyer, es werden vielleicht drei oder vier Stunden vergangen sein, seitdem ich diesen Ort und dieses Haus betreten habe. Rahel etwas schneller als ich schon mitten im Foyer, rief mir zu: »Berthold, warten Sie bitte kurz hier?« Was mehr eine Aufforderung als eine Frage war. Ich fühlte mich wie abgestellt und schaute mich um. Der Raum – das Foyer maß etwa zehn mal zwölf Meter und verfügte über eine imposanten Deckengestaltung. Der Stuck in meiner Wohnung, war ein Scherz dagegen, dachte ich gen Decke starrend. Was da an Figuren, Vehikeln und Göttergestalten, wie aus dem Himmel kletterte, erinnerte mich an eine plastische Version der sixtinischen Kapelle. Ich schaute mich weiter um, konnte übrigens Anton nirgends sehen, aber überall in jeder Ecke hockten Menschen und arbeiteten, dachte ich zumindest. Noch immer stand der Wagen mit den gespalteten Huren an seiner Stelle, wo mir zum ersten Mal schlecht geworden war. Inzwischen aber hatten zwei Beamte sich seiner angenommen. Ich beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Ich weiß es ist unhöflich, aber ich kann es oft nicht lasen fremden Menschen zuzuhören. »Also wenn es um Verrücktheiten geht, will ich erst einmal Sie sehen: wie Sie es aushalten, wenn die Welt auf einmal keinen Sinn mehr macht – wenn Sie ihn über Nacht verlieren – wie Sie sich dann verhalten und wie unverrückt sie bleiben können«, sagte der erste und suchte wo er am hölzernen Zieh-

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dann, dann wirst du bekloppt und verrückt – reagierst also normal.« »Und wenn nicht, dann wirst du dissozial. Wenn du die Angst ausschaltest, dich abbrühst und leer schaltest, wirst du dissozial.« »Kriminell!« Die beiden sahen aus, als wären sie aus der Möbelpackerabteilung des Leichenschauhauses. Raue Hände, behaarte Arme und tiefe Furchen im Gesicht, wo mal Falten waren. Ein loses Mundwerk, wie zwei, die keinen Gedanken daran verschwenden, dass andere die Nase rümpfen würden und doch unter dieser gegerbten Ledergesicht von Aussehen und Ausdruck, lag etwas fein-geistiges und intellektuelles. »Es gibt zwei Arten von Rückbesinnung, Erinnerung und Intrusion. Die eine vermisst eine alte Zeit. Auch weil der Moment, das Jetzt und die Situation nicht unbedingt hergibt, was die andere mal war.« »Ja und die andere Art ist das tatsächliche zurück gehen wollen. An einen Ort, an dem mal großer Schaden entstand.« »So ist das eine Nostalgie und Schwärmerei.« »Und das andere ist nichts als festgesetzte Angst. Der Organismus will Harmonie. Die Harmonie aber wird ständig interferiert von Blitzlichtern über Blitzlichtern von einzelnen Bildern, die flackernd vor den Augen erscheinen und…« »Dieser eine schwarze Fleck. Und sich festsetzen und Bilder, die das Jetzt in Frage stellen.« »Dieser blinde Fleck. Es fehlt ein Stück, der Betroffene muss fehlendes ausgleichen.« »Oder auch überblenden. Wenn der Betroffene eine Maske eine Art Filter auf 's Sehfeld von Wirklichkeit legt, in welcher der blinde Fleck, das Trauma schon überdeckt ist.« »Er muss es mit einer Folie, wie eine Kopie eines Bildes, auf das selbe Bild legen.« »Wie das Bild mit ausgeglichenen blindem Fleck real wurde. Und eine wahre Wirklichkeit, nämlich die von Genuss und Augenblick, überlagert.« »Man muss es vor allem zu lassen.« »Zulassen, dass neue Tage anbrechen. Zulassen, dass auf andere Tage andere Nächte folgen.« »Man muss der Versuchung widerstehen, die Zeit anhalten zu können.« »Man darf sich nicht festhängen in wahnhaften Ideen.«

»Sagen wir es einmal laut, man muss Verrückt werden um dem eigenen Wahn zu widerstehen.« »Weil er nichts als logisch ist.« »Sie wollen ja stehen bleiben. Sie wollen ja zersplittern. Sie müssen das tun.« Beiden mühten sich sichtlich mit dem Wagen ab. Tauschten Positionen. Beide bewegten sie ihn nicht eine Zentimeter. Nahmen Abstand begutachteten das Vehikel fachmännisch. Stellten Rechnungen mit den Hände, wie Pi mal Daumen, auf. Waren aber scheinbar noch guter Dinge, die toten abzutransportieren.

Ich war noch etwas benommen von der Sache im Varietétheater und stand wie angewurzelt vor dem Vorhang und Schrank im Foyer und wartete das Rahel mich abholte, wie aus dem Kinderparadies. Auch wegen all der anderen Bilder, die ich zu Gesicht bekommen hatte, die an mir, wie Fotografien aufgehangen in der Innenseite eines Tunnels, vorbei gezogen waren. Ich fühlte mich, wie ich mich immer fühlte: nicht anwesend, und kaschierte das betäubte Gefühl in mir, mit einer lax lakonischen und lustig legeren Laune. Ich fühlte mich wie auf Xanax, obgleich ich Psychopharmaka immer ablehnte. »Das heißt Sie müssen sich sagen, das ist nicht wahr«, folgte ich wieder den beiden polizeilichen Leichenbestattern, wie sie nebenbei versuchten den Ziehwagen der toten Huren zu bewegen. »Auch wenn dieses andere sich falsch anfühlt, gehen Sie darauf zu.« »Sie müssen zulassen, wenn die Pole Positionen wechseln, die Welt ihre Drehrichtung umkehrt.« »Nicht wahnhaft werden, nicht psychotisch werden, bedeutet vor allem Vertrauen haben.« »Immer die Dinge tun, die sich falsch anfühlen.« »Weil Ihnen, die verrückten Gedanken und wahnhaften Ideen, als richtig erscheinen.« »Machen Sie das mal an einem Beispiel fest!« »Also ihr innerstes legt Ihnen ans Herz, sie müssen erst Einmal alleine sein. Das ist ein Ge-

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tende Detail auf. Ich fand im Übrigen eine wahre Freude daran, auch mich selbst, vor allem die Momente die mich schockierten, aufzuzeichnen. Es macht mir einen Heidenspaß mein eigenes Entsetzen fest zu halten und zu konservieren, dass ich wieder und wieder in mein sprachloses Entsetzen verfallen kann. Wieder und wieder zertrümmern und erschüttern, bis es mir Langweilig und überdrüssig wird, dachte ich gewohnt großspurig arrogant und gekünstelt unerschrocken. Kamera und Mikrofon heimlich auf die beiden Arbeiter gerichtet, sah ich weiter, wie sie sich noch immer mit dem Wagen abmühten und hörte weiter ihrer Diskussion dabei zu. »Schildern Sie mal eine Ihrer Wahnideen.« »Nein.« »Kommen Sie. Das Thema ist schwer zu fassen. Man muss den Leuten Beispiele und Bilder bieten.« »Nein.« »Also dann… jetzt haben Sie sich nicht so.« »Nein.« »Ich verstehe schon, Wahnideen, verrückte Visionen sind immer von Scham begleitet.« »Sie verstehen nicht. Scham macht es nur schlimmer.« »Sie passt wie der Schlüssel ins Schloss.« »Sich jetzt schämen, heißt im Boden versinken, weil Sie im Boden versunken ist.« »Also wenn Sie das schon wissen, dann raus damit.« »Gut, aber Sie müssen mir versprechen es niemanden zu sagen.« »Die Scham…« »Als ich vorhin auf Toilette war. Nein es ist mir zu peinlich.« »Kommen Sie, raus damit, wir können es danach auch vergessen.« »Ich saß auf der Schüssel und las Zeitung, wie gewöhnlich. Ich brauche manchmal für Stuhlgang etwas länger.« »Weiter.« »Ich finde das Thema auch leidlich unliterarisch.« »Das tut hier nichts zur Sache. Sie haben also groß gemacht.« »Ja und ich stand auf. Bemerkte aber, nicht uriniert zu haben. Also streifte ich meine Hose noch Einmal nach unten. Nahm meinen Penis in die Hand und urinierte in das Klo.«

fühl. Auf dieses Gefühl legt sich der Gedanke: man muss auch mal Zeit für sich haben. Besser noch: man muss lernen sich selbst auszuhalten. Wahn wird immer von Vernunft begleitet und am schlimmsten ist es, wenn Ideale die Wahnvernunft flankieren.« »Ich fasse mal zusammen: eine Angst induziert das Gefühl: bleiben und seien Sie lieber allein.« »Weil es vernünftig ist, seinen Intuitionen zu folgen – isolieren Sie sich. Gehorchen brav einer flottierenden Angst.« »Man muss ein Frühwarnsystem für eigenen Wahn entwickeln. Wo man merkt, dieser Gedanke liegt auf einem Gefühl, dieses Gefühl fühlt sich richtig an, aber es führt in Psychopathologie.« »Was folgt ist. Sie vereinsamen, scheuen Menschen und gehen auf: in dem Angst induzierten Gefühl – wie Hefeteig«, wie ein zerknülltes Taschentuch in Wasser, dachte ich. »Die Änderung der Drehrichtung der Erde herbeizuführen heißt: diese vernünftige Intuition zu meiden – bleiben Sie unter Menschen. Halten Sie es aus. Gehen Sie unter die kalte Dusche. Wieder, immer wieder.« »Sie müssen wahrhaft Verrückt werden, wenn Sie nicht einem Wahn, wie im Windkanal, erliegen wollen.« »Man darf sich nicht in Isolation begeben und Wirklichkeit abschotten, vor allem wenn Sie drohen pathologisch zu werden. Vor allem dann, brauchen Sie andere Wirklichkeiten von da draußen. Dass Ihnen Ihre eigenen Wahnideen surreal und bei weitem eben nicht vernünftig erscheinen«, sagt er, stemmt sich gegen den Wagen. Der andere nimmt Anlauf und springt gegen den Wagen. Beide stöhnen vor Anstrengung. Doch der Wagen macht nicht mal ein Geräusch. Ist wie eingefroren. Unbeweglich. Die beiden Leichenbestatter geben nicht auf und schauen sich die Räder an. Vielleicht ein Konstruktionsfehler, vielleicht sind die Räder Attrappen. Bewegungsillusion. Mimikry, wie eine schwarz-gelb-gestreifte Fliege ohne Stachel. »Wissen Sie, Isolation und Scham, sind wie Phobos und Deimos, sie begleiten einen auf dem Weg in Wahn, wie zwei Hunde und Monde den Gott und Planeten Mars begleiten.« Meine Kamera – zwanghaft wie ich bin – lief und lief und zeichnete jedes noch so unbedeu-

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»Die meisten Menschen gehen mindestens Einmal pro Tag auf Toilette und verrichten Stuhlgang, das ist bei weitem nicht verrückt.« »Hören Sie doch, wie ich da uriniere und meinen Kot besudele. Da sieht plötzlich ganz unverhofft, das Stück Kot aus, wie mein abgetrennter Penis, den ich noch in der Hand zum Pissen hielt.« »Weiter.« »Ich starrte weiter. Ich wusste das eine Kot, das andere Geschlechtsorgan. Zwei verschiedene Sachen werden zu eins. Mein Penis aus Kot abgetrennt in der Toilettenschüssel.« »Wenn Sie sich jetzt wehren, potenziert sich die Angst. Wenn Sie sich jetzt widersetzten, verleihen Sie dem Wahn nur Flügel.« »Ich muss jetzt durch die kalte Dusche.« »Wahnideen werden begleitet von Wahnbildern, müssen zu Wahn an sich werden. Passen Sie auf. Seien Sie vorsichtig. Aber gehen Sie nichts mit Vorsicht an. Vergessen Sie fürs erste, die Wahnbilder«, hörte ich dem Gespräch zu, als mich etwas zur Seite zog. Ein Arm hatte meinen Oberarm gegriffen und zog mich von den beiden und vom Vorhang weg. Ich starrte noch auf den Wagen mit den Huren und fragte mich, ob sie jetzt aufgeben?, musste nach vorne gucken, weil ich nach vorne gezogen wurden und nicht stolpern wollte. Trottete in Gedanken noch bei dem Gespräch, was mich irgendwie mitgenommen hatte, warum auch immer, hinter der mich ziehenden Person. »Sullivan, Herr Sullivan warten Sie«, rief Rahel an meinem Arm zerrend. »Herr Sullivan, wie gut, dass Sie da sind!«, rief sie und kniff mir in den Arm, dass es schmerzte. Warum kümmert sie sich? Warum interessiere ich sie? Wozu schert sie sich um mich? Was soll das? Warum ich? Was habe ich mit all dem zu tun? Ich will nicht. Ich will nicht hinter her. Ich will Ameisen filmen, wie sie Stöcker tragen. Ich will das nicht. Rahel was willst du? Rahel. Rahel. Rahel. Es trat in mein Blickfeld ein Kerl in schwarzen Cowboystiefeln und Anzug in selber Farbe, aus dem ein Rollkragenpullover herausragte auch schwarz, der seinen Hals versteckte, jedoch trug er um den Hals eine von diesen Schnürsenkel-Krawatten, wo die beiden Schnüre zusammen liefen, war so etwas wie ein silbernes Maya-Ornament. Der bärtige Typ hatte seine Haare streng zurück geleckt, und kam auf zwei

alten Krücken, leicht humpelnd und Zigarre rauchend auf uns zu. Ich erschrak, hatte ich doch gerade noch, ein paar Seiten zuvor, an den Puffleiter gedacht. Ich wusste zwar seinen Namen nicht, aber in meinen Gedanken tauchte er schon auf. »Herr Sullivan, Sie haben sicherlich schon von Herrn Lilienthal gehört, nicht?«, Rahel und er schienen sich zu kennen und schritten aufeinander zu. Ich folgte eher zaghaft. Sie schmiegte sich an ihn und mich überkam eine schäumende Wut, was gemeinhin wohl Eifersucht heißt. »Herr Oppenheimer-Lilienthal dreht einen kleinen Film in Ihrem verbrannten Puff…«, sagte sie, wurde aber aufdringlich unterbrochen. »Ick darf mich vorstellen: Sullivan«, er sprach einen fürchterlichen Dialekt. »Wat den für ne Doku-men-ta-tion?«, sagte er und zog das Wort Dokumentation ins Lächerliche. »Na dit, dit will ick sehn.«

Damit verabschiedete sich Rahel Bernstein Tschkalowa. Ich erklärte mich kurz. Rahel schien ungeduldig. Der Puffbesitzer Herr Sullivan musterte mich argwöhnisch. Ich kam ins schwitzen und wurde nervös, wusste nicht wozu. »Wie schön, dass sich die Herren gefunden haben. Ich muss mich von Ihnen verabschieden Herr Lilienthal. Sie wissen ja wie das ist. Überall warten Dringlichkeiten. Unter uns, ich habe mir ein bisschen zu sehr mit Ihnen die Zeit vertrieben. Behalten Sie mich in guter Erinnerung. Auf Wiedersehen. Herr Sullivan alles weitere, besprechen wir später und danke, dass Sie das Varietétheater haben räumen lassen«, damit verabschiedete sich Rahel Bernstein Tschkalowa. Mir gefiel der Blick nicht, welchen sie ihm zu warf. Ödipale Scham, ich der dritte – ich der irrelevante. Und er grinste ihr zu. »Wenn Se jetz globen, dass ick Ihnen vertraue, dann haben Se sich jetäuscht. Sie mögen zwa der Polizisten-Ische jeschmeichelt haben, aber nich mir, nich mir. Dit können Se glei wissen. Ick bin keener, den Se so leicht jewinnen. Wissen Se, ick hab in menem Lebn, schon, ick

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will sagen, ne Menge und ick saje Ihnen, wenn ick ne Menge saje, ja dann meen ick, richtje fiele. Ick hab schon ne Menge von sonen Piepels, wie dich jesehen. Ick lass mich da nich täuschn, weßte.« Ich sagte nichts, hielt aber die Kamera auf ihn. Was er auch irgendwie genoss und wie alle mehr mit der Kamera, als mit mir sprach. Zeit ich mit ihm sprach, trug er eine Bananenpflanze in der Hand und pflegte sie während er sprach bedächtig zu streicheln. Wobei dieser unterdrückte Choleriker jedes Mal die Pflanze schüttelte, wenn er sich aufregte und beinahe von den Krücken fiel. Die Banane wohl das einzige Stückchen Lebendigkeit, was er aus dieser Feuerhölle seines Gasthauses retten konnte. Trotz der Krücken, schien er mir aber nicht krank. Er hustet, schien aber nicht erkältet. Er räusperte sich, schien aber nicht… Er hielt sich den Magen, schien aber nicht… Er war die Reinform eines Hypochonders. »Aba, wenn Se jetz schon ma hier sind. Dann komm Se ma mit. Ick hab da noch wat kleenet. Die schlimmen Sachn, haben Se alle schon jesehen – also keene Sorge. Die Russin hat jesacht, Sie wolln allet sehen, na dann komm Se ma mit. Ick hab da wat, dit kennen Se noch nich.« Ich folgte ihm. Es sah aus, als wolle er mich noch Einmal in das Theater führen und ich dachte: was für eine Zeitverschwendung. »Na seien Se ne-so schüchtern un komm Se jetz. Haben Se sich bei da Tschkalowa och so jeziemt? Dit is ja nich zum aushalten. Brauchn Se ne Leine, dass ick Se durch dit verbrannte Nest ziehe, oder wat? Na also jeht doch«, sagte er und hustete künstlich.

zu behalten. Wir liefen eine Weile durch den Schnee. Wie ich das verbrannte Freudenhaus – das wie eine Streichholzschachtel ausgebrannte Gebäude – von außen sah, überkamen mich erste Zweifel an meinem Projekt. Ich kann eigentlich nie sagen, wann ich genügend Material habe. Nie kann ich von mir behaupten, auch nur irgendeine Ahnung zu haben, wann ein Projekt abgeschlossen ist. »Wissen Se, ick kann dit nich globen. Ey der schöne Laden«, rief Sullivan, blieb stehen und schob betreten Schnee mit seinen schwarzen Halbschuhen hin und her. »Wat erzähl ick den jetz inna Firma«, und lässt eine Krücke gegen seine Hüfte lehnen und greift sich mit der Hand in den Kragen. Verschafft sich Luft. Hüstelt. Beißt sich auf den Finger. Hängt wieder in seinen Krücken. Schaut lang auf die Brandruine. Dreht sich zu mir um, der ich hinter im stehen geblieben bin. »Wat machen Sie eigentlich sonst? Wenn Se ma nich wie blöde uff allet, wat sich bewegt Ihrn kleenen Apparat halten?«, fragt Sullivan mich und beißt sich auf die Unterlippe – ich glaube er war Perser, anders konnte ich mir diesen Mienenspiel nicht erklären – hatte ich mal in einer iranischen Sitcom gesehen. Wir laufen im eingeschneiten Garten des Bordells auf eine Laube zu und die Blätter von Sullivans Bananenpflanzen wippen wie eine plastische Dauerwelle. Es ist ein kalter Tag Februar. ch vermisste Rahels bestimmte Art unsere weniger amüsante Wanderung durch das verbrannte Bordell zu führen. Ich sehnte mich nach Rahels bestimmender Art, für uns beide zu entscheiden, wann genau wir was sehen – mich also mehr oder minder auf die verschiedenartigen potenziellen Schockmomente mit Erstarrungpotential vorzubereiten, heißt mich abzubrühen und abzustumpfen. Mich an die Hand zu nehmen, als wäre ich Kind. Mit mir zu reden, als wäre ich Kind. Mich zu behandeln, als wäre ich Kind. Ich ihre Fingerspitzen in meinen Handflächen kitzeln zu spüren. Weiter, als hätte sie mir die Augen ver-

ir standen draußen in einer Art Garten auf der Rückseite des Hauses. Es war bereits später Nachmittag und immer noch verdammt kalt. Wind blies mir ins Gesicht. Ich hatte die Arme verschränkt – Sie wissen ja als Gürtelersatz, mir eine Zigarette angesteckt, die ich leidlich nicht rauchen konnte, weil es zu kalt war und wegen Wind. Mein Mantel schlackerte und ich hatte Mühe meinen Hut auf dem Kopf

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bunden, als wäre ich Kind. Love is blindness. Liebe ist blind. Liebe vergibt Blindheit nicht. Liebe rächt sich für verbundene Augen. Liebe stolpert. Liebe sieht sich nicht vor Steinen. Liebe baut daraus keine Treppen. Ich liebte Rahels Art mich zu führen. Wie ich mich verfrüht und freiwillig von ihr verführen ließ. Ich liebte es geblendet zu sein. Du weißt schon, das heißt von dir geblendet zu sein – von dir! Meine allerliebsten unter meinen Liebsten, meine kostbare, illustere, lebensrettende Rahel Tschkalowa Bernstein. Sullivan gab sich zwar redliche Mühe, aber ein Mann kann mir nicht ersetzen, was mir eine Frau geben kann. Komisch ich hatte nie männliche Freunde, noch eine Vaterfigur.

tenlaube. Ein wahrer Kraftakt, dabei noch die Bananenpflanze zu halten. »Wie ich heiße wissen Sie. Was ich hier mache, wissen Sie auch und das muss reichen. Wenn Sie ein Problem damit haben, dass ich hier filme, dann hätten Sie nicht einwilligen dürfen«, schon merkwürdig wie klar mir mein Deutsch im Vergleich zu seinem vorkam. »Zeigen Sie mir, was Sie mir unbedingt zeigen wollten und dann sind Sie mich los. Es gibt noch andere Teile des Hauses, die mich viel mehr interessieren, als ihr Vorgarten.« »Se sin doch och nur eena von diesn kleenen Kerln, die eijentlich keene richtje Funktion haben, sondern nur blöde rumkieken und dann irjen Scheiß uffschreiben oder uffnehmen oder wat och imma. Sich dann ihre Moneten abholen und sich ne Runde derbe freuen. Sie wissen ja, ick bin hier sowat wie der Puffleiter. Dit heißt ick darf den janzen Mist, die janze Asche, den janzen Dreck und den janzen Plunder hier verantworten. Passen Se also uff !«, sprach er zornig und hob eine Krücke und drohte damit. »Passen Se uff, wat Se sagen und wat Se machen. Haben Se dit jehört? Und jetz treten Se ma n Stück zur Seite, dass ick dieset Drecksloch von Jartenlaube ma uffschließen kann.« Was will man noch erzählen? Herr Leonard Andorra-Atanassov, ich habe doch vom schlimmsten schon berichtet. Muss sich ein Bericht immer steigern? Muss ich immer noch eins drauf setzen? Ich springe von Himmelsplateau zu Himmelsplateau.

Aber niemand weiß, wo die Huren verblieben sind. Aber niemand weiß, wo sie sich umgebracht haben. Menschen existieren für mich innerhalb von zwei Parametern. Das ist mit ihnen zu arbeiten, anders gesagt, dass sie mich voranbringen. Anders gesagt, dass sie die klaffende Lücke, die narzisstischen Konflikte in mir überbrücken helfen. Menschen sind wie Brücken zwischen Real- und Idealselbst oder Agendaselbst oder Obligatenselbst. Und zum anderen dienen Menschen, also Frauen mir, wenn ich mit ihnen schlafen kann, auch das ist ein: mich weiterbringen. Fragt sich wohin. »Se globen, ick Se hab erst jesehen, als Se aus meinem Theater raus sind? Ne, ne«, und Sullivan schüttelt den Kopf. Auch die Pflanze schüttelte sich. »Sie sind mir glei uffjefallen. Ick hab nüscht jesacht, wegen der Polizisten-Ische. Passen Se mir uff. Hier is jeder heute verdächtig. Am Ende haben Sie(ohne Dialekt) ganz alleine mein Haus in Brand gelegte«, sagte er ganz ohne Dialekt. »Ick kenn doch meene Pappenheimer«, sprach der Kerl wieder in Dialekt, lispelnd, aber laut brüllend und humpelte auf seinen zwei Krücken durch den Schnee weiter in Richtung Gar-

ir standen in der Gartenlaube. Es roch nach Öl und vor uns lag eine spiegelnde Fläche. Eine nackte Glühbirne brannte. Ich war enttäuscht. Rahel hatte mir bewusst oder unbewusst diese Räumlichkeit vorenthalten. Ich ließ die Kamera fallen. Schwer, sumpfig und träge lag vor uns ein Meer aus Öl. »Dit is die Vorratskammer, wir heizen mit Öl, nüscht besonderet«, sagte Sullivan die Bananenpflanze streichelnd, als ich schon erste Formen im sonst glatten Öl ausmachte. Sullivan ließ die Bananenpflanze fallen. Ein Schock durchfuhr mich. Aber niemand weiß, wo die Huren verblieben sind. Niemand weiß wo sie sich umgebracht haben. Da flackerten Bilder auf. Ich hyperventilier-

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te. Fiel zu Boden, keuchte, atmete schwer.

und Illusion wehre, desto tiefer sinke ich. Meine Kamera mit gesplittertem Objektiv lag noch neben dem geborstenen Topf der Bananenpflanze vor dem Öl-Bottich. Man hatte nur die Überlebende eskortiert. Ich stand hinter dem Absperrband alleine in der Laube. Sprachloses Entsetzen. Die Flüssigkeit, alles hier war wie angehalten, paralysiert und schrecklich gelähmt. Je länger ich in die Flüssigkeit schaute, desto mehr hatte ich das Gefühl es handele sich überhaupt nicht um Flüssigkeit, sondern um Fläche, die ich betreten konnte und wahrlich in ihr verschwinden würde. Dieser Geruch, da war mehr als Öl. Visionen flackerten vor meinem Augen auf. Ich senke den Kopf. Das selbe Gefühl wie damals im Hamam als Abu mich in das Kurnas stuckte. Der selbe Schwindel, lug und trug, Übelkeit, Scham und Schuld, Herzklopfen, angreifen wollen, nicht-fliehen-können und als ich aufschaue dachte ich ein Wort: Panik Mein Gesicht, wie eine Lampe – der Raum war hell erleuchtet, spiegelte sich in der ebenen Fläche, die vorgab flüssig zu sein. Je länger ich darüber nachdachte, je länger ich suchte das Öl, als solches Öl zu manifestieren, desto mehr fiel mir auf, das Öl an sich existiert überhaupt nicht. Es besteht aus seiner Spiegelung der Objekte drum herum. Das ist wie Psychopathologie, man weiß sie ist da, aber wenn man sie herausfordert sich zu zeigen – passiert nichts.

ann ging alles sehr schnell. Sullivan versicherte mir, er wusste nicht, dass Leichen im Öl waren. Die Polizei mitsamt Bernstein rückte an, die aber mir gegenüber unfassbar distanziert auftrat. »Was sind Sie nur für ein Mensch Lilienthal? Was sind Sie nur für ein Mensch?«, und mich Kopf schüttelnd zur Seite schob. Sie sperrten die Gartenlaube ab, zogen ein Absperrband um die tiefe Öl-Pfütze. Eine der Huren hatte überlebt. Sie hatte sich bewegte. Die schwarze Schicht Öl auf ihr, hatte sich bewegt. Dann starrten weiße Augen aus schwarzer Fläche mich an. Ich ließ die Kamera aus Schock fallen. Babette die Filmvorführerin, hatte alle Huren aus ihren Zimmer abgeholt, hieß es in der offiziellen Stellungnahme der Polizei. Eine nach der anderen. Wie zur Nachtwanderung. Still seien sie ihr gefolgt. Etwa fünf Uhr morgens, der Puff brannte lichterloh, als die Huren, jede einen Mord begangen, bis auf die Frau aus dem Orientzimmer und Babette folgend aus dem Bordell zur Gartenlaube und dem Ölvorrat liefen. Dann stand Babette am Rande des Öls und schickte wieder eine nach der anderen in den schwarzen Sumpf. Alle Huren auch Babette sprangen ins Öl. Konnten nicht schwimmen im Öl. Sickerte langsam unter. Sie hieß Deborah. Ihre Überlebenschancen waren gering. Die schwarze Flüssigkeit war in ihren Körper eingedrungen, wie zuvor hunderte Freier. Man brachte sie aus der Öl-Laube und dem Bordell. Schaulustige Leute trugen Deborah wie eine Gewinnerin fort. Sirenen heulten. Reifen quietschten trotz Schnee. Zwei große Türen sprangen auf. Eine Trage kam aus dem Wagen, wie eine Zunge geschossen und lud die kleine Deborah auf sich, wie ein großes glatthäutiges Ungetüm. Wie ein Wal auf Rädern, der sie schützen kann. Ich sah noch wie der Krankenwagen durch das Bad der Menge vor dem Bordell fuhr und wünschte ich würde dort hinfort gefahren werden. Ich wünschte man hätte mich halb ersoffen im Öl gefunden. Deborah aschblondes Haar unter einer Schicht von Öl, grüne Augen überzogen von einem grauen Film von Öl und helle Haut ein Anflug von olivenen Pigmenten in der Haut. Je mehr ich mich gegen Pathologie, Wahn

Die schwarze Flüssigkeit war in ihren Körper eingedrungen, wie zuvor hunderte Freier. Wie ich darauf komme, dass es dann da real war? Ich brach einen Stein aus der Wand heraus und warf ihn in das Öl gefüllte Becken. Aber er sank nicht. Es war als lag auf er etwas, einem Gegenstand oder Mensch. Ich vermutete das Öl musste viel tiefer sein, mindestens mir bis zur

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Schulter reichen. Ich konnte nicht mehr. Was dort das Öl unter sich begraben hatte. Ich war froh, denn man konnte nur erahnen, wie Hure für Hure ihr Grab in der zähen Flüssigkeit gefunden hatte. Derweil war der Neu-Schnee zwischen Gartenlaube und Bordell durch hunderte Fußabdrücke der Beamten und einer Ölspur Deborahs fürchterlich ruiniert. Eine Schmach trieb mich von der Gartenlaube zurück in das Bordell. Ich bin ein affektierter Mensch. Affekt ist alles.

»Lassen Sie es gut sein. Ich will diesen wahnsinnigen Rundgang nur beenden und dann nichts wie weg.« »Aber wozu wollen Sie… ohne Kamera?«, er schaute irritiert das Schwein. »Lindbergh, lassen sie es gut sein. Wissen Sie eigentlich schon, was mit der Rezeptionistin passiert ist?«, fragte ich und spielte mit dem Gedanken, ob er wüsste, dass ich sie bereits kannte. »Folgen Sie mir Herr Lilienthal«, sprach Anton düster gelassen und bitteren Blickes. »Es ist Ihnen ja schon bekannt, dass nur die verkorkstesten Menschen sich hier hinunter trauen«, und begann locker daher zu reden, »wer wolle schon für etwas bezahlen, was er in jeder Kneipe für nicht mal einen Cent haben kann? Was nur ein kurzes aufdringliches Werben einem abverlangt… Oppenheimer, Sie wissen wovon ich spreche, nicht? Die besten Sachen sind umsonst«, und lachte selbst über diese Doppeldeutigkeit.

nton Nihad Lindbergh mein Assistent, ich hatte ihn beinahe vergessen, beinahe aus meinem inhärenten und imaginären Adressund Notizbuch gestrichen und entdeckte ihn, wie ich es mir dachte, auf der Rezeption sitzend und vor Langeweile Däumchen drehen. Sogar seine Schreibmaschine lag eingepackt neben ihm. Wieder schoss mir, wie ich ihn da sah, eine unheimliche Wut in den Kopf. Ich dachte, ich muss hier schaffen und was machst du? Was ist das für eine Gerechtigkeit? Soll ich dich dafür bezahlen, dass du dich langweilst? Manchmal beneide ich ihn, wie er ruhen kann, wie er warten kann, wie er nicht alles unter Kontrolle haben muss. Wie ich ihn da seine Zeit absitzen sah, war da nichts anderes als Wut. Neid und Wut. Mein Assistent. Dieses faule Stück. Er entdeckte mich. Griff den abgegriffenen Henkel des Schreibmaschinenkoffers. Sprang in einem Satz von der Rezeption. Flüchtete vorbei an dem, immer noch an selber Stelle stehenden mit Leichen der Huren überfüllten Zieh-Wagen und rannte auf mich zu. Als ich eingangs an dem Wagen vorbei lief, konnte ich mich kaum auf den Beinen halten, inzwischen hatte ich mich an den grotesken Gestank gewöhnt – sowieso generell waren meine Gefühle, mehr als erkaltet.

»Dieser Sullivan, nun dieser Kerl, dieser abgebrochene und chronisch kranke Typ und wie Sie wissen, der vermeintliche Leiter dieser Anstalt – er bezeichnet sich selbst als chef de la misère.« »Wie soll uns das weiterbringen, Nihad?«, unterbrach ich meinen nutzlosen Assistenten. »Hören sie doch erst einmal zu! Dieser Typ hat sich darauf spezialisiert: Firmen durch den Bankrott zu leiten. Ein wahrer Meister mit insolventen Unternehmen Gewinn zu machen und meist belaufen sich seine Anstellungen auf etwa drei Monate«, hielt inne und schaute mich an, als sollte ich jetzt den Grund für die Dauer der Anstellung erraten. Nahm meine Antwort vorweg und fragte: »weshalb das so ist, fragen Sie sich?«, ich fragte mich überhaupt nichts und wollte nur raus aus dieser, nach kalter und nasser Asche riechenden Hölle von edel Freundenhaus. »Meist sind es diese drei letzten Monate in denen der ehemalige Leiter des insolventen Unternehmens, einen Nervenzusammenbruch,

»Wo ist Ihre Kamera Herr Lilienthal,« rief er noch rennend aus der Entfernung. »Lindbergh, nirgends ist meine Kamera. Vergessen Sie die Kamera.« Stand mir nun gegenüber. »Ich verstehe, sie brauchen eine neue. Warten Sie ich hole Ihnen ein anderes Model.«

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Schlaganfall oder Herzinfarkt erleidet…,« Wie naiv zu glauben, man erleidet den Nervenzusammenbruch, wie einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Herr Andorra Atanassov manchmal wünschte ich, dem wäre so, dann würden die Verrücktheiten und die Geister die ich rief, nämlich genauso, wie sie gekommen sind, auch wieder verschwinden. Wir beide Sie und ich jedoch wissen sehr wohl, dass einen so etwas… so ein Zustand und so eine Situation nicht einfach einholt, sondern, dass er und sie eine lange innere inhärente Entwicklung, wie sie auch geartet sei, voraussetzt. Und der euphemistisch und schwärmerisch romantisch anmutende Nervenzusammenbruch, nur ein kleiner Teil des ganzen ist – eben lediglich die äußere Wirkung. Sozusagen die Sahnehaube auf dem Baiser, der Milchsaum auf dem Kaffee oder der Abschiedskuss einer Geliebten. Oder. Oder. Oder.

Se jemandn zum spiegeln, also dit heißt zum reflektieren ham, der Se wieder aus ihrm Schatten lösn kann und erst jar keene Drachn entstehen lässt.« iebe, ist das etwas eigenständiges oder ist das Abwesenheit eines Affektes? Ist Liebe Abwesenheit von Hass? Wie Wahrheit nur die Abwesenheit von Falschheit ist. Das Positive ist ein Irrtum, es gibt nur negativ. Bei fehlenden Negativen nehmen wir an, das Ergebnis, Ereignis und Erlebnis wäre positiv, dabei ist es nur die Abwesenheit von Negativen – das Positive wartet nur auf Negation. Landläufig spricht man von Allgmeinplätzen, das Gute kann ohne das Böse nicht existieren. Ich denke das Gute an sich, existiert überhaupt nicht. Aber das Böse, ist auch nicht das Böse, wie wir es uns vorstellen. Das Böse ist der Allgemeinzustand. Wie Unempfindsamkeit, wie Anhedonie. Und wir mühen uns ab und an, in dieser Leere, einige Positive, unwiderlegbare Phrasen einschieben. Oder das Böse heißt Trennung und das Gute heißt Nähe. Der Vater will die Autonomie des Kindes und ist daher der Böse. Die Mutter will es versorgen und vor Gefahren bewahren, ist daher die Gute, die Nähe und Zusammenhalt fördert. So ist das Böse, das notwendig eigenständige und über die ande-

err Berthold Oppenheimer Lilienthal, ich möchte ihnen etwas zeigen«, sprach Lindbergh merkwürdig siegessicher und hielt seine Schreibmaschine hoch, als wäre sie eine Axt und könne Türen einschlagen. Bevor wir in den Keller gingen, überraschte uns noch einmal Sullivan der Puffbesitzer und noch heute höre ich seine mahnenden Worte: »da wollen Se runter jehen? Na Se sin mia mutjer, als ick dit dachte hatte. Passen Se mir uff, dit is keen Anblick für Jedamann…«, klopfte mir auf die Schulter. »Is ja jut, wat schaun Se denn glei so finster? Ick hab ja och begriffn, dass Se nich sin wie Jedermann. Ick meene, dass Se überhaup no-stehn, dit grenzt ja nen Wunder. Die besudelten Puffräume, dit Theater, die Öl-Jeschichte… Tun Se mir n Jefallen und kieken Se, dass Se nicht verloren jehn. Dit müssn Se schwörn. Ham Se dit verstanden?! Komm Se wieda hoch, wenn‘s Ihnen zu bunt wird!« Ich gab zu verstehen – es gebe keine Grund zur Sorge. »Ach dit is aba dufte, Se nehm ihrn kleenen Assi mit, dann kann dit schlimmste jar nich so derbe sein, dit wissen Se wa? Weil

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ren erstarkte. Und das Gute, das notwendig verbundene und mit den anderen schaffende. (Mutter und Vaterrollen, sind natürlich austauschbar, wir sind ja nicht mehr in den fünfzigern.)

ße, ist das ok? Findest du das gut? Oder ist das eher doof für dich? Aber wer will den so etwas hören? Das Getippe nervt mich und ich greife unter die Couch, wo ich mein Diktiergerät finde, drücke Aufnahme und wo ich sonst schrieb, spreche ich nun. Leute, Leute, ich raube diese Bank, diesen Supermark, diesen Buchladen aus, aber nur wenn es ok für euch ist? Alles klar, also wenn niemand der Beteiligten traumatisiert wird, dann raube ich jetzt… Las… Es ist nur gut, wenn gegenüber nichts gut ist. BrooklynStreetRape Nummer eins. Traurig, dass mir das wirklich passiert ist. Noch trauriger, dass ich eine halbe Errektion bekomme, während ich das ins Diktiergerät spreche. Jeder Tag in NYC war beschissen. War ein beschissenes Martyrium ohne Erlösung. Ich hätte sie noch in den Arsch ficken sollen. Irgendwo in der Roebling, Havemeyer, Driggs oder Bedford Avenue, egal wo. Hätte, hätte, hätte – habe aber nicht. Arsch, Mund, Arsch mörderisch gute Trias in den… Drei habe ich gesagt, richtig? Drei Frauen in Sechs Monaten New York City. Nummer zwei: Mary-Alaska. Schneeweiße Haut, denkst du dir. Rote Lippen und Haare wie Ebenholz. Mary war schwarz und sechzehn dazu und sah nach allem anderem aus, außer nach Schneewittchen. Sechzehn, woher sollte ich das auch wissen? Ich brauche Schnaps. Sorgenvoll schaue ich die Flasche an, wir nähern uns dem Ende. Was tun, wenn…Supermarkt? Auf keine Fall. Ich bin inzwischen redlich betrunken. Fühlt sich gut an.

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25 Rückzug V

Davon zu sprechen wie sinnlos Religiosität ist und wie schrecklich Glauben sein kann – ist in etwa genauso clever, wie über Autos zu fluchen ohne zu wissen, dass sie Menschen von A nach B bringen

ch brauche Schnaps. Atanassov. Ich habe eine dieser Momente, wo meine Finger nicht schnell genug schreiben und das trotz Fünfkommafünf Fingersystem. Ich liege auf der Couch. Ich brauchen dann eine Pause, nicht um zu denken. Ich brauche dann Pausen für Schnaps und ein bisschen um die Situation zu überdenken. Korn das einzige was es in diesem Drecksloch von Wohnung gibt. Eiskorn. Der Ferrari unter dem als Trinkalkohol verkauften Industriesprits. Ich trinke halbe Schnäpse, weil ich das Zeug warm ist. Ich es ist nicht runter kriege. Ich trinke danach schnell Wasser, wie ein Mädchen. Eher ein Mann, denn man als Mädchen bezeich… Lassen wir das. In einem halben Jahr NYC. Der großen Stadt. Partystadt. Unbegrenzte Möglichkeiten. Fürn Arsch. Meine Möglichkeiten für deinen Arsch… Lassen… In einem halben Jahr NYC, habe ich mit drei Frauen geschlafen. Nummer eins hatten wir schon. Brookyln-street-rape – Straßenvergewaltigung. Das war es nicht wirklich. Um fair zu sein, hätte ich in der Bar noch sagen sollen: also ich ficke dich gleich auf der Stra-

Es ist nur gut, wenn gegenüber nichts gut ist. Also! Mary-Alaska wieder so eine Luckydog Geschichte. Versprochen Nummer drei ist keine davon. Drei Frauen in sechs Monaten. Ich erzähle das nicht gerne – weil es peinlich ist. Eine halbe Frau pro Monat. Schonmal eine halbe Muschi gebumst? Ich nicht. Mary-Alaska stand besoffen, wie ich damals, wie ich jetzt betrunken bin und

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Stacheln, die von ersten Sonnenstrahlen in der Morgendämmerung erobert werden. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, den billigen Fusel in ein Glas zu füllen und trinke ihn direkt aus der Flasche. Ich hoffe das Scheißzeug ist gleich alle und hier ist gleich ruhe – ich kann mich kaum noch konzentrieren. Mary-Alaska in den Armen gehen wir zu mir. Ich muss sie überreden. Aufstehen ist nicht leicht. Pennt Mary? Nein sie hat einfach keine Lust oder Angst.

bitte immer sein werde, vor meiner Lieblingsdivebar. Interessant egal wie besoffen ich bin, ein Stück Logik funktioniert immer. Der Straßenfick war die erste nach zwei oder drei Monaten. Ich gab vor arbeiten zu müssen. Sorry keine Zeit für Lubrikation und was dazu gehört. Tagelang, nächtelang Licht, Lichteffekt, Szene, Spiegel, Schienen und Unterricht. Wer soll da noch Sex haben? Ich jedenfalls nicht. Mit den Studentinnen?, ja darauf kam ich damals nicht mehr. Private Seminare gab es bei mir nicht, zu naiv. Die Sache mit Annabell hatte ich nicht vergessen. Mein Leben ist wie die tägliche Einschränkung von Wegen und gesperrten Straßen und Umleitungen nehmen. Und dann nach zwei Monaten Trockenheit – Straßenvergewaltigung.

Ich denke nur: wo lege ich dich flach?

ch trinke Glas nach Glas und frage mich, ob ich mein Lallen später mit aufschreiben soll. Bei Mary-Alaska ließ ich es ruhiger angehen. Was ruhiger? Ich stolperte nach etlichen Millers Highlife und shots of (billig)Bourbon aus der Bar, stand besoffen davor und rauchte eine. Wir wollen hier Oberhand und Land gewinnen. Mary-Alaska steht vor der Bar. Mary-Alaska hat eine Typen an der Leine. Der Typ geht Bier holen. Mary-Alaska liegt in meinen Armen. Woher sollte ich wissen, dass die erst Sechzehn ist? Mary-Alaska fasst mir vor der Bar in den Schritt. Flüchtig. Sie hatte Manieren, trotz zarten Alters. Mary-Alaska in meinen Armen. Küsst mich. Meine Kollegen gehen. Ich besoffen. Mary-Alaska will woanders hin. Mary-Alaska ist schwarz. Ich und die schwarze sechzehnjährige gehen die First Street Richtung East-River runter. MaryAlasaka erzählt irgendwas. Ich denke nur: wo lege ich dich flach? Mary-Alaska und ich sitzen auf einer Bank, sie auf mir – im Grand-Ferry-Park. Ich nicht in ihr. Sie ist schüchtern. Oder will, dass ich entscheide. Ich entscheide: nicht-entscheiden. Die Sonne geht über Manhattan auf. Ich schreibe später ein beschissenes Gedicht darüber. Scheißgedicht, weil es scheiße war. Irgendwas von Hochhäusern, die aussehen wie Stacheln eines gestürztem und im Fluss versunkenen Roald-Dahl-Riesen. Mary-Alaska sitzt auf meinem Schoß und schwarze Lippen küssen meine Schläfen, meinen Hals und meine Ohren.

Stolz. Ich bin stolz. Das ist mir peinlich. Pamela aus Texas, meine Mitbewohnerin, schläft sicher schon. Pamela sollte mal so etwas wie eine Freundin werden. Die Wohnung auf Craigslist entdeckt, entpuppte sich als Zufall, dass sie Musikerin ist und ich mache Filme, schöner Zufall, daraus ließe sich sicher etwas machen. Manchmal merkte ich, wie ich unsere Freundschaft absichtlich torpediert. Du liebst deine Katze mehr als den Mann, den es in deinem Leben nicht gibt. Sie war verrückt nach dem Viech. Ich konnte das nicht aushalten. Und eines Tages lag ich auf unserem Sofa, von dem ich übrigens überzeugt war, es wimmelte unter dem Stoff nur so vor Bedbugs. Sie setzte sich auf den Sessel gegenüber. Beides abgeranzte, abgegriffene und von der Katze zerrissene Stoffmöbelstücke. Sie die Geige in der Hand. Ich wache von dem eleganten Gequitsche auf. Reibe meine Augen – will sie fast in meinen Kopf drücken. Habe Kopfschmerzen. Greife über das Kopfende der Couch. Greife erfühlend ein Glas Wasser und zwei Aspirin. Habe ich schon erwähnt, dass ich mich in New York jeden Abend mit Schlafmittel und Coganc ins Bett legte? Sie streicht den Bogen über die Seiten. Ist das mein neuer Wecker, denke und fluche ich innerlich. Meine Frisur ein verlassenes Vogelnest. Meine Augen verquollen. Ich mache Schmatzgeräusche und setze mich auf die Sofakante und lasse den Kopf hängen. Das war keine Yogaübung. Sie spielt. Ich lege meine Hände auf die Ohren. Schüttele mich und kippe mir den

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Rest Wasser ins Gesicht. Verschlucke mich am Wasser. Sie spielt. Ich huste. Sie ist fertig. Wartet sie auf Beifall? ›Is it the clap?‹ ›It's standing ovation.‹ H.S. Thompson Wir reden. Ich bin schlecht gelaunt – sehr schlecht gelaunt. Dann die Sache mit der Katze. Sie sauer auf ihr Zimmer, als hätte ich gesagt: Stubenarrest und du schreibst hundertmal, ich darf Menschen nicht mit meiner Musik belästigen. Ein paar Tage später schaffte sie es, dass ich mich entschuldige. Das war das Ende der Freundschaft. Leider wurde ich NYC dann zum Literaten und dilettanten Romancier. Irgendwann stellst du dir die Frage Essen oder Schnaps? Ich habe daraus dann Bloodymary gemacht. Eine Sache, die ich in New York gelernt habe. Schwarze Brüste faltenfrei bahnen sich ihren Weg in mein Sichtfeld. Ich hocke zwischen Schenkel. Bin auf Klitorus-Expedition. Schleim-Exkursion. Finde sie. Drehen, du musst deine Zungenspitze um die Klitorus drehen. Mary-Alaska in meinem Bett. Ob Pamela uns hört? Ich hoffe inständig, dass sie uns hörte und dabei ihre scheiß Katze umarmte. Mary-A schreit, ruft und stöhnt. Kennen Sie das? Atanassov haben Sie eigentlich schon einmal so richtig gefickt? Wenn nicht, die Nummer von Mary-Alaska schicke ich Ihnen gleich mit. Inzwischen sind ja auch ein paar Jahre vergangen und sie ist nicht mehr sechzehn. Da bin ich froh – wirklich froh. Das ein Mädchen nicht immer sechzehn bleibt, ist doch toll. Ich kann jetzt sagen, ich habe eine…was weiß ich, wie alt Mary-Alaska heute ist. Fuck, sie war sechzehn. Ich habe in Brookyln. In meinem Zimmer. Flushing Ave. zwei-

undneunzig eine Sechzehnjährige gefickt. Woher sollte ich das wissen? Fuck sie war… Lassen wir das. Wenn man nicht so oft Sex hat wie ich damals, dann ist Sex eher eine unkontrollierte Angelegenheit. Will sagen, ich schaffte es nicht Einmal auf ihre schwarzen Titten zu kommen. Eine Lachnummer. Ich zog raus und kam noch im Kondom. Das ist wie der Vitruvianischer Mensch von Da Vinci mit zwei Armen, statt vier. Am nächsten Morgen. Wir schliefen dann irgendwann ein. Ich habe sie nur einmal… Stand sie vor der Tür. Ich wollte sie loswerden und wir stritten um eine Krawattennadel, die sie unbedingt behalten wollte. Ich: »nein auf keinen Fall.« »Sie: ich will die aber.« »Ich: bekommst du aber nicht.« Dreißig Minuten auf englisch. Ich hätte sie einfach noch einmal ficken sollen. Dann wäre die Krawattennadel auch egal gewesen. Dass sie sechzehn war wusste ich eh nicht. Das Diktiergerät ist mir aus der Hand gerutscht, wie manchen die Faust ausrutscht. Liegt auf dem Boden. Keine Ahnung, ob die Aufzeichnung noch läuft, wenn nicht: auch egal, dann kann ich nicht abschreiben, was ich spreche. Das macht alles, wie man es auch denkt und dreht und wendet, so oder so keinen Sinn. Atanassov hören Sie, ich weiß ja nicht mal ob ich überhaupt in diesem beschissenen Bordell gewesen bin, ob ich Noushin tatsächlich je gekannt habe, ob ich wirklich in Andalusien war oder ob ich mir den ganzen Scheiß ausgedacht habe. Ich weiß es nicht, wessen Leben ist das? Ist das mein Leben, dass ich Ihnen erzähle oder ist das, wie ich gern mein Leben gehabt hätte? Genialer Regisseur scheitert an sich selbst. Ich weiß noch nicht mal, ob ich Sie bescheisse oder mich. Und ich fluche schon wieder zu viel. Die dritte: Jazmin. Ich will das hier noch durch-hauen heute. Habe mein Diktiertgerät wieder gefunden. Die Flasche Korn ist ein trauriger Anblick. Ich bin ein trauriger Anblick. Ich versuche mir das Spiegel-gegucke abzugewöhnen. Wissen Sie was die größte Schande an meiner Zeit in New York City war? Dass ich nur 3 Frau-


en flach gelegt habe. Sie merken, ich habe eigentlich keine Lust das zu erzählen, aber ich muss irgendwie. Ein Zwang hat mich da... Lassen wir das. Die dritte Jazmin. Ich mach's kurz – versprochen. Ich will Ihnen nicht auf die Nerven gehen, Sie sind sicherlich auch mehr daran interessiert, wie es im Bordell weitergeht, als an diesen Fick-Geschichten aus NYC. Mexikanerin. Riesentitten. Sah aus wie alle Mexikaner irgendetwas zwischen spanisch und indianisch. Arbeitete in einem Bagelladen, wo ich täglich einen Bagel mit Creamcheese, Capers und Salmon kaufte, mitnahm und auf dem Weg zum Pratt aß. Immer das selbe grüne Polo und immer das selbe Bagelladen-Capi. Ihre Freundin schwarz wie Mary-A oder Kollegin keine Ahnung wie die hieß, hat sich jedes mal wie ein Ast abgefreut gefreut, als ich den Laden betrag und Witze gemacht sie würde mich nicht von der... Und ordinäre Späße über Jazmin und mich. Wir sollten mal ficken. Wir sollten das mal probieren. Jeden Tag Salmon-Bagel. Daily Uplift und dann ins Pratt und kein Bock auf nichts haben. Jazmin sehen und alles ist okay. Jazmin beim Bagel schmieren sehen und alles ist okay. Jazmin drei Dollar funfundneunzig in die Indianer Hände geben und lang gezogene Augen grinsen spanisch und alles ist okay. Daran denken: morgen früh Bageltime und alle ist okay. Es war diesen Sommer eine brütende Hitze in Brooklyn. Vielleicht ist das jeden Sommer so. Ich hatte mir ein Fahrrad gekauft. Fixie fand ich cool. Das Gefühl über die Manhattanbridge runter an diesem wanna-be von klassizistischen Torbogen (Gate to Manhattanbridge) vorbei, rechts in die Bowery abbiegen, Chinatown winken und in den Verkehr Manhattans zu rauschen und ohne Bremsen unterzugehen. Großartig und alles ist okay. Wenn ich denn mal auf Manhattan war. Meist bewegte ich mich ausschließlich in Brooklyn. Ich hatte immer einen ganz lebendigen Überlebenswillen. Mir lief der Schweiß in Bächen wenn ich still stand. Fror wenn ich in Jazmin's Bagelladen stand und die AC mir ins Gesicht blies. Im Apt hatten wir keine AC. Habe ich mir dann selbst gebaut. Kalt duschen, nackt und nass vor den Ventilator setzen. An Jazmin Denken und alles ist okay. Sie fragt: how are you?

Und ich sage: I'm okay. Der Rest ist schnell erzählt. Atanassov Ich will sie mit meinem Abschiedsbrief auch nicht langweilen. Ich frage Jazmin nach einem, vielleicht sie auch mich oder ihre Kollegin, mit den ausgefallenen Zähnen arrangiert ein Date – diese Kupplerin. Am Ende sage ich okay. New York City eine Zeit, die Okay war. Jazmin und ich sitzen zusammen in einer Shishabar, dass ich solche Läden abstoßend finde, ist klar. Ein bisschen saufen, an der Shishatrompete nuckeln. Sie trägt Jeans und ich kippe mir Jack & Coke in meinen Kragen. Wir lachen. Wir lachen über mich. Wir lachen zusammen. Jazmin, everything is okay. Mein Hemdskragen trocknet und dann stehen wir draußen vor der Shishabar. Broadway Brooklyn. Es riecht nach fauligem Essen von Gestern. Sie will nach Hause. Die Metro rattern über unsere Köpfe hinweg. Ich weiß es gibt nur diese eine Chance. Morgen Jazmin, wirst du mich anekeln und ich werde dich verabscheuen es gibt nur diese Nacht.

Ich hab ja schon einmal gesagt, NYC war Zeit des Schreibens. Ich habe aber nicht gesagt, was das hieß und das mache ich jetzt an dieser Stelle. Ich wollte das. Ich musste das. Kein Weg daran vorbei. Kein Okay ohne Schreiben. Verschriftlichung jeder Sequenz diesen Alltags. Flushing Avenue zweihundertzweiundneunzig ein Kleines Haus gerade zwei Stockwerke ragen dort aus der Straße. Backsteine wie überall in Brooklyn wie Subburbs in England. Ein Hausdach zwischen zwei Häuser flankiert von höheren Häusern. Darunter Cash& Carry electric supply. Ein stinkiger und dunkler Laden, wo man veraltete Technik kaufen und oder reparie-

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fest, ich habe Jazmin ganz vergessen, und schaffe es nicht, auf einem ausgetrockneten Fluss kann man keinen Bootsausflug machen und denke mir, über ihr kniend: so eine richtige Lubrikation braucht ihre Zeit. Jeden Tag bin ich auf 's Dach und habe achtundsiebzig Seiten eines Manuskripts in die Dachpappe gepinnt. Wann immer ich neben dem Pratt Institut dafür Zeit hatte und sie nicht im Luckydog verschwendete, war ich auf dem Dach, wie im fiktiven Filmset, wie in fiktiver Redaktion der eigenen Literatur. Am nächsten Morgen stellte ich fest, die Krawattennadel ist weg, diesmal wirklich. So wie Jazmin, die aber habe ich darum gebeten und sie bettelte nicht um die Krawattennadel. Ich laufe zur Shishabar Flushing Avene, Williamsburg Avenue, dann rechts in den Broadway, vorbei an Peter Steakhouse Ad. Broadway Nummer-Irgendwas, die genaue Adresse, weiß ich nicht. Ich bin noch benommen von Alkohol und Shishascheisse. Stehe vor dem geschlossenen Eingang der Bar. Über mir rattert die Metro – wieder. Der selbe Geruch. Ich sehe zwei Menschen nachts aus der Shishabar torkeln. Er presst sie gegen die Wand. Er küsst sie. Er fasst ihr an den Arsch. Er sagt es klappt nicht so oft. Aber Heute geht es. Die beiden schieben sich zum Pfeiler der Metrostrecke. Wieder das selbe Spiel und diesmal ohne Arsch sondern er quetscht ihre Titten. Das ist was besonders, sagt er. Das gelingt mir sonst nie. Ich kann das ja nicht mehr. Du musst mir glauben. Die spanisch indianische Erziehung sagt wohl, Achtung nicht am selben Abend mit gehen. Lass dich nicht flach legen, von jemanden den du nicht kennst. Hey, sagt der Typ, ich war doch jeden Tag Bagel kaufen. Wir kennen uns. Ein Taxi hält neben den beiden, er hält ihr die Tür auf und lächelnd, dass man sie besiegt hat, steigt sie ein. Und da irgendwo zwischen Hauswand, Eingang und Bahnpfeiler finde ich die Krawattennadel in den Boden eingegraben, wie zu Luftschutzübungen. Dass ich nur drei Frauen flachgelegt habe, in sechs Monaten ist eine Schande.

ren lassen kann. Können Sie sich das bildlich vorstellen A.? Gegenüber der Brooklyn Navy Yard. Wind geht fegend über die vierzig Quadrat Meter Dachfläche. Achtundsiebzig Seiten mit Stecknadeln in die Dachpappe gestoßen, Flattern im Wind. Wollen los machen, sich aufmachen – können nicht wie Insekten deren Flügel verklebt sind. Eine Gestalt in abgerissenen Pyjama, Löcher überall, geht durch die Reihen der Blätter. Kratzt sich am Kopf. Schiebt einen Hut nach Links, nach rechts. Läuft nicht wie durch Schützengräben, sondern wie ein Gärtner, durch die sieben Reihen der auf dem Dach befestigten Blätter eines Skriptes. Murmelt. Läuft Tag und Nacht. Man muss in der eigenen Literatur untergehen. Man muss wie am Filmset durch seine Literatur laufen. Achtundsiebzig A4 Seiten zweimal fixiert oben und unten. Diese Manuskripte habe ich nicht einmal weg geschmissen. Heutzutage ist es einfach sinnlos, sich schlechten Skripten entledigen zu wollen. Wenn ich das Teil auf der Schreibmaschine geschrieben hätte, hätte ich mich feierlich auf das Hausdach über dem Elektroladen schwingen können und an einem besonders heißen Tag, wo die schwarze Dachpappe schon von sich aus glühte, die Geschichte, wie mein eigener Kritiker zerreißen können und dann abfackeln, mit all dem anderen Mist, der in NYC entstanden ist. Heutzutage, wo ich alles digital, auf irgendwelchen Clouds und Servern habe oder mindestens auf meiner Festplatte – extra das Manuskript zum verbrennen ausdrucken kommt mir albern und künstlich vor. Es in den Papierkorb verschieben genauso wenig authentisch, also bleibt es wie es ist, bis meine Festplatte sich nicht mehr dreht. My Name is Mister Dilettante and I'm okay, because Jazmin say's: I'm ok. Jazmin I wish that I'd believe in fate. Ich schaffe es sie zu überreden. Sie liegt wo Mary-Alaska lag, für einen Moment verwechsele ich die beiden. Die Hautfarbe macht die Unterscheidung leichter. Verzeihen sie diese ganze rassistische Scheiße. Kurz habe ich Angst vor Abbruch, vor keine Reaktion und Erektion. Aber es klappt. Ich will eindringen und stelle

Man muss wie am Filmset durch seine Literatur laufen.

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Dank geht an dieser Stelle an Jazmin, Mary Alaska und meinen Brooklynstreetrape, die ich alle nur ein einziges mal sah. Verzeih mir Jazmin, dass ich nie mehr Bagel kaufen war. Die Flasche Korn ist leer. Das Poltern und Wummern meiner Nachbarn ist in meinem Kopf gekrochen. Durch meine Gardinen kraucht die Sonne. Es ist Sommer. Ich traue diesem Sommer nicht mehr. Atanassov hatten Sie jemals das Gefühl, sie würden gern in der Zeit zurück reisen, um etwas gut zu machen?

einem Eisengeländer fest. Das Geländer fühlt sich an wie ein altes Geschütz. Offenporig. Eine Struktur als hätte das Eisengeländer Gänsehaut. Dunkelheit. Ein Lichtschein wirft sich wie ein Umhang hinter Nihad. Die Elektrizität war hin – wegen dem Feuer. Meine Finger streichen raues Mauerwerk. Hie und da ein Rinnsal, hätte ich sehen können – es wäre grün gewesen. Glipschig, schlüpfrig und glitschig grün. Algen, die sich in Flüssen, die die Wand herunterfließen, ansiedeln. Schattenbilder an der Wand. Linderbergh ein sprechender Lindbergh, wie im Scherenschnitttheater. Wie Kinder hinterm weißen Vorhang. Antons Mund bewegt sich wie eine Schere. Er spricht. Dreht sich nicht zu mir. Er spricht in den Keller. Ein Echo seiner Stimme schallt zu mir nach oben, als wollen sie aus dem Keller fliehen. Mir war das Blut gefroren und ich fragte mich, warum ich nicht kehrt machte, warum nicht mal die Flucht nach hinten? »Inzwischen ist man ja auf den Gedanken gekommen«, Anton. »Das höre ich zumindest immer wieder, dass Arroganz und Eitelkeit, ja Sie hören recht…«, sagt er, währenddessen ich wegen der unheimlichen Dunkelheit nicht mal die Hand vor Augen sehe. »Nur vorgeschützte Unsicherheiten sind. Gar noch verhüllte Scham. Dass Menschen, die sehr mit sich zu kämpfen haben, diese Art von Charakterschwäche brauchen. Dazu möchte ich eines sagen–«, er macht eine lange Pause und unsere Schritte hallen durch den finsteren Korridor. Aus dem Rinnsal, war ein Fluss geworden – hat sich ein feuchter Algenozean an der Wand gebildet – je weiter wir nach unten schreiten. »Und zwar, dass ich mir dieses Verhalten nicht aus Schwäche auferlegte sondern, dass es eben tatsächlich meinem tiefsten innersten Charakter-Neigungen entspricht – überaus Arrogant und Eitel zu sein.« Ich dachte lachend, besteht dieses Haus eigentlich nur aus dunklen Gängen. Sie erinnern sich an den Gang ins Varieté, nicht? Ich bildete mir daher ein, weitestgehend furchtlos zu sein, wie Kinder auf Nachtwanderung. Ist ja alles nur inszeniert. Ist ja gar nicht echt. Ich wusste dass wir uns erschrecken sollen.

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Bindung – das Heil der Gottlosen.

Noushin das war ein Hilferuf. Wo du mir Schwäche attestiertes, schrie ich nach deiner Hilfe. Es war wie eine zweite Chance Bindung zu lernen und mündete in Desorganisation. Das war unser Moment und ich wollte dich brauchen, als mir die Leere wieder gefährlich nah gerückt war. Rette mich aus der Leere. Ich weiß sie kommt. Rette mich. Bitte rette mich. Noushin das war ein Hilferuf, als ich die Tür des Giftschrankes sich öffnen hörte. Seither brauche ich nicht weniger Hilfe, doch aber meine Hilfsgesuche sind zu einer Stereotypie von Annäherung verkommen. Zu utopischen Fragmenten von Bindung. Idealisierten und variablen Versuchen Frauen zu gefallen und das Frauen mir gefallen. Seitdem ich mich nicht gegen das Gift in mir retten konnte, ist mir jede Frau recht, aber lieben will ich keine. Noushin, Noushin wo bist du nur? Denkst du noch an mich? Die Gottlosen suchen ihr Heil in Bindung.

eruch. Der Geruch von nasser Asche war um den Geruch von altem Kellergemäuer, wie nach Pilzen, nach Feuchtigkeit, war um das klamme Gefühl von beengender Enge bereichert worden. Sand und Dreck rieb unter meinen Schuhen und erzeugte Schlurfgeräusche. Kalter Stein. Ich halte mich an

er Schrecken der inzwischen gegenwärtigen, und damals kommenden Jahre, er war mir in dem Moment, wie ich vor den Türen des Hamam stand und in den Treppenflur des Hau-

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se hinunter blickte – ich sah diesen Schrecken an mich heran schleichen. Wie einen Schatten, der Jahrelang, auf seinen Augenblick gewartet hatte. Als Noushin mich verstoß, musste ich auf einen Teil meines Körpers zurück greifen, über den ich nicht gern spreche. Habe das immer destruktive Seite genannt, Seite die dem Leben den Rücken kehrt. Der Schrecken war mir bewusst, wie ich wusste, ich würde nicht eines natürlichen Todes sterben. Alle inneren Visionen tragen und schlagen sich irgendwann nach außen auf und aus. Wie Befruchtung, Schwangerschaft und Entbindung – ein ziemlich einfaches Konzept. Wenn dem so ist, sollte ich mich hüten, Sätze wie diesen Auszusprechen. Ist die Schuld der Mutter zu gebären und die Schuld des Vaters zu zeugen und ist die Scham des Kindes geboren zu sein? Schuld und Scham sind die autopoietisch Parameter des Absurden. Es muss einen Zweck geben, der diesem Denken Auftrieb verschafft, der übergeordnet irgendwo da unten oder dazwischen sein Unwesen treibt und Affekte von Wahrheit, Dopamin aus dem Hirnstamm, auf diese Art von Kognition setzt. Ich muss gestehen, wie ich damals das Hamam verließ; ich wusste, was auf mich zu kommt.

fung und Lösung gescheitert und verdorben auf dem Boden liegen. »Wissen Sie Herr Lilienthal«, sprach der Assistent. »Wissen Sie, man hatte das Bordell gewarnt, man wusste es entspricht nicht der Brandschutzverordnung. Man ist selbst schuld an der ganzen Misere.« ttanassov wissen Sie, ich halte mich am Leben, mit der Vorstellung mich Morgen umzubringen. Was Morgen schon? Das geht nicht. Warum? Weil man nicht so einfach abtreten darf. Wenn das Leben eine einzige Schandtat ist, muss wenigstens der Suizid ein Meisterwerk sein. Die Kehrseite des narzisstischen Konfliktes und wie er den Suizid förderte und jäh vor Suizid schützt. Die Waffen, die ich gegen mich richte, kann ich auch genauso gut ergreifen und Drachen jagen spielen.

Herr Leonard Andorra Atanassov, ich darf diesen Brief nie beenden, denn er ist mein Abschiedsbrief. Beende ich diesen Brief, muss ich mich selbst-töten. Sie merken, wie mein Geist verzweifelt sich ein Konstrukt zum Überleben zusammenbastelt, merken Sie das?

ir laufen das Treppenhaus eines Turms nach unten, war mein Gedanke, als Anton und ich den schneckenhaus-artigen Treppenflur des verbrannten Bordells in Spiralen hinabstiegen. Antons Schreibmaschine schlägt von innen gegen den Schreibmaschinenkoffer. Klappert. Wie Kopfschmerz, wenn man das Gefühl hat das Gehirn schlägt gegen das Schädeldach. Ab und an steigen mir wieder die Gerüche von verbranntem Holz, Stroh, Fleisch, Haaren und Nägeln in die Nase und ich höre wahrhaftig das Echo der panischen Angestellten, wie sie schreien und rufen. Stelle mir vor, das muss in Pompeji nicht anders gewesen sein. Flammen schlagen fürchterlich aus dem Keller und machen sich über das gesamte Haus her. Wie Krankheit, Epidemie und Vireninvasion – wie Ebola in Westafrika. Hie und da liegen und ich stolpere über verkohlte Blecheimer und anderen Überbleibsel von Löschversuchen. Wie tragisch, wenn Relikte und Artefakte des Widerstandes, der Bekämp-

Schmauchspuren an der Wand entlang gezogene – schwarze Schatten von Flammen. Der gang hinunter in den Keller des Bordells. Die Panik im Flammenlabyrinth gefangen zu sein. Der panische Schrecken, dem nicht entkommen zu können. Ich kann es fühlen und in all meinen Gliedern spüren. Die vergeblichen Bemühungen, die höher schlagende Flammenwand, der übermächtige Gegner. Geschrei und Verderben, Scheitern und Tod – greifbar nah. Das ist ein Spiel um die Intensität der Gefühle. Es ist ein Tanz um falsche Ruhe. Es ist das Fragen, nach dem Ausweg – es ist die Scheinantwort. »Wie weit wohl diese Treppen reichen, Anton?«, fragte ich ängstlich meinen Assistenten

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und mich überfiel, in diesem Moment, die selbe Übelkeit, wie damals, als ich die Hamamtreppen hinunter stolperte. Vielleicht ist das Treppengeländer das selbe. Vielleicht haben die Stufen, einen ähnlichen Abstand oder vielleicht haben sie denselben Klang. Vielleicht laufe ich genauso gebückt die Treppen hinunter. Irgendein Triggerreiz, schaltet das sprachlosen Entsetzen und den Erstarrungsmodus an, das heißt selbst in Standbymodus zu gehen – Gute Nacht, adieu, au revor les enfants. Dieselbe Übelkeit, derselbe Krampf, mich von etwas trennen zu wollen. Dasselbe Gefühl, etwas stirbt in mir. Mit dem Unterschied, dass ich mich im Puff bisher noch nicht übergeben habe. Damals spie ich, wie am Spieß. Jede Ecke des Hamamtreppenhauses, quirlte über vor meinem Erbrochenen, wie ein Teig vor Hefe. Neglektion und Rejektion – mein Leben ist in Gefahr. Und dann? Nichts als Scham, existenzielle Scham und monatelange Isolation. Schrittweise sich zurück ziehen. Sich immer mehr Projekte mit sich selbst schaffen. Immer weniger mit anderen Menschen machen. Schritt

um Schritt weiter in die Einsamkeit, bis Heute und Sie wissen, wie mein Leben sich heutzutage gestaltet. ir stehen im Heizungsraum des ehemaligen Puffs. Auch hier Gestank. Auch hier fühle ich mich unwohl. Was es sonst noch gibt: einen Ofen, dessen Heizungstür von dem Druck der Hitze aufgebrochen scheint. Glut und Asche davor. Verrußte Wände. Zum Glück Öllampen, die wir anzünden können. Die Elektrizität war, wie erwähnt, ausgefallen. Im flackernden Licht der Öl-Lampen, lässt sich neben dem Ofen, die tote Heizerin ausmachen. Ein verkohltes Stück ehemaliger Menschlichkeit, sucht vom heißesten Punkt des Flammenherdes davon zu kriechen. Ich vermisste meine Kamera. Ich vermisste es, mich dahinter verstecken zu könne. Ich vermisste mein Abwehrschild im Leben. »Der Heizungsdienst«, räusperte sich Anton und sprach: »erfolgte nach einem Schichtsystem. Jede der Frauen hatte vier Männer abzuleisten – durchschnittlich eine Stunde pro Typ, macht vier Stunden – danach ging es in den Keller zum Heizen, zum Putzen, zum Essen zubereiten, Getränke servieren, zum Empfang oder in die Buchhaltung«, erzählt Anton schwärmerisch und sucht seine Erkundungen auszuplaudern. »Daraus ergab sich ein dynamisches System von gerechter Arbeitsteilung und Abwechslung. Welche dieser besonderen Frauen, wollte schon Zehn stundenlang, die meist doch nicht sehr ansehnlichen Männer beglücken. So war es eben so eingerichtet, dass jede Frau einem Hauptund einem Nebendienst wöchentlich zugeteilt wurde. Und die Elfriede war diese Woche mit dem Heizen dran«, Anton in aller Ausführlichkeit, aber wir suchten nicht nach der verbrannten Elfriede. Der Nebenraum des Heizungskellers gehörte zu den Motivräumen, wie die Kapitänskajüte, das Orientzimmer, das Chinesische Zimmer – was mehr eine

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von der Rezeptionistin erfragen durfte. Es war die persönliche Spezialität der stellvertretenden Puffleiterin Hilde Irene Raskowa, diese Art von eher düsteren und aufgegeben Exemplaren der Gesellschaft in ihrem Leib willkommen zu heißen. Sie verstand es meisterhaft, den Wahnsinn dieser Männer zu fokussieren und ihn auf die Penetration zu konzentrieren. Reges Treiben entfachte sich dann, in dieser doch eher unansehnlichen Grotte. Wer Verrücktheiten in sich barg, durfte ganze ohne Fragebogen ausfüllen und psychologische Tests, ab in dieses dunkle Verlies. Wer sich in seinem Leben immer schuldig fühlt, der war willkommen. Wer sich Zeit seines Lebens für niedere Bedürfnisse, verbotene Neigungen, hässliche Wünsche – schließlich widerliche Perversionen schämte. Auf, auf! Bewegt euch in das unterste Geschoss, dieses beliebten, gefürchteten und abgebrannten Freudenhauses, Lusthauses, Bordelles. Dieses Puffs und dieser Feuerhölle, Ort des Sterbens, all jener die suchten sich zu verbergen. Tod all denjenigen, die sich auf offener Straße in angebrachte Persönlichkeiten verhüllen. Schande all den jenige, die brisante Teile ihres Egos suchen zu verbergen. Schande, all denjenigen, die sich aus Angst hinter einem klapprigen Gerüst von Selbst verstecken. »Die Grotte an sich«, verriet mir Anton der Assistent. »War eine Art privates Schwimmbad, aus der Zeit vor dem Bordell gewesen. Man hatte, im Zuge der Sanierung und der Umbauten zu dem inzwischen nun vergangenen Bordell, das Schwimmbad außen vor gelassen und das ganze die Grotte genannt.« Ich gab natürlich vor, völlig unberührt zu sein, aber es ärgerte mich, dass Lindbergh mich mit Wissen überflügelte und ich fragte mich, was hatte ich in all der Zeit gemacht? Wo war ich gewesen? Wie war die Zeit vergangen? Wieso konnte ich mich kaum erinnern? Wir betreten den Raum und es kann nicht wirklich von einem Raum gesprochen werden, denn nur ungefähr ein bis höchstens anderthalb Meter trennten uns von der Tiefe des Beckens. Der Raum war also so etwas wie ein Rahmen um das Becken herum. Das Interieur, welches wir noch von oben aus sahen - es stand auf dem Beckenboden, bestand im wesentlichen aus einem Klappbett, einem ollem altem Teppich, einem gerahmten Bildnis Lilliths von Waterhouse, das

billige Kopie des Orientzimmers war. Was ich allerdings schön fand: es gab eine grau-beige farbige Tapete, auf der eine See–Szene mit Weihern, Pfauen und Weiden in ihren Silhouetten zu sehen war. Dann noch ein überdimensionierter Spiegel, dass man sich beim Koitus anschauen konnte, auf den Spiegelrahmen, gab es viereckige Ornamente, die ich auch schön fand, mich an Swastikas erinnerten, was mich aber nicht weiter störte. Das Afrikanische Zimmer, nicht nur schwarze Frauen waren hier anzutreffen, sondern auch weiße Frauen in Kolonialkleidung – dralle blonde Mädels in Camouflage mit Tropenhelmen und ein Bett, welches wie aus einer Elfenbein Löwenstatuette zu entkommen schien – schade, dass Elfenbein so gut brennt. Ich fand die Idee des Raumes, aber rassistisch und altbacken, es störte mich von daher nicht, dass das weiße Bett ein graues Häufchen Asche war. Dazu noch das einfache Zimmer, welches am ehestem einem gewöhnlichem Stripclub glich. Aus den verbrannte Resten, ließen sich noch in der Mitte des Raumes, auf einem kleinen Podest eine Tanzstange, eine Velour-Couch und billiger Plastikteppich ausmachen, es roch ganz fürchterlich nach verkohlten Plastik und überall ringsumher die verbrannten Leichen vieler Freier, wie sie auf der Couch saßen oder in Bettel-Pose vor der Stange knieten und die Tanzende anstarrten, an der Bar saßen oder verzweifelt versuchten die Türklinke zu erreichen und nebenan ein Zimmer für Einzelvergnügungen, in der, wer kann es erraten? Auch die verkohlte und verzogene Fratze eines Freiers zu finden war, wie er in Fötusstellung zusammengekauert, sich den Flammen, statt einer Frau hingab. Insgesamt war das doch sonderbar, verglich man diesen mit den anderen Räumen, wie ich fand. Man müsste, dachte ich dann, heutzutage wohl auf jegliche Art von Kundschaft eingehen. Oder irrte ich mich, und es handelte sich dabei, auch um einen der Motivräume, nur eben einem normalem modernen Puff nach empfunden? Und es lag nur an mir, der ich den sich dahinter verbergenden Kontext nicht erkannte und ich mich daher nicht einfühlen konnte und es als absurd bezeichnete? so gehörte auch die sogenannte Grotte, wie das Zimmer, neben dem Heizungskeller, hieß, zu dieser Art von Räumen, die der Kunde

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chen, hören, fühlen und schmecken. Am besten Sie schreiben mit!« Auf einmal war ich wieder voll dabei. Ich sprang von Ecke zu Ecke, kniete mich auf den Boden. Dieses plötzliche schaffen-müsse. »Nihad!, ich brauche eine Kamera. Schnell!« Meine Augen vermaßen den Raum. Ich sah Kamerafahrten, Konstellationen und Einstellungen, perfekte Shots. »Nein, nein und nein, sondern um die übermächtige Staatsraison herauszufordern und weil jeder einmal ein unmögliches Unterfangen wagen und verlieren muss. Jeder Mensch muss einmal scheitern, fallen und schwinden, um zu wissen, wie das ist. Um zu wahrer Größe…« »Anton!«, drehte ich mich zu meinem Assistentin um, der inzwischen seine beige farbige und italienische Reiseschreibmaschine auf dem, zur nackten Fliesenwand zeigenden, Kosmetiktisch aufgebaut hatte, Lillith anstarrte, ihre Formen bewunderte und sich in den orangen Haaren ertränkte. »Die Kamera Anton. Zack zack!« Er hatte keine Kamera dabei. »Aber Sie haben doch gesagt, dass–« »Anton, es ist egal, was ich gesagt habe. Was ich brauche, ist eine scheiß Kamera.« Es half nichts. »Ich gebe zu Protokoll, vermeintliche Brandstifterin in der sogenannten Grotte, dem alten Schwimmbad, des Hauses aufgefunden. Sichtbar Wirr und Desorientiert. Ich beginne mit der Befragung:–« Ich raste innerlich vor Wut, jetzt keine Kamera mit zu haben und protokollierte minutiös die Atmosphäre im Zimmer, sogar befahl ich Anton sein eigenes Schreibmaschinenklacken mit aufzuschreiben und meine Fragen und Hilde, Mimik, Gestik, Augenrollen, Handbewegung und jedes bisschen Verhalten, was sie zeigte. Als wollte ich mich vorbereiten die Szene später so realitätsnah wie möglich nachzustellen. »Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei Ihrer Person um Hilde Irene Raskowa, die ehemalige stellvertretende Puffleiterin handelt?« Keine Antwort. Mir war komisch zu mute. »Was suchen Sie hier in diesem schäbigen

als eine Art Spiegelersatz auf dem Kosmetiktisch stand und überall verteilt – kurze Hocker. Sie ahnen es Herr Leo Atanassov, für Zuschauer… Sonst waren die Wände und der Boden des Schwimmbeckens mit dreckigem Schiefer und geplatztem und vergilbten Marmor ausgekleidet. Da saß der Feuerteufel, in der Mitte des Beckens, auf dem Klappbett zusammen gekauert. Öl- und Benzinkanister neben ihr. Öl-verschmiert. Verschmorter Kopf, aus dem unverbrannte und halbverkohlte Haarbüschel herausragten, rußschwarze Finger und ein aschegraues Gesicht. Halb nackt, das heißt, sie hatte eine Art zerfleddertes mit Rußspuren übersätes weißes Rüschenkleid an, sonst nichts. Das Kleid schnitt und stellte den Rücken aus, mit Striemen überzogen war, die eher nach Peitschenhieben aussahen, als nach Verbrennungen. Wir stiegen über eine wackelige und rostige Schwimmbadleiter in das Becken hinab. Auf dem Beckenboden angekommen, nahm ich mir einen der verbliebenen Hocker. Die Holzbeine schabten unangenehm auf den Bodenfliesen. Und ich setzte mich vor das mit Streichhölzern spielende Ungetüm von Frau.

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er We rt des Menschen, ergibt sich erst durch eine von ihm geleistete Straftat.

er Wert des Menschen, ergibt sich erst durch eine von ihm geleistete Straftat, nicht aus Revolutions- oder Veränderungswillen, womöglich noch aus Gutmenschentum. Nein. Nein. Nein?«, krächzte Hilde wie zu sich selbst, statt mit uns sprechend, auf dem Bett barbusig sitzend, denn sie hatte ihre Träger gelöst, als wir die Leiter herunter kamen. Sie schüttelte ihren Kopf und entzündete Streichhölzer, die sie auf den Boden warf, die auf den nackten Fliesen erst heftig auf glimmten, dann erloschen. »Nihad, ihr Ditkiergerät! Nihad das Gerät. Los raus damit! Haben Sie es nicht dabei? Also bitte. Jetzt aber schnell. Ich will, dass sie zwischen jeder Aussage zwei Sekunden Platz lassen und in fünf Worten beschreiben, was sie sehen, rie-

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len gebracht: »Nachthexe. Man nannte uns Nachthexen. Viele Menschen denken, weil wir gefühllose Wesen der Nacht sind. Bei Gott, das müssen wir auch sein. Sie wissen ja nicht, wozu Menschen im Stande sind. Sie wissen ja nicht, was Menschen verlangen. Deswegen aber, nannte man uns nicht Nachthexen«, sagte die Nachthexe Irene Raskowa und ich fand den Namen albern. »Und weiter Raskowa? Gibt es noch etwas, was Sie mir sagen sollten?« »In der Abteilung für Luftkrieg, gab es eine Division, die nur aus Frauen bestand. Man nannte unsere Flieger Nähmaschine. Unsere Bomben, waren unsere Kinder, gebracht von Störchen der Nacht.« »Raskowa, ich bin etwas irritiert, wie Sie auf einmal so gesprächig sind«, sagte ich provozierend. »fünfhundert-und-acht-und-fünzigstes Fliegerregiment«, sagt sie langsam und reißt bei jeder einzelnen Ziffer die Augen auf. »Nachtbomber. Nach dem Krieg, war unser Ruf ruiniert und unser Schicksal besiegelt. Wir hatten geschwitzt. Wir hatten gemordet. Wir hatten vor Angst gezittert. Wir hatten Schwestern verloren. Wir hatten das Land verteidigt, mit Blechkisten von Flugzeugen. Helden der Nation, nannte man uns. Als wir Nachhause kamen, waren wir nichts als Frontmatratzen, nichts mehr als Feldhuren. All der Heldenmut. All das Ideal. Man hatte uns dringend gebraucht und dann fallen gelassen. Ich war gerade fünfundzwanzig.« »Ich meine«, begann ich halbwegs freundlich, »es ist immer

Kerker und versifften Schwimmbecken?« Keine Antwort. Meine Hände beginnen zu schwitzen. »Neben dem Heizungsofen befindet sich die Leiche einer Frau, handelt es sich dabei um Elfriede, die Heizungsdienst hatte?« Keine Antwort. In Befragungen und Interviews ist es immer wichtig zu fokussieren und wieder zu de-fokuisieren, zu assoziieren und zu dissoziieren, zumindest scheinbar, um später wieder zu fokussieren und zu assoziieren – so kann man der oder dem Befragten, nach und nach die Informationen entlocken, die man zur Rekonstruktion des Tathergangs zu wissen nötig hat. Man muss dann nur die Stücken an Informationen, zu einem Ganzen zusammen setzen… (Habe ich in der Polizeischule gelernt, wo ich einen Kurs zu Befragungen und Verhören gemacht habe.) »Haben Sie das, Anton? Ich habe Sie gefragt, ob Sie das haben Anton?!« »Wollen Sie auch, dass ich das Nicht-Antworten der Befragten protokolliere?«, fragte er eingeschüchtert. »Ja, auch das ist Kommunikation und kann uns mal ein Indiz sein. Notieren Sie ferner bitte auch Mimik und Gestik der befragten Person.« »Sie waren also so etwas wie die Puffmutter, ja?«, fragte ich ungeduldig und vorallem aggressiv. »Die älteste, erfahrenste und ausgeleierteste aller im Haus beschäftigten Damen…Wie kam es dazu?« Erst regte sie sich nicht, starrer Blick, auf die verrußten Hände gerichtet - Zeichen der Schuld, dachte ich – leichte Fingerbewegungen, dann plötzlich, als hätte man einen Stein ins Rol-

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»Er war Zucker zu mir. Wickelte mich um den Finger. War gut zu meinen Töchtern, wie er sie nannte. Ja das hießt nicht, dass wir weniger Huren, Nutten und Kurtisanen waren. Aber aber, denken Sie nicht uns ging es gut oder schlecht. Als leichtes Mädchen denkst du nicht in gut oder schlecht. Du denkst in entweder erträglich oder unerträglich.« Mit dem Wahnsinn und den Frauen ist es doch gleich ermaßen, sobald man es richtig mit Ihnen macht, bleiben sie für immer. »Jedenfalls machte er mich mit dieser Schwimmbadgrotte bekannt und anfänglich fand ich sogar gefallen daran. Ja, vergessen Sie den Schimmel in den Rillen der Fliesen. Vergessen Sie den moderigen Geruch. Vergessen Sie all diese kleinen Details. Wer interessiert sich den Heute noch für die Details? Er meinte man müsse immer eine unangenehme – mit einer angenehmen Aufgabe kombinieren, so wurde ich die Leiterin der Huren und war für ihre Verwaltung zuständig, Schichten einteilen, Konflikte lösen, Streits schlichten, Aufgaben verteilen, auf all die kleinen Zimperchen der Frauen eingehen und so weiter. Gerötete Schamlippen versorgen. Gerissene Jungfernhäute flicken. Kokain als Anästhetikum in ausgeleierte Arsc…« »Hilde!«, rief ich sie unterbrechend. »Das ganze Brimborium, das mich zu Beginn begeisterte. Naivität. Die Verantwortung. Das Gefühl etwas gutes zu tun. Der ganze Scheiß, der mir diese Doppel-Moral Sullivans verschleierte. All die Gefallen, die ich ihm tat. Wie ich ihm jeden Wunsch von den Lippen ablas. Nach und nach jedoch, weil es auch keine anderen Frauen machen konnte, wurde ich in die Badegrotte geschickt. Ich konnte meinen Töchtern nicht hier runter schicken. Ich konnte meinen Töchtern nicht antun, was mir widerfahren ist. Wir mussten diesen Preis zahlen. Er war der Preis der Straße entkommen zu sein. Und sehen Sie diese Löcher, in den Fliesen?«, zeigte Hilde vom Klappbett aus. »Lilienthal Sie müssen genau hinschauen. Da glotzte er durch, wenn die Freier sich über mich hermachten. Er hatte sich neben dem Heizungsraum und Schwimmbecken, einen weiteren Raum bauen lassen, der ihm als Beobachtungsund Überwachungsraum diente. Als Büro sagte er zu mir immer, als Büro…«, sprach die ver-

nützlich einige Kernfakten zu wissen. So ein bisschen Drumherum, Kontext und Situation. Ich will aber wissen, wie Sie den Puff abegefackelt haben und nicht, wo sie wie gedient haben und was das für sie bedeutet hat. Das ist mir herzlich egal.« Ich war verkrampft. Wovon sie sich nicht beirren ließ. »Tatsächlich rutschten, wie man es in der Zeitung lesen konnte, einige der Nachthexen nach dem Krieg in die Prostitution ab. Eine von denen war ich. Die Kameradinnen, die nicht abgeschossen und gefallen waren, formierten sich neu. Aber wir waren keine Pilotinnen mehr, wir wurden zu Huren. Es war ein mieses Geschäft. Wir standen am Straßenrand und die Hölle des Cockpits wurde zu Hölle des Automobils. Nicht selten, sahen wir einander nie wieder«, sprach sie selbstvergessen. »Irgendwann mitten im Winter, kam eine alte schwarze und schäbige Limousine, hielt vor mir am Straßenrand. Ich blickte beschämt zu Boden. Verlor mich in Blätterdetails, des Straßenlaubes. Es hatte geregnet in der Nacht. Ich war noch leicht nass. Und Blätter segelten wie Schiffe gen Abfluss. Ich ruderte gen Ende. Die stumme Zeit. Dienen, dienen und weiter dienen. Ich war in miserablen Zustand und merkte nicht Einmal, wie das schwarze Fahrzeug vor mir zum Stehen kam. Eine Tür öffnete sich. Ich stieg ein und sah zum ersten Mal: Sullivan.« Pause – logisch. Weiter im Text, Hilde erzählt: »ob nun in der Luft über Feindesland oder hier zu Boden im Bordell, für viele der Huren, war ich wohl so etwas wie eine Mutter. Jetzt ist es vorbei – endlich vorbei. Wir hätten schon im Krieg fallen sollen. Sullivan war unsere Rettung. Er heuerte uns an, mich als Puffmutter und seine persönliche Geliebte. Zuerst änderte sich unsere Lage nicht. Wir standen noch immer auf dem Strich. Mit dem Unterschied, dass die schwarze Limousine auf unseren Straßen patrouillierte, Geld einkassierte und tatsächlich verringerten sich die Vergehen gegen uns Frauen. Tatsächlich trauten sich die Männer nicht mehr uns zu schlagen, zu vergewaltigen und zu malträtieren. Das hatten wir Sullivan zu verdanken. Und auch wenn es nur für drei Monate war, gab er uns ein Zuhause. Er übernahm den Puff, entließ die alte Belegschaft und ließ den maroden Laden, noch einmal aufleben.« Hilde fand kein Ende. Wem erzählte sie ihre Geschichte? Die Hure stand unter Schock.

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Nun gut, Anton haben Sie das?«, fragte ich, mich zu Lindbergh umdrehend, dessen Finger noch immer Tänze auf den Schreibmaschinentasten vollführten. Ein mächtiges Klacken ging durch das alte Schwimmbecken. »Ich weiß es trägt nicht zum Fall bei, aber vielleicht können wir es anderweitig verwenden. Denken sie an die Zeitung, denen können wir das verhökern und vielleicht die Produktionskosten eintreiben. Sie müssen ökonomisch denken.« Wie ich mich wieder grinsend dem noch ein wenig rauchendem Klappbett zu wandte, war Hilde aus dem Bett verschwunden und tippt mir von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich nach ihr um und ihre rußschwarzen Finger ergreifen die Umschläge meines Anzugkragens. Sie zieht sich an den Revers wie bettelnd hoch und spricht zu mir sehr aufgeregt, kokett und herausfordernd, aber nicht ängstlich: »angenommen Herr Oppenheimer Lilienthal, das ist doch ihr Name, nicht? Also angenommen Lilienthal, Sie verzeihen, wenn ich von den Förmlichkeiten ablasse. Lilienthal, hören Sie mich? Angenommen, die Maus, folgen Sie mir(?), beißt sich in Gefangenschaft den eigenen Schwanz ab. Verstehen Sie, Autoaggression, Lilienthal? Und der eingesperrte Tintenfisch beginnt in Gefangenschaft zu spielen. Ja Oppenheimer, wer sind Sie dann? Maus oder Kraken? Verstehen Sie, Überleben wollen, Lilienthal? Wenn ich Sie so betrachte«, inzwischen umschlingt sie meinen Hals. Und wispernd hauchend flüstert sie mir ins Ohr: »wenn ich Sie mir so anschaue, dann sehen Sie eher weniger verspielt aus«, und sie lacht laut auf. Jetzt wird sie psychotisch, denke ich damals. »Verstehen Sie Wahn, Lilienthal? Verstehen Sie Wahn?« Herzhaft stoße ich mich von ihr los und taumele ein wenig nach hinten an das Klappbett heran. Fange mich ohne mich zu setzen, räuspere mich und – keuchend und hustend, presse ich ein paar Worte aus meinem sich zuschnürenden Hals: »Anton, verlassen Sie das Zimmer. Anton, verlassen Sie sofort diesen Raum!« Es ist wie ein Ruf aus einer Höhle. Wie der langsame Sturz in diese Tiefe. Wie diese Tiefe,

meintlich Verstummte ausschweifend und langweilte mich. Unter dem Ruß, den Verbrennungen und dieser penetranten Art, versteckte sich eine doch nicht unattraktive Frau. Ich tat mich schwer dabei, ihr Alter zu schätzen. Kennen Sie das? Wenn Falten um das Augenlid Teile der Iris verdecken und Augenringe die Ränder der Augenform be-

Lilienthal, verstehen Sie Autoaggression? schatten, müde und vom Leben gesättigte Augen sind das. Pupillen, die nur warten, sich für immer schließen zu können, zu dürfen und zu sollen. »Das war ihm nicht genug. Sullivan ist unersättlich. Er schickte mir Gruppen von Männern in das Grottenbad und im Gang hörte ich ihn reden, ›das Grottenungeheuer Raskowa müsst ihr ordentlich strafen.‹ In Schlangen standen die Böcke an der Beckenleiter. Mal waren es drei. Mal waren es fünf, die mich gleichzeitig penetrierten. Mal kamen dazu noch weitere Kerle, die oben auf dem Beckenrand warteten und dem Treiben beiwohnten, währenddessen Sullivan, der unersättliche Sullivan, masturbierte oder sich anderweitig vergnügte – später erfuhr ich, dass er sich manchmal eine von meinen Nachthexen auslieh und währenddessen er das Schauspiel, aus seinem stillen Kämmerlein verfolgte, sich oral befriedigen ließ«, sagte die halbnackte Hilde,

Verstehen Sie, Einzelkämpfe, Lilienthal? währenddessen ich diesen festen und wohlgeformten Busen bestaunte. »Und ich selbst sein Auge sah. Quer über diesem Klappbett lag. Er durch eines der Löcher gierte und mir unermüdlich neue Männer – zehn, zwölf, sechzehn Stunden, bis es mir aus allen Löchern blutete – in die Badegrotte schickte. Sein Auge, seine starrende Pupille, die kann ich noch jetzt sehen.« »Interessant«, versuchte ich endlich einzusetzen. »Interessant wie Sie, ohne dass ich Sie danach fragte, mir in aller Ausführlichkeit, von ihrem widerlichen Verhältnis zu Herrn Sullivan berichten.

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wie Streichhölzer Tropfen von Treibstoff entzündeten. »Hilde, hören Sie mir zu?!« »Nun mein lieber Lilienthal, das einzige, was ich hier erkennen kann, ist der einsame Junge, der sich gern Reden hört. Sich noch allerhand für sein Fehlen zurecht gedacht hat, sich Meinungen über dieses und jenes, Leben und Ableben anlegte – nur eines nicht wollte: den Ausweg, weil Sie es heimlich genossen, Lilienthal. Was Sie Abwehr nennen, ist nichts als Verstärkung und möchte-gern Katharsis – Irrtum der Renommisten«, sprach sie, mir wieder auf meine Brust tippend. »Berthold, Sie sind zum Scheitern verurteilt und Sie lieben es. Sie brauchen die Opposition und verabscheuen sie.« »Ach«, eröffnete ich. »Die Dinge, die Sie mir erzählen, mögen in ihren Ohren eloquent oder

auch ein Höhe sein kann. Wie die Höhe, eine Breite ist, wie es nur darum geht jegliche Definition zu verlieren und diesen Verlust – wie diesen Verlust – sagen wir es mal: wie diese Depression dann Tiefe und Dunkelheit nennen. Letztlich, ist das auch nur eine Maßnahme zur Schaffung von Struktur. Dem Unbekannten, dem Schatten, der mich begleitet einen Namen geben. Die Rückeroberung der Kontrolle. Sowieso ist und war Kontrolle immer der Mechanismus, der mich in diese tiefsten Tiefen und höchsten Höhe trieb. Kontrolle ist der Vertex zwischen Depression und Manie, der mich isolierte und am Punkt der größten sozialen Deprivation in Opposition und Reaktanz zur eigenen Isolation trieb. Kontrolle ist wie Gravitation, welche zwei Waagschalen beständig ausgleichend hin und her pendeln lässt. Es ist wie, verlangen mit seinen Prinzipien zu brechen. Sie vergessen. Mit Werten brechen. Sich ausgestoßen fühlen. Einen Einzelkampf führen. Wie dann diesem Ruf folgen. Wie die Arme langsam schwer werden. Die Beine langsam träger. Die Lippen langsam müder und wie das Gemüt zusehends dumpfer – anhedonischer wird. Wie sich darauf einlassen. Wie davon wissen. Wie wissen, jetzt wird erst einmal geschlafen. Wie in seinen eigenen Schatten rücken. Decke drüber fürs Vaterland. Fresse halten – verbrannte Erde. Verstehen Sie, Einzelkämpfe? »Wenn Sie es genau wissen wollen Hilde, ich bin der wiederauferstandene Tote«, spreche ich und sehe aus dem Augenwinkel Anton Nihad Lindbergh die rostige Leiter nach oben klettern, sich noch einmal umdrehen zu mir gucken. Ich mache die Halsabschneider-Geste. Blick wieder zu Hilde und sage: »ich bin eine wiederauferstandene Leiche und es gibt in meinem Leben nichts zu beichten. Ich bin gegangen und dahingeschieden. Ich bin ein Lebendiger, ohne Leben und meine Asche ist ein Dreck und es gibt keinen beschissenen Vogel, der aus ihr entsteigt. Ich bin der Beamte, der sich selbst ins Kreuzverhör nimmt«, palaverte ich lange euphemistisch, während die sichtlich gelangweilte Hilde Benzin auf die Bodenfliesen schüttete und selbst in aller Ruhe beobachtete,

Verstehen Sie, Überleben wollen, Lilienthal? differenziert klingen. Für mich schreit das nach verstaubten Büchern, alten Reden, nutzlosen Requisiten und antiquierten Meinungen. Aber Sie sind ja selbst alt und ergraut, woher also die Erwartung?« »Den anderen zur Weißglut reizen. Lilienthal, das ist einer der ältesten dialektischen Kniffe«, sie zieht das ›ä‹ in die Länge und rollt ihre Augen schulmeisterlich. »Sie denken, doch nicht etwa, dass Sie mich damit kriegen – oder etwa doch?« Was mich jäh, wie wir da in der Badegrotte standen, an eine Frau erinnerte und mich für einen Moment einmal mehr in Bilder meiner Vergangenheit entführte. Einer Frau, mit der ich vor Jahren schlief. Wir uns wie wild in meinem Bett im Kreise drehten, als wollten wir Räder in Schnee oder Sand oder das Bettlaken malen. Die Frau mir, währenddessen wir miteinander schliefen sagte: »du glaubst doch nicht, dass du mich so leicht kriegst?«, ich ejakulierte aus Überdruss und rauchte eine. Kennen Sie das, wenn ein Wort, ein Satz und ein Bild Sie aus der Gegenwart reißt und Sie in

Lilienthal, verstehen Sie Wahn?« ihre Vergangenheit, Erinnerung und in Vergessenes schmeißt und Sie keine Wahl haben, als diese verschollenen, verschwommenen und

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durch das sternenförmige Foyer noch Einmal in jeden Raum und als wir im Heizungsraum ankamen, stand dieser schon in Flammen und Elfriede tanzte, indes ihre Kleider brannten, um das Feuer herum und schwer hörte ich die Tür der Badegrotte ins Schloss fallen. Seitdem sitze ich hier.« Sie steht auf und hockt sich auf den Kosmetiktisch, drückt ihr Gesicht gen Spiegel und tut so, als quetsche sie sich Pickel mit zwei

verdrängten Bilder zu rezipieren, zu rezidivieren und zu revidieren. Kennen Sie das mein sehr geehrter, verehrter, hoch geschätzter Herr Leonard Andorra Atanassov? nzwischen hatte ich mich wieder auf einen Hocker gesetzt. Hilde saß am Kosmetiktisch. Wandte sich von mir ab. Gab vor sich die Haare mit ihren Fingern zu kämmen und summte ir-

gendeine Melodie – ich war genervt. Gut, dass es keinen Spiegel gab, ich hätte ihn wohl eingeschlagen.

Fingern aus. »Lilienthal, wie sieht es eigentlich oben aus?«, fragt sie und richtet das was von ihrer Frisur übrig geblieben ist und will keine Antwort haben. »Um mal ehrlich mit Ihnen zu sein, ich glaube Sullivan schützte mich«, hopst den Schminktisch nach unten. Putzt sich die Beine ab. Läuft dann durch den Raum, sprechend. »Und Sie Oppenheimer, das kann ich Ihnen, wie von der Stirn ablesen, wussten wohl, was wir wollten, aber was wollen Sie den mit dem Tod anfangen? Wollten Sie auch liegen auf einer der Bahren. Oder verschmort in einer Zimmer, als Schatten in eine Wand gebrannt?« Legt sich wieder ins Bett. Alle viere von sich gestreckt, wie auf der Streckbank und windet sich. »Berthold, sterben darf nur der, wer lebte«, sagt sich gurrend. Rollt sich von einer zur andere Seite des Bettes. Ich stehe wie angewurzelt und mit Schwimmbad fliesen verbunden. »Sie aber«, spricht sie weiter. »Haben nicht mal eine Sekunde Ihres Lebens tatsächlich gelebt. Was Sie tun, ist Ihre Zeit verkürzen und Ihr Leben überdauern wollen.« Hilde setzt sich auf die Bettkante. Legt den Kopf in eine Schale stützender Hände. Rahmt ihr Gesicht mit den Fingern. Lächelt schief. Neigt den Kopf. Sie verliebt aus. »Es stimmt schon«, fing ich an. »Ich liebte das Verlassen werden«. Hielt inne. Pausierte. Holte Luft und platzte heraus: »weil es ein Orgasmus ist, weil das Gefühl der Pein – Ekstase ist. Deswegen muss ich es wieder und wieder erzeugen«, hallt meine Stimme im Schwimmbecken. »Es bewirkte und was sage ich, es bewirkt noch immer, was Morphium dem Morphinisten ist, das ist mir das stetige Reinszenieren von – ja was

»Sie und ich Lilienthal, wir sind gar nicht so verschieden(,…)«

»Ist Ihnen den nie aufgefallen«, sprach sie und macht mich noch aggressiver. »Dass Sie sich nur im Endspiel wähnen, es aber nie zu einem Ende kommt. Ist das nicht komisch? Ließ Sie das denn nie stutzig werden? Antworten Sie Oppenheimer Lilienthal. Beziehen Sie Stellung. Seien Sie Mann!« »Sagen Sie mir, weshalb Sie mich gestern, an der Tür abwiesen?«, gab ich mich feindselig. »Und vor allem, sagten Sie nicht, Sie wären hier in der Schwimmbeckengrotte, wie im Verlies eingekerkert? Wie konnten Sie dann noch gestern Abend an der Rezeption sitzen und mir keinen Einlass gewähren?« »So was und ich hatte gedacht, Sie wären weniger stupide. Zu erst sage ich Ihnen, wusste Sullivan selbst redend von den Plänen der Huren – das Bordell anzuzünden und die Last der Bevölkerung durch einen Zufall zu erleichtern, das nennt man wohl Prokrastination oder aber auch Verschleierung. Er bespitzelte uns, wo er nur konnte, als er davon erfuhr, das muss kurz nach Ihrer Abweisung gewesen sein, packte er mich, wie ich am Mahagonitisch saß und schleifte mich durch das Bordell. Er führte mich

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ben dazu: schwarze Galle gesagt. Hilde ich will Depression aus mir heraus kotzen.« Sie hält sich die Hand vor den Mund. Steht von der Bettkante auf und geht wieder zum Kosmetiktisch hinüber. Stemmt sich mit den Armen gegen den Tisch und gibt vor sich zu übergeben – äfft mich nach. »Irene!«, schreie ich durch das Schwimmbecken, dass sie leicht aufschreckt, aber sich nicht wahrhaftig erschreckt. »Hören Sie mir zu! Es geht darum, dass Sie den Moment durchleben müssen, als Sie die Kontrolle über Ihr Leben und Ihre inhärente Integrität verloren. Dieses Moment zu Reinszenieren, immer wieder neu aufzuführen ist wie die Injektion. Immer wieder werden sie selbst zum Widersacher – weil es sich für einen Moment anfühlt, als würden Sie aus der Hilflosigkeit in Kontrolle übergehen. Das ist doch warum man sich ständig Schuldig fühlt.« Ich laufe zu ihr rüber, spreche dabei weiter: »deswegen tut es Ihnen auch gut, sich als den Schuldigen zu sehen. Denn Schuld heißt, sie ha-

denken Sie denn?« Erst keine Reaktion. Sie wirkt, als dachte sie: ich frage rhetorisch. Dann merkt sie, ich will tatsächlich Antwort und sie schüttelt sich nur und ihr Kopf fällt aus der Handstütze und sie hebt ihn wieder hinein. Bezieht wieder Stellung. Schiefer Kopf liegt in einer Schale aus Händen und Finger rahmen das Gesicht, dazu ein schiefes diesmal auch gequältes Lächeln. »Von Verlust Hilde, das muss Ihnen doch klar sein. Ich durchlebe immer wieder die Erfahrung von Verlust, weil es etwas lustvolles hat.« »Ahja stimmt wahrscheinlich. Tschuldigung kurz nicht aufgepasst.« Weil sich ihr Unterkiefer auf der Handschale nicht bewegen kann, hüpft ihr Kopf lustig, wenn sie spricht. »Wissen Sie Raskowa, das läuft so: Sie durchleben den Moment. Sie leben das Gefühl: unverfälschter Verlust. Den Moment, als Sie in endlose Hilflosigkeit abglitten und jede kleine Anstrengung eine unüberwindbare Hürde wurde. Manche nennen das Depression. Manche ha-

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ben jemand Anderes etwas getan, der Ihnen etwas getan hat. Sie haben Anteil daran, was Ihnen angetan wurde. So haben sie wenigstens retrospektiv Kontrolle und das schlimmste, furchtbarste und unheilvollste, verliert sein noch immer wirkenden Schrecken. Daher wollen die Depressiven sich auf der Anklagebank sitzen sehen.« Stehe hinter ihr. Traue mich nicht ihre Schulter zu berühren. Sie dreht sich schockartig um. »Sie und ich Lilienthal«, sagt sie und tippt mir auf die Brust. »Wir sind gar nicht so verschieden, wie Sie glauben«, und schiebt mich tippend durch das Schwimmbad. »Wir führen uns immer wieder an die Klippe«, und drängt mich an den Rand Schwimmbeckens. Ich schaue nach oben und sehe die Beckenkante, wie die Kante einer Schlucht. »Imaginieren den Sprung. Imaginieren den Flug. Imaginieren den Sturz. Und genieren uns dann doch.«, und als sie ›doch‹ sagt, zieht sie das ›ch‹ unendlich in die Länge, aber nicht kraftvoll, sondern wie ein Radio, dem man den Stecker gezogen hat und das für eine Sekunde noch weiter läuft und lässt von mir ab und fällt zurück und ein knatterndes und knarzendes ›ch‹ bewegt sich von Wand zu Wand durch das geflieste Viereck. Sie taumelt in die Mitte des Beckens. Steht mit den Unterschenkeln gegen die Kante des rostigen Klappbettes, lässt den Kopf hängen und: »doch noch bevor wir uns tatsächlich der Tiefe hingeben, treten wir einen Schritt zurück«, sagt sie und hebt den Kopf wieder. Starrt mich an. »Nehmen noch einen Schritt dazu. Eruieren, was da gerade passiert ist und sobald wir meinen: wir seien weit genug entfernt, da stürzen wir wieder auf die Klippe zu.« Ich stehe noch immer gegen die Wand und werden wie das Reich der Habsburger von den Reiterheeren Osmanen, von Hilde überrannt, die mir gefährlich nah steht. Dieses Wrack von Frau stinkt nach Benzin, Ruß und nasser Asche – hört nicht auf mich zu traktieren. »Benno, wir imaginieren den Sturz, treten zurück, genieren uns, eruieren, treten heran und so weiter.« Sie schließt die Augen und senkt den Kopf, als wäre sie fertig. Ich atme auf und löse mich von der Wand. Sie lässt sich wieder auf das Bett fallen. Und murmelt gesenkten Kopfes vor sich hin: »unser Tod, wäre nur Versehen.« Schüttelt den Kopf, schaut wieder in meine Richtung

und starrt mich an. »Wir martern uns… Sehen Sie‘s? Ich sagte wir martern uns und es geht ein Zucken und Leuchten durch Ihre Augen, weil allein das Wort Marter nach Erregung klingt und Verführung verspricht. Berthold Oppenheimer Lilienthal, der Masochismus ist ein Rätsel«, sagt sie und lässt sich vom Klappbett auf die nackten Fliesen fallen. »Wir lieben das Destruktive, weil wir einmal gelernt haben; dass Verlieren geiler ist, als gewinnen«, und rollt sich dabei im Schwimmbecken hin und her. Ich hatte mich inzwischen auf einen der Hocker gesetzt. »Wir kennen einander. Wir wissen, was der andere weiß.«, und sie läuft Kreise im Becken um mich herum, der ich auf dem Hocker sitze. Ich musste Boden gewinnen. Knirschte mit den Zähnen. Nahm mich zusammen und: »wenn Sullivan wusste, dass die Huren vorhatten, das Bordell anzuzünden. Weshalb hat er es denn nicht verhindert?« Schweigen. Sekundenlanges Schweigen. Indes Hilde Irene Raskowa noch manisch, wie angestochen Kreise um mich zieht. Prompt vor mir stehen bleibt. Mir ihre Hüfte ins Gesicht drückt, ich ihr Geschlecht riechen kann und sie mir in die Augen schaut. Noch immer Schweigen. Dann als mir die Stille am wenigsten erträglich scheint: »er hat es verhindert. Herr Lilienthal, was denken Sie denn was wir hier machen? « »Nun anscheinend ist ihm das nicht gelungen«, suche ich sie zu entwaffen. »Er hatte verhindert, dass die Huren, ich an ihrer Spitze, das Feuer legen,« spricht sie hinter mich laufend. Mein Blick folgt ihr, bis ich den Kopf nicht weiter drehen kann. »Wer hat dann das Feuer gelegt, wenn nicht ihr?«, spreche ich geradeaus, als wären mir Fesseln angelegt. »Ich sagte ja, ich erkenne unsereins«, flüstert Hilde bedächtig, schweren Atems in mein Ohr und legte ihre Hände von Hinten auf meinen Schulter. »Hilde, ich verstehe nicht. Wie meinen Sie das?« nd, was soll ich Ihnen sagen mein lieber Leonard Andorra Atanassov, jetzt wo wir beinahe am Ende der kleinen Geschichte vom verbrannten Puff angekommen sind, Hilde hatte Recht: ich spüre mich erst, wenn ich ein Kreuz

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auf den Schultern trage und Blut aus meinen Stigmata tropft und hier sehe ich die Gefahr und Heilserwartung, Herr Atanassov, hier sehe die Warnung, denn die Dosis der kurzlebigen destruktiven Reize muss stetig erhöht werden. Sprechen wir hier von eindeutigen Symptomen? Kann man das klassifizieren? Man reiche mir ein Manual und ich interveniere selbst. Hilde hatte hierzu zweierlei Punkte exakt ausgesprochen, die meine innersten Motive aufdeckten.

rentes Selbstbild, mehr als bemüht ist. Passen Sie auf, dass Sie Ihre Geister besänftigen können und sie sich nicht manifestieren und chronifizieren. Es ist schon komisch, merken Sie was? Ich habe es schon wieder getan! Schon wieder verstärkt und ein Selbstbild erhalten. Am besten Sie Herr Atanassov ignorieren das alles und hoffen, dass es von alleine weggeht.

Hilde hatte hierzu zweierlei Punkte exakt ausgesprochen, die meine innersten Motive aufdeckten.

Ich liebe neurotische Frauen und ich kann es ihnen von der Stirn ablesen. Es kostet mich keine drei Sekunden, da weiß ich schon: bei unserem dritten Date, wirst du noch lachen und sagen, ich muss die Rechnung übernehmen und wenn ich es fortan nicht immer tue, ich weiß es!, dann wirst du schreien, keifen und im Sturm das Restaurant verlassen. Weil es für dich Trennung bedeutet. Du schwaches Wesen. Es ist unterhaltsam. Ich meine nicht die Restaurantszene. Unterhaltsam bist du und alles andere interessiert mich nicht. Only you, can make this world seem right. Only you, can make the darkness bright. Only you and you alone. Lolita light of my life, fire of my loins. My sin, my soul. Wie, wenn ich dir sage: wie sehr ich dich mag, dann zieht sich nicht alles in dir zusammen, dann flottieren deine Ängste nicht frei? Und du wirst auch nicht katatonisch, wenn ich dich berühre?Verzeih, das musst du verstehen, dann bin ich nicht der Richtige. It ain't me babe. Eine Sache, die ich wohl meiner neurotischen Mutter verdanke. Ob ich wohl irgendwann erwachsen werde? Baby, baby come on light my fire. Die Hölle sind nicht die anderen, die Hölle sind du und ich.

Einerseits hatte ich ein Leben geführt, in dem ich mir sagte: was ich hier tue, das wird mir einmal nützlich sein. Ich lebte wie auf Pump. Meine Kredite, kamen aus der Zukunft – aus einem künftigen und besseren Leben. Das ist eine Prüfung, irgendwann werde ich erwachsen, zurückschauen und denken, wie knapp ich das überstanden habe. Und andererseits begab ich mich vorsätzlich in Situationen des Unglücks und im Leiden und der daraus entstehenden Wut dort vermeintlich heraus zu wollen, genoss ich es. Mein Name sei Sisyphos. Gebt mir einen Stein. Mein Name sei Prometheus. Schickt mir einen Adler. Das waren, zuerst Überlebensmechanismen, Abwehrstrategien, die mich sicherlich schützten und bewahrten. Wie das so ist, mit diesen Überlebensstrategien ist es doch einerlei, zuerst da nützen sie einem. Da retten sie einen tatsächlich die Haut und dann übernehmen sie Stück für Stück zuerst hie und da die Kontrolle und plötzlich, lässt sich nicht mehr unterscheiden, welches Verhalten, denn nun zum Überleben und Überdauern eines bestimmten Zustandes gedacht war und welches Verhalten tatsächlich zur eigenen Persönlichkeit gehört. Alles was Sie längere Zeit tun, wird von Ihrem Körper und Geist assimiliert, der um ein kohä-

»Das Absurde«, reißt mich Hildes Stimme aus meiner Gedanken-Ulysses. »Die Fragen nach der Existenz mein kleiner Feuerteufel, welche Sie gerade für sich so wärmsten entdeckt haben – es löst sich in Beziehung auf. Trauma heben sich in Integration auf«, sagt sie hinter mir und tätschelt meinen Kopf. »Ich sage Ihnen, jeder muss seine Rolle erfüllen. Jeder muss machen, was zu ihm passt«, und stellt sich mir zur Seite, blickt nach vorn, gen Klappbett und spricht im

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Visionärston. »Nicht um zu sich selbst zu finden, Lilienthal. Das muss niemand und es kann auch niemand zu sich selbst finden, was er finden muss, sind die Beziehungen und Aufgaben, in denen er aufgeht, in denen er wirksam ist und in denen er sich verwirklichen kann«, sie pausiert und ich frage mich, wozu dieses Seminar in humanistischer Psychologie? Komme auf keine eine Antwort. Höre nur Hilde sprechen: »Wissen Sie was ich meine? Und Beziehungen sind das Netz, welches sich zwischen Konflikt und Herausforderung spannt. Ja alles ist Beziehung ob Lieb- oder Freundschaften und ihr Beruf und ihre Tätigkeiten, alles ergibt sich in der Beziehung und alles endet in der Beziehung. Sich schämen, heißt sich vorsorglich abwenden, weil andere sich abwenden. Der Mensch, der seine natürlichen sozialen Wünsche leugnet, dieser Mensch ist ein Lügner. Berthold Oppenheimer Lilienthal er ist ein Lügner. Verstehen Sie das?«, sie beißt die Zähne zusammen und drückt ihre Finger in meine Schulter. Jetzt kniet sie sich vor mich und spricht: »es mag eine Enttäuschung sein, allerdings: was den Menschen betrifft, ergibt sich der Sinn jeglicher seiner Beschäftigungen und Tätigkeiten, erst im Lichte seiner Beziehungen und Bindungen. Oder derer, die er sich erhofft…« »Was wollen Sie von mir?«, sprach ich irritert und knirschte mit den Zähnen, wie sie zuvor. Es ist komisch, oft habe ich das Gefühl, wenn es gefährlich wird, schalten sich aktive und brisante Anteile meines Bewusstsein vorsätzlich ab und ich werde blind und ich werde taub und ich werde stumm und weder rieche noch höre ich. Was sich im Nachhinein in etwa so anfühlt, als wäre ich komatös gewesen. Das ist eine Art Wegtreten und wieder-aufwachen. Ohne, dass der Andere aber etwas davon bemerkte. Das ist allgemein immer sehr verwirrend für mich, da ich an Gespräche anknüpfen muss, bei denen ich nicht weiß, wie sie entweder allgemein zu Stande gekommen sind oder wie sie an diesen oder jenen Ausgangspunkt gelangen konnten. So machte es mich also sehr konfus, als Hilde mich voller Wut, Inbrunst und Zorn anschrie: »ich will Sie zur Verantwortung ziehen!« Inzwischen vor mir stand. Ich vom Hocker gefallen war und auf Füßen, Arsch und Händen saß. »Welche Verantwortung?«, rief ich aus meiner Gebärenden-Position.

»Stellen Sie sich!«, schrie sie. »Was habe ich denn getan?«, rufe ich zurück. Verliere den Halt. Liege auf dem Rücken. Starre nach oben. Mein Blick flüchtet aus dem Schwimmbecken. Findet sich in der weißen Decke. Landet im Augenwinkel an der Beckenleiter. Anton scheiße wo bist du? »Sie waren es. Sie haben unser Bordell in Brand gelegt.« ch wurde still. Schuld, Schande und Scham, standen wie eingeritzt in den Seitenfliesen des stillgelegten Schwimmbeckens. »Stellen Sie sich. Sie haben uns alle in den Tod geschickt.« »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Ich werde all Ihr Material verbrennen. Sie wollen aus Ihrem Verbrechen, Gewinn schöpfen und eine Dokumentation machen? Ich werde alles, wie Sie uns, abfackeln. Freuen Sie sich schon auf den Geruch.« »Und dann?« »Wenn Sie sich nicht stellen, werde ich es tun.« »Schauen Sie sich doch einmal an, wer wird Ihnen glauben?« Hilde wie sie dort zusammen gekauert, auf mich gelauert hatte, hörte nicht auf mich zu beschuldigen. Ich hatte mit dem Feuer natürlich nichts zu tun. Das musste eine mini-Psychose sein, irgendeine Form von projiziertem Beziehungswahn. »Sie wissen, es waren die Huren selbst.« »Und Lilienthal, ich weiß, Sie wollten mit im Feuer sterben. Nachdem ich Sie abgewiesen hatte, was haben Sie dann gemacht?« Irre Augen geifern gierig, wie Medusas Schlangen und ich drohe zu Stein zu werden, wie Lot's Frau. »Ich weiß es nicht. Ich bin Nachhause, denke ich.« »Und bevor Sie Nachhause gegangen sind, was haben Sie gemacht?« »Ich weiß es nicht, sagte ich doch schon«, mimte ich den Unschuldigen. Ich weiß es aber tatsächlich nicht. »Ich weiß was Sie gemacht haben.« »Das da wäre?« »Ich weiß nicht wie, aber irgendwie sind Sie in das Bordell eingedrungen.« »Wie soll ich das denn gemacht haben?«

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»Das weiß ich eben nicht. Vielleicht hatten Sie eine Verbündete«, murmelndes Schweigen, sie überlegte. »Reden Sie, wer von meinen Frauen half Ihnen?« »Ich weiß es nicht.« »War es Deborah? Babette? Eine von denen? Woher kannten Sie die? War das um Einlass bitte nur eine Manöver?« »Ich sagte doch, ich erwachte in meiner Wohnung auf meinem Küchenfensterbrett hatte Kopfschmerzen und das war's.« »Ich glaube, Sie wollen sich nicht erinnern.« »Und ich glaube, Sie suchen krampfhaft einen Schuldigen.« »Wir waren doch glücklich hier. Nicht dass wir dieses Leben genossen, aber es war besser, als alles was wir vorher hatten.« »Was wenn es Sullivan selbst was? Was wenn euer Retter gleichzeitig euer größter Widersacher ist? Was wenn du auf den Falschen setzt?« »Was wenn. Was wenn. Was wenn. Was wenn Sie Lilienthal, nach Ihrer Abweisung, zuerst dachten Sie gehen in Ihre Wohnung. Was wenn

ch entschied mich, wieder nach oben zu gehen. Raffte mich auf. Schaute zu Hilde. Hilde mit ihrem Kopfer, der aussah, als hätte sie ihn in einen Auspuff gesteckt. Schüttelte mich, hüstelte und streckte mich – Stereotypen. Gehe zur Leiter. Fasse an die Sprossen. Rost an meinen Hän-

Sie da auf die Idee gekommen sind, die Vergitterung der Kellerfenster ab zu reißen, die Fenster einzuschlagen und ihren Körper zwischen Glasscherben und Holzrahmen zu schieben, in den Keller zu stürzen, sich den Dreck von der Landung ab zu putzen, die ahnungslose Elfriede zu übermannen und den Ofen zu überfeueren.« Ich der Feuerteufel, schon eine verführerische und verlockende Vorstellung. Wie ich ja da wutentbrannt meinem Zorn Ausdruck verschaffe. Mein Gesicht rußverschmiert, Blasen an den Händen. Es riecht nach den schmelzenden Kacheln des Ofens. Auf meine Zunge legt sich ein betäubender Gestank von verbrannter Kohle. »Lilienthal, Sie wollten aber nicht allein sterben. Sie wollten unsere Gesichter sehen. Sie wollten Ihre Peiniger leiden sehen. Der Keller brannte lichterloh. Sie sind wieder aus dem Keller durch das Fenster geklettert und haben die Vergitterung angebracht. Elfriede erwachte, war noch benommen, bemerkte den Ernst der Lage und fing ekstatisch zu tanzen an – sie wusste, sie würde sterben und Sie wollten durch die Tür stürmen, wo Sie gerade erst abgewiesen worden waren.

de. Fühlt sich rau an, wie Hühnerhaut. Ich habe Hunger. Springe an die Leiter und als letztes höre ich von der verrückt gewordenen Hilde Irene Raskowa: »ich will mich noch einmal deutlich ausdrücken, Herr Berthold Oppenheimer Lilienthal, den Tod Überleben Sie nicht. Diesen Satz müssen Sie sich unter die Haut ins Fleisch schreiben. Ihren Tod überleben Sie nicht.« Missverstehen Sie, den Freitod? Ich fasste mir an meinen Hinterkopf und erinnerte mich an einen Schmerz, den ich auf meiner Küchenfensterbank spürte und meine steif gefrorene Hose, als hätte ich stundenlang im Schnee gelegen. Auch wenn ich mich langsam an Hilde gewöhnt hatte. Uns beide schon Austern essend und Champagner trinkend im Park sah oder wir den selben Tätigkeiten in einem Ruderboot nach gingen. Ihre Beine ins Wasser baumelten. Ich Pfeife rauchend etwas erzähle und Hilde mir ganz herzlich beipflichtet, wir beide uns überaus amüsieren und ein echt schöner Tag zu ende geht. Oder wie wir beide in meiner Wohnung waren. Alle Stunde miteinander schliefen, sie da-

Natürlich haben Sie dabei gesoffen. Natürlich waren Sie betrunken. Aber Sie waren so besoffen, dass Sie, als unser Bordell schon lichterloh brannte – es dauert sicher eine Weile, in Ihrem Zustand durch das Fenster zu klettern. Als aus den Fenstern Flammen, laute Stimmen und Schreie schlugen. Doch bevor Sie in Ihrem Werk untergehen konnten, rutschten Sie im Schnee aus, fielen hinten über und wurden bewusstlos. Was haben Sie da gedacht, als Sie aufwachten? Nichts wie weg? Sind Sie schnell geflüchtet und dachten Sie später, es wäre wohl das Beste, an den Ort zurück zu kehren?« »Mutmaßung sind das. Niemand wird auf Sie hören«, wozu auch auf diese leeren Behauptungen eingehen?

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nach jeweils ein Schläfchen hielt. Ich zwischen Schlaf- und Arbeitszimmer hin und her taumelte. Mich an meinen Schreibtisch setzte und sobald ich entweder genug hatte oder mich nicht mehr konzentrieren konnte, legte ich mich dazu. Kroch unter die Bettdeckte und leckte, von mir aus, ihr Geschlecht aus und wir schliefen erneut miteinander. Was früher mal Authentizität war, heißt heute Variabilität.

vor. Es kam mir erbärmlich vor, dass sich ein Mensch immer wieder daran erinnern muss. Es war ein ganzes Panoptikum an schlechten Phrasen und Sentenzen, organisiert und sortiert wie Insektensammlungen. Ob es diesen Raum tatsächlich gibt, weiß ich nicht. indbergh wartete bereits oben mit dem Filmmaterial, das er aus der Gartenlaube gerettet hatte, bevor Raskowa, es vernichten konnte. Dazu einen Stapel an Dokumenten, welchen er in protokollarischer Einzelarbeit anfertigt hatte. Dieser treudoofe Assistent. Je mehr der macht, desto rücksichtsloser werde ich. »Was hat so lange gedauert?«, fragte er – ich gab keine Antwort. »Geht es Ihnen gut?« Ich schwieg. »Was ist mit Raskowa?« Und hielt mich bedeckt. Wir fanden den Puffbesitzer, das alte Schwein, schwitzend, als würde er zum Schlachthaus gebracht. Er wurde in Handschellen an uns vorbei geführt. Man hat in den Resten des Bordells Stoffe gefunden. Hinweise auf Brandstiftung. Die Polizei verdächtigte in aller erster Linie den Besitzer. Versicherungsbetrug. Er wehrte sich. Er sah zu uns. Hatte Schaum vorm Mund. Sah aus, wie ein tollwütiges Tier. »Sie waren es! Sie Oppenheimer. Lilienthal Sie waren es! Stellen Sie sich!«

n Sullivans Büro waren wir nicht. Ich weiß auch nicht ob es so etwas wie ein Büro des Puffleiters unten beim Schwimmbad tatsächlich gab. Ich bin ein Mensch, der in Bildern denkt. In meinem Kopf gibt es eine Art eigene und inhärente Symboltheorie und Zeichensprache, die nach einer Art autokratischen Anreicherung funktioniert. Ich denke an Sullivans Büro und sehe einen Raum, verborgen irgendwo inmitten all der Bordellreste, zwischen Seezimmer mit Kapitänskajüte, orientalischem Zimmer und chinesischem Zimmer. Es riecht nach verdorbenen zu Essig gewordenen Wein, ausgedrückten Zigaretten und in Gardinen festgesetzten Rauch. Ich sehe keinen klassischen Schreibtisch, mehr ein Küchentisch inmitten des Raumes, es steht daran aber nur ein Stuhl, an dieser Tafel von einsamen Tisch. Ich setze mich an den Stuhl. Teppich liegt träge unter meinen Füßen. Was tun meine Hände? Sie liegen nicht auf dem Tisch, denn die Oberfläche ist klebrig und Berge von vergilbten Dokumenten verhindern jede bequeme Haltung. Ich fühle meine Finger trommeln auf meinen Oberschenkel. Und meine Augen wandern durch das Zimmer und ich sehe... Das ganze Zimmer war von oben bis unten, von rechts nach links, bis an die Decke, kein Stück Wand war frei – mit Din A4 Papieren beklebt, auf denen selbst geschriebene und ausgedruckte Kurznachrichten standen. Nur weil andere Menschen, dich nicht schätzen, heißt das nicht: du bist nichts wert. Überall klebten diese Zettel. Das Zimmer war tapeziert mit formelartigen Phrasen, wie Gebete oder Mantra. Glücklich ist der, wer nicht fragt, ob er glücklich ist. Ich sehe mich am Küchentisch sitzen, suche zu arbeiten – diesen riesigen Stapel von Arbeit zu bewältigen und alles was ich sehe ist: Erfolg ist, zu tun, was du willst. Glück ist zu wollen, was du tust. Und es kam mir erbärmlich

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Manche der Tonnen hatten Löcher und Glut rieselte wie Schnee aus dem Blechfass und wird vom Schnee, wie es aus den porösen Tonnen rieselt, gelöscht. Anton und ich stehen skeptisch in Trenchcoats und Hüten, wie Ungläubige im Gottesdienst und beobachteten die Szene. »Meine Damen und Herren, schauen Sie her. Bleiben Sie stehen«, die Menge und einige Polizisten hielten inne. Wir standen vor dem Bordell. Niemand schaute zu uns. Einige der Leute hatten etwas zu essen oder heiße Getränke, die sie an den Marktständen gekauft hatten, die vor dem Bordell aufgebaut waren. Niemand interessierte sich für das Bordell. Wo eine Menschenansammlung ist, gibt es auch jemanden, der etwas zu verkaufen hat – gibt es einen Hampelmann, der was zeigen will. Menschen sind Affen mit weniger Haaren. Da kommt ein Affe und kann auf einem Bein stehen und zehn andere Affen stehen drum herum und klatschen und johlen und pfeifen. Da kommt aus der Menge ein anderer Affe und steht auf vier Zehen. Man will vom einbeinigen Affen nichts mehr wissen und vom vier-zehigen ebenso wenig, denn es gibt einen Affen, der kann auf dem kleinen Zeh stehen und er hat ein Schild um und auf dem steht Mister Rosa und immer wenn Rosa auf dem Zeh steht, johlt er keifend, »ROSA! ROSA! ROSA!« Und letztlich geht es nur darum, etwas zu machen, wo die anderen denken, sie können das nicht und es nicht der tanzende Affe um den es geht, sondern um die Affen, die darum stehen und um ihrer Selbstwillen applaudieren. Weil der Affe ein Gefühl in ihnen erzeugt hat. Kunst ist nichts anderes als Gefühls-Dienstleisung, weil einer etwas kann, was der andere nicht kann, daher aus Rarität in der Lage ist, etwas an zu schieben. Was ist diese haarlose Spezies eine Enttäuschung. Und dann die Verfehlungen, weil der etwas kann, muss er auch bestimmte geschätzte Merkmale erfüllen. Was es auch sei: Geist, Moral, Schönheit oder Bindung. Genau das selbe, wie das Menschen oft Wissen mit Erfahrung verwechseln oder äu-

Rauchsäulen

Anton und ich wir waren nicht befreundet, daher machte mir sein Tod nicht viel aus. Zumindest waren wir Freunde aus Motiv.

anchmal glaube ich die Katastrophe hat sich erst Gestern ereignet. Erst Gestern begann meine Krise. Nein und nochmals nein. Nicht wie es lapidar heißt, dass es einem wie Gestern vorkommt. Nein das meine ich nicht. Es ist mir, als sei mein Geist tatsächlich zu einem Stillstand gekommen und es ist, als wäre seitdem, nicht ein Tag vergangen. Daher, will ich sagen, es ist mir, als wäre es Heute morgen gewesen und der Tag, will nicht vorüber gehen – wie ich müde bin und nicht schaffen und schlafen kann. Verstehen Sie? Stellen Sie sich das vor. Sie müssen es sich vorstellen. Atanassov werfen Sie ihre Fantasie an, verdammt nochmal. Heute morgen wurde Ihre Frau erschossen. Sie standen daneben. Man hat Sie verschont. Keine Ahnung warum. Das ist eine Ewigkeit her, aber sie kriegen es nicht auf die Reihe. Warum erschossen? Was weiß ich denn. Vielleicht weil Ihre Frau eine Hure ist. Leonard deine Frau ist eine Hure. Es ist verrückt. Sie wissen ja, die Zeit vergeht und heilt alle Wunden. Das stimmt auch. Die Zeit heilt alle Wunden. Wenn sie vergeht ist sie wie Medizin. Meine Zeit vergeht nicht. Wehe mir, dessen Zeit nicht vergeht. Damit verlassen Anton und ich das Haus. Es war Abend, als wir aus dem Bordell kamen. Zu meiner Verwunderung und meinem Entsetzen gab es bereits Geschäfte, Verkaufsstände und die Ansammlung von Menschen hatte sich verzehnfacht. Es schneite noch immer und es war kalt, deswegen gab es Tonnenfeuer, das sind Lagerfeuer in Blechtonnen oder Metallfässern.

D

amit verlassen Anton und ich das Bordell.

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»Niescht allee aurf einmal biette. Sie wollen wohl ihre Schäfchn trocken halten, wie man das bei uhns in Froankreich sagt. Verehrte Damehn und Hhrrn, eine aHnd wäscht die andere – donnant, donnant. Wer ist bereit einmal für misch die Zeit zu stoppen?«, fragte er in die Runde starrender Menschen und ich meine zu Anton: »der denkt es wäre irgendwie witzig, wenn er französische Idiome benutzt und sie in einem Zug übersetzt. Bildungsauftrag. Scheiß-Bildungsauftrag.« »Die er falsch ausspricht«, ergänzt Anton. »Sie Mademoiselle, junges Fräulein?«, und zeigt auf eine ältere Frau. »Fuantastisch et formidable betreten Sie die Bühne. Sehen Sie sich diese Frau an«, sagt

ßeres Verhalten mit innerem Gefühl. Sind das kluge Fakten oder bin ich schlicht Neid erfüllt? Wer ist der Mensch, der sich entkleiden, neu bekleiden, brüskieren und echauffieren, hofieren und malträtieren muss in der Aufmerksamkeit der anderen? »Monsieur et Mademoiselle, Ladies and Gentlemen schauen Sie her.« Ein kleiner Mann steht in der Mitte der Menge. Aus einem Koffer holt er einen vierfach gefalteten Klapptisch. »Circa einen Meter fünfzig breit und zwei bis drei lang«, sage ich zu Lindbergh. Habe meinen Hut abgenommen und putze die Krempe. Und Nihad antwortet: » Möchtegern Enfant terrible mit aufgeklebtem Schnauzbart und schief sitzendem Barett.« »Isch brauché eine' Freiwillischeeh. Nhur eine Freiwillische. Monsieur et Mademoiselle wer meldet szich freiwillisch?«, ruft er auf dem Platz in schlecht nachgemachtem französischem Akzent.

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er den Dialekt vergessend und erinnert sich wieder. »Das iest keine Frau, duas ist eine Femme fatale der haute Couture«, und packt die Frau am Handgelenk und streckt die Hand in die Höhe, wie zur Siegerehrung. »Meine Damehn und Hhrrn, isch werde niescht auf eine' Seil laufehn und isch werde die Seil nicht zwischen zwei Hrochhäuser spannen. Isch werde Ihnen keine neuen Menschen bringen und isch werde ihne auch nieschts berichten, wie Sie eine Überhmensch werden. Abehr Sie dürfen hiehr alle Ihre Senf, die Sie ahben dazu geben, wenn Sie möschten«, sagt er und holt aus dem Koffer, dem er zuvor den Tisch entnahm, eine lange schwere Kette aus Eisen. »Ahlso liebe Kindher das dürft iehhr nischt nachmachehn und nun meine Damen uhhhn Ehrren«, und wechselt in schmerzende Kopfstimme. »Sehen Sie die Khetten? Wher sich nischt bewegen kuahn, der müss still-ahlten. Isch sitze iher, wie auf brennende Kohlen. Etre sur des charbons ardents. Abher nün worüm geht es? Isch werde mit Ihnen eine sehr gefährlische Wette schließen«, und stampft dabei auf den Tisch, der daraufhin wackelt, beinahe umkippt und die Frau Assistentin in die Arme des Artisten fällt. »Uhh lala, so is das mit die Damen – sie lieben die Gefahr«, sagt er fauchend und reißt seine Augen, dass der aufgeklebte Schnauzer verrutscht. »Also mheine Chérie, isch bitte Sie legen Sie mir nhun die Ketten an. Und seien Sie niecht zu zimperlüsch mit mhir.« Sie legt ihm die Ketten an. Die Leute starren und fressen vor sich hin. Er richtet seine Bartimitation. »Isch sage Ihnen, isch brauche nür drei Minüten und isch bin befreite. Trois minutes, glauben Sie mir. Drei Minüten.«, und er zeigte mit drei Fingern, ohne Daumen, die Zahl drei und die Augen der Leute folgen seinen Fingern, als wären sie hypnotisiert. »Innerahlb von drei Minuten wette isch, bin isch aus die Ketten geschlüpft, wie eine jünge Küken aus le œuf de poule.« Anton rauchte und hielt mit der anderen unser Equipment. Ich putzte verdrossen meine Hutkrempe und mein Mantel schlackerte im kühlen Wind. Der Mann war inzwischen vollständig in Ketten gelegt. Legte sich auf den Boden und rollte über den Tisch hin und her. Dabei rasselte sein Kettenanzug.

»Verflixt und zugenäht, isch fühle misch wie eine amerikanüsche Geheimagent in die Höhle eines Bösewischts. Abher keine Sorge, bevor man misch exkütieren koann, ahbe isch mir schon eine hehiße Bratwürst und eine sühße vin chaud, von Ihre Moneten gekauft, meine Dhamen und Hhrrn. Ahber ruhisch Blut, so schnell schießähn die Preußün nischt«, und schlägt sich auf den Bauch und lacht und die Leute lachten auch, alle lachten. Es war ein lustiger Tag, voller Lachanfälle. »Madame Madame, Sie thun dher Welt der Ünterahltung eine guanz incroyable Dienst«, sprach er laut flüsternd zu seiner Assistentin. »Thün Sie mir biette noch eine letzte eine Gefhallen?«, fragt er sie angrinsend auf dem Boden in Ketten liegend. »Jeden Monsieur, jeden.« »Dhann verraten Sie uns noch Ihren Nhamen meine ühbsche?« »Margarita.« »Ohh, whuas für eine wunderbare Nuahme Sie doch ahben und isch bitte Sie nennün Sie misch, whenn es Ihnen nischts ausmacht, bitte Meister.« »Sehr wohl mein Meister«, spricht Margarita. »Barvö bravä, isch möschte dafür eine große Applause!« Die Zuschauer klatschen, johlen und jubeln und der Mann in Ketten schüttelt sich. Kettenrasseln. »Also ghüt. Nün wird es ehrnst. Meine liehbste Margarita, Sie müssen mihr nhün jede Minühte uhansagen. Isch brauche viele viele Drück. Kommen Sie schön, Sie schäne Margarita und mein ohchverehrtes Püblikhum buhen Sie mich aus. Werfen sie mit Eier und Thömaten und dahnn zählen sie: cinquante… quarante… trente… vingt… dix… neuf… huit… sept… Machen sie miet!«, rief der gefesselte und die Menge rief: »Zehn… Neun… Acht… Sieben…«, Anton und ich schüttelten synchron den Kopf. Ich setzte meinen Hut auf und wir verließen das Spekatel. Rahel sah ich übrigens nicht. ie wir im Auto sitzen, Anton den Schlüssel im Zündschloss umdreht, der Motor zu schnaufen beginnt und wir uns langsam bewegen, entfernen wir uns aus dem Tal, in dem der verbrannte Puff liegt. Noch immer sprießen Rauchsäulen, wie Pilze aus dem Tatort und


drumherum ein: Jahresmarkt mit Zirkusartisten, Affen und Menschen. Wieder kann ich mich dem Eindruck nicht erwehren: ich hatte das Ganze schon einmal erlebt. Es wurde Nacht, wir glitten durch die nächtliche Stadt. Lichtkegel von Straßenlaternen erhellten blitzartigen den Fahrzeuginnenraum und verschwanden, wie sie gekommen waren. Fühlt sich an als wäre die Welt tatsächlich rund. Es war, als wären die Häuser, allesamt, jedes für sich, als wären sie Organe, an weißen – gerade nicht erkennbaren Schnüren von Angelsehen oder Arterien gezogen. Zugänglich und fragmentiert. Wogen sanft schwebend, aber nicht schaukelnd auf flüssigen Dünen. Schleichender Wind, bläst redundant durch ruhelose Gassen, der an Seilen von Muskelsehnen gezogenen, im Wiegenlied der gewogenen Stadt, wie durch unabhängige Artefakte eines zersplitterten Geistes. Damit ist unsere Geschichte über den verbrannten Puff ist zu Ende. Seitdem ich kotzend die Treppen des Hamam hinunter stürzte und kroch, bin ich zu einem menschlichen Gerüst, ohne Affektregulation geworden, die war vorab wohl auch nicht besonders ausgeprägt. Heute sage ich, was geblieben ist, ist ein stummer Diener eines wahnsinnigen Sultans. Als mein Geist sich nach Psychose sehnte, entschied ich, ihm Feindseligkeit statt Verlust anzubieten.

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Rückzug VI

Liebe heißt, dass ich mich hingebe und ergebe. Falle und nichts erlebe. Mich nicht erhebe und liegen darf – aufgeweckt bin. Lieben heißt, ich muss und will leiden. Wenn ich nicht leide, heißt Liebe Hass und sie wissen ja, wie sehr ich unter dem Hass leide. Lieben heißt, ich nehme einen fremden weiblichen Menschen, ziehe ihrem Leben seine Fäden, und stopfe Löcher unbändiger Leere, bis die Fäden, das versteht sich von selbst, bis deren Spule aufgebracht und aufgewiegelt und übetragen ist und der fremde weibliche Mensch leer ist, wie ich leer bin und ich mir neuen Stoff zum stopfen, zum lieben leiden und leidenschaftlich hassen suchen muss. Herr, Herr hörst du mich? Herr, ich schwöre auf deinen Namen, den Hass, welchen du in mich verpflanzt hast, ich verspreche, ich werde ihn nach dir leben.

ieder träumte ich den Gesichts-traum. Wieder wurde ich von einem unwesentlichen Geräusch geweckt, entdeckte mich eine Person umarmen, meine Finger auf ihrem Bauch liegen. Wieder lösten die Finger der Frau meine sie haltenden Hände. Wieder öffnete ich meine Augen, als die Frau sich umdrehte. Wieder hörte ich nicht ihre Stimme, sondern ein indifferentes Nuscheln und Brabbeln. Wieder erschrak ich, denn die Frau hatte kein Gesicht, dort wo ihr Fazial liegen sollte, war ein ebene Fläche. Dieses mal, jedoch wusste ich nicht, wer es war. Eine von beiden Noushin oder Rahel war es, und aus ihrem Brabbeln und Nuscheln dechiffrierte ich: du musst mich vergessen. Irritierend wie ich nicht weiß, um wen es sich handelt, da sie mir doch so wichtig sind. Vielleicht war es auch Babette oder Hilde, oder Deborah. Jedes Mal, wenn ich in das gesichtslose Gesicht schaute, vermutete ich darunter ein anderes Gesicht. Ich wachte auf und einmal mehr, war mir klar, wie irrelevant die spezielle Frau ist. Wie egal mir das Individuum ist; wie ich nur Suche anzuschließen. Wie ich mir einbildete die eine Frau wäre entscheidend, dabei suche ich nur Ausgleich für dieses Fehlen zu finden. Bindung – Heil der Gottlosen.

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Ich liege in der Badewanne. Ich mache mir inzwischen nicht mehr die Mühe, den Roten aus einem Glas, sondern ich trinke ihn direkt aus der Flasche und ich küsse den Hals, als wäre es der Hals eines Menschen.

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Das Badewannenwasser ist warm und auf ihm schwimmen Inseln von Badeschaum. Ich baue aus einem Handtuch eine Art Kissenkonstruktion und lege sie mir unter den Kopf. Nehme erneut einen tiefen Schluck aus der Flasche Roten, als würde es mich beschwichtigen wollen und sinke in das Badewannenwasser ein. Wissen Sie mein lieber Herr Andorra Atanassov, langsam habe ich den Roten satt. Sie sicherlich auch. Meine Nase ragt aus dem Badewasser hervor. Das liegt nicht an der Farbe oder an seinem Geschmack, dem kann ich weiß Gott, so einiges an Lebensfreude abgewinnen. Das ist es nicht. Ich habe das Gefühl, dass er mir gibt, satt. Er ist wie eine Freundin, die mir überdrüssig geworden ist. Ich weiß, sie hat mich mal glücklich und leichter gemacht – mal; das ist lange her. Dieses plumpe einfache, betäubende und berauschende Gefühl, wenn meine Mundschleimhaut beginnt den Saft zu absorbieren. Er sich meine Kehle hinunter stürzt. Von meiner Magenwand und meinem Darm aus in meine Blutbahnen diffundiert und langsam einen dichten Schleier darüber legt, was mal meine kognitiven Fähigkeiten waren. Ich mag es doch noch immer wie er in meine Adern schießt, die Wahrnehmung verändert und mich zum Menschen macht. Aber das Dumpfe, Dumme und das Schwere habe ich satt. Ich brauche irgendetwas anderes mein Lieber Herr Adressat. Irgendetwas, dass ich zu einer pulsierenden Lösung aufkoche und mir in die Arme jage. Ich meinen Bart streichele, ihn zwirbele und ins Badewasser sinke. Der Rote ist zu schwer oder ich zu schwach. Wissen Sie, ich brauche einen Stoff, der mich aufweckt und trotzdem dämpft. Ich brauche einen Stoff, der mich betäubt und meine Lenden mit Lebenskraft füllt. Ich brauche einen Stoff, der negiert und substituiert. Ich brauche einen Stoff, der diese Hülle, diesen Körper beibehält, aber diese Krankheit von Charakter heraus marantisch eliminiert. Wenn es diesen einen Stoff, der mir die mannigfaltigen Facetten meiner Abwehrmechanismen nicht zur selben Zeit in der Lage ist, zu befrieden und zu befeuern, dann müssen es eben verschiedene Stoffe sein, die opulent in das System meines Leibes und meiner Seele eindringen. Übrigens die Lösung für das Problem ist die beiden Protagonisten, überhaupt nicht zu trennen.

Wenn Ihnen einmal ein Trauma die Persönlichkeit in Fetzen gerissen hat, werden Sie sich nicht mit einer Sättigung alleine zufrieden geben können, wenn einer Ihrer Teile, seine Fresse hält, fängt der nächste schon zu krähen an. Es ist ganz einfach, Sie sind seelisch Polymorph? Dann werden Sie Polytoxikomane. Sie erlauben, dass ich aus der Wanne steige? Reichen Sie mir bitte meinen Bademantel. Vielen Dank. Es ist das Selbe, wie verschiedene Frauen zu treffen. Ich denke da an eine große rothaarige Existenzialistin, eine dunkelhäutige Psychoanalytikerin, eine blonde Epikureer und eine gesprächige Sophistin. Eine Schöne, mit der Sie Nabokov lesen, eine zauberhafte für Bulgakow, eine wie Roquentin, mit der Sie sich in Bibliotheken treffen. Eine verrückte Konstruktivistin, mit der sie verrückte Theater konstruieren und Steppenwölfe züchten, eine bodenständige Realistin, mit der sie über Wissenschaft, Randomisierung und Doubleblind-Studien disputieren und eine frühreife französische Deterministin. Sie brauchen eine Frau für Logik, eine für Logos, eine für Dialektik, eine für Epistemologie und eine für Ontologie. Eine für den Frühstücks Kaffee, eine für nächtliche Raufereien, eine die Ihrem Leibe gutes für seine Seele tut und eine die Ihrer Seele gutes für ihren Leib tut… Haben Sie mein Rasiermesser gesehen? Ich auch nicht. Dann eben unrasiert. Was ich seit einigen Tagen an mir beobachte: es gibt keinen Momente, in dem sich nicht ein

Vielleicht es ist manchmal auch besser, wenn ich das Rasiermesser nicht finde.

Fuß, Bein, Arm, Finger, Hände, Augen zittern, in dem sich nicht irgendetwas an diesem Körper bewegt. Das ist nicht neu. Neu ist, dass aus den unruhigen Bewegungen, dem unbeherrschten Zittern; dynamische Bewegungsabläufe geworden sind. Meine Füße reiben sich nervös aneinander, wirbeln Wasser auf, meine Hände waschen willkürlich unkoordiniert über mein Gesicht, gleiten dann auf meinen Rippen hinunter zu den Hüftknochen, als wollten sie das

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aufgewirbelte Wasser auffangen. Und ich selbst, befürchte ich, gleite langsam gemächlich leidenschaftlich, aber mit jedem Tag ein Stück weiter in Richtung Psycho-Pathologie. Das ist die Kür der Angstabfuhr, der dilettantischen und chronischen Angstabwehr. Manchmal ist es auch besser, wenn ich das Rasiermesser nicht finde. Jeder Schritt angetrieben von einer pathetischen Sinn-suche. Meine Blutbahnen schäumen über vor Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol, das meine beiden Stresssysteme, die verzweifelten Sucher und manische Himmelskörper, Phobos und Deimos meines Gehirns, jeden Tag, seit Jahren, in Strömen ausschütten. Mich nicht schlafen lässt und mein Immunsystem entkräftet, das mein Gesicht überzogen ist von Blasen und Entzündungen.

Geschichte im Bordell, habe ich das Filmen aufgegeben. Nie wieder eine Kamera in der Hand gehabt.

THESEUS

UND

DAS LABYRINTH

Mir ist es, als sei ich vor Monaten endlich der Zelle, in der ich für Jahre gefangen war – als sei ich vor Monaten endlich dieser Zelle entkommen. Und wie ich im Flur des Gefängnisses, gerade aus der Zelle entkommen stehe, die schöne frische Kerkerluft in meine Lunge ziehe, wie ich da so stehe, stelle ich fest, ja nach dem ersten Rush, dem Heraustreten aus der Zelle, dem Befreiungsakt. Endlich, endlich ist es vollbracht. Da stelle ich fest: ich bin zwar meiner Zelle entkom-

Ich habe übrigens letztens fast ungetragen Schuhe zum Einkaufen angehabt und Blasen bekommen. Die Blasen sind aufgeplatzt und siehe da, auch sie heilen nicht. Ich sitze auf dem Ottomanen im Schlafzimmer, zwischen zwei Palmen vor einem ZwergBaum und ziehe die Gardine zu. Diese Wohnung, dieser immer gleiche Hinterhof, die grauen Fenster, die selbe Straße, die Treppenstufen, meine Wohnungstür, der nasse Geruch von alten Steinen und der plastische Geruch von Rost, die breiten Fensterbänke, auf denen ich mich in den vergangenen Sommer sonnte – all das mag angenehm sein. Vielleicht ist es sogar schön. Ich weiß es nicht. Was ich, allerdings ganz festlich ausrufe, diese Wohnung und ihr Drumherum, sind das Inkubations-Zelt eines Wahnsinns, den ich schwerlich kontrollieren kann – eine reziproke Quarantäne. Was ich Ihnen noch versprochen hatte, meine werter Herr Leonard Andorra Atanassov hier eine weitere von meinen mythologischen Geschichten, so finden sie wenigstens ein wenig Verwendung und landen nicht, wie all das andere geschriebene Scheißzeug in einer meiner Schubladen. Ich hatte ja erwähnt, nach der

men, aber wie ich mich umsehe und in die von Zellentüren gesäumten Flure hinunter blicke – da Stelle ich fest: das Gefängnis ist nur eine weitere eben wesentlich größere Zelle. Das Labyrinth – diese Marter von Dauerlauf, Drangsal von Verirrung, Crux und Verrücktheit – es ist noch immer nicht durchlaufen. Noch immer drehe ich mich im Kreis. Noch immer sehe ich nichts, als Spiegelbilder. Noch immer stehe ich fest auf dem Boden, von dem ich mich nicht lösen will. Ariadne, Ariadne wie du sagtest, band ich den – deinen Faden fest an die Eingangspforte. Ariadne, Ariadne wie du sagtest, streckte ich Minotaurus, deinen Halbbruder nieder und in einem kreischenden Schrei ging er zu Boden und ich, der ich den Minotaurus besiegte, schritt weiter in die Dunkelheit des Labyrinthes und wischte Blut mir von der Stirn, dass auf mich spritzte, als das Ungetüm zu Boden ging. Den Faden in der Hand. Deinen Faden in der Hand. Doch ich muss dir gestehen, als ich das Tier beinahe vergessen hatte und mich schon aus dem Labyrinth entkommen wähnte, da stand es wieder vor mir und ich nahm die Klinge aus dem Schaft und sie machte Geräusche und ich sah sie aufblitzen und ich streckte ihn nieder

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und zog ihm die blitzende lärmende Klinge aus dem Leib. Ariadne, Ariadne, ich mordete deinen Halbbruder jahrelang. Jeden Tag erschien er mir und jeden Tag bohrte ich ihm die Klinge, die du mir gabst, in seine Brust und einen jeden Tag ging er gleich-(schwebend-)kreischend zu Boden. Ariadne, Ariadne, deinen Halbbruder. Ariadne, dein Fleisch und dein Blut, das sind Illusionen und Trugbilder, die mich hindern, blockieren und außer Kraft setzen sollen, zu dir zu gelangen. Bei dir zu sein. Mit dir zu sein. Jeden Tag tausende Trugbilder, du wärest nicht die richtige und ich sollte eine andere versuchen. Diese narzisstischen Triaden. Ich sollte nicht. Du willst nicht. Wir sind nicht. Jeden Tag verliere ich mich in einem Labyrinth und werde überfallen von feindlichen Bildern meines Geistes, die dich verfälschen, aber vor allem die dich zersetzen wollen. Ariadne, Ariadne den Faden, den ich an die Eingangspforte wickelte, dass ich in den Wirren des Labyrinthes nicht verloren ginge, deinen Faden. Ariadne, Ariadne, ich habe deinen roten Faden verloren. Es ist mir, als wäre jeder abgeschlossene Abschnitt meines Lebens, nur der Beginn eines neuen durst–, hunger– und schweißtreibenden Abteil des Labyrinthes. Dädalus, Dädalus, was erbautest du nur für ein Haus? Baust du es noch immer? Baust du jeden Tag neue Steine in die toten Flure? Baust du jeden Tag weiter an deinem Labyrinth? Mir ist, als überfalle der tote Minotaurus, die entsetzlichen, sprachlosen und hostilen Bilder meines Kopfes – mich noch immer in jeder neuen Episoden deines Irrgartens und eben meines Lebens. Mir ist als wäre dieses Wesen halb Stier und halb Mensch immer dort, wo ich dazwischen bin, wo ich raste, zaudere und verzage. Dädalus, Dä-

dalus, ich frage dich: was willst du denn noch ? Ariadne, Ariadne hast du nicht gesagt, du liebst mich? Liebste, Liebste bring mir deinen Faden zurück. Liebste, Liebste ich will deinen Halbbruder nicht mehr niederstrecken. Liebes ich brauche keine Bilder, die dich verklären und mich von dir distanzieren. Liebste, Liebste hörst du mich denn nicht? Noushin Noushin, wo bist du nur? Ich will nur bei dir sein. tanassov wenn Sie jetzt autobiografische Züge ahnen, dann Halleluja. Und dann habe ich hier noch eine Sammlung meiner Karteikarten. Sie merken, wie krampfhaft ich versuche, mein Material unterzubringen. Das merken Sie, nicht wahr? (Sie finden die Karten am Ende des Kapitels) Das ist das Los, des nicht publizierenden Schriftstellers. Schreiben, schreiben und nochmals schreiben. Reißen Sie sich zusammen und schreiben Sie, solange Ihnen die Inspiration nicht ausgeht, kein Problem. Schreiben Sie, schreiben Sie, als wäre der Stift, ihr verlängerter Herzschlag. Schreiben Sie um ihr Leben. Aber jeder Schreib-Rausch, jede noch so vor Bildern sprudelnde Quelle, literarischer Ergüsse, jede Muse schweigt irgendwann. Was dann? Als Brecht im Exil in Amerika war, bezeichnete er sich, als ein Literat für die Schublade. Er schrieb und schrieb, konnte nicht veröffentlichen, weil nicht auf Englisch sondern auf Deutsch, selbiges gilt wohl für Frisch, Zweig und andere. Ich brauch keine Exil, deswegen nenne ich mich Schubladenliterat. Wissen Sie Herr A, das hier, dieser Text ist vielleicht nicht gut, vielleicht war noch nie etwas gut, was ich gemacht habe, aber es war das beste was ich daraus machen konnte. Ein Schachtelsatz mit fünf Teilen und nicht ein Bild. Wissen sie Herr A., das hier ist vielleicht nicht gut, vielleicht


Farben im Karraghenmoos Schleimgrund nicht unter. Wenn die Alaune getränkten Papiere (am besten Bütten) getrocknet sind. Der Schleimgrund mindestens für fünf Tage ruhte. Kann er in einen Bottich gekippt werden, der in etwa fünf bis zehn Zentimeter größer, als das Papier sein sollte. Nachdem die Flüssigkeit sich beruhigt hat, kann begonnen werden mittels einer Pipette die Ochsengalle behandelte Gouache auf den Grund aufzutragen, wobei hiermit tropfen gemeint ist. Was dazu noch nützlich ist: ein Marmorierkamm, den man auch leicht selbst bauen kann. Man nehme ein Holzbrett und Nägel… Mithilfe des Kamms können gleichmäßige Muster erzeugt werden. Wenn man zufrieden ist mit dem Bild, kann das Papier in den Bottich gelegt werden… Machen Sie das mal – ist lustig! Ferner kenne ich einige Sorten Papier und entscheide je nach Text, welches mehr geeignet ist und welches überhaupt nicht in Frage kommt. Ich liebe Kontraste. Wenn ich derbe, ekelhafte und groteske Geschichte schreiben, dann bitte dünnes und feines Papier. Ich kann Bilder in Texte setzen und den Textumfluss optimieren. Ich kann Leporellos basteln und meine Schreibmaschine ist die erste Instanz, der ich früh morgens begegne und doch, nach jeder neu gelernten Fähigkeit, nach jeder Errungenschaft – jedes Mal, wenn ich den Zenit einer Tätigkeit erreiche, wartet Leere hinterm Berg. Nicht zu Veröffentlichen kommt mir mehr und mehr wie einer dieser meiner destruktiven Charakterzüge vor, mir brisante und der Welt von mir brisante, wohl auch gute Anteile, mitunter rettende Anteile zu verbergen. Es könnte alles so einfach sein – könnte… Ich neige zu sehr asymmetrischen Rettungsversuchen. Nämlich alles, was ich produziere in einen Text mit einzubauen, seien Sie nachsichtig mit mir! Und verzeihen mir die dilettantische Art Ihnen die Karteikarten zu präsentieren. So fähig, wie ich vielleicht sein mag, so ungeduldig bin ich leider. Mir fallen die Augen zu. Sie wissen ja, ich rede und spreche in das Diktiergerät und schreibe ab, wie mein eigener Sekretär, was ich da so von mir gab. Ob ich alles verwende, jedes gesprochene Wort? Darauf können Sie sich verlassen. Ich liege erschöpft und durste nach Tatendrang auf meinem langen und schmalen Ot-

war ich nie gut, wie ich zwar herzzerreißend an der Maschine sitze mir einen abschwitze, aber es ist das beste was ich daraus machen konnte, wie faules Obst ernten. Derselbe Satz um drei Teile erweitert und jetzt gespickt mit schlechten Bildern. Faules Obst. Also wenn ich faules Obst durch de Redaktion kriege, stimmt was nicht mit der Welt und dem Sein und Co. Doch einfach in die Schublade stecken, geht nicht. Mein Versuch war dann: Spezialisierung, wie immer. Was heißt war? Es ist mein Versuch. Einfach Texte tippen, ist zu wenig. Aus Schriftsteller Perspektive kann ich ihnen sagen ein gute Satz enthält mindestens ein Bild ein besserer enthält mindestens zwei gute Bilder, aber Achtung ab fünf Bildern wird es albern. Was ein gutes Bild ist, kann ich ihnen nicht sagen. Beispiele für schlechte Bilder finden sie zu hauf in diesem Brief. Auf einer Top-Ten von schlechten Bilder und miesen Bildern steht unangefochten: wild, stürmisch wie Feuer - mein Arsch wie Feuer. Danach kommt gleich tief wie ein Ozean und endlos wie der Horizont auf Platz zwei und drei. Auf Platz vier wird unter großen Beifall maligne, wie krebs, gewählt bravo nochmal und herzliches Beileid für die anderen nominierten miesen Bilder. Wir sind sicher sie bekommen ihre Chance. Ich kann Geschichten zu Büchern kleben. Ich kann Bücher binden und aus Pappkarton ein Cover basteln und es marmorieren. Marbling, Ebru, Suminagashi oder zu deutsch marmorieren, kann man langweilig und dilettantisch mit Kleister erledigen. Ich betätige mich gern der türkischen Technik dem Ebru. Dazu braucht man verschiedene Chemikalien, wie Alaune, was einmal zur Stillung von Raisierwunden verwendet wurde, Karraghenmoos ein Polysaccharid, dass vor allem als Emulgator in Ölspeisen eine Rolle spielt und destilliertes Wasser. Zunächst wird eine Lösung aus der Alaune hergestellt, die später zum imprägnieren der Papiere dienen wird. Der Schleimgrund, auf dem also die Farben schwimmen und nicht untergehen sollen, wird aus dem Karraghenmoos und Wasser hergestellt. Das ganze muss ein paar Tage ruhen. Währenddessen werden die Farben vorbereiten, auch sie müssen noch behandelt werden und zwar mit Ochsengalle, wahlweise auch Fischgalle – je nach Verfügbarkeit. So gehen die

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tomanen, dass mir die Hüfte halb über das Stück Interieur hängt, lechzend nach dieser Art von Suchen. Gegenüber steht mein Bett. Ich kann aber nicht sagen, dass ich schlafen will, aber an der Wand sind drei Bilder von nackten biederen und bedürftig lasziven Frauen. Ich kann mich aber, nicht auf ihre Körperlichkeiten konzentrieren. Mein Bett ist ein einsames Doppelbett. Mein Bett spiegelt sich im Spiegel gegenüber, wird unterhalten durch meinen Plattenspielen, der davor steht, ist im Spiegel in einer anderen Wirklichkeit. Wie gerne würde ich durch den Spiegel schreiten und am Glas, kleben bleiben all die Zweifel, all das Hadern und all die Marter. Dieser Tage ist jeder Blick, jede aufregende Augenbewegung, jeder nach Reflexionen sich reckender Reflex, selbst die Krux. Wie war das mit dem Unterschied zu Traum und Realität? Wie ich aber halb auf dem, halb vom Ottomanen hinab sinkend in den Spiegel unbegreiflich aber beständig geifere, zwischen Spiegelwirklichkeit und der anderen Wirklichkeit vergleiche, wünschte ich mir, von dort würde kommen eine sanfte Hand, die sich auf meinen Kopf legt und mir dieses Fieber kühlt.

logisch. Ich kann Mensch sein, aber dann aber holt es mich wieder ein. Ich weiß dann: ich bin gefangen in einem Traum und lebe nicht Realität. Traum meint, ich bin gefangen in einigen Affekten, die ich nicht bestimme, sie aber mein Leben. Das Fremde bestimmt das Eigene. Tunnelvision. Im Schreiben kommt dieses verlorene Ich zum Vorschein. Denn es erzählt von sich. Ich merke wie diese Erkenntnisse schwinden. Wie sie verdrängt werden. Sie werden jetzt verdrängt! Ich habe Mühe sie zu behalten und weiter zu schreiben. Das Ich, mein Ich, das Eigene wird unterdrückt von einem fremden Anteil, der ich ist, aber nicht ich ist. Schreiben ist wie, als ob ich von dem verschollenen Ich Briefe bekäme, weil die Zensurbehörde des destruktiven Iches schlampig arbeitet. Wenn ich von Leben verschleiernden und verhüllenden Filtern spreche, rede ich von den beiden großen Ängsten. Kardinalsängste. ir sind die geschockten Kinder. Wir sitzen am Straßenrand. Wir sitzen auf dem Bürgersteig. Wir sind schuldige Zeugen, einer stummen Zeit. Wir müssen sprechen, wir müssen plaudern – ja das Plaudern ist eine Plage – wir müssen aber berichten. Unablässig von überwältigendem Unmut kundtun. Wir sind die schaudernden Kinder, wir echauffieren uns und provozieren, bis sich die Blicke abwenden und nichts – nichts als Schande, Schuld und Scham in unseren Gesichtern übrig bleibt. Wir sind der Schock

ch muss eingeschlafen sein. Ein Speichelrest klebt an meinen Mundwinkeln. Die nsichtbare Spaltung meiner Affekte. Manchmal ist aufwachen, wie aufwachen in Realität, wenn sonst Realität Traum ist, in der ich weiß, ich agiere. Aber ein Filter liegt darüber. Wie als Botenstoffe ausgeschüttet werden, die Realität verschleiern. Ich merke wie all der Hass unnötig ist. Wie ich einen unnötigen Dauerlauf renne. Wie alles schon richtig ist. Ich kann das Gefühl der Richtigkeit nicht halten. Ein paar Minuten später ist die Erkenntnis weg und ich bin wieder der alte, destruktive Teil, der meint er würde das Leben lieben, und wenn er es jetzt noch nicht liebt, so will er alles tun, um es lieben zu lernen – aber das stimmt nicht. Der Teil, der Gutes will, legt sich schlafen, ist nicht da. Der Teil, der zerstören will ist Unipolar und gibt vor Bipolar zu sein, ist es aber nicht. Aufwachen vor fünf Minuten. Die Erkenntnis schwindet und wird gleich nicht mehr sein. Aber ich weiß, sie war schon oft da. All der Hass ist unnötig. Ich will, dass die Erkenntnis bleibt. All die Erschöpfung davon ist

ch liege vor dem Ottomanen. Auf meinem Perser. Habe ich erbrochen? Ich habe dieses ekelhaft Gefühl von Magensäure auf den Zähnen. Etwas falsch zu machen und zu warten, dass jemand kommt und bestraft und mir mein Leben entzieht. Das Gefühl der Schuld und auf Justiz warten, dass mir jemand den Prozess macht und ich nicht weiß wofür ich angeklagt bin.

Am effektivsten äußert sich das destruktive Ich, die Spaltung in der Ungeduld nicht lesen

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zu können. Als wüsste es davon und verhindert, aber in der falschen Richtung. Die unsichtbare Spaltung meiner Affekte. Als würde nach bestimmten Ereignissen, ein Ich in Putsch aufbegehren und ein anderes Ich, würde nun regieren. Wenn die Ereignisse zu schrecklich sind, ist das Lebensbejahende Ich verstört und die destruktive Seite fängt an ich zu sein. Und Momentan ist Bürgerkrieg. Weil ich das nicht mehr will. Das destruktive Ich ist aber noch da und kämpft eifrig um seine Herrschaft. Seine Waffen allen voran Verdrängung, die ich aktiv zu merken glaube. Der Weg zum destruktiven Ich ist Melancholie, das ist die verlockende Einladung, um wieder Destruktion zu sein. Die Frage ist noch, wenn das destruktive Ich, bestehend aus Feindseligkeit und Aggression – die Frage ist, wieso es eigentlich so still ist? Verhindert das gute Ich die Zerstörung nach außen zu tragen? Ich liege lachend über meinen eigenen dummen Gedanken auf meinem Perser Teppich. Dieses ewige scheiß Denken, scheiß Zerkleinern, in kleine Teile brechen, immer analysieren. Ich frage mich, verstärke ich oder reinige ich? Dann wieder aufbrechen und Zerstörung nach außen tragen. Wenn ich mit mir fertig bin und ich bin nie mit mir fertig. Wenn ich von meiner Zersetzung satt bin, dann muss ich meine Objekte, meint meine Mitmenschen in Säure tauchen. Erst brichst du ihr das Herz, dann schläfst du mit ihr. Sonntagabend. Ihr beiden sitzt im Haus der Eltern. Nicht deiner Eltern. Ihrer Eltern. Denk dir einem Namen aus. Deborah? Einverstanden. Deborah ist ein guter Name. Sonntagmorgen, Flughäfen sind schön am Morgen, denkst du. Du lädst ihre Koffer aus und fährst. Wer redet hier von Deborah? Niemand redet von Deborah. Sie wartet in den vier Wäldern im Haus der Eltern auf dich. Sie ist Einundzwanzig und wohnt noch bei ihren Eltern. Um erwachsener zu wirken, hat sie dir versprochen, dass sie ausziehen wird – bald irgendwann. Du hast ihr nämlich gesagt, dass du niemals zu ihr nach Hause kommst, weil du dich dann wie ein Jugendlicher fühlst und das willst du nicht. Nie zu ihr nach Hause – zumindest wenn die Eltern da sind. Nebenbei fand ich es unangebracht, erst die

Mutter kennen zu lernen, dann die Tochter mit nach oben aufs Zimmer zu nehmen und sie durchs ganze Haus stöhnen zu lassen. In Vernunft verhüllte Scham. Du kaufst ein, bringst was zu Essen mit. Ihr kocht zusammen, es ist ganz schön alles. Beim Gemüse schneiden, Eier aufschlagen, Fleisch marinieren, sagst du ihr: dass Frauen für dich zwei Funktionen erfüllen müssen, das ist einmal das unabhängig miteinander zusammen arbeiten. Zwei Menschen, ein Raum – arbeiten an zwei unterschiedlichen Themen. Und die andere ist, die Frau muss dich beruhigen. Ihre Anwesenheit muss sedativ wirken, aber nicht einschläfernd. Während ihr also kocht, sagst du ihr beiläufig, dass sie weder das eine noch das andere erfüllen kann. Dann esst ihr. Es war kurz ruhig, nachdem du über ihre Unzulänglichkeit gesprochen hast. Ihr seid im Wald, im Haus, die Fenster sind offen, früher Herbst, Artefakte von Sommer schleichen sich in das Haus – zum Glück also übertönt der lautlose Wald die Stille. Sie hat sich wieder gesammelt. Klagt dich an, dass sie nie weiß woran sie ist. Ob du noch mit anderen Frauen schläfst. Ja. Fragt dich wieso du so heiter bist. Weil es so gut tut, etwas schönes zu zerstören. Ich stöhnte auf. Ich war genervt. Wieso konnten wir nicht einfach essen und uns über irgendetwas unterhalten? Ich holte kurz Luft und sagte ihr, dass es nie anders sein wird als, wie es jetzt ist. Zweimal die Woche sehen reicht. Keine Nachrichten und keine Telefonate. Zweimal sehen wir uns die Woche, für ein paar Stunden, das muss reichen, mehr wird‘s nicht. Und: »wir werden niemals in irgendeiner Form zusammen sein. Ich werde nie deine Eltern kennen lernen wollen. Du wirst niemals mit mir bei meiner Familie sein.« Dann weinte sie und stopfte sich trauernd unser Dinner in die Gusche. Danach gingen wir auf ihr Zimmer und ich schlief mit ihr. Erst brichst du ihr das Herz, dann schläfst du mit ihr. Es gibt nichts besseres als der Sex mit einer Frau, der du gerade das Herz gebrochen hast. Nichts besseres auf der ganzen Welt. Nicht einmal Heroin ist besser.

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ist großartig finde. Jede Möglichkeit anders zu sein, heißt dadurch gesehen zu werden, ist für mich ein gefundenes Fressen, das ich gierig in mich hinein stopfe. Die Mutter meiner Freundin und meine Freundin selbst, gestalteten unsere neue Wohnung, weil ich nicht dumm war, habe ich meine gepackten Kisten schon ins neue Wohnzimmer gestellt. Was nicht so clever war: ich hatte so etwas wie eine Affäre. Das erste mal, dass eine Affäre nur in meinem Kopf stattfand, meine angebetete mochte nämlich Frauen und das einzige was ich von ihr hatte, war ein Foto. Das Foto befand sich in einem Brief, der von einer gemeinsamen Freundin stammte, in dem ich schilderte, wie toll ich doch die mit den kurzen braunen Haaren fand. Eine Verbündete im Feindesland. Guter Agent, schickte Foto samt Brief und beides fand meine Freundin mit ihrer Mutter zusammen. Sie weinte und vor Wut schleuderte sie die Valentinspflanze in mein Bett. Wir hatten zwei Betten eines im Wohnzimmer und eines in Schlafzimmer. Falls wir mal getrennt schlafen wollten. Der Urlaub war dann nicht so schön, weil ich ständig mit meiner Freundin telefonieren musste. Das hieß ständig musste meine Mutter und meine Schwester auf mich warten, denn ich musste meine Freundin davon abhalten, die Wohnung zu kündigen. Ich hatte auch Angst sie könne mich verlassen und zusammen in einer Wohnung war das unmöglich, auch mit getrennten Schlafzimmer. Als ich wieder Nachhause kam – in mein neues Zuhause kam, fand ich die vertrocknete Valentinspflanze im Bett liegen. Viel schlimmer war aber, dass wir dann noch zwei Jahre lang zusammen waren. Zwei Jahre, in denen ich jeden Tag leerer wurde.

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Ich überlege mir immer: soll ich mich lieber erhängen oder vergiften. Ein öffentlicher Selbstmord kommt nicht in Frage. Ich springe nicht von einem Hochhaus oder vor einen Zug. Wenn ich die Hoffnung hätte noch irgend wirksam zu werden, zu publizieren, etwas zu hinterlassen, dann würde ich mich nicht suizidieren wollen, sondern daran arbeiten. Daher kommt ein Tod mit Publikum nicht in Frage. Aber die Frage ist erhängen oder vergiften. Ich könnte mich auch in der Badewanne ertränken, erst Gift dann ein Bad zum sauber werden, dann wird die Haut aber so schrumpelig und das mag ich nicht – daher dusche ich meist. Wenn ich mich vergifte und dann erhänge, kann es sein, dass ich vom Tod nichts mehr merke und das wäre schade. Immerhin ist der Tod ein Ereignis, dass einem von Geburt an versprochen ist. Eine Heirat mit dem ewigen Begleiter. – Sind dir deine Familie und Freunde lieb, dann lass es wie einen Unfall aussehen.

it meiner ersten Freundin war ich fünf Jahre lang zusammen. Da war ich noch ein sehr kleiner Mensch, was mich dazu verleitete, schon mit Siebzehn auszuziehen. Wir wohnten auf dem Dorf. In der Nähe meiner Heimatstadt. Sie wohnte noch ein paar Dörfer weiter, wo der letzte Bus um Sechs kam und damit die einzige Möglichkeit für sie, dem Dorf zu entkommen. Auch ihrem Stiefvater zu entkommen, der war nämlich sehr unangenehm. Deswegen drängte sie mich auszuziehen, alleine konnte sie sich nämlich keine Wohnung leisten. Meine Mutter war davon nicht begeistert. Wir stritten uns häufig in der Zeit. Ob es eigentlich darum ging, dass ihr Sohn eigenständig wurde – kann ich nicht sagen. Als es dann soweit war, schenkte uns die Mutter meiner Freundin eine Pflanze zum Valentinstag, sehr kitschig wie ich fand – ich nannte sie Valentinspflanze. Sie sollte in unsere erste Wohnung etwas grün bringen, sagte die Mutter meiner Freundin. Sie war Floristin, deswegen nahm ich ihr das auch ab. Ich hatte sehr lange gebraucht um alles zusammen zu packen so ein Kinderzimmer beherbergt ja aller Hand an Müll. Ein letztes mal machte ich mit meiner Familie Urlaub, das heißt meine Schwester meine Mutter und ihrer Freundin. Nachdem Schäfermatt, gab es meinen Stiefvater nicht mehr und meine Mutter wurde lesbisch. Meine Schwester schämte sich dafür. Ich fand es großartig, weil ich alles was anders

Aber ich nannte es nicht Leere. Sondern Dämonen. Seither war ich nie wieder mit einer Frau zusammen, aus Angst vor den Dämonen. Die Leere kam, aber trotzdem wieder, auch ohne Frau. Und ich nenne diese sogenannten Dämonen heute nicht mehr Dämone, sondern: ich.

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eignisse, trotz ihrer steigende Intensität, schrittweise adaptiert? War das so bei Ihnen? Ich muss das wissen. Den Anderen verstehen, heißt sich selbst begreifen. Waren Sie mehr und mehr: weniger schockiert und haben sich ihre Werte von Rechtmäßigkeit und Rechtschaffenheit langsam an die geschilderten Zustände angepasst? Sodass Sie überhaupt nicht mehr erschüttert waren? Und mögen Sie mich jetzt noch, mein lieber Leonard? Können Sie mich jetzt noch leiden? Gemeinhin sagt man dazu Abstumpfung. Ich nenne es Rezeption und Adaption von Werten. Besonders stark ist dieser Effekt, schätze ich, wenn Sie sich intensiv mit dem Geschriebenen auseinander gesetzt haben. Beziehungsweise, wenn Sie sich einer Gruppe oder einem einzelnen Menschen anschließen, der über bestimmte Dinge ganz und gar nicht so wie Sie denkt. Nehmen wir an, ihre neue Freundin ist Veganerin, Sie selbst sind nun ja eher das Gegenteil davon – Sie essen also liebend gerne Entrecôte, Wiener Schnitzel und Austern. Beobachten Sie sich! Langsam, aber sicher je dichter und relevanter die Bindung wird, werden Sie einen Wandel Ihrer eigenen Werte, oder der Ihrer Geliebten feststellen. Ein kognitiver Weg sich anzunähern, basierend auf dem Affekt, der sagt, wir unterscheiden uns. Bestätigt durch den Umkehrschluss. Die Werte Ihrer neuen und veganen Freundin, sind an Gefühle urück zum Bordell. geknüpft, die ihr und Seien Sie ehrlich, womöglich auch Ihnen, Atanassov! Wie ist es Ih- Als ich in mein neues Zuhau- dass andere Gefühl von nen beim Lesen ergan- se kam, fand ich die vertrock- Richtigkeit geben. Um gen? Hat sich in Ihnen sich ihr anzunähern, eine Erwartungshaltung nete Pflanze im Bett liegen. nehmen Sie Ihren alten aufgebaut? Waren Sie Werten das Gefühl von noch überrascht oder Authentizität, sie falsifiwurde Ihnen das durch zieren, was vorher richdie Einleitung, gänzlich genommen? tig war. Ohne, dass Sie es merken, wurden Sie Dieser nervige Prolog – ich bitte Verzeihung von fremden Werten infiltriert – haben sich inan dieser Stelle – Sie erinnern sich, die Ereignisfiltrieren lassen. Oder Sie sind selbst der Invasor. se von denen zu berichten sind, über die nicht Erobern fremdes Land und stecke Ihre in Fahne gesprochen werden darf… Erwarteten Sie daher in den Sand. unerfüllbares? Angenommen Sie trennen sich von dieser Oder waren Sie, womöglich doch erschütFreundin oder andersherum, und begeben sich tert und irritiert, als Sie zunächst von den, auf in eine neue Bindung, dann werden Sie die voreinem Wagen gestapelten und verbrannten Dirher geschaffenen Werte wieder verlieren oder nen lasen, später von der Unverhältnismäßigkeit auch sehnsüchtig sehnlichst sehen, dass sie ihre meiner Taten erfuhren und haben dann, die ErGültigkeit aufrecht erhalten – plötzlich sind Sie Und dabei ist Selbstdestruktion und Wunsch nach Suizid in meinem Fall nichts anderes als der Wunsch nach Individuation, den ich mir nicht eingestehe und den ich suche wie unter einer Decke aus falschen Worten zu ersticken. Verbinden sich eins plus eins, Selbsthass auf meine Entwicklungswünsche mit Hass auf alles Gute, weil ich so im Hass Individuation leben kann – es kann so einfach sein. So steht zuerst der Wunsch nach Entwicklung, den ich verfluche, daraus entsteht ein Selbsthass. Eine Art Bestrafung. Ich darf das nicht. Bis zu dem Punkt, wo die Individuation erstickt und verschwunden ist und lediglich Selbsthass übrig bleibt und er selbst nicht mehr erträglich ist, dann übernimmt wieder Individuation in Form von ich-muss-Gutes-zerstören und angenehmer universaler Selbstdestruktion die Kontrolle, dass der unerträgliche Selbsthass verschwindet – in dem beruhigenden Gefühl ich bin schlecht aufgeht. Wozu fühlt sich das dann so gut an? Schlicht aus zwei Gründen, zuerst weil so also der verkappte und erstickte Wunsch nach InIndividuation gelebt werden kann und weil Angst, die suppressiv auf den Wunsch nach Individuation wirkt sich in der Aggression löste, so erklärt sich wie aus erst einem verbotenen Wunsch, Selbsthass, dieses gute Gefühl von zerstören-wollen erwachsen kann.

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und vermeintliche Realität anpassten? Mein letztes Interesse unter all denen, derer ich mich mal herzlichst bediente, ist mir nur noch eines geblieben, dessen Verbindung mir nicht abbrechen will – mein letztes Interesse gilt dem Menschen an sich. Allen Menschen und ihrer Menschlichkeit und der Veränderbarkeit ihrer humanen Eigenschaften. Den Menschen mich verstehen. Vielleicht basierte meine jahrelange Tätigkeit in der Filmhochschule, das literarische Schaffen, die Kunst und auch meine Frauengeschichten einzig darauf mich zu verstehen. Die beiden Fragen zu beantworten: wer bin ich und wo will ich hin? Atanassov aber vergessen Sie mir nie diesen Moment, sollte ich richtig liegen, vergessen Sie nie den Moment, als Sie für einen kurzen Augenblick das Kostüm Ihrer Werte und die scheinbare Beständigkeit Ihrer Realität ablegten. Und der abgeworfene Anzug Ihrer Werte, der Ihnen doch wie angegossen zu passen schien, beschämt, schmählich und schwächlich auf dem Boden lag und Sie sich eingestehen mussten, dass Ihr Anzug von der Stange war und es hätte auch jeder Andere sein können. Nur ist es eben genau dieser geworden – aus Zufall. Ihren Geburtsort können Sie ja auch nicht bestimmen. Wie wenig Sie sich entscheiden, welchen Menschen, Sie sich zum Vorbild nehmen, besser gesagt, es immer eine unvollständige Menge an potentiellen Vorbildern sind, die vor Ihnen steht – sie sich entscheiden, von wem will ich lernen. Und Gelegenheit, wie Sie die Interaktion Ihrer Erziehung wenig beein-

der militanteste Veganer auf dem Planeten! Das sind allgemein die Theorien des sozialen Lernens und der operanten Konditionierung. Wenn Sie das interessiert, bedienen Sie sich der Fachliteratur. Sicherlich Bindung spielt auch eine große, aber wo tut sie das nicht? Mich interessiert nur eines und das ist der Verlust von Wirklichkeit. Kann man im Beispiel der Essgewohnheiten noch ziemlich einfache Monokausalitäten aufstellen, kann ich das in meinem Fall nicht, aber das Ergebnis ist dasselbe und ist es nicht, weil Ursache und Wirkung mehr oder minder aufzudecken wenigstens stabil zu konstruieren die Sache so anders machen. Verstehen Sie? Auf theoretischer Ebene spreche ich hier von Ergebnis I und Ergebnis II. In meinem Fall, also wenn es darum geht verrückt zu werden, ist Ergebnis I & II gleich und das zweite ist lediglich um das beunruhigende Gefühl von Angst ergänzt – eben Ursache, Wirkung und Vorhersehung oder Prognose nicht bestimmten zu können, aber zu denken man müsste es. Zurück zum Brief. Können Sie sagen, dass Sie anfänglich, als Sie begannen diesen Brief zu lesen, quasi also ein Anderer waren? Ihre Werte sich verschoben haben? Sie wahrscheinlich, inzwischen von Ihnen korrigiert wurden. Sie, die Werte Ihrer Mitmenschen spiegelten und sich durch die Reflexion sich selbst auch wieder an Ihre unmittelbare

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flussen können, das heißt ihre eigenen Anteile und die, ihrer Bezugspersonen zu trennen und zu analysieren. Wobei Analyse und Psychologie, immer Entfernung ist und nur gewähltes Mittel eines Affektes und der heißt Schwäche. Heißt er nicht, aber es kommt mir so vor. Das unterliegt natürlich wieder einem anderen Affekt, der nach Schuldzuweisung sucht. Schuld die treue Begleiterin der Depression, neben Idealisierung und Vermeidung. Jedes Aufbegehren ist ein Aufbegehren gegen sich, auf dieser Grundlage und damit kein Gegensatz und ferner erkannten Sie, dass alles was Sie denken und für richtig halten: Sie sich selbst erbaut haben und Ihnen die Werte und Ideale, wie Sie sie sich geschaffen haben, auch wieder in ähnlich er Art und Weise verlustigen können. Wenn Sie das erkannt haben, dann dürfen Sie sich das Kostüm den Anzug Ihrer Werte wieder überziehen. Ob ich dazu noch eine Meinung habe? Ob es überhaupt ein erstrebenswerter Zustand sei, sich seiner vermeintlich überdrüssigen Werte zu verlustigen? Ich will mir darüber kein Urteil erlauben. Heute sage ich Ihnen, mein hoch verehrter Herr L.A. Atanassov, heute sage ich Ihnen: ja unbedingt, entledigen Sie sich Ihrer Ideale, Vorstellungen und Urteile über Wirklichkeit und Realität. Heben Sie die Grenzen Ihres Denkens auf und fahren Sie, ja seien Sie frei. Morgen aber, schüttelt es mich und ich verrate Ihnen: Leo, ich irrte mich. Um Gottes Willen, Sie taten tatsächlich, was ich Ihnen riet und jetzt wissen Sie nicht mehr, weshalb Sie heute morgen aufgestanden sind. Wenn Sie doch genauso gut, hätten liegen bleiben können. Nicht mal wissen Sie, weshalb Sie sich schon wieder neue Werte geformt hätten, über das, wann man wie und wo aufstehen müsste und so weiter. Wer sein Fundament angreift, braucht sich über den Einsturz seiner Wohnung nicht zu wundern. Ich will es Ihnen noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: behalten Sie Ihre Werte,

schützen Sie sie, wie Ihre Organe – wie vor Organjägern. Alles andere wird sie unweigerlich in Isolation stürzen und auf ewig Ihre Geißel sein. Dann aber, will ich Sie Fragen: hatten Sie nie das Gefühl mein lieber Atanassov, Sie wollten sich außerhalb begeben? Hatten Sie nie diese Art von Sehnsucht, die Sie entführt in die derbsten Gegenden Ihres Geistes? Hatte Sie nie die Sehnsucht sich zu isolieren, es auszuprobieren, ins Freie zu schwimmen und zu schauen, was dort im großen Ozean ihres Verstandes zu finden ist? Hatten Sie nie dieses Zittern ihrer Glieder, dieses Verlangen? Glauben Sie mir nicht. Ich mag objektiv in Ihren Ohren klingen. Ich bin es nicht. Niemand ist es. Wenn Objektivität die reine ontologische, ziellose und ateleologische Betrachtung der Welt sein soll. Ein Hirngespenst, westlicher Wissenschaftstraditionen. Und selbst das ist wieder Wert. Es bleibt Ihnen keine Wahl. Sie müssen werten. Sie müssen Wirklichkeit konstruieren. Konstruktionen zu labilisieren, heißt sich auf der anderen Seite, sofort wieder neue auf zu bauen. Ein abgebranntes Gebäude, ist ein Aschehaufen, ein Aschehaufen ist ein Gebilde, dass womöglich vom Wind davon getragen wird und heißt dann Aschepartikel. Sie haben keine Wahl, es sei denn Sie sind gestorben, dann haben Sie überhaupt nichts mehr.

Morgen aber, schüttelt es mich und ich verrate Ihnen: Leo, ich irrte mich.

n meinem alten Beruf, Regisseur, begegnete ich ganz selbstverständlich einigen Exemplaren unserer Gesellschaft, bei denen, wie soll ich sagen? Bei denen, der Zug abgefahren ist. Es war Mai, als Herr K. nun schon seit anderthalb Monaten nicht zu seiner Arbeit gekommen war, dem Nachfüllen von gebrauchten Druckertonern. Ich drehte eine Dokumentation für einen deutsch französischen Fernsehsender über die Menschen am Rande der Gesellschaft. Einer meiner Fehler. Herr K. war nicht unbedingt der vorzeige Angestellte, seine Arbeit jedoch, erfüllte er stets or-

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dentlich und pünktlich. Vorderhaus erste Etage, rechts. Als Anton und ich die Wohnung betraten, besser gesagt, als wir über einen Berg von Müll, gebrauchtem Geschirr und diversen Druckertoner stiegen, besticht zuerst ein bestialischer Geruch unsere Wahrnehmungskapazitäten. Wir gewöhnten uns an den Gestank und suchten nach Herrn K. , aber bis ein paar Käfern und anderem Ungeziefer wollte sich unseren Augen nichts lebendiges offenbaren. Seine Wohnung war in desolatem Zustand. Die Tapete war von den Wänden in Einzelteilen heruntergerissen und lag auf den Müllbergen. Türen waren aus den Angeln, mit Ihnen konnte man auf dem ganzem Scheiß surfen, wie ein Surfer auf Hawaii und überall raschelte es unter dem Müll – eine ganze Zivilisation von Käfern wohnte in K.'s Wohnung. Wir fanden Herrn K. in einer Ecke seines vermeintlichen Wohnzimmers. Es war wegen des katastrophalen Zustandes der Behausung, sehnlichst unmöglich die einzelnen Zimmer von einander zu Unterscheiden. Herr K. gab mir schwach seine Hand. Er war abgemagert, hatte einen Ehering am rechten Ringfinger, rot unterlaufene Augen, schütteres Haar und die graue Haut seines Gesichtes, war mit offenen Poren übersät. Ich wollte immer verstehen, wie in diesem Fall, Herr K. sich zu diesem, was er da geworden war, entwickelt hatte. Deswegen zog ich Herrn K. aus dem Drecksloch seines Wohnzimmers. Schrie zu Lindbergh, er solle den Küchentisch abräumen. Er tat sich schwer – wollte Ordnung ins Chaos bringen und ich nahm den ganzen ekelhaften Plunder und fegte ihn auf den Boden. Herrn K. im Handgepäck pflanzte ich auf den Stuhl, dass er ordentlich am Küchentisch saß. »Nihad, Nihad«, blökte ich zu meinen Assistentin. »Nihad das Diktiergerät, yallah yallah eşek.« Drehte meinen Stuhl, dass ich zwischen all dem stinkenden Müll, den Bergen von Dreckwäsche und dem sprachverschlagenden Anton Nihad Lindbergh, meine Arme auf die Rücken-

lehne des Stuhles legen konnte. Saß da wie Geheimagenten zur Vernehmung. »Herr K., das ist doch ihr Name, nicht wahr?« Ich liebte das. »Wenn Sie Fünf Dinge, aufzählen müssten, die Sie in ihrem Leben bereuen, was wäre das?« Ich wollte eine ehrlich und gute Doku über ihn drehen. Ich wollte ihn zeigen, wie er wirklich ist, abseits von Messi- und Junkietum. Ich wollte ihn ohne Psycho-Pathologie darstellen. Er hatte mal seinen Vater umgebracht. Er war auch so etwas wie Regisseur, er hatte wohl mal einige Musikvideos und so Zeug gedreht. Ich fühlte mich, wie Mutter Theresa, kontaktierte all meine Künstlerfreunde, bastelte ihm dieses schöne Paket und was tat er? Nicht einmal hat er die Kontakte, die ich ihm gegeben habe, angerufen. Er hatte doch alles vor sich zu legen. Er musst einfach nur Messer und Gabel ins gebratene Fleisch stechen, sich ein Stück abmachen und es sich in die Fresse stopfen. Stattdessen, vergiftete uns das Schwein, dass wir eine Woche lang im Krankenhaus lagen. Ich habe den Film trotzdem veröffentlicht, auch den Moment, wo wir merkten, wir sind vergiftet worden. Auch die Fahrt ins Krankenhaus. Auch wie ich, danach auf ihn losging und Lindbergh, mich nur mit Mühe von Herrn K. halten konnte. Ich verfluchte ihn. Ein morbides Interesse, was mich immer wieder zu dieser Art Mensch brachte, was mich verfolgt und ich zuweilen in Selbstversuchen zu ergründen suchte – zuweilen. Lustig, dass ich zu solch euphemistischen Formulierungen tendiere. Mein letztes Interesse ist der Selbstversuch. Atanassov Sie Petri-Schale, wissen was ich meine. Ich will nichts mehr, als mich selbst erkunden. Grenzen auskundschaften oder aus versehen übertreten und dann von der Grenzpatrouille erschossen werden.

»Wenn Sie Fünf Dinge aufzählen müssten, die Sie in ihrem Leben bereuen, was wäre das?«

it Freuden mein Herr Atanassov, lese ich alles, was von Babylonien spricht. Ich liebe alles zwischen Euphrat und Tigris. Meso-

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potamien ein ewiges Sehnsuchtsbild. Die Frau aus Palästina, meine türkische Affäre, das sind lichte Verirrungen, als hätte Tell den Augapfel seines Sohne geschossen – ich dachte immer, den zweiten Pfeil hatte er für sich aufgespart. Nicht alle Lösungen münden in Suizid. Meine Mutter war Fünf als wiederum ihre Mutter eines Abends an ihr Bett kam, sie küsste und gute Nacht wünschte. Am nächsten morgen war die Mutter meiner Mutter verschwunden, bis meine Mutter schwanger wurde. Und meine Großmutter kam, um einen Namen für mich auszusuchen. Berthold kommt aus dem Althochdeutschen von beruht, dass heißt glänzend und waltan, das heißt walten, also regieren. Vielleicht wollten beide gemeinsam die Schande überbrücken. Die Mutter meiner Mutter verließ meine Mutter und ihren Vater mit Einundzwanzig Jahren und blieb für Siebzehn Jahre in Bagdad. Mein Großvater, Vater meiner Mutter, ging damit herzlichst wehmütig um, zuerst stürzte er sich in Besäufnisse, kam dann trunken und wankend Nachhause. Ich wette um mein Leben mit Ihnen Herr Atanassov – er taumelte nicht wegen des Alkohols. Zuhause angekommen, wartete meine junge Mutter sehnsüchtigst auf ihren Vater, auf den besoffenen und gebrochen Mann, der da übrigens noch keine fünfundzwanzig war. Nachdem er sie angeschrien und geschlagen hatte, fiel er wie ein Stein ins Bett. Wäre meine gescholtene damals junge Mutter, sie war fünf wusste also nicht, dass sie meine Mutter werden würde. Wäre dieses junge Mädchen nicht ihrem Vater nachgerannt, er wäre an seiner Kotze erstickt. Er hat sie geliebt und gehasst und er hat sie dafür geliebt, dass sie trotz seines Hasses immer wieder ankam und er hat sie gehasst, dafür, dass sie ihm Kind wie sie war ihm den Hass so leichtfertig vergab. Nach einigen solcher Nächte, merkte er, das halft alles auch nichts mehr. Er ging in die Küche, meine Mutter schlief noch. Öffnete den Backofen. Drehte den Gasherd auf. Setzte sich auf einen Stuhl vor den besagten Ofen – wie gut, dass man damals schon mit Gas kochte – und er wartete, bis das Gas ihn überwältigend würde. Wer weiß wovon, aber irgendetwas weckte meine Mutter und sie drehte heulend den Gasherd ab. Wollte ihren Vater hochheben, denn dieser war bereits nicht mehr bei Bewusstsein, doch

der junge Mann fiel vom Stuhl zu Boden. Meine Mutter erzählte mir nicht viel darüber. Nur soviel, mein Großvater erwachte irgendwann und das Leben ging weiter. Zweimal noch hat er versucht sich das Leben zu nehmen. Heute ist er Rentner, was so etwas wie eine große Krise für ihn ist, deswegen möchte er schnell noch Künstler werden. Mit schlechten Fotografien, auf die er leidlich mit seinen zittrigen Hände drauf malt. Auf manchen Fotos sehe ich aus wie er. Ich hasse ihn dafür.

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Die Gespräche zur Psychohygiene

Wenn meine Mutter für uns, meine Schwester, meinen Stiefvater, den Spieler und für mich kochte, dann schnitt sie das Gemüse immer so heftig, dass es durch das ganze Haus knallte. Sie folterte die Tomaten, Zwiebeln und das Fleisch.

ereh erehrter Leser, glauben Sie nicht, ich will mich Ihnen nicht aufdrängen. Ganz dem mic Anschein nach sind Sie bis zu dieser StelAns le, ganz ohne fremde Hilfe gekommen. Oder haben Sie etwa nur gelesen, ohne sich auch zu einzufühlen und nachzuempfinden? Warum auch, fragen Sie sich sicherlich, sollte sich ein Verleger in den Lesefluss, eines geneigten Lesers, einmischen? Womöglich ihn noch nachträglich beeinträchtigen. Und Ihr Bild, welches Sie sich inzwischen von Herrn Berthold Oppenheimer Lilienthal gemacht haben, beeinflussen, verfälschen, oder jenes, welches Sie sich von der Qualität der Beziehung zwischen Verfasser und Adressat, Lilienthal und Atanassov, gemacht haben. Hat sich denn, der Schreiber Berthold Op-

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Bisher dachten Sie, es handele sich um rein weiße Bilder, die womöglich um den Platz aufzufüllen aufgehangen worden waren. Aus der Entfernung, wird Ihnen klar, verschwindend gering, hie und dort, ab und an, sind Fragmente zu sehen. Umrisse von Gestalten und Schatten unbestimmter Figuren. Sie müssen sich konzentrieren, nicht die Spur der Silhouetten zu verlieren. Sie wenden ab Ihren Blick. Sind der Anstrengung müde. Lassen Ihren Blick durch die Galerie wandern, schauen sich die Mosaikvertäfelung der Decke an. Den von Farbe gesprenkelten Boden. Sie schauen aus den Fenstern und sehen Leute sich die Ausstellung von Draußen her, vor der Tür, anschauen. Sie greifen die Türklinke und wollen den Raum verlassen. Da halten Sie inne. Fokussieren noch einmal die düsteren Bilder, schwenken zu den hellen Bildern. Das Konzept der Ausstellung, war Ihnen langweilig, diese Gegenüberstellung, von schwarzen und weißen Bildern – wo soll das denn Kunst sein? Aber da, wie Sie nun in der Mitte der Galerie stehen, links und rechts die Bilder aufgereiht sind, da erkennen Sie die Schatten von Menschen, welche Sie in den weißen Bildern lediglich erahnten – es sind dieselben Motive, es sind sogar dieselben Zusammenstellungen, wie sie es in den dunklen Bildern sind. Nun wird Ihnen klar, die Ausstellung, betitelt als: ›was bleibt (?)‹, sie stellt eine Entwicklung dar. Einen Prozess und ich möchte Ihnen vorschlagen. Es bleibt bei Ihnen, was Sie glauben oder als Ihre Perspektive annehmen. Ich suggeriere Ihnen: die düsteren Bilder sind das Moment des Traumas, eines unbegreiflichen Schockes, wohingegen die weißen Bilder, die Ruhe und Leere danach sind – das was bleibt und es fragt sich, was bleibt? Ich stimme Ihnen zu. Ein Verleger sollte sich in seinen eingeschränkten Möglichkeiten zu verfassen nicht einmischen in das Arrangement des Autors. Dennoch, erschien es mir an dieser Stelle sinnvoll zu sein, einiges aus der pro-

penheimer Lilienthal nicht genau überlegt, wie er dieses oder jenes hie und da, darstellt? Wo er eine Spannung aufbaut, sie zu einem Reiben von tektonischen Platten entlädt, ein Gebirge von Komplexität und Unmöglichkeit entfaltet und den Fortlauf der Geschichte in ein Nildelta aus vereinzelten Handlungssträngen, Meinungen, Perspektiven und Möglichkeiten differenzieren lässt? Ist ein Buch, nicht einer Serie von Gemälden gleichzusetzen, die sich um ein Thema scharren? Seien Sie so gütig, sich eine Galerie vorzustellen.

›N

icht, nein und bewahre.‹

Sie sehen in die Fenster der imaginären Galerie. Auf der einen Seite, sind aufgehangen: düstere nahezu schwarze Bilder und ihnen gegenüber hängen Bilder von ausschließlicher Weiße. Sie treten in die bestimmte Galerie ein und ihr Blick – natürlich er richtet sich sofort auf die düsteren Bilder. Sie verbringen Minuten damit aus den dunklen Schichten schwarzer Farbe, Collagen-reste zu lesen und bei genauerem Hinsehen, erstaunen Sie vor den Gesichtern, welche in die Bilder eingearbeitet sind. Viel später erst erblicken Sie die weißen Bilder. Sie ignorieren Sie abermals. Schauen auf die geschwärzten Leinwände, denn Sie spüren einen Schock verborgen, der sich aus den Bilder auf Sie überträgt und sie gegenübertragen vielleicht Trauer, Wut, Neid oder ein anderes Gefühl. Die düsteren Kollagen, sie schreien, sie rufen gerade zu, ›nicht, nein und bewahre.‹ Sie nehmen einige Schritte abstand und da sehen Sie, die gesamte Serie ist wie aus einer Erschütterung geboren. Nun da Sie sich satt gesehen haben, wendet sich Ihr Blick wieder den helleren Bildern zu.

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tokollarischen Arbeit des Klinikpersonals mit einzufädeln. Sie finden auf den nächsten Seiten, zwischen den von Lilienthal selbst angefertigten Bericht, über seinen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik und einige Einfügungen von Gesprächen zwischen ihm und seinem Therapeuten. Ich werde Ihnen aber die Transkripte kenntlich machen, zudem habe ich sie bereinigt, das heißt, ich habe viel von dem, was ich als irrelevant empfand, heraus gestrichen.

Lieber Atanassov bevor wir scheiden, will ich Ihnen noch von meinem Ende erzählen. Unser Tag im Bordell lag einige Wochen zurück. Anton Nihad Lindbergh arbeitete akribisch in der Filmhochschule an unserem Dokumentarfilm über das verbrannte Bordell. Ich vegetierte Zuhause in meiner Wohnung vor mich hin, das habe ich Ihnen ja schon ausführlich geschildert, wie das so ist. Mir war langweilig. Denken Sie nicht ich meldete mich aus Langeweile in der Klinik an. Während Lindbergh in der Hochschule unseren Film schnitt, recherchierte ich nach guten Kliniken – ich wollte nicht in einem Ramschladen landen. Also fuhr ich zur besten Klinik, die ich finden konnte und bezichtigte mich der Brandstiftung. Ich war davon überzeugt, ich hatte das Bordell in Brand gesteckt. Um meine Wirkung etwas zu dramatisieren, hatte ich mir während der Autofahrt, etwas Ruß in mein Gesicht

– Ihr Verleger

geschmiert und meine Taschen waren vollgestopft mit Streichhölzern, die ich aus einem Hotel geklaut hatte, das auf dem Weg lag, wo ich vorgab ein Zimmer mieten zu wollen. Dass bei jedem Schritt, ein Packung Streichhölzer aus meiner Tasche fiel. Außerdem hatte ich einen Pullover an, den ich Zuhause mit Benzin überschüttet hatte, dann auf die Heizung legte und als er getrocknet war anzog und ins Auto stieg. Ich wollte sicher gehen, dass man mich da behielt. o ein Klinikaufenthalt an und für sich, ist keine üble Angelegenheit. Genau genommen fühlt es sich an wie Urlaub mit Animationsprogramm. Auch die Einrichtung war ganz angenehm an-

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zusehen – ein gemütlicher Ort mit Schwimmbad, Fünfzig Meter Becken, sogar eine Sauna gab es dort. Eine Bar suchte ich, allerdings vergeblich. Nein, es war doch sehr schön eingerichtet. Ich will Ihnen, aber nicht all zu viel über meine Zeit in der Klinik erzählen. Ich hatte die Erkenntnis gesucht und den Wahnsinn gefunden. Ich hatte vorgegeben ein Bordell in Brand gesetzt zu haben, aber ich war ja aus einem ganz anderem Grund dort. Die in einer solchen Einrichtung untergebrachten Menschen, also die auch eine Unterbringung nötig hatten, sind für gewöhnlich etwas, will sagen, benommen – was ich selten auf die Neuroleptika und Co zurückführte. Das soll keine Kritik an Psychiatrischen-Kliniken werden. Gerade deswegen, meine ich, ist es ein leichtes mit Ihnen Freundschaften zu schließen. Immerhin eine große Gemeinsamkeit teilen alle Untergebrachten: den Ausschluss aus der Gesellschaft, ihrer Gruppe und den nötigsten Bedürfnissen. Was werden sie dann? Wahnsinnig oder Kriminell. Einmal die Gruppe, die meint der oder die sei Wahnsinnig, die Annahme dieses Wertes und die darauffolgende Isolation, die einen Wahnsinnig macht. Rückkopplung auch in Sachen, wenn niemand mich will, dann will ich auch niemanden. Auch essentielle Charakteranteile für maligne zu erklären… Wer über Psychopathologie spricht, redet auch immer von Verlieren. Sei von Menschen, die an einer Gesellschaft oder sich selbst gescheitert sind. Krankheit spricht immer von Funktionsniveau – haben oder nicht haben. Einer der Nebeneffekte der Isolation ist zweifellos der Schöpfungsdrang und die verzweifelte Produktivität der Isolanten in meiner Klinik. Dabei handelt sich um einen Druckausgleich – aber nicht im Sinne einer physiologischen Homöostase oder Freudschen Triebtheorie, mehr einer Beschwichtigung. Der Isolant, spart dermaßen viel Druck in sich auf, dass er diesem

irgendwie Raum geben muss. Weil eine Zeitkomponente dazu kommt. Wenn man also nicht wüsste, die Zeit vergeht, der Druck würde sich womöglich überhaupt nicht steigern. Ich war in einer Art Psychiatrie für Künstler – zumindest gab es einige Literaten, Maler, Regisseure und so weiter. »Die Krux ist«, sagte der Sänger und Songwriter. »Das Fatale ist, dass wann immer ich versuchte irgendwas zustanden zu bringen, was gut ist, glücklich, dass es dann zerrissen wird.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Das ist eine Zwickmühle.« »Ja…« »Ich brauche das.« »Was meinen Sie?« »Ich muss arbeiten. Es gibt keine Welt ohne Arbeit. Ich muss schreiben.« »Aber wenn Sie das tun, ist Ihnen nur eine Art von Schreiben erlaubt, verstehe ich das richtig?« »Es ist furchtbar. Erfolgreich schreiben heißt, ich muss mich selbst aufopfern.« »Wenn Sie nicht depressiv sind, gelingt Ihnen kein Songtext, der von Leid und Verlust erzählen.« »Ich muss in Depression um arbeiten zu können.« »Und war das immer so?«, fragte ich prüfenden Blickes. »Nein, am Anfang rettete mich das Schreiben aus Depressionen.« »Dann entwickelte es eine Eigenleben.« »Ja, die Geister, die ich rief.« »Erfolg. Ihr Werk wurde gewürdigt.« »Das brachte mich in ein besseres Leben. Viel besseres Leben, aber alles was ich dann schrieb, waren nichts mehr als schlechte Schlager.« »Also verstimmte Sie Ihre eigene Unfähigkeit.« »Ich glitt in eine erneute Depression, weil ich nicht mehr in der Lage war zu arbeiten.« »Und aus dieser Depression mussten Sie sich herausarbeiten.« »Sisyphus!« »Sie können gar nicht handeln.«

Sarkasmus ist die letzte Defensive einer scheidenden Existenz.

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»Ich kann nichts und alles.« Über die Zeit in der Klinik avancierte ich zu so etwas wie einem Patiententherapeut. Ich holte die Patienten von ihrer Therapie ab und brachte sie auf ihr Zimmer. Im Garten der Klinik veranstaltete ich Gruppenbesprechungen und die Klinikleitung dankte mir für mein Engagement und ich fühlte mich wie ein KZ-Häftling des Sonderkommandos. »Warum Lilienthal sind Sie eigentlich hier?«, fragte er mich. »Brandstiftung, aber niemand will mir glauben.« »Brandstiftung?« »Gehören Sie auch zu denen?« »Zu wem?« »Wenn , dann kostet Ihre Behandlung bei mir

großen Erfolgen, die in den meisten Fällen nur Augenblicke ihrer Leben waren. Den Löwenteil, waren sie damit beschäftigt vor besagtem Löwen, Drachen und Minotauren zu fliehen. Es gibt doch nichts unterhaltsameres, als einen wieder aufgestandenen Gescheiterten, vielleicht noch das Scheitern an sich. Diese morbide Art der Unterhaltung. Es wollen, doch alle nur unterhalten werden. Vielleicht bin aber nur ich das. ›Der Mensch braucht jeden seiner Werte, sie sind das Nonplusultra und seine Existenzgarantien. Ich aber, kenne nur den Spießrutenlauf… Der Mensch ist in einem ständigem Evaluierungsmodus… Er selbst ist sich sein Maßstab. Mir ist dieser Maßstab überdrüssig und ich – ich bin ihm abtrünnig geworden…‹

zwei Desserts und ein Abendbrot mehr.« »Guter Punkt! Also?« »Ich habe ein Bordell angezündet, nachdem man mich nicht reinlassen wollte.« »Und was machen Sie dann hier?« »Wie gesagt«, sagte ich und zuckt mit der Schulter. »Niemand glaubt mir« »Und sind Sie mal auf die Idee gekommen, dass Sie das Bordell wahrscheinlich nicht angezündet haben?« »Aber man wollte mich nicht reinlassen.«

Und noch weitere hohle Phrasen und floskelartige Formeln standen in großen Lettern im Zimmer eines Selbstmordkandidaten – auf Din A4 Blättern ausgedruckt – eines Suizidalen, wie man sagt, der sich erhängt hat, wie man sich in der Anstalt erzählte. Was mir eine letzte, doch wirksame Warnung war. Ich lief an seinem Zimmer vorbei, als gerade die Wände gewaschen wurden. (Er hatte neben den Din A4 Ausdrucken auch die Wände vollgekritzelt, wie im Gefängnis die Tage zählen.) Wer den Teufel an die Wand malt, ist ihn zumindest erst mal los. Es wollen doch alle nur erregt werden – kann den das schädlich sein? Kann denn je von einem Schaden gesprochen werden. Diese Werteworte, sollten abgeschafft werden und durch die Bezeichnungen: Bewegung und Stillstand ersetzt werden. Denn das ist alles, was wir bedeuten. Bewegung, bloß bewegen, man muss sich bewegen. Ich schweife ab. Es liegt auf der Hand das Freundschaften Zweckbeziehungen sind, die der Erhaltung eines Funktionsniveaus dienen und ihr Mittel dazu ist

s gibt einfach so viel, was fehlt. Wir reden natürlich über gelernte Assoziationen und unerfüllte Ich-Ideale und hausgemachtem Druck. Es ist dabei ganz gleich, was derjenige geschaffen hat. Auch ist es ein Kommunikationsersatz und eine Möglichkeit, sich in die Gesellschaft zu re-integrieren. Ein letzter Hilferuf. Verstehen Sie, Kunst? Wozu existiert Kunst denn sonst, als Menschen zusammen zu führen? Man liest dann immer von den vermeintlich erfolgreichen Gestrandeten und zwar nur deren

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geistert von seinem erfolgreichen Versuch sich selbst eine Manie zu induzieren, erzählt »Und was passiert dann?«, fragte ich skeptisch.« »Das ist ja das Beste!«, rief er durch den Klinikgarten. »Ich bin etwa zwei Wochen in diesem Modus von überwältigendem Glück und dann kommt der Schreibmodus von allein zurück.«

die Teilung einer oder diverser Gemeinsamkeiten und (oder? Sagen Sie’s mir Atanassov) Beschäftigungen. So kam man dann leicht ins Gespräch. Im Sommer auf der Veranda der ländlichen Heilanstalt. Es gab genügend Dinge, über die man sich, in aller Herzlichkeit beschweren konnte. Das Pflegepersonal, was mal zu früh und mal viel zu spät kam. Über das Essen, mal zu heiß, mal viel zu kalt. Über die Getränke, mal zu trocken, mal viel zu feucht. Über die Nächte, mal zu dunkel, mal viel zu hell. Über den Kaffee, zu bitter, zu heiß, zu sauer, zu fad. Über den Venushügel in Radlerhose, der Therapeutin in der Gruppentherapie, wenn sie ihre Beine anwinkelt und auf den Stuhl stellt. Ach es gibt ja hunderte Dinge dieser Art. Das fade Leben braucht Verschleierung. Etwa in derselben Art gestalteten sich auch die Gespräche. Mein Kaffee schmeckt heute einfach zu sehr nach Kaffee. Das Leben braucht Beschäftigung. Konversation ist eine leichte Art der Beschäftigung. Lamentieren ist eine leichte Art der Konversation. Der gewöhnliche Wahnsinn ist langweiliger, als man das gemeinhin annimmt. Als ich ihn das nächste Mal sah, sprudelt der gerade noch depressive Musiker über vor Enthusiasmus. »Mir geht es gut. Gut ist kein Ausdruck. Ich kann fliegen.« »Was ist anders?« »Nun das ist eine Art Programm.« »Programm?« »Ja also, wenn ich schreiben muss, dann versetze ich mich in diesen depressiven Schreibmodus.« »Und danach?« »Und dann, jetzt kommt das beste«, sagte er strahlend. »Dann reduziere ich meinen Schlaf. Jeden Tag um zwei Stunden, bis ich bei Null angekommen bin und wie von Zauberhand, geht es mir fantastisch.« Wie geht man damit um, fragte ich mich, wenn ein Patient be-

Das Rauchen, war nicht gern gesehen und ich pflegte gern zu sagen, indes wir im Hof standen, jeder Löcher in den Boden scharte, ich ein Streichholz aus der Packung nahm: »wissen Sie meine Herren, jede Zigarette.« Eine Kippe mir zwischen den Lippen lag. »Jede Kippe, jeder Zug ist ein Schritt näher.« Kurze Pause, ziehen am besagtem Stummel, in die Runde glotzen. »Ins Grab.« Sarkasmus ist die letzte Defensive und Ironie das letzte Aufgebot einer scheidenden Existenz. Es wurde mir empfohlen, noch eine Weile zu bleiben. Ich denke, es ist auch gewollt sich anzufreunden – ein bisschen zumindest. Sie wollen wissen, weshalb ich Ihnen davon erzähle? Es war mir sonderbar, wie die Menschen, die ich zu kennen glaubte, auf meine zurückliegende Unterbringung reagierten. Ich erkannte dort, wie wenig wir wissen, wie herzlich wenig wir unsere Mitmenschen kennen. »Berthold, ich wusste ja überhaupt nicht, wie schlecht es um Sie stand. Sie hatten auf mich immer einen besonders festen Eindruck gemacht. Ich bewunderte Sie, d e r

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Sie sich von den gewöhnlichen Rhythmus, den ordinären Riten, des normalen gut-bürgerlichen Typen, los gesagt hatte. Der sich ungebunden hie und da niederließ. Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen Arbeit nach Andalusien schickte. Ist Ihnen erst in letzter Zeit so übel geworden?« Nein. ›Ist Ihnen vielleicht irgendwann, als wir im Bordell waren etwas passiert?‹ Nein. ›Ich kann mir das nicht erklären«, schrieb mir der entsetzte Lindbergh.‹ Interessant, wie wenig wir wissen oder was sagen Sie, Atanassov? »Und«, fuhr mein ehemaliger Assistent fort, als wir telefonierten. »Wie ist es Heute, denken Sie immer noch, Sie hätten – Sie wissen schon, denken Sie sich noch immer – ?«, sagte er zögerlich stotternd. »Denken Sie immer noch, sie hätte das Bordell angezündet?« Alle dachten ich sei verrückt geworden. »Nun ja, es gibt zwar keine klaren Beweise, ich kann Ihnen aber sagen…«, begann ich und das schwarze Schnur-Telefon im langen marmorierten Flur der Anstalt knisterte. »Bitte, bitte Sie müssen darauf nicht antworten, wenn es Ihnen unangenehm wird, Sie haben mein vollstes Verständnis. Lilienthal, Sie waren doch immer eines der nützlichsten Tiere. Und wenn Sie, eines Tages geheilt sein werden, sprechen Sie mich an. Ich meine an unsere Filmhochschule können Sie wahrscheinlich nicht arbeiten. Sie wissen ja der gute Ruf. Aber wer weiß, vielleicht lässt sich ja außer Landes ein Engagement arrangieren.« Leonard, ich will meinen: eine innere Entwicklung wird, wie auch immer sie geartet sei, früher oder später hie und da an die Öffentlichkeit treten. Kommen Ihnen erst einmal Zweifel auf, Sie werden sie schwer verbergen können. Das ist Ihnen klar, nicht? Ich möchte mit meinen Vorträgen nicht Ihre Intelligenz untergraben. Das dürfen Sie nicht denken. Versprechen Sie mir das? Man ist ja so einsam hier. Was ich interessant fand; man selbst längst im Klaren darüber, ist dann doch sehr verwundert über die entrüsteten Reaktionen seiner Mitmenschen. Ist das nicht Absurd? »Ich war schon immer Risikofreudig. Was wunderst du dich darüber, dass ich mit dem Flieger bei dem Wetter noch rausgehe«, erklärte

ich vor Jahren, meiner damaligen Geliebten, die ich in der Segelfliegerschule kennengelernt hatte. Den Wind spüren. Die Strömung im Rücken wissen. Windböen von der Seite an den fragilen Flieger schlagen fühlen. Wie auf der Autobahn, die Leitplanke flüstern hören. Wenn man einmal mit dem inoffiziellen Vertrag der Gesellschaft gebrochen hat. Also gegen essentielle Werte verstoßen hat; ist es sehnlichst schwer wieder in die Gesellschaft einzutreten. Nicht nur unbedingt, weil einen die Gruppe ausgestoßen hat, sondern weil man sich selbst von der Versorgungslinie abschnitt. Nicht alle Pflanzen, können sich bei gekappten Wurzeln, neue züchten. Am besten man wechselt den Standort und beginnt ein neues Leben, irgendwo anders. Irgendwo weit weg neu sein, echt sein – diese Stadt verlassen – und ein neues Leben zu leben beginnen. Das Scheitern und das Verderben wird einem Folgen, wie ein mieser Schweißgeruch an einem haften und einem die besten Illusionen verderben. Ich hatte mich natürlich nicht wegen Brandstiftung eingewiesen, sondern um es in Churchills Worten zu sagen: an manchen Tagen meide ich Bahnsteige.

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zungen von fünfzig Minuten. Ich fand das ganz clever am Anfang und Ende der Woche. Erst Wunden aufbrechen, dann zu nähen und wieder aufbrechen.

Es blühen die schönen Blumen so schön, weil es so schöne Blumen sind

Rahel weißt du eigentlich, diesen ganzen Zirkus veranstalte ich nur wegen dir.

Bereinigtes Transkript #I Oppenheimer Lilienthal, Berthold

ls ich jünger war hatte ich diese Freundin mit der ich auch zusammen wohnte und wir hatten einige Freunde zusammen. Sie erinnern sich, wir waren zwei Teile eines Joint Ventures. Und mit diesen Freunden kamen wir auf die gewitzte und glorreiche Idee, es wäre jetzt an der Zeit erste Erfahrung mit Drogen zu sammeln. Da waren wir Sechzehn oder Siebzehn. Wir trafen uns alle in unserer ersten Wohnung und von dort aus, fuhren wir in die Stadt, die mal meine Heimatstadt war, und kauften uns ein als Duftsäckchen getarntes Paket psychotrope, halluzinogene Pilze. Noch in der folgenden Nacht probierten wir unsere neuste Errungenschaft aus. Es war für mich, während die anderen infantile Spiele spielten, einer hatte auch im Rausch meine Freundin angefasst… Es war für mich, wie ich in meiner Ecke sitze, als würde ich in einem Theaterstück sitzen, indem sich externalisierte Selbstanteile in Grund und Boden streiten. Ich hatte früh mit dem Schreiben angefangen und es war für mich immer etwas, wie meine Existenzgarantie, als Sinn an dem ich mich fest klammern konnte. Nach dieser Nacht hatte ich drei Jahre nicht geschrieben dann brach es wie wundersames Feuer zurück und ich schrieb. Ich erinnere mich, wie ich mit meiner Freundin am nächsten Tag in der Küche saß und wir Tee tranken. Sie eine Art von verkatert war und wir scherzten über letzte Nacht. Auch damals war ich mehr als janusköpfig. Ich verstehe bis heute nicht, warum habe ich nicht einfach erzählt, wie schlimm das die Nacht davor war? Wie ich da meinen Tee trank, spürte ich nur irgendetwas war gegangen und hatte ich verloren.

Therapeut: Herr Lilienthal, erzählen Sie mir aus Ihrem Leben.

n der Klinik fanden wöchentlich, neben den Gruppentherapiesitzungen, zwei Mal immer Dienstags und Donnerstags sogenannte Einzel-Gespräche statt. Das waren also Therapiesit-

Lilienthal: Wenn Sie von Erlösung sprechen. Ja Erlösung, war schon das Ziel.

Lilienthal: Es heißt oft, man könne den Suizid bei kranken Menschen rechtfertigen. Ich rede von geistig verstörten – Irren, Verrückten. Wissen Sie, weil die angeblich nicht wissen, was Sie tun. Glaube Sie, ich weiß nicht, was ich tue? Therapeut: Herr Lilienthal, wann kamen Sie das erste Mal auf die Idee, sich umzubringen? Lilienthal: Haben Sie, denn noch nie daran gedacht? Therapeut: War das ein besonderer Moment? Waren es immer besondere Momente, wenn Sie daran dachten? Lillienthal: Was soll daran besonders sein? Therapeut: Erlauben Sie eine Routinefrage? Lilienthal: Bitteschön. Therapeut: Haben Sie nie an Ihre Familie gedacht. Hatten Sie nie Gewissenbissen? Lilienthal: Gewissenbissen? Ich war noch ein Kind, als ich es mir zum ersten Mal ausmalte, Hand an mich anzulegen. Therapeut: Dachten Sie danach, eine Art Himmel, Hölle, Dharma oder Nirvana, würde auf Sie warten?

Therapeut: Weiter. Sprechen Sie.

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Lilienthal: Jenseitige Erlösung. Ob nun Diesseitig, machen wir uns nichts vor, das war nie die Frage.

Therapeut: Würden Sie selbst sagen, Sie stecken in einer Krise? Und macht Sie diese Frage aggressiv?

Therapeut: Erzählen Sie mir von Ihrem Eltern.

Lilienthal: Eine Krise ist es, wenn man nicht weiß, wie es ausgeht.

ür mich war das eine große Spielwiese. Ich tollte durch die Flure der Klinik. Gab den Verrückten. Ich fühlte mich nie wohler, als Geisteskrank. Leid hin oder her, ich fühlte mich nie wohler, als in meinem natürlichen Habitat. Ich war wie ein Darwinfinke auf den Galapagosinseln, der von Insel zu Insel fliegt, wie ich von Station zu Station wanderte. Natürlich legte ich mir zurecht, was ich in der Sitzung sagen werde. Natürlich baute ich eine Geschichte auf. Natürlich fand ich es witzig, dem Therapeuten etwas vor zu lügen. Natürlich fand ich es lustig, mich selbst zu belügen. Ich weiß nicht, ob er mich ernst genommen hat. Musste er wohl. Selbst wenn, welche Rolle spielt das? Spielt es überhaupt auch nur irgendeine? Selbst wenn, es ist so oder so, Hopfen oder Malz verloren.

Therapeut: Wissen Sie denn, wie es ausgeht?

ch fühlte mich schwach. Ich war schwach. Ich musste verhindern, dass ich mich schwach fühle. Schwächlich fühlte ich mich immer, wenn ich mich zu lange gut fühlte. Dann war immer etwas falsch. Dieses übersteuerte gute Gefühl, irgendwann platzt das Trommelfell, irgendwann wird man taub.

Fremd-Manipulation ist externalisierte Eigen-Manipulation. Du-Botschaft ist Ich Botschaft.

Bereinigtes Transkript #II Oppenheimer Lilienthal, Berthold

Das taube Gefühl nach zwei guten Wochen. Zwei Wochen Glück, heißt in Vierundzwanzig Stunden dekonstruieren und sich Monate beschissen fühlen. Es muss jedes gute Gefühl dekonstruiert, labilisiert und zerstört werden. Jedes Gefühl von Glück birgt Gefahr, verbirgt unbändige Leere – als Nachgeschmack. Leben aber das man nicht enttäuscht werden kann, ist selbst die Enttäuschung. Man wird von seinen Hilfskonstruktionen von Gedanken übergangen. Man meint sich trennen zu können, dann spricht man von Manipulation und man erzählt stolz, wie man die Anderen nicht an der Wahrheit teilhaben lässt und ihnen etwas vorgaukelt. Eine gespielte Emotion und die Reaktion des anderen Menschen, der meine Autonomie nicht verstehen kann. Es bleibt wie es ist. Der Andere existiert nicht außerhalb von mir. Atanassov, sie existieren nicht. Atanassov, ich existiere nicht. Fremd-Manipulation ist externalisierte Eigen-Manipulation. Du-Botschaft ist Ich Botschaft.

Lilienthal: Hand an sich anlegen, ist auch zu euphemistisch. Als ich ein Kind war, dachte ich wie ein Kind und ich dachte, nicht an Suizid, Selbstmord oder Freitod. Das sind für ein Kind unbekannte Fremdworte. Therapeut: Ihr Vater, hatte einen Hang zum Glücksspiel. Lilienthal: Einfach der Gedanke zu gehen, war angenehm. Es sich auszumalen. Als Jugendlicher, wollte ich dabei immer einen Anzug tragen. Therapeut: Also begriffen Sie nicht, welche Konsequenzen, ihr Verhalten, nach sich zog.

Lilienthal: Ein infantiler Charakterzug, den ich Zeitlebens nicht verloren haben.

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Bereinigtes Transkript #III Oppenheimer Lilienthal, Berthold

Der Tag an dem die Diagnose gestellt wurde und ich werde Ihnen nicht den Gefallen tun, zu schreiben, was für ein Störungsbild mir attestiert wurde, entweder sie wissen es bereits oder es spielt keine Rolle. Dieser Tag an dem die Diagnose gestellt wurde, veränderte mein Leben. Nicht weil ich dann endlich wusste, was mit mir nicht stimmt. Anfänglich war es sogar eine Erleichterung, ich ging lachend frohen Mutes durch die Klinik. Hielt hier und da ein Schwätzchen. Dieser Tag, ich trat aus dem Behandlungszimmer, hinaus in den Garten der Klinik, der Himmel schimmerte bläulich. Verhüllt unter einer herannahenden Dämmerung, wirkten Wolken, wie blasse Worte und ich fühlte mich seltsam indifferent. Seltsam dümmlich. Grimassierte und tickte leicht – wie man es auch von Menschen in psychotischen Episoden kennt. Dieser Tag änderte alles. Auf einmal war mein Störungs-relevantes Verhalten sinnvoll. Auf einmal hatte ich das Gefühl ich müsste meine psychotischen Anteile nicht mehr unterdrücken. Nicht mehr mein eigener Supressor sein, denn an seine Stelle war ein fürchterliches Surrogat getreten und mir war meine mächtigste Waffe genommen worden. Wissen Sie Leonard Andorra Atanassov, diese destruktive Seite an mir, ich konnte sie nutzen – in beide Richtungen, verstehen Sie? Denn sie bedeutete eine Sache nicht zu machen. Meine Destruktion bedeutet Entzug. Vor allem eben in suizidalen Krisen war meine Destruktivität, das Mittel der Wahl: Wind aus den Segeln zu streichen. Mit der Diagnose jedenfalls, war Suizidalität eine richtige echte und vor allem gute Sache. Wenn Dinge rein sind, ich sie nicht mit Zweifel zersetzen kann, dann... Sie wissen worauf ich hinaus will.

Therapeut: Inwiefern, denken Sie, haben Erfahrung, wie soziale Enttäuschung, Isolation und Ihr Vermeidungs-Verhalten, selbst-gewählte Deprivation, Sie verändert? Lilienthal: Ich dachte mal, die Deprivation, wie Sie sagen, wäre etwas um meine Bedürfnisse zurück zu setzen. Ein Reset. Etwas um Leben zu spüren. Sie verstehen, eine Kontrast, eine Linie zu ziehen. Ich bin, allerdings zu dem Schluss gekommen, dass es eine Vorbereitung auf meinen Abgang war. So zu sagen, eine Generalprobe – mir die Angst, vor dem Sprung zu nehmen. An manchen Tagen sollte man Bahnsteige meiden. Therapeut: Erzählen Sie mir, von ihrem ersten Versuch.

Bereinigtes Transkript # IV Oppenheimer Lilienthal, Berthold Therapeut: Weshalb sind Sie hier? Lilienthal: Weil ich einen Suizidversuch, als Brandstiftung getarnt habe Therapeut: Was war Ihre Absicht? Lilienthal: Ich wollte mir mein Leben nehmen. Therapeut: Und wenn Sie den Suizd, als einzige Form der Selbstwirksamkeit begreifen… Lilienthal: Dann bringe ich mich um. Therapeut: Also was ist Ihr Auftrag an mich?

an fühlt sich clever, den anderen auszutricksen. Man fühlt sich wie Jesus. Man ist aber nicht Jesus. Man glaubt, man würde außerhalb stehen, man gibt vor, nicht dazu zu gehören. Sich trennen, heißt sich trennen und es heißt nicht, den anderen wissen zu lassen, wie man sich trennt.

s war an einem Sonntagnachmittag. Ich saß in meinem Zimmer. Es war wohl gerade Mittagspause in der Anstalt. Ich sah aus dem Fenster. Hatte meine Schreibmaschine vor mir aufgebaut. Computer waren nicht erlaubt. Die

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Pfeife neben mir. Zigaretten waren unerwünscht. Und ich begann einen Brief an Rahel Bernstein Tschkalowa zu schreiben. Ich war das erste Mal in einer Psychiatrischen-Klinik und redlich gelangweilt. Das war nicht mein Umfeld. All die gescheiterten. Ich wollte nicht zu diesen gescheiterten dazu gehören. Ich weiß nicht, was Anton Nihad Lindbergh, mit dem Bordellmaterial gemacht hatte. Ich wusste nicht, ob er den Film je veröffentlicht hatte, oder es überhaupt vor hatte. Wir telefonierten ab und an und schickten uns Briefe. Ich bat ihn mir Tschkalowas Anschrift zu besorgen. Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen, lesen sie diesen Brief, mein sehr verehrter Leonard Andorra Atanassov und sagen Sie mir Ihre Meinung dazu. Ich will noch eines hinzufügen: wenn dem so ist und ich recht behalten sollte, in dieser einen Sache und es im einfachen direkten negativen Sinne, immer eine innere Idee des Scheiterns gibt und das eigentliche gesellschaftliche Scheitern, später also als logische Konsequenz folgen muss. Dann muss das auch im Umkehrschluss gelten und ich sollte, wohl irgendwann anfangen eine andere Idee in mir aufkeimen zulassen – Closedown: mir läuft die Zeit davon.

Therapeut: Es sei denn, Sie möchten ein Spiel spielen.

Bereinigtes Transkript #V Oppenheimer Lilienthal, Berthold

Therapeut: Ich habe versucht mich um zu bringen, das weiß ich, und ich werde es wieder tun. Jetzt Sie Lilienthal!

Lilienthal: Mir ist alles recht. Legen Sie los, was spielen wir? Wie sind die Regeln? Aber passen Sie auf, ich bin ein Fuchs! Also legen wir los! Worum geht‘s? Therapeut: Das Spiel ist ganz einfach. Wir tauschen die Rollen! Von jetzt an, bin ich derjenige, der sich umbringen will und Sie sind der Therapeut. Lilienthal: Das klingt langweilig. Therapeut: Sie haben es mir versprochen. Lilienthal: Also gut. Ich muss mich räuspern… Guten Tag, Sie wollen sich also umbringen? Therapeut: Es ist schon einige Wochen her. Ich hatte versucht, mich in der Badewanne zu ertränken. Rotwein hatte ich auch. Lilienthtal: Und wie stehen Sie jetzt zu Ihrem Suizidversuch?

Lilienthal: Sagen Sie Ihren Satz und ich werde geheilt sein.

Lilienthal: Was wollen Sie denn damit erreichen?

Therapeut: (Schweigt.)

Therapeut: Darüber habe ich nicht nachgedacht, aber wahrscheinlich, wollte ich erst Einmal weg. Wie eine Reise. Ich wollte schlichtweg nicht mehr. Ist das so schwer zu verstehen?

Lilienthal: Na los, haben Sie sich nicht so. Sie sagen mir, was ich tun soll. Therapeut: (Schweigt.)

Lilienthal: Glauben Sie denn, dass hätte Ihnen etwas gebracht?

Lilienthal: Haben Sie keine Ideen?

Therapeut: Wir drehen uns im Kreis! Seien Sie kreativer Lilientahl!

Therapeut: Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen. Es sei denn – .

Lilientahl: Denken Sie denn, ich kann Ihnen helfen?

Lilienthal: Es denn, was?

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insgesamt eins komma eins Prozent aller Verstorbenen Menschen im Land. Vor fünfunddreißig Jahren übrigens haben sich noch vierundzwanzig Menschen auf hundertausend umgebracht. Heutzutage sind es nur noch zwölf. Öfter mal gab es kurze Ausschläge im Verlauf der statistischen Kurven und das meist aufgrund des Werther-effektes, der besagt nach der Selbsttötung einer bekannten Person, löst das eine Welle von Suiziden in der Allgemeinbevölkerung aus. Meist wiederholen die Nachahmer auch die Todesursache. Sie erinnern sich an den Torwart, danach ist die Zahl der Schienentode signifikant und zwar um achtzehn Prozent angestiegen. Im Vergleich zu zwei Jahre vor dem Vorfall. Fünfzig Prozent der Menschen, die sich selbst töten gehen nebenbei gesagt noch einmal in einer Zeit von einem Monat vor der Tat zum Arzt. Achtzehn Prozent noch am selben Tag. Allerdings würden viele nicht über ihre Plänen reden, sondern von somatischen Beschwerden berichten. Interessanterweise bringen dreimal so viele Männer wie Frauen um. Nämlich Vierundsiebzig Prozent. In einer Top Ten der Arten und Weisen führen Schusswaffen die Liste der Männer an, wohingegen bei Frauen die Vergiftung an erster Stelle steht, die wiederum bei Männern auf Platz drei liegt. Um zweiundzwanzig Prozent von Erhängen überholt. Auch bei den Frauen ist Er-

Therapeut: Wollen Sie mir denn helfen? Lilienthal: Wissen Sie man kann sich nicht umbringen.

tanassov lassen Sie uns ein bisschen über Statistik reden. Sie wissen ja vielleicht, das Amt für Statistik ist in vielen Dingen immer circa zwei Jahre hinterher – das liegt in der Natur der Sache. Vor zwei Jahren also haben sich nahezu Zehntausend Menschen das Leben genommen. Das Amt führt die Bezeichnung: vorsätzliche Selbstbeschädigung. Das sind

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rauchend auf einem Handtuch und schreibe Ihnen diesen Brief. Und das Rahel, stell' dir mal vor, obwohl es verboten ist hier. Die Frage ist, schreibe ich heimlich deinen Brief oder rauche ich heimlich? Was ist hier verboten? Sicher der Brief. Du fragst dich wo hier ist. Nichts liegt mir näher, als deine Fragen zu beantworten. Rahel ich kann dich nicht auf die Folter spannen, dazu liebe ich Sie zu sehr. Hier ist die Anstalt. In die ich mich selbst einwies. Mach dir keine Sorgen. Wenn ich draußen bin, bin ich bei dir. Warte auf mich. Nein du musst dir keine Sorgen machen. Musst du nicht. Rahel du musst ja nichts, ich weiß. Aber glauben musst du mir, denn ich liebe nur dich. Anstalt, Klinik – ja! Krankenhaus. Ich bin aber nicht krank. Nicht geisteskrank. Rahel, du musst verstehen, das war eine Vorsichtsmaßnahme. Ich bin hier in der Klinik, wie manche im Fitnessstudio. Ich mache das in aller erster Linie zur Prävention. Und weil ich – ehrlich gesagt – clever bin. Wie viele Menschen laufen da draußen rum und sind unglücklich, depressiv, leiden unter Zwängen oder Folgen einer Traumatisierung. Tausende, Rahel, Tausende. Du merkst, man macht hier viel Psychoedukation mit mir. Das ist auch gut so. Das ist mein kostenloses Seminar. Für mich ist das hier: Bildungsurlaub. Rahel, kein Mensch bricht sich einen Ast ab, sich neben Kunst und Kultur auch in Psychologie zu bilden. Nichts anderes läuft hier. Ich habe mich eingewiesen aus Bildungszwecken. Wer weiß, wo diese neue Erkenntnisse einfließen, vielleicht in einen Film? Das ist auch was mir die Therapeuten hier sagen. Es ist eine Schande, sagen sie, dass man heute, wenn man sich um Psyche und Soma kümmert, als krank gilt. Und das meint sich einweisen, wenn's kritisch wird – nicht das es je kritisch bei mir war. Ich bin stabil, wie je und eh. Das hier ist Prävention – wie gesagt. Da musst du mir glauben, Rahel. Rahel, denkst du ich belüge dich? Rahel ich weißt nicht mal, wie man das Wort: Lüge, buchstabiert. Die Therapeuten sagen, ich soll nicht so oft an dich denken. Und sie sagen auch, es war gut, dass ich mich eingewiesen habe. Du willst wissen warum? Wer einmal l-ü-g-t, dem glaubt man nicht. Sollen die doch reden. Ich bin dir treu. Aber wo sie recht haben, mit der Einweisung habe ich

hängen auf Platz Nummer zwei, aber Schusswaffen spielen kaum ein Rolle. Wahrscheinlich so ein Männer-ding. Eine letzte Sache noch. Raten Sie mal wie viele von denn fast Zehntausend Leuten einen Abschlussbrief schreiben. Na was denken Sie? Achtundzwanzig Prozent, nur achtundzwanzig Prozent. Ich hätte gedacht das würden mehr Leute machen. Und dazu machen es Neunzig Prozent handschriftlich und sieben Prozent per SMS. Ich gehöre also zu den drei Prozent, die es irgendwie anders machen. Leo, dieser Brief ist mein Abschiedsbrief an Sie Atanassov, wenn dieser Brief zu ende geschrieben ist, werde ich auch meinem Leben ein Ende setzen.

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Für Trauer, gebe ich dir einen Tag. Ein Traum: Rahel kommt zu Besuch. Ich habe irgendwann mit ihr geschlafen. Wir sind in einem Raum, meinem Zimmer nicht unähnlich. Ich will wieder mit ihr schlafen. Sie will nicht. Sie muss an einen ähnlichen Ort wie ich. Richtung Dorf (wo ich diese Pilze genommen hatte). Aber Stunden später, lege ich das Telefon auf. Die zwei Stunden Fahrt werden ihr nicht bezahlt, sie will später fahren. Nach langem hin und her. Schaffe ich es sie zu fingern und sie auszuziehen. Sie zieht sich wieder an. Das geht so weiter. Bis ich anfange sie zu lecken. Es schmeckt nach Ammoniak – sehr ekelhaft. Ich will trotzdem mit ihr Schlafen. Frage ob ich ein Kondom benutzen soll und benutze eines. Ich bekomme nur eine halbe Erektion. Es reicht aber um einzudringen. Ich fühle nichts. Ein Freund ist in meinem Zimmer, währenddessen ich nichts fühle, sitzt er auf einem Stuhl und pisst von dort in meinem Kleiderschrank, wieder. Ich gehe aus Rahel raus und schlage ihn zusammen.

eliebte Rahel Bernstein Tschkalowa, ich muss Ihnen etwas gestehen. Liebe Rahel, ich muss Ihnen von einem Vergehen berichten, welches ich mir heute Nacht zu Lasten gelegt habe. Es ist fünf Uhr morgens. Ich sitze

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Ich versuchte weiterhin: die obere Gesichtshälfte von der unteren Visagenhälfte zu isolieren und die für ein Lachen typischen Falten um meine Augen zu formen, ohne jedoch tatsächlich zu grinsen. Ein bisschen Embodiment-training, dachte ich. Sie wissen ja Psychoedukation. Auf der Suche nach Alternativbehandlungen, wie Depressive mit Licht bestrahlen oder EKT wenn's ein bisschen ruppiger sein soll. Ich zog auch meine Hose aus. Legte das Handtuch auf dem feuchten Waschbecken ab und stieg in die Dusche. Drehte den Hahn auf und ließ eine heiße Spülung über meinen Körper fahren. Schaute dabei auf. Zumindest streckte ich den Kopf mit geschlossenen Augen der Brause entgegen und lauschte dem Rauschen des vorbeifließenden Wassers und fühlte die Tropfen auf meinen Lippen und Lidern aufschlagen. Hielt mich an der Wand fest und sank in mich zusammen. Ich saß in der Dusche und die Brause sprudelte Wasser auf meinen ruhenden Körper. Ich öffnete die Augen, blickte nach unten und beobachte es wachsen und wieder in sich zusammenfallen. Erigieren und wieder erschlaffen. Suchte eine Erektion, ohne Berührung mit meinen Gedanken auszulösen und beobachtete weiter wie mir wieder Blut in die Lenden schoss und es sich beinahe im selben Moment wieder aus meinen Lenden verflüchtigte und in meinem Körper verteilte. Der Wasserschwall schoss weiter aus der Brause und wusch mir den Schweiß von meinem Körper, als wäre es ranziges Öl. Ich griff die Brause und zog mich an ihr nach oben. Öffnete den Wandschrank und entnahm ihm eine schwarze Dose, in der sich mein Rasiermesser befand. Das Messer in der Hand, ließ ich mich wieder auf den Boden der Dusche fallen. Klappte es auf, setzte an und zog es in geraden Bahnen die Haut meines Oberschenkels nach oben entlang. Währenddessen er auf und ab wippte. Sich Adern vom Schaft ausgehend nach oben zur Spitze zogen und sie, je härter er wurde, desto weiter hervor traten und je weniger erregt ich war; desto eher zogen sie sich wieder in mein Fleisch zurück. Das Wasser spülte die gelösten Haare meines Oberschenkels in den Abfluss. Ich packte mein Organ, setzte das Messer an und entfernte zuerst die oberen Haare.

einen Schritt getan, dem sich Viele verweigern. Man muss sein Leid nicht mit sich rum tragen, man kann es bearbeiten. Ich wünschte Stalin, Churchill und Truman hätten das gewusst. Auch wenn das heißt, dass man dämliche Hausarbeiten machen muss. Sich Ängsten stellen. Mit Schnipsgummi in den Arme schießen – manchmal sind die Therapeuten, wahre Sadisten. Sollen sie doch selber schnipsen. Ludwig, Übermut, Gustav, Emil und Nordpol – nach DIN fünftausendundneun, Regeln für ein schreibgerechtes Diktieren. Es tut mir leid, jetzt bin ich etwas abgeschweift. Fünf Uhr dreißig. Dritte Zigarette. Das Handtuch unter mir, immer noch klamm. Von der schwülen, meinen Körper zusammen pressenden, Luft da draußen, wurde mir mein Körper ganz schwitzig und ich lag in meinem Klinikbett in Unterhemd und Unterhose und weil mir mein Körper so schwitzte war und die Decke an meinem Leib klebte, zog ich das Unterhemd aus. Zu meinem entsetzlichem Erstaunen, trocknete die klebrige Oberfläche meiner Haut nicht sonderlich und ich beschloss an das offene Fenster zu treten und mich an dem in mein Zimmer strömenden Wind zu trocknen, als ich feststellen musste: auch diese Methode verschaffte mir nicht die Trockenheit, die ich mir erhofft hatte, fasste ich den Gedanken eine heiße Dusche zu nehmen. In der Hoffnung mir den inzwischen angetrockneten Schweiß vom Leib waschen zu können. Wie an Sommertagen heißen Tee trinken, clever dachte ich. Schloss das Fenster, warf das Handtuch, was sich noch von der Abend-Toilette auf meinem Bette befand, über meinen Rücken und fand mich im Gemeinschaftsbadezimmer der Station wieder. Nachts. Alle schliefen, bis auf die Schwestern, aber die sind meist durch den Fernseher abgelenkt. Das heißt ich kann mich leicht an denen vorbei schleichen. Auch hier Lug und Trug und ich konnte mich dem Blick in den Spiegel zuerst nicht erwehren und so schaute ich minutenlang mein mienenloses Gesicht, wie eine Wand an. Ich formte meine Lippen zu einem Lächeln und ließ die Muskeln wieder entspannen. Mit der Gefahr im Hinterkopf, jederzeit könnte einer der anderen Patienten ins Bad kommen und mich dabei sehen – heißt mich erwischen. Folgen Sie soweit, liebste Rahel?

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kommen meinem Ohr näher und ich saß noch in der Dusche, das Rasiermesser lag aufgeklappt vor mir, im Abfluss schwammen meine Haare, welche ich sorgsam aus der Haut meines Gliedes geschnitten hatte. Im Stationsbadezimmer in der Dusche masturbierend sah ich Sie und mich, wie wir beide im Café frappant über den Tisch gebeugt hocken, ich Ihnen noch die Visage entgegen recke und sie flüstern mir ins Ohr: »folge mir.« Und ich will einen Trichter in mein Gehörkanal stecken – weil ich es lauter hören will, was du Rahel zu sagen hast. Sie nehmen meine Hand und reißen mich aus dem Ohrensessel. Wir schauen uns um. Man sieht uns nicht. Wir schleichen Richtung Badezimmer. Sie stoßen mich mit dem Hakenschuh in die Kabine, dass Ihnen das Kleid übers Knie rutscht. Fallen wie aus Versehen hinterher. Stecken zuletzt nochmal den Kopf aus der Kabine. Links und rechts kein Mensch. Gitarrenmusik dringt unter dem Türspalt zu uns und ehe ich mich versehe, haben Ihre Zähne meinen Hosenknopf gelöst, rutscht sie mir in die Knie und umschließen ihre Lippen, meine Dame, meinen Schwanz. Röchelnd entweichen Töne aus Ihren schönem Mund, der mein Geschlecht ganz und gar verschlingt. Die Hüfte nach vorne geschoben, drücke ich mich in die Tür der Toilettenkabine. Ich will Ihnen diesen Gefallen tun und mein Schwert so tief, wie irgend möglich in Richtung Ihres Thorax stechen und zervikales Würgen klingt wie ein Kompliment. Spucke, Rotze und Erbrochenes rinnt vorbei an Ihren Mundwinkeln und tropft auf deine weiße Bluse. Sie spucken auf mein Geschlecht. Ihre Hände auf meinem Arsch, drücken Penis in Speiseröhre. Männerträume – eine Geschichte der Gewalt. Tränen verwischen Make-up und verheulte Augen gucken an mir Empor, wie Touristen in Rio. Dann stehen Sie auf. Ich noch immer, wie in der Tür liegend. Meine Augenlider flackern ungläubig. Sie entkleiden sich zur Hälfte und stellen einen Fuß auf der Toilette ab. Ihr Kleid ist nach oben gerafft, wie eine Jalousie. Sie beugen sich nach vorn, reißen mein Glied an sich und ich hebe ab von der Tür. Wie auf dem Ritterturnier spießen sie sich selbst an meine Glied auf, als wäre es eine Lanze. Und stöhnen bitterlich und jämmerlich, dass es bis in das Café zu hören. Ich ficke Sie von vorne Rahel. Ich ficke Sie

Eine rituelle Geduld ließ mir den Moment für ewig erscheinen, wie der Bogen einer Violine, den Ton der Saiten angestrengt hält. Als ich die höheren Haare entfernt hatte, bemerkte ich: die Ersteifung begann, mit einer Erhärtung der Spitze und nahm mit der Erschlaffung dieser wieder ab. Ich presste ihn an den Bauch und rasierte die freigelegten Haare auf meinen Hoden. Währenddessen ich immer wieder kurz zwischen durch, die Hand, die ihn gegen Bauch presste dazu bewog; die Haut, im selbigen Händedruck, nach oben und unten zu bewegend. Dabei starrte ich auf das Rasiermesser. Stoppte die Masturbation und fuhr mit der Rasur fort. Als ich die Haare auf meinen Hoden vollständig entfernt hatte, setzte ich am Phallus an. Nutzte seine Versteifung und die spannende Haut, auch die Haare auf dem Schwanz kurz über der Haut abzutrennen. Wobei ich auch dabei kurze Pausen einlegte. Masturbierte und stoppte, kurz bevor sich eine Ejakulation ereignen konnte. Die Rasur und die duschende Brause, schien mir, wie eine rituelle Waschung und heilige Entrückung. Tatsächlich, erschien mir mein Glied mit jedem entfernten Haar gewaltiger und Adern durchdrungener, als es vor meiner sakralen omnipotenten Rasur war. Verstehen Sie, Rituale? Folgen Sie Rahel? Ich hatte jedes einzelne, sich auf dem Penis befindende Haar abgetrennt und legte das Messer aufgeklappt vor mich hin. Schloss meine Augen und fuhr mit meinen Händen an meinem Körper entlang. Bis ich schließlich an meinem erigierten und pulsierenden Geschlecht ankam. Und langsam, erst sachte dann mehr und mehr und gewalttätig, die Haut nach unten und oben schob. Währenddessen ich noch masturbierte, kam mir ein Bild in den Kopf. Wie Sie Rahel und ich im Café sitzen. Ohrensessel, kniehoher Tisch und langsame, tiefe Gitarrenakkorde aus versteckten Lautsprechern. Rauchend und trinkend komme ich dem deinem Ohr näher und Sie Rahel, Sie beugen sich über den Tisch. Wir fühlen uns unbeobachtet. Ich halte meine Hand auf Ihren lieben Wangenknochen, drücke und dränge Sie von der Mitte des Tisches in den Ohrensessel und spreche flüsternd, »ich will mit Ihnen schlafen, Mademoiselle.« Und Sie befreien sich aus der Ohrensessel-Falle und Ihre Lippen

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von hinten Bernstein. Ich ficke Sie von der Seite Tschkalowa. Sie wirken auf mich, als hätten sie drei Monate nicht gefickt und Angst, niemand würde Sie so schnell wieder ficken. Sperma schießt auf die offene Scheide des Rasiermessers und ich falle gegen die Wand der Dusche. Verstehen Sie, Masturbation? Ich sitze auf meinem Krankenzimmer auf einem Handtuch. Es ist sechs Uhr morgens. Neben mir drei andere Patienten, schlafen tief und fest. Haben sich an meine nächtlichen Schreibexkursionen gewöhnt. Und währenddessen ich Ihnen rauchend schilderte, wie ich nachdem ich meinen Schwanz unter der sprudelnden Brause der Dusche im Stationsbadezimmer rasierte und mitten dabei masturbierte und an Sie dachte Rahel, riecht es nach Aftershave. Wissen Sie Rahel, ob ich das wirklich gemacht habe oder nicht, spielt keine Rolle. Es geht für mich nur darum Wirklichkeit und Realität zu abstrahieren. Das – weshalb weiß ich nicht – macht mich einigermaßen glücklich. Und zwar nur das – hat es sonderbarer Weise schon immer. Schreiben und Produzieren ist mir, was dem HIV Patient seine Pillen sind, ich muss mich jeden Tag an ein bestimmtes Regime von Schreib- und Produzier-medikation halten. Das drückt die Viruslast und mindert die Ansteckungsgefahr. Folie à deux, Sie wissen was ich meine. Steht übrigens nicht mehr DSM – FYI. Weißt du Rahel für mich ist das mit dem Suizid nur so eine Sache um zu testen wie weit man im Leben gehen kann. Verstehst du das ist eine messbare Sicherheitsmaßnahme für eben das Leben, das ich wirklich so sehr liebe. Und was man liebt muss man beschützen und beschützen kann man nur, dessen Existenz-Grenzen man kennt. Wie soll man sonst das Risiko kalkulieren. Woher sonst Risikowahrscheinlichkeiten berechnen. Deswegen diese Suizidversuche, ich musste wissen wo das Leben endet, damit ich es beschützen kann, weil ich es so sehr liebe, wie ich dich liebe. Rahel du und das Leben, das ist – für mich – eine untrennbare Einheit geworden. Wenn ich weiß, dass es dich gibt – weiß ich, dass es das Leben gibt. Wenn ich weiß: du denkst an mich, weiß ich das Leben ist mit mir. Rahel, ich will dir keinen Druck machen. Du sollst dich ganz frei fühlen. Ganz frei. Auch

wenn du nicht direkt bei mir bist, solange ich weiß, dir geht es gut, bleibe ich am Leben. Ich muss es nur wissen. Das ist alles. Ich muss nur wissen, du bist am Leben. Ich bitte dich daher, du darfst dich keiner Gefahr aussetzen. Wir sind miteinander verbunden, wie das ungeborene Kind mit der Mutter. Stirbt die Mutter, stirbt auch das Kind. Rahel dir geht das Wesen voraus. Das Wesen geht dir voraus! Weißt du das nicht? Denk daran Rahel, wenn du dich als Kriminalpolizistin unnötiger Gefahr aussetzt. Ach Rahel, warum bist du nur Polizistin geworden? Warum wurdest du nicht einfach Mutter? Und wir beantragen für dich Mutterschaftsurlaub zum Schutze der Mutter. Oder Büroangestellte

Wir sind miteinander verbunden, wie das ungeborene Kind mit der Mutter. im Hochsicherheitstrakt eines Geheimdienstes. Nichts ist besser überwacht, als der Geheimdienst selbst. Rahel werde doch meine Assistentin. Dann kann ich dich behüten und beschützen, denn das würde auch mich schützen. Rahel verstehst du nicht, ich bin unsterblich aber du bist meine Achilles-sehne. Jeder Held braucht eine Schwäche und Verwundbarkeit. Rahel du bist meine schwache Stelle – meine Schwäche. Deine Liebe ist mein Nektar und Ambrosia. Rahel deine liebe macht mich unsterblich. In Liebe ihr Berthold Oppenheimer Lilienthal.

Ich bin ein armes Schwein, liebt man mich nicht.

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Kunstgriff und Kraftakt

Rahel Noushin, Hilde, Babette, Deborah ihr seid Symbole und Stellvertreterinnen für einen brodelnden inneren Konflikt.

ch hatte beschlossen das Familienerbe in mir aufzukochen, zu leben und die Konflikte, die darüber hinaus auf mich fallen werden, wie Scham verhüllt – ich hatte beschlossen jeden einzelnen dieser Konflikte durch zu stehen, durch zu arbeiten, und nicht in sie fallen. Was ich konkret damit meine? Zum Beispiel die Dekonstruktion meiner Projektionsflächen. Das heißt nicht in die Versuchung zu geraten Leere mit Liebe auszugleichen. Nämlich wie ich sie bisher empfand entweder als Verlustgeschäft, das heißt zu wissen; von vorn herein zu

wissen Verlust und Einsamkeit zu erleben. Hier dient Leid und Schmerz als Distraktor für Leere und als immanente Illusion und Idealisierung und äußert sich in unbändigem Anziehen bestimmter Menschen als Ersatz. Hier auch Pars pro Toto Abwehr. In Form der Fixierung auf die vermeintliche Schönheit der Frauen – ein gutes System. Sehr Ich-Synton und stabil. Oder ich erlebe Liebe als ein System meiner Autonomie-Suppression. Hier gilt alles was freundlich ist, alles was lieblich ist, alles was Besitzansprüche markieren will und alles was gut sein will für mich, muss abgestoßen werden – ist schlecht und darf nicht zu mir kommen. Ist ein Fremdkörper, der mich zersetzen will, muss ich wie in einer Autoimmunreaktion abtöten. Mitunter mischen sich an dieser Stelle beide Formen mit einer stupiden Ahnung von Fehlbeurteilung. Die Verlusterwartung – unerreichbarer Frauen und Projektion in diese nur in diese – letztlich Reaktanz und Autonomie-Suppression. Wenn beide Agenten überflügelt werden von einer Fixierung der Erwartung, so schön wie die sind, müssen sie auch klug sein – vielmehr muss ich auch fühlen können. Gedankenenge und überwertige Ideen – soweit die klinische Begriffe. Letztlich die internale Attribution: wenn ich nicht fühlte. Darüber hinaus, Initiierung erlernter Hilflosigkeit. Erzeugen von Leid heißt Identität finden.^ Konflikte meiner Familie und ich hatte beschlossen, ich werde diese Konflikte durchschreiten. Natürlich die Dekonstruktion ist zunächst, sich wie in Ketten zu legen und das freiwillig, das gelingt nur mit genügend Willen oder Leidensdruck und Obacht, dass es nicht zur Verstärkung von so oder so inhärentem Leid wird. nki der Gott des fruchtbaren Wassers, wandte seinen Blick zum Euphrat. Stolz erhob er sich wie ein mächtiger Stier. Richtete sein Glied auf und vergoss sei-


das einzige Wort, an das ich denken konnte, als mein Therapeut und einer der Ärzte vor mir saßen und mit mir meinen Brief durchgingen. »Herr Lilienthal, wäre es in Ordnung, wenn wir diesen Brief einmal zusammen durchgingen?«,sagten sie meinten weiterhin das wäre ein gute Gelegenheit, mein Beziehungsverhalten – wie ich in Beziehung gehe – zu analysieren. »Was haben Sie sich dabei gedacht? Wieso haben Sie das nicht vorher mit uns besprochen? Wir hätten doch zusammen einen Brief schreiben können… Jemanden beschämen, ist wie Blut vergießen, steht im Talmud. Mein Therapeut ließ es sich nicht nehmen, den Brief meinem Pfleger zu geben, der es sich nicht verkneifen konnte, den Schwestern davon zu erzählen, die es wiederum nicht lassen konnten, mit einigen Patienten darüber zu plaudern. Innerhalb weniger Tage wusste die gesamte Klinik von dem Brief. Unter den selben geheimnisvollen Umständen, wie das gesamte Haus von dem Brief erfuhr, landete er auch in den Händen der Patienten, mit denen ich ein Zimmer teilte. Ich kam gerade aus einem Einzelgespräch mit meinem Therapeuten. Öffnete die Tür zu meinem Zimmer und die Stimmung war irritierend ausgelassen. Wie am ersten Tag im Ferienlager. Man schaute zu mir. Steckte die Köpfe zusammen. Zehn Leute zeigten auf mich und lachten. Ich fühlte mich, wie so oft inkompetent, ausgeschlossen und insuffizient. Ich setzte mich auf meine Bettkante, griff unter mein Kopfkissen, nahm ein Buch heraus und gab vor zu lesen. Schlammstadt. Ein Mann wohnt in einer Stadt, die übersetzt Schlammstadt heißt. Ich hatte dieses Buch zum ersten Mal mit vierzehn und dann in meinem Leben immer wieder gelesen. Vielleicht war es so etwas wie eine Initialzündung. Seither habe ich immer wieder mit der Legitimation meiner Existenz gehadert und begriff erst jäh, dass das Buch etwas nimmt, wie es etwas gibt. Es nahm mir die Leichtigkeit des Seins. Es nahm mir das schlichte Erfahren der Leben. Übersehen hatte ich das Angebot, den Lösungsvorschlag, welchen das Buch vorschlägt. Wenn Existenz an sich absurd, zufällig und letztlich nichtig ist, dann muss man im Schatten eines Werkes stehen. Einer der Patienten nahm neben mir Platz auf dem Bett und fragte mich, wie es mit der Post

nen Samen. Er füllte den Euphrat mit glitzerndem Wasser. Da unterwarf sich ihm der Tigris wie ein ungestümer Stier, der das Brautgeschenk bringt. Die sanfte Erde und die fruchtbare Kuh wurden vom reichen Samen des Himmels durchdrungen. In ihrer Freude ließ die Erde die Pflanzen des Lebens entstehen und in ihrer Überfülle ließ die Erde Bier und Honig fließen.« Habe ich nicht selbst geschrieben, sondern im Fernsehen, im Gemeinschaftsraum der Klinik, gesehen. Ich schreibe ein Gedicht aus Sperma in Keilschrift, in Silben und Ideogrammen auf die Fließen der Dusche.

Jemanden beschämen, ist wie Blut vergießen, steht im Talmud. Als ich einmal abnehmen wollte und deswegen zehn Tage nichts als Diat-Shakes zu mir genommen habe, hatte ich einen kleinen Trick: ich kochte etwas zu essen, wie zum Beispiel Spaghetti Bolognese, fühlte es in eine durchsichtige, aber sehr feste Plastiktüte und kaute auf der Tüte herum. Manchmal füllte ich dann peu à peu etwas Wasser in die Tüte, als Speichelersatz. Ich machte daraus eine wahre Wissenschaft und recherchierte, wie viel Speichel auf wie viel Gramm Nahrung im Mund gebildet wird. Rechnete und fühlte exakt die Menge nach und nach in den Beutel, bis die Mahlzeit hätte verdaut sein müssen. So hatte ich wenigstens das Gefühl, ich würde etwas essen – wie ficken mit Kondom. eine liebste Rahel antwortete nicht direkt auf meinen Brief. Ich erhoffte mir schon eine Antwort, daher ließ ich das Briefcouvert nicht ohne Absender. Rahel schrieb auch einen Brief, nur leider nicht an mich, sondern an die Klinik und mit in den Umschlag legte sie meinen Brief. In den darauf folgenden Tagen war mein Brief irgendwie von der Klinikleitung an meinen Therapeuten gekommen.

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eine wie: call a Pizza. Eine die immer da war, die wenn er rief, sofort kam. Eine immer enttäuschte, nie geliebte und zuerst und zuletzt Vergessene. Eine, die sich immer ein bisschen zu dick fühlte und dann sich seitwärts vor den Spiegel stellte und sich über den Verlust von einem halben Kilo freute – dabei den Bauch einzog. Eine deren Haare kräuselig und braun, fast gelockt aus ihrem einsfünfzig-Körper, wie eine Pferdemähne wuchsen. Die stolz war auf ihre Haare. Die Haare, die eine wahre Pracht waren. Wie Anton es mir gegenüber mal erwähnt hatte, der sonst schweigsam war, über alles was das Privatleben anging. Sie hatte ihm eine Gebetskette geschenkt. Sie war Türkin und er trug die Kette stolz Tag für Tag. Ich weiß nicht, ob er die Kette wegen ihr stolz trug oder weil er solche Ketten einfach mochte oder Schmuck allgemein. Ich weiß ja nicht mal, ob Nihad religiös war. Die Kette lag um sein Handgelenk und baumelte von seiner Hand herab, seine Finger spielten damit und am Tag, als er starb fuhr er mit dem bekannten Auto – unserem Agentenauto! Und war nicht schlechter Dinge. Ich weiß nicht wohin er fuhr, vielleicht hatte er die Dokumentation über das Bordell vollendet und war auf dem Weg irgendwohin – um mal raus zu kommen. Urlaub in den Bergen. Oder doch zu mir? Auf der Fahrt verfing sich die Kette im Zigaretten-Anzünder und das obwohl er das Rauchen aufgegeben hatte. Nicht der Stromschlag, brachte ihn um, der war nur ein müdes Kitzeln, aber ungeahnt genug dem schreckhaften Nihad einen tiefen Schock beizubringen. Die Straße führte durch eine Tunnel. Reflexartig riss Lindbergh die Kette aus dem Anzünder und riss dabei simultan das Lenkrad nach links und fuhr auf die Gegenfahrbahn. Wie der Zufall es wollte, steuerte im Moment als sich das Kettchen verfing und Anton schockierte ein LKW-Fahrer auf der anderen Seite in den Tunnel. So dass die beiden im Moment, wo Anton das Lenkrad rum riss bei Tempo Hundert auf einander trafen. Der Rest ist schnell erzählt. Anton schleuderte es an die Tunnelwand, wo er noch einige Meter, wie Batman verkehrt herum in Richtung des Tunnelinneren schlitterte, indes sein Sicherheitsgurt ihn strangulierte und als das Fahrzeug, wie eine müde Fledermaus von der Decke fiel, war Anton bereits blau angelaufen, außer Atem und

lief. Wir saßen auf einer Bühne, wie im Theater. Ob ich meiner Familie schon geschrieben hätte, ob es überhaupt jemanden gebe, mit dem ich Briefkontakt pflegte und ob ich schon Antwort erhalten hatte.

Eine der oberste Klinikregeln war das strikte Verbot von Gewalt jeglicher Art. Wie gesagt, ich gab vor zu lesen und versuchte zu ignorieren, was die mit mir vorhatten. Was funktionierte, leidlich funktionierte, bis ein anderer Patient in einem Ruck auf einen Tisch inmitten des Zimmers kletterte. In seiner Hosentasche kramte und einen losen und zusammen gefalteten Zettel hervor holte. Ihn auseinander faltete, sich heroisch räusperte, als hätte er Großes zu verkünden und begann mir und dem Rest meiner Mitpatienten, den Brief an Rahel vor zu lesen: »Geliebte Rahel«, setzte er an. » Bernstein Tschkalowa«, machte sich über Rahels Namen lustig. »Ich muss Ihnen etwas gestehen«, alberte er meine Stimme nach. »Liebe Rahel«, süßholzraspelte er, gab ich vor zu lesen und mich nicht dafür zu interessieren. »Ich muss Ihnen von einem Vergehen berichten«, sang er in die Runde. »Welches ich mir heute Nacht zu Lasten gelegt habe«, Musical im Patientenzimmer. Eine der oberste Klinikregeln war das strikte Verbot von Gewalt jeglicher Art. Wie soll ich sagen? Der Bruch mit dieser obersten Regel führte auch zu meinem Rausschmiss. un Atanassov, sagen Sie mir empfanden Sie den Brief auch als so – sagen wir einfach, unmöglich, unangebracht, inadäquat, kontraproduktiv, suboptimal und ungünstig? Vielleicht war ich auch etwas aufgebracht, weil ich am selben Tag von Antons Tod erfahren hatte. Mir schmerzt der Kiefer vom Zähneknirschen – ich habe gehört . Wollen Sie wissen, wie Anton Nihad Lindbergh verstorben war? Kennen sie diese Gebetskettchen? Eine Affäre, eine Liebschaft für nebenbei,

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erstickt. Was war nun Grund für den jähen Tod? War es die Frau, die ihm die Kette schenkte? War es die Kette? War es der Herr Gott persönlich? War es das Auto? Der Zigarettenanzünder? Wodurch starb Anton Nihad Lindbergh? Er starb daran, ein Geschenk anzunehmen. Hier liegt die Schuld. Amen. Dreiunddreißig Perlen einer Kette für Dreiunddreißig Gebete – jeden Tag. Du bist groß. Es gibt keinen Gott außer dich. Ich glaube, an deinen Propheten.

… Ende

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dieses Gesicht gehört zwei verschiedenen Menschen und hier dachte ich, die Spaltung ist inzwischen deutlich Sichtbar. Es ist ein Kunstgriff und Kraftakt, mich beisammen zu halten. Ich verließ die psychiatrische-Klinik. Was fragen Sie denn nicht? Natürlich war ich stolz. Wissen Sie, jeder Wechsel birgt Zufriedenheit. Ich liebe jede Bewegung, weil jeder Stillstand mich in Ketten legt. Ich saß pfeifend in der schaukelnden Bahn, es war kalt. Irgendwann im Februar. Die Bahn war so voll, dass Menschen sich unbeholfen, wie Pinguine, aneinander rieben. Ich kuschelte mit den fremden Menschen und dachte an meinen toten Assistenten und wohin uns der Fluss des Lebens getrieben hatte. Anton Nihad Lindbergh war jemand für den nur Leistung zählte. Er war jemand, für den sein Anspruch auf Leistung wie sein Herzschlag und Atmen gehörte und jemand dem zeitlebens die Anerkennung auf genau eben diese seine Leistung versagt wurde und sein Rezept um das Verschwinden seiner Leistung zu bekämpfen – war mehr zu leisten. Das ist wie strampeln in Treibsand. Er war auch jemand, der in einem fremden Land geboren war, das Land der Granatapfel, Feigen und Datteln. Oppenheimer, sagte er, ich bin wie Bambus, ich biege, verbiege und verbiete mich, aber ich breche nicht. Als Lindbergh neun Monate alt war, starben seine Eltern in Konflikten die in seinem Heimatland brodelten. Er kam in ein Waisenhaus, bekam dort den Namen Nihad und wurde von einer fremden Familie adoptiert. Fernab vom Grollen des Krieges. Und seine Adoptiveltern sagten er solle den Namen Nihad behalten, den dieser Namen hatte ihn vor dem Tod bewahrt und sie gaben ihm dazu die Namen Anton und Lindbergh. Er gehört zu den Menschen, die nie erfuhren wer die Eltern waren, wann genau er geboren wurde und welchen Namen die Eltern mal für ihn ausgesucht hatte. Er wollte nie wissen, wer ihn gezeugt hatte. Er wollte nie wissen, wie er geheißen hat. Er wollte nie wissen, was geworden wäre, wäre er nicht im Waisenhaus aufgefangen worden. Er wollte nie wissen, was gewesen wäre, ohne Krieg und Konflikt. Als er fünf Jahre alt war, stand er mit dem Adoptivvater vor dem Spiegel im Badezimmer,

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Spaltung II

Suizidale Krisen sind eine Schande und Schmach. Wie Beton an deinen Füßen. Du willst das Leben genießen, aber die Steine in deinem Magen wiegen schwer. Du fühlst dich leer, ausgezehrt und abgemagert. Wenn Mensch, aufhört zu sein.

ie Klinik-Leitung war ganz freundlich zu mir und gab mir zum packen meiner Sachen mehr als einen Tag. Wahrscheinlich, dachte ich mir, kannte man meine Dokumentarfilme. Vielleicht hatte man sie mal, als Lehrfilme in der Anstalt gezeigt. Vielleicht wusste man, wer ich bin. Vielleicht war es auch Mitleid. Ich war allein im Zimmer. Es war gerade Ausgang oder meine Zimmergenossen, waren was weiß ich wo. Unser Zimmer hatte Zwei Hochbetten, es schliefen also Vier Männer in einem Zimmer. Ich fühlte mich, wie auf Klassenfahrt oder wie im Ferienlager, nur dass mir damals noch kein Bart wuchs. Neben der Tür stand ein Waschbecken und Spiegel. Sonst gab es Gemeinschafts-Toiletten und Gemeinschafts-Duschen – ich hasse das Wort Gemeinschaft. Als ich davor, nachdem packen meiner Sachen, in den Spiegel meines Zimmers schaute, ist mir etwas sonderbares aufgefallen. Ich kam gerade wie von der Urteilsverkündung – meinem Rausschmiss. Wusch mir die Hände und spürte einen inneren Widerwillen mir mein Ebenbild im Spiegel anzuschauen. Der Spiegel war exakt auf Gesichtshöhe angebracht. Ich hatte den Kopf gesenkt, beinahe im Waschbecken versenkt und hob ihn bedächtig langsam, dass ich erst meine Frisur, meinen Haaransatz und meine Stirn im Spiegel sah. Noch träger schob ich meine Brauen und Augen in den für mich Sichtbaren Teil des Spiegels. Als ich mein Gesicht ganz im Spiegel betrachtete, fiel mir auf: die beiden Hälften aus denen mein Gesicht besteht, sind erschreckend asymmetrisch. Meine im Spiegel linke Gesichtshälfte schien deutlicher wacher, aktiver und angeregter zu sein. Hingegen meine Recht, war von Müdigkeit, Zweifel und Trägheit beschrieben. Zu meiner Sicherheit nahm ich eines dieser Papierhandtücher und verdeckte eine meiner Hälfte, dass ich die andere besser sehen konnte, und siehe da, hier bestätigte sich mein Verdacht,

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Anton überlegte, es war still. Er überlegte nicht, ob er es machen wolle, denn er wusste, er würde niemals auch nur einen Grashalm dieses Gartens gießen. Er überlegte lange, wie solle er es sagen ohne undankbar zu klingen. Wie solle er es sagen ohne den Ziehvater zu vergrämen. Er sollte ihm eine Alternative vorschlagen. Wie es auch gewesen war. Was Anton auch gesagt hat, noch in derselben Nacht, versenkte der Adoptivvater seinen Garten in dem Meer einer gewaltigen Feuersbrunst und bevor ein erster Sonnenschein, sich im Blätterwerk der Eschen, Linden oder Kastanien, verlieren konnte. W a r von den Bäumen, den Kräutern, Büschen

er selbst auf einem hohen Hocker, sie schwiegen und der Vater sprach: »wir mögen unterschiedlich anders aussehen. Man wird immer sehen können, dass ich nicht bin, was wir vorgeben zu sein. Aber für uns und die anderen, soviel ich sagen kann, werde ich immer das sein, was ein Vater einem Sohn ist. Es liegt an dir zu entscheiden, ob du das auch willst.« Und Anton Nihad Lindbergh, entschied dem fremden eigenen Vater nicht mit Worten, sondern mit Taten zu Antworten und er entschied, dass er diese Taten seine Leistung nennen wird. Der Adoptiv-Vater hatte einen wunderbaren und wunderschönen Garten, den er Zeit seines Lebens bepflanzte, hegte und wie beinahe wie ein Kind versorgte. Dann irgendwann wurde er alt und merkte, er schaffe kaum noch, all seine Pflanzen zu gießen, geschweige denn sie zu beschneiden und sie auf den Winter vorzubereiten, gar noch neue Bäume zu säen, Kräuterbeete anzulegen und den Garten mit einer Pracht aus verschieden blühenden Pflanzen zu beschenken. Der Garten fing an zu verwildern, Klatschmohn spross aus den Wegen und Disteln wuchsen im Schatten der Bäume und der Adoptivvater fragte eines abends seinen Adoptivsohn. Wie sie beiden in einem der herrlichen Pavillons im Garten saßen und Grillen zirpten, laue Abendluft über die Wiesen wehte, leises Quaken der Frösche aus den Teichen zu hören war. Da fragte Antons Adoptiv-Alter-Ego ihn, ob er nicht die Pflege des Gartens übernehmen wolle.

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Weil ich Zeit unserer Affäre Angst hatten, wenn ich einmal mit dir schliefe, nicht wieder von dir lassen zu können. In Liebe Noushin. Der Rest einer braunen und öligen Flüssigkeit kriecht aus einer weißen Porzellantasse und breitet sich auf dem Tisch aus. Das Ohr einer stummen und tauben Person presst sich auf den Tisch und die Augen der Person starren seitwärts geradeaus in eine unbändige Leere. Noushin Noushin, ich verstehe nicht, was ist da damals mit mir passiert?

und Feldern, nicht mehr als eine ächzende Wiese aus Asche über. So hat jeder sein eigenes Motiv. ch kam in meine Wohnung. Kennen Sie diesen alten Geruch, wenn Sie in Ihre eigene Wohnung zurück kommen? Das sind Sie. Sie riechen so. Man entfremdet sich selbst von seinem eigenen Geruch. Die Welt ist verrückt geworden. Meist nach einer langen Reise oder wie in diesem Fall, nach einem längeren Aufenthalt in der Klinik, ist das erste, was ich mache, einen Espresso trinken. Ich hatte mir mal so eine schöne italienische Espressomaschine angeschafft. Ich werde Ihnen aber nicht die Marke verraten, das habe ich im ganzen Brief vermieden und werde es jetzt auch nicht machen. Ich ließ meinen schwarzen Lederkoffer nach Schließen der Haustür aus meiner HAnd rutschen, dass er auf den Boden fiel und rücklings umkippte – wie ein Käfer auf dem Rücken lag. Mit der Schreibmaschine war ich sanfter und stellte das Gerät auf dem Küchentisch ab – wollte sie nicht in Käferposition sehen. Schaltete die Espressomaschine an, schaute wartend aus dem Küchenfenster, bis sie bereit war und bezog dann alsbald möglich einen dunklen, öligen und fast festen Kaffee. Setzte mich an meinem Küchentisch und trank diesen ersten herrlichen Espresso nach langer Abwesenheit. Und Kakaonoten, Säurenoten und Nussnoten fluten meine Rezeptoren auf der Zunge und lassen die Härchen in meiner Nase vibrieren. Ich kann Ihnen sagen, es gibt nichts schöneres. Ich habe Ihnen übrigens gar nicht erzählt, dass ich ein wahrer Pflanzenfreund bin. Na ja es schien mir wohl nicht wichtig. Die Espressotasse leer. Vor mir liegt der Brief. Liegen über zweihundert Seiten Überlebenskampf – eher Überlebensanliegen. Ich muss mich jetzt langsam ran halten dieser Brief ist sehr lang geworden. Einmal will ich noch das Leben versuchen. Einmal will ich noch raus in die Gesellschaft treten. Einmal will ich es noch wagen. Genug von diesen Trauertagen, genug von diesem Marter. Das Leben ist zu kurz sich mit Leid aufzuhalten. Ich wünschte Noushin würde mir schreiben und ich wünschte, ich würde lesen: Berthold, weißt du warum ich nie mit dir schlief? Weißt du das? Du weißt es ja nicht! Willst du es wissen, liebster Benno?

Glauben Sie Herr Atanassov, ja verstehen Sie; ich vermisste das Weibliche schon. Erst konnte ich mit gar keiner Frau schlafen, ja nicht mal treffen konnte ich mich mit denen, weil ein innerer Drachen und Minotaurus, ein inneres Zittern mich bei jedem Blick in meine Augen überrollt hätte. Dann erkannte ich, ich will die Frauen nur konsumieren und die Frau an sich, die Person, existiert nicht, dient ferner nur eben meiner eigenen Bestätigung, zu existieren. Meiner falschen Existenz ein Stück Leben abgewinnen. Als ich das wusste, war ich nicht länger Opfer dieser Leere und fickte Frauen über Frauen, immer ein Hauch schneller als Leere sein. Wissen Sie Finger können brennen auf meiner Haut wie Pech. Das Heil der gottlosen ist eine heikle Angelegenheit und Brandgefährlich für mich. Ich weiß ja gar nicht mehr wie das ist, sich nüchtern und liebevoll um einen Frauenkörper zu kümmern. Ja auch das davor, sich abholen, Essen gehen, ein Theaterstück sehen, etwas trinken und Nachhause fahren – all das kenne ich nicht mehr Was redete man dann so? Wie stellt man sich dann an? Ist man eher fordernd oder zurückhaltend? Wie Laufen oder Sprechen, hatte ich es verlernt mich um das Wohl einer Frau zu kümmern – es ist alles falsch. Ich bin falsch. Ich entwickelte ein besonderes und einzigartiges Talent. Wann immer eine Frau sich anbiederte, in mein Bett zu kommen und ich darauf auch gerne einging, wurde sie in meinen Augen unerträglich hässlich Schönheit schützt vor Hass. Währenddessen sie lacht, wölbt sich das Fett unterhalb ihres Kinnes zu einer abstoßenden Wurst. In ihrer Stimme bemerke ich ein wider-

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meinem Kopf sich der klapprige Projektor einschaltete und ein Märchen von Bindung erzählte. Es war jedes Mal eine Erschütterung bis in Mark und Gebein. Sicherlich gewöhnte ich mich an die Stärke des Stoßes. Ich bin ein Meister in Gleichgültigkeit, aber ungeachtet dessen, jedes Mal starb ein Teil von mir. Das finden Sie übertrieben? Ich solle mich zusammen reißen? Die Sache nicht so hoch -spielen? Ich finde das auch übertrieben. Die Frage ist ja, was wollte ich damit regulieren? Was sollten diese Bindungen in mir ausgleichen? Wissen Sie eigentlich geht es um etwas anderes. Wenn eine Frau mir näher kam, kam ich mir auch selbst näher und wenn ich mir selbst näher komme, kann es nur eine Antwort geben und die lautete: ich muss hassen. Soll ich Ihnen noch einen Schlag aus der Kindheit erzählen? Ich habe gehört, es fällt Menschen einfacher sich einzufühlen und dem Verhalten von Personen nach zu empfinden, wenn sie etwas aus der Kindheit des Betroffenen wissen. Ich bin da anderer Ansicht. Auch wenn ich Ihnen erzähle, dass ich große Teile meiner Kindheit in einem Krankenhaus verbrachte und meine Mutter mich, wegen Regelungen der Besuchszeiten im Krankenhaus täglich nur etwa zwei Stunden sah und sonst sich eher um mein leibliches, als um psychosoziales Wohl gekümmert wurde – soll heißen: man versorgte die Kinder mit Essen und Trinken, nicht aber mit Nähe, Wärme, Geborgenheit, Regulation und Vertrauen. Sie können sich denken, worauf ich hinaus will, nicht? Dort im Kinderbett des Krankenhaus entstand eine Sehnsucht, eine Suche nach innerem Vertrauen. Dort wo Regulation sein sollte, ist nichts außer Zerstreuung. Klassischer Hospitalismus, klassische Deprivation und Vernachlässigung. Die Fliesen gesäumten Flure, die ewig gleichen Türen, Eta-

lich es Fiepen, wie das Pfeifen eines alten Kohleofens. Die offenen und hochroten Poren ihrer Haut, wenn die Sonne darauf scheint. Wie struppig ihr Haar scheint, wenn es von Wind zerfahren wird. Es ließ sich immer irgendetwas finden. Waren ihre grotesken Züge nicht von solcher Art, verachtete ich ihre Freunde, ihre Arbeit, ihre Hobbies oder Unternehmung e n . Die Musik, die sie hörte. Die Bücher, die sie las. Die Filme, die sie liebte. Es ist variable. Ich muss Gutes zersetzen. Ich muss den wohlwollenden Blick zersetzen. Ich darf nicht untergehen in der Zuneigung der Anderen. Ich darf mich dem Heil der Gottlosen nicht hingeben. Mein Geist war zu einem Hüttchenspieler verkommen und ich zu dem Trottel, der glaubte: es befinde sich eine Kugel unter einem der Hüttchen. Es verzehrt mich innerlich und ich verwaiste in der Isolation. Verstehen Sie, Isolation? Und Verschleierung, können Sie damit etwas anfangen? Nun, ich hatte zwischendurch schon noch Frauen. Ich erzeugte anscheinend diese zufälligen Situationen. Ignorierte wohl absichtlich alle Zeichen der Zuneigung, war dazu noch grob, zumindest verbal und wunderte mich dann, wie es zum Beischlaf kam… – anders konnte ich ihn sowieso nicht vollziehen. Siehe Jazmin, Brooklynstreetrape et al. Es ging nur in der Überraschung. Ich durfte von der Balz, also nicht das geringste merken. Verstehen Sie, Zufälle? Jede dieser Rejektionen, jede Ablehnung und jede Zurückweisung – besonders, wenn angefangene, mehr imaginierte Verbindungen im Sande verliefen, wenn sie in Unbedeutsamkeit drifteten, wenn ich irrelevant wurde – wenn in

Schönheit.

Hass.

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Turnhalle und du stocherst weiter in der Erinnerung. Du willst immer mehr wissen. Der Rubikon ist überquert. Wozu immer Beklemmung in engen Räumen? Da siehst du dich. Du siehst nicht dich, du siehst ein Abbild von dir, wie du Kind bist. Wollen Sie einen letzten Exkurs in meine Vergangenheit mit mir wagen? Warum immer Beklemmungen in engen Räumen, warum immer Beklemmungen in nach Linoleum riechenden Räumen? Ich weiß es, weil mein Sportlehrer, er selbst damals Referendar mich beinahe, ich sage beinahe – missbraucht hätte. Er hatte in unserer Klasse Vertretungsunterricht gegeben. Wir waren um die neun und spielten irgendein Ballspiel über zwei Felder, und auch eines ähnlich wie Baseball, aber ohne Schläger. Am Ende der Stunde, das weiß ich noch, stand Alexander der Sportlehrer der Referendar vor mir. Ich erinnere noch immer die unheimlich dicken von hellen Haaren überwucherten Oberschenkel. Wahrscheinlich so breit, wie mein Brustkorb. Er fragte etwas wie, ob ich Sport machen würde. Ich begriff es als Kompliment und verneinte. An sein Gesicht erinnere ich mich nicht. Und fragte, ob ich der Leichtathletikgruppe beitreten möchte. Dann war ich sechs Monate beim Leichtathletik und habe nur sehr verschwommene Erinnerungen daran. Vielleicht an die Startblöcke, die leicht beweglichen Gumminoppen des Hallenbodens. Ich kann nicht mal richtig erinnern, was das für eine Halle war, in der wir trainierten. Retrospektiv kommt sie mir wie eine riesige Halle vor, die so riesig ist, dass ich weder die Decke noch das Ende der Halle sehen kann. Nur geradlinig die Bahnen, die wir rennen sollten. Ein kindlicher Spaß. Mit beiden Armen rudern und hastig laufen. An tatsächliche Übergriffe erinnere ich mich ebenso wenig, wie an Alexanders Stimme und seinen Trainingsanzug. Er hatte kurze Haare, das weiß ich noch. Meine Mutter sagt über diese Zeit, hätte ich mich sehr unwohl gefühlt und gemeint dieser Alexander sei komisch. Bin aber weiter zum Leichtathletik gegangen. Ich fand den Gedanken ich als Sportler, wohl ganz gut. Einige Zeit später hieß es, die Leichtathletikgruppe fährt in ein Trainingslager. Ich hatte ei-

gen und Menschen. Der Geruch, es riecht nach Sterilität. Der Geruch von Desinfektionsmitteln erzeugt Übelkeit. Da fällt mir noch ein, als dort der winzige Wurm in seinem Gitterbettchen lag, Fieber, Asthma und Lungenentzündung ihm sein frühes Leben versüßten. Das Würmchen einen Überlebenskampf ausfocht, der Degen spitz war und die Säbel klirrten. Da ist ihm zwischen die Gitterstäbe eine Frage und eine Antwort gelegt worden. Die Antwort war, es wird dir nichts von außen gegeben sein, du wirst immer formen und entscheiden müssen. Es wird niemals ein gemeines Gefühl von Stabilität und Einheit existieren. Dein Potenzial, ergibt sich aus Wollen und Willen. Die Suche nach Existenz habe ich mit der künstlichen Muttermilch aufgesogen. Sie lag sozusagen am Flaschenboden, der mir durch das Gitterbettchen gereichten Flasche. Heute aber glaube ich habe die Lust daran verloren, zu arrangieren, zu gestalten und mir mein Leben schick zu machen. Wie fanden Sie die kurze Geschichte aus der Kindheit? Wissen Sie nun mehr? Nichts wissen Sie. Du fragst dich, die ganze Zeit plagen dich Fragen und eine der quälenden Fragen: Warum immer Beklemmungen in engen Räumen. Warum Panik in Fahrstühlen. Wozu Aggression, wenn es nach Medizinbällen, Gummi-matten und dem Metall der Hochsprungstange riecht – du fragst, wozu immer unbändiger Hass, wenn es nach Turnhalle riecht und wie du dich in Fragen wälzt und windest, gräbst du dich immer näher an eine Wahrheit heran und du merkst, wie dein Geist sich vergeblich abmüht, jeden Gang, den du gräbst, zu verschütten. Du setzt dich bewusst den Reizen aus. Es interessiert dich. Du bist eine Forschernatur, was Introspektion angeht. Ich dachte immer, man muss jeden Wunschtraum und jede Phrase magischen Denkens auseinander nehmen und sie ihrer Verführung berauben. Aber ich habe mich geirrt, man muss seine Illusionen schützen. Du bist rücksichtslos, gnadenlos und von deinem unabdinglichen Weg nicht abzubringen, deswegen gewinnst du einen Preis für deine Mühen. Und der Preis ist eine Erinnerung. Und die Erinnerung sieht Artefakte von Bildern einer

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nen Freund in der Gruppe, er hieß Matthias. Ich wehrte mich und wollte partout nicht mit in das Wintertrainingslager. Meine Mutter, die immer ein bisschen zu sensibel und feinfühlig mit mir war, witterte die Gefahr und befreite mich vom Trainingslager. Dass ich nicht protestierte, gab ihr wohl recht. Später erfuhren wir, dass Matthias im selben Zimmer wie Alexander schlafen musste, indessen alle anderen Kinder in jeweils Dreibettzimmer schliefen, nur Matthias nicht, der schlief im Lehrerzimmer. Meiner Mutter veranstaltete eine agitatorische Hetze und stieß auf taube Ohren. Sie hatte die anderen Eltern gewarnt noch bevor es ins Trainingslager ging. Besonders Matthias Eltern. Sie lief gegen Wänden. Niemand wollte den Sportlehrer bezichtigen pädophil zu sein. Und so ging ich weiter zur Schule, hatte wieder mit der gewöhnlichen Sportlehrerin Unterricht und war nicht mehr in der Leichathletikgruppe. Beinahe missbraucht und trotzdem bekomme ich in engen Räumen immer Beklemmung, wann immer ich in Umzugsräume und ähnliche Räumlichkeiten komme, fühle ich mich sichtlich unwohl, geht eine aufrührerische Pogrome durch meine Glieder und veranlasst mich zu fliehen, wie auch immer. Manchmal auch durch die Fenster von Toiletten, wenn ich mich in der Kammer eingesperrt fühle, unbedingt ausbrechen muss und die Tür als Flucht, weil es so ordinär ist, nicht ausreicht, dann zwänge ich mich durch enge Toilettenfenster, gut wenn ich dann noch verletzt werde. Gut, wenn es anstrengend ist. Gut, wenn es schwierig ist. Gut, wenn die Flucht ein Wagnis wird. Nur dann glaube ich mir. Was Alexander der Sportlehrer in Spe damit zu tun hat, weiß ich nicht. Am liebsten würde ich ihn selbst Fragen. Indessen andere Menschen sich einen externen Gegner suchen, von mir aus Alkohol, Heroin oder Kokain, währenddessen andere das innere nach außen legen. Habe ich mich entschieden, mich nicht für eine Externalisierung zu entscheiden und die Gegner, Feinde und Widersacher dort zu lassen, wo sie hingehören, nämlich nach innen. Wozu immer diese Beklemmung in engen dunklen Räumen? Wozu immer Panik in engen dunklen Räu-

men. Wozu suche ich immer dunkle enge Räume? Was will ich da begreifen? Was will ich da suchen? ch frage mich nebenbei immer ob Kunst, vorzugsweise ihre Veröffentlichung ein Versuch in Sachen Selbstwirksamkeit ist. Von Menschen, die entweder nie gelernt haben selbst wirksam zu sein oder im Laufe ihres Lebens den Bezug dazu verloren haben. Aber wissen Sie Leonard Andorra Atanassov, da sind wir einer Meinung: Veröffentlichen ist Non-sense. Wir dürfen nicht wagen, den Verlegern zur Liebe zu schreiben. Es ist Schwäche auf eine Bühne zu gehen. Es ist albern vor zu tragen, was man sich in seinem Kämmerlein bei Kerzenschein ausdachte. Man darf sich nicht von außen holen, was in einem selbst nicht ist. Man darf sich nicht beschwichtigen und besänftigen lassen und ferner glauben, es sei etwas geschafft.

Man hat nur Zeit gewonnen. Ob wir nun über Publizieren reden oder davon Frauen aufzureißen. Ich will ehrlich sein, das ist alles Entfernung und Futter für die Sinnlosigkeit der Existenz. Aber ist meine Reaktion nicht vorhersehbar gewesen? Habe ich, haben Sie nicht schon gewusst, dass ich nun wirklich – das wird albern – dass ich, wovor ich mich fürchte und das dazu gehörige Verhalten, in eine eleganten Charakterzug verwandeln und attribuieren werde – klar wie Schlieren von Licht in der Morgendämmerung. s ist 6 Uhr morgens. Ich kann nicht schlafen. Ich habe nichts gemacht die Nacht, denn geschrieben. Meine Glieder sind träge. Meine Hände zittern, vor Koffein, welches ich stündlich in mein Körper injiziere. Ich bin eine traurige Gestalt von Mensch. Es wird bald hell

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draußen. Es läuft auch Musik. Es herrscht hier ein heilloses Chaos. Keine freie Stelle, überall liegt etwas. Ich mag das Dröhnen, der Flugzeuge am Morgen. Etwas beständiges, etwas zum fliehen. Es hat sich ausgeflohen, alle Gedanken, die schützen, sind ausgeflogen. Sind das Stereotypen einer verängstigten und deprivierten Persönlichkeit? Bin ich noch Mensch oder bin ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle? Bin ich stückweise zu Stückwerk verkommen? Die Person, die ich mir versuche diesen Reigen von Scheitern und Verderben, schön zu reden? Bin ich nicht wie Antonius? Das im Übrigen ist eine Geschichte, welche ich Ihnen schon lange schicken wollte. Ich schrieb sie, wie alle guten Stories auf meinem Bett. Schales wein-trunkenes und morgendliches Licht drang durch die Gardinenschals meines Fensters. Ich hatte in der vorangegangen Nacht nicht schlafen können und so entschied ich – vernünftig wie ich nun einmal bin – mir ein paar Flaschen Wein zu kaufen und öffnete diese noch auf dem Nachhauseweg. Aber mein Bewusstsein ist ein dummer Kämpfer. Im Schlafzimmer, meine Decke, war irgendwie kreuz und quer um mich, wie Schlangen, geschlungen. Nicht nur das, ich erwachte von dem Drang, zu schreiben, als hätten meine traubenhaltigen Träume mir von Inspiration erzählt.

»Wenn ich all die Dämonen zähle, die mich befallen, bleibt mir einer für jeden Tag und am Ende übrig – bleibe nur ich. Feuer, Wasser, Wind und Staub, peitschen meinen Körper. Schmerz ist nur Schmerz. Hunger ist nur Hunger. Schmerz ist nur eine Form des Hungers. Hunger ist nur eine Form des Schmerzes. Schmerz ist nur eine Form der Sehnsucht. Sehnsucht ist nur eine Form von Suche. Ich bin nicht mein Hunger. Ich bin nicht mein Schmerz. Ich bin nicht meine Sehnsucht. Ich bin nicht meine Suche«, sang er das Kreuz fest in der Hand drückend und Augen aufgesperrt. Antonius steht am Ende seines Lebens am Berge Kolzim und er sprach: »mein lieber Berg, mein Leben ist Angst. Ich fürchte mich vor jeder Berührung. Meine Eltern waren gestorben und meine Schwester schickte ich zu den Jungfrauen. Mein lieber Berg ich habe mich so sehr in die Enge getrieben. Mein Körper ist ausgemergelt und ich bin von innen her zerrissen und ich nannten meinen Pfad; den heiligen Pfad und ich glaubte nach dem ich allen Teufeln widerstand – ich sei befreit. Da sah ich auf meinen hungrigen Körper hinab und da erkannte ich, dass es nur zwei Teufel gibt und ihre Namen waren Furcht und Schrecken und ihr Werkzeug ist die Enthaltsamkeit. Ihre Verführung ist gegen sie ankämpfen zu wollen. Mein lieber Berg, mein Leben ist verfehlt, doch man wird mich als Heiligen feiern, aber ich bin nur das einsame Kind Gottes, welches aus dem Schmerz des Verlustes, sich in die Einsamkeit und Enthaltsamkeit trieb. Weil ich so sehr Angst hatte und mein Name sollte, Antonius, der der das Vertrauen verloren hat, heißen, der sich in die Wüsteneinsamkeit flüchtete und dem es ein Leben-lang nicht gelang, über seine Angst zu erwachsen und stattdessen eine Lehre aus seiner Furcht machte und Tugend, aus seiner Schwäche. Doch man wird mich Antonius den großen und heiligen nennen.

Erlauben Sie noch eine kurze Geschichte? Ich will auch bald zum Enden kommen.

ANTONIUS SUCHE NACH REGULATION. er heilige Antonius ist kein Retter. Der Eremit Antonius widersteht. Der große Antonius aus Ägypten hebt sein Kreuz und im Wind weht wild sein Haar. Der junge Mann folgte dem Ruf in die Einsamkeit, nachdem seine Eltern verstarben. Der alte Mann starb und hinter ihm lag ein ewiges Leben der Versuchung und des Versucht-Werdens. »Ich bete, bitte und schenke nicht«, hatte er in die Höhlen der Einsamkeit gerufen. »Herr höre mich an. Weihe mich. Und Herr segne mich. Segne mich. Segne mich«, rief er am Fuße des Berges und warf sich in den Wüstensand.

ch sage Ihnen mein lieber Atanassov, am liebsten würde ich den ganzen lieben langen Tag Geschichten über Heilige, Märtyrer und ihre Mythologien schreiben. Was halten Sie von folgendem Deal, Sie schicken mir Ihre Geschichten und ich Ihnen meine und am Ende binden wir daraus ein Buch. Was halten Sie da-

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von? Das ist Ihnen zu mühevoll es selbst zu binden? Machen Sie sich nicht die Mühe, ich werde mich selbst darum kümmern. Die Frage ist: Was tust du für die Leere und was tut die Leere für dich? Ich liebe nicht. Ich besitze. Und wenn ich nicht besitze, reizt mich dieser Konsum und Besitzentzug bis hin zu größtmöglicher Feindseligkeit oder tiefster Trauer – das kann ich mir aussuchen. Ich will Objekte für mich Vereinnahmen sie zu meiner Regulation missbrauchen, sie mir dienlich und ausgeleert und zerstört hinterlassen.

Ich dachte immer Liebe bestehe aus Interaktion, bei mir ist es reinste Intraktion. Dann wieder sage ich Ihnen, sind Objektbeziehung für mich, Brandgefährlich. Wie eine heilsame Soße, die auch Gift sein kann, achte ich nicht auf die Rezeptur. Beachten Sie die Hinweise zur Dosierung. Lesen Sie den Beipackzettel – dieses Heilmittel ist ein Gift, wie Stechapfel. Wie dem auch sei, ich will das nicht mit schlechten Vergleichen aufweichen. Beziehungen sind für mich das gefährlichst Serum auf Erden. Dann wieder wenn ich besitze und die Frauen, spielen wie ich vorgebe zu spielen, ekeln sie mich an. Am stärksten empfinde ich Ihre Widerwärtigkeit, wenn ich in ihren Gesichtern die Begeisterung über meine Person lesen kann. Da haben sie die drei Dimensionen meiner Liebesfähigkeit, vergessen sie die zweite, die habe ich mithilfe einiger Kognitionen außer Kraft gesetzt. Da ist es: ich hasse es, wenn sie auf meine Verschmelzungsversuche eingehen. Damit bestätigen sie die Abgabe meiner Autonomie, meint die eigene Identität. Fressen mich auf. Konsumieren mich. Zumindest assoziiere ich deren näher kommen mit der eigenen Ich-Aufgabe. Weil ich eben erwachsen geworden bin, reagiere ich mit Aggression. Ich weiß natürlich Aggression ist nicht unbedingt eine Reife Art Beziehung zu gestalten, reifer jedoch als Auto-Aggression, meint Melancholie, meint Vermeidung. Hier ist die neue Aggression also Annäherung, wohl ganz nützlich.

K

askaden von Wasserfällen meiner Neurotransmitter von Feindseligkeit brechen wie Stürme von Verlust über Treppen aus Wut. Das Besitzen der Objekte, eine sehr infantile Art der Liebe. Eifersucht, einer meiner schönsten Affekte. Ich weiß das gehört sich nicht, du sollst nicht Begehren, deines nächsten... Mosche ich will aber keinen Hass reduzieren. Wenn ich eine Frau gefunden habe, die mir in meiner Affektregulation dienlich sein kann, und wir ein bisschen quatschen. Ich flirte. Komplimente gebe. Wir lachen. Ich sie in Bonbon-Papier wickele und so weiter. Wenn sie also schon reguliert und ich feststelle: diese jene auserkorene, stellen sie sich vor, wie lange mein Bewusstsein mich täuschte, mir vorzumachen, ich würde lieben. Ich will nur besitzen, jedenfalls wenn ich sehe, es gibt bereits einen Mann oder ein Nebenbuhler stiehlt mir mein Objekt. Sie können sich ausmalen, wie mir dann zu Mute ist – Kaskaden von Wasserfällen meiner Neurotransmitter von Feindseligkeit brechen wie Stürme von Verlust über Treppen aus Wut. Je schlimmer es wird, also die Besitz-Wahrscheinlichkeit sinkt, desto verliebter werde ich.

ächtelang träumte ich von unbekannten Frauen, schäumte über vor dem Leben der Liaison, der Fähigkeit, die ich verloren hatte. Erwachte und denken sie nicht(!) ich vermisste die Frauen meiner Träume. Neben mir liegend. Die Wärme. Den frühmorgendlichen Kuss. Das Frühstück. Der Geruch von Parfum in meinem Federn. Das kleine Liebesgeständnis. Den Tag planen. Was man dann alles noch macht, vielleicht noch mal ins Bett oder gleich in der Küche. Die Tischdecke greifen, wutsausend und aufbrausend das Geschirr runter reißen. Die Forderung, das Angebot, die Nachfrage, der Verkauf, das klirrende Geschirr, der Boden, Schweiß und Entzündung. Wenn Liebe messbar wird. Wenn Beziehung nur aus Sex besteht.

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Verstehen Sie, Lust? Darüber war ich längst hinaus. Ich stand auf, verließ mein einsames Bett, sah aus dem Fenster, folgte einem anderen Ritual – und bedankte mich für den Aufschub. Denn Träumen bedeutet: Beschwichtigung. Was mir die Wirklichkeit entzog, sollen Nachts mir meine Träume bringen, deswegen will ich jeden meiner Tage, nur um ihretwegen verleben. Und dafür bin ich sehr dankbar. Mein Geist ist eine Waffenkammer an Resilienz und ein Arsenal an Überlebensstrategie. Vor drei Jahren im Sommer bevor ich nach New York City ging als Noushin mich verprellt hatte und das Sommerfest bevor stand und sowohl Andalusien, sowie das Bordell noch nicht in Sichtweite waren, schrieb ich ein Sonett es hieß Funken. I Mir ist als seien alle Wesen Funken. Es ist als seien sie ein schützend Feuer. Mein Ich ist lichter Funken und schoss empor. Es ist als fege durch das Feuer Herbstwind. II Herbstlicher Wind treibt energisch die Glut an. Im Aufwind reisen Funken, kehren wieder ein. Hoch oben zu sehen, verborgen in der Asche. Mein Funke strauchelt im falschen Wind. III Im Tal wenden sich die Wesen ab. Funkenflüge, suchen und finden ihr Ende . Im Gegenwind dem Kontrahent hinabgleitend. IV Im Traume schlafe ich und erwache nicht. Mein Schlaf raubt mir Stunden, auf grauen Händen ruhend. Ich erwache, schlafe noch – ergebe mich dem Traume.

Diesen Brief zu schreiben war der Versuch, die Flüche, die aus der Büchse entwichen waren, einzufangen, zurück zu drängen und die Schatulle zu verschließen.

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Zwanzigster März – Frühlingsanfang auf der Nordhalbkugel. Frühling zumindest astronomisch betrachtet. Ein weiteres Mal in diesem Jahr, hatte sich in einem langen Winter eine Decke aus Neuschnee auf die Straßen und die Dächer, der Häuser gelegt und es rieselte in beständigen Abschnitten von Bäumen Schnee gegen die Fenster der Wohnung. Für den Nachbarn, nach all der Zeit, war das Blumengießen in der Wohnung Oppenheimer Lilienthal ein routinierter Gang. Zwei Yucca Palmen, vier Orchideen und zwei Bromelien in der Küche, deren Erde zu bewässern und deren Blätter, Wedel und Blüten zu benetzen waren. Eine Passionsblume im Badezimmer, die sich wunderbar am Badezimmerfenster hoch hangelte, dass Blüten der Pflanze Holz und Glas rahmten, der es für gewöhnlich reichte, dass Jemand duschte – der Nachbar war jedoch höflich genug, sie zu gießen. Er und Oppenheimer kannten sich nur flüchtig. Ob er wusste, was Lilienthal für ein Mensch war? Eher nicht. Obgleich in der Wohnung eine ganz fantastische Dusche installiert war. Von Oben von der Seite, sogar über die Schieferrückwand, welche nebenbei erwähnt, beheizbar war, rann ein Schwall von Wasser, sammelte sich kurz auf dem Boden der Dusche. Dort gab es winzige Löcher, die Luft und Wasser in das Duschbecken sprudelten und pusteten, dass es nur so an den Füßen kitzelte. Sowie der Nachbar die Karnivoren, welche aus einem Emaille-Schrank heraus wuchsen, mit Wasser zu versorgen wusste. Weiter im Rauchersalon, dort standen zwischen unfertigen Manuskripten, Stapeln von Büchern, Pfeifen und Tabak, ein Elefantenfuß, der besonders viel Zuwendung verlangte, ein Philodendron und ein Topf Engelstrompeten, die es manchmal wollten, sie stundenlang ab zu duschen. Die berühmte Brugmansia, ein Nachtschattengewächs, deren Blätter, Stängel und Blüten hochgiftig sind, aus denen sich mancher ein Tee kocht oder sie trocknet und raucht. Ist die Engelstrompete mit Wasser versorgt, warten im Schlafzimmer noch eine Atropa Belladonna, ein Peyote und San Pedro Kaktus, die ganz andere Geheimnisse bereit hielten. Berthold hatte es sich zur Gewohnheit gemacht im Schlafzimmer zu schreiben, nach angefangener Arbeit, sich einen Kaffee zu kochen

Rückzug VII – Veni, Vidi, Arrivederci

Du siehst deine Helden. Große Literaten, große Psychologen, große Wissenschaftler, große Künstler, große Herren und große Regisseure. Und du siehst bis an deren Ende, sind die einen Dauerlauf, von Destruktionsdistraktion gerannt, der sie bis in die letzte Ruhestätte trieb – den sie niemals abschütteln konnten, nur sich die Decke über den Kopf zogen. Du siehst deine Helden, was die schon vergebens versuchten, wie soll dir das gelingen?

n dieser Stelle endet ganz abrupt der Brief von Berthold Oppenheimer Lilienthal an Leonard Andorra Atanassov. Lilienthal, hatte im rechten Augen einen blutroten Flecken, der einmal in das Weiß seines Auges getreten, nicht wieder von ihm abließ, fast schien es, als wäre er eine zwar kleine und vielleicht minderwertige, aber trotzdem zum Sehen fähige dritte Pupille. Ein rote, blutrote dritte Pupille, die sieht, was Lilienthal nicht sehen will. Lilienthal, der sich oft auf Geschäfts- und Privatreisen befand – neulich erst war er in Wien und genoss im Café Hawelka bei einem Glas Wasser und einer Wiener Melange die Überarbeitung einiger Schriften. Dann reiste er weiter und nahm ein Bad im Stadtbad am Letzigraben in Zürich. Er fand aber niemanden, dem er den Sprungturm hätten zeigen können. Durch Zufall, denn er liebte es, ziellos spazieren zu gehen und durch die Straßen zu irren, besonders wenn ihn die Architektur der Stadt zu einer prätentiösen Distraktion einlud. Durch reinen Zufall landete er nach seinem Bad und innerhalb von etwa Zwölf Minuten in der Stadelhofer Straße Achtundzwanzig. Ein anderes Mal, wie sollte es anders sein, war er in Paris und was er dort machte, war eigentlich nichts weiter, als zu dem Platz zu reisen, wo mal der Göttin Flora eine Skulptur gewidmet war. Manchmal ging er von dort aus, auch rüber zur anderen Seite der Straße. Nun und wegen dieser Reise-Liebhaberei, hatte er einen Nachbarn darum gebeten, ab und an mal, aber mindestens einmal die Woche, die Blumen und Pflanzen in seiner kolonialistisch möblierten Wohnung zu bewässern, die vollgestopft war mit Palmen, Stuck und orientalischen Teppichen.

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damit umgehen, dass es die Leiche des Nachbars ist? Ruhig bleiben, denkt sich der Nachbar. Nichts überstürzen. Nur nicht hastig irgendetwas tun. Wie er sich denkt, er sollte nichts überstürzen, fällt ihm auf: er hat sich die Wohnung seines Nachbars Lilienthal eigentlich nie so richtig angeschaut. Er war immer wie ein ungebetener Gast durch die Wohnung in aller größter Eile geschlichen. Bloß nicht zu lange hier aufhalten. Hier bloß nicht mehr Zeit verbringen als nötig. Ob er denkt, so unwohl wie ich mich hier fühle, so unwohl muss sich auch mein Nachbar in seinem Schlafzimmer gefühlt haben. Ob er weiß, so eingeengt und bedrängt er sich in der Wohnung Lilienthals fühlt, so muss sich auch der Mieter selbst gefühlt haben. Man weiß nicht, was der Nachbar in diesem Moment denkt. Zuerst will er sich rücklings in die Couch fallen lassen. Die Hände auf das Gesicht legen und so tun, als hätte er nicht gesehen, was er glaubt gesehen zu haben – was er glaubt… Zögerlich erhebt er sich vom Sofa und bewegt sich ebenso zaghaft in Richtung des Arbeitszimmers. Hebt bald stolpernd den Fuß über die Türschwelle des Schlafzimmers. Sucht sich in die Raufasertapete des Flures fest zu krallen. Hört nichts, als den eigenen dumpfen Herzschlag, den eigenen schweren, aber schnellen Atem und fühlt wie an seinem Haaransatz Schweiß sich zu Perlen zusammen ballt. Und, wie er langsam Schritt für Schritt gen Arbeitszimmer läuft. Die Schweißperlen über seine Stirn rinnen. Er drückt und schiebt widerwillig und bedächtig einen Fuß vor den anderen, als wolle er einen Einbrecher überraschen. Endlich am Türrahmen des Arbeitszimmers und vermeintlichen Ortes der hängenden Leiche angekommen, traut er sich zunächst nicht weiter zu gehen. Er packt den Türrahmen und sucht im Holz, wie in Fleisch mit den Fingern verkrampft einzudringen und kneift eingeschüchtert die Augen zu, so stark er nur kann. Vollständig und künstlich erblindet, zieht er sich langsam nach vorne, als würde er Klimmzüge üben. Er beschließt – wenn man in diesem schauerlichen Moment überhaupt von einer rationalen Entscheidung sprechen kann, wie dem auch sei – er beschließt: sich zuerst in die Mitte des Türrahmens mit geschlossenen Augen zu stellen, dann bis Zehn zu zählen und mit einem Mal die

und mit Kaffee, Pfeife und Manuskript unter dem Arm, in Morgenmantel gekleidet, in den Rauchersalon seiner Wohnung zu flanieren und dort in dichtem Tabaksqualm, der sich in Schichten über seinen Kopf legte, auf einem wackeligen Schaukelstuhl, dessen Rückenlehne dem Rad eines Pfaues nach empfunden war, das Geschriebene einer mehr oder minder kritischen Überprüfung zu unterziehen. Der Nachbar, wie bereits erwähnt, war ein äußerst höflicher, deshalb erlaubte er es sich auch nie, im Schaukelstuhl Platz zu nehmen, und mal selbst in den Unterlagen Lilienthal's zu stöbern. Der Nachbar ging an diesem gewöhnlichen Frühlingstag am zwanzigsten März, der mehr ein Wintertag war, denn er sich meteorologisch zum Frühling hätte zählen lassen, zum Gießen der Pflanzen und Blumen seinen gewohnten Gang durch Lilienthals illustere Wohnung. Er war von seiner Routine so sehr geblendet, dass ihm erst im Schlafzimmer, als er die beiden Kakteen goss, auffiel und ihm dabei die blecherne Gießkanne aus der Hand rutschte. Sie auf den Boden fiel, laut schepperte und das Wasser über einen der Orient Teppiche lief. Ihn wahrscheinlich ruinierte, dass dem Nachbar erst in der Traum- und Schreibwerkstatt dem Schlafzimmer Oppenheimers bewusst wurde – im Rauchersalon, hing an einem Strick geknüpft der blau angelaufene Berthold Oppenheimer Lilienthal. auben hatten sich vor dem Fenster auf dem Fensterbrett versammelt. Bestürzt, in Übersprungshandlung, öffnete der Nachbar das Fenster und wollte die gurrenden Zeugen vertreiben – sie bewegten sich nicht einen Zentimeter und wann immer er eine der Tauben von dem Fensterbrett schubste, kam eine andere und setzte sich auf den frei gewordenen Platz. In grauen und schwarzen Federn, dass weiß der Nachbar noch genau, waren sie dick eingepackt und fett waren sie auch. Ab und an fiel Schnee auf das Federkleid der glotzenden Vögel. Zitternd, argwöhnisch und fürchterlich ängstlich steht der Nachbar im Schlafzimmer Lilienthals und schaut in den Spiegel. Ein blaues Leuchten des Plattenspielers blinkt beständig wie ein Leuchtturm. Wie damit umgehen? Wie damit umgehen, dass im Nebenraum eine Leiche hängt? Wie

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Augen aufzureißen. Vielleicht denkt er, würde er der den Erhängten baumeln hören. Dann wäre er gewarnt und das Bild erträglicher. Beschlossen, getan, steht der benommene Nachbar sich schüttelnd mit aufgerissenen Augen im Türrahmen, darauf gefasst die Leiche seines Nachbarn Berthold Oppenheimer Lilienthal, an einem Strick blau angelaufen und hängend zu sehen – notfalls ihn ab zu binden. Doch, er reibt sich die Augen und gibt sich einen Schlag ins Gesicht, alles was dort zu sehen ist: schon ein Strick, aber gerissen. Ein Ende baumelt tatsächlich von der Decke in den Raum hinein, doch das andere liegt abgerissen auf dem Arbeitstisch. Von einer Leiche keine Spur. Der Nachbar hatte ein Phantom gesehen und fällt, noch an Ort und Stelle in Ohnmacht.

von der Decke gehangen habe. Jetzt ist da nichts außer dem Strick. Der, wie gesagt, durchtrennt ist. Sein Kopf schmerzt ein wenig. Ob das wegen der Aufregung kommt? Mehr um den armen Mann und nicht wegen eines vermeintlichen Strickes ohne Leiche, machen sich zwei Beamte auf den Weg zu der Wohnung. Die Beamten beeilen sich, denn der Anrufer könnte noch einmal versuchen, sich das Leben zu nehmen. Vor der Tür fällt ihnen auf, dass sie den Namen des Mannes überhaupt nicht kennen. Sie klopfen und klopfen, aber es regt sich in der Wohnung nichts. Sie rufen irgendetwas, bis auf einen Namen, aber es regt sich immer noch nichts. Nicht die geringste Spur eines Menschen in der Wohnung. Also nimmt einer der Beiden Anlauf, stürmt gegen die Wohnungstür und bricht sie auf. Als sie in der Wohnung stehen, meint einer der beiden: »wie im Gewächshaus. Hier riecht es wie im Gewächshaus.« Die beiden waren nicht dumm und verständigen sofort die Zentrale, der Mann könnte sich mit einer giftigen Pflanze versucht haben umzubringen. Wie auf geheimer Mission, schleichen sie durch die Wohnung und bewundern beinahe die vielen Pflanzen, den Stuck, Teppiche und all das Gerümpel, was da sonst noch herum stand. Endlich im Arbeitszimmer angekommen, finden sie den Nachbarn zusammen gekauert in einer Ecke des Zimmers liegen. Er zittert noch immer, als hätte er eine Geist gesehen. Würgespuren oder Male einer Strangulierung konnten am Hals des Mannes nicht gefunden werden.

inter im Frühling ist für die örtliche Polizei immer ein großes Ereignis. Ständig müssen Einsatzwagen zu irgendwelchen Unfällen ausrücken, weil bestimmte Menschen, sich und ihr Vehikel gnadenlos überschätzen und in andere Verkehrsteilnehmer krachen, vielleicht weil sie auch zu oft, währenddessen sie Auto fahren, auf ihr Telefon schauen. Gerade auch zur Frühlingszeit, wie man sagt, häufen sich die Elektronikdiebstähle, Raubüberfälle und Einbrüche. Brechen und steigen Menschen in Geschäfte ein, überwältigen andere auf der Straße und klauen Geschenke für Freunde, Verwandte und Liebschaften – die Frühlingsgefühle. Inmitten eines hektischen Arbeitstages, der in Stress nur so erstickte, klingelte das Telefon und ein hörbar unter Schock stehender Mann ist in der Leitung, den man wegen dem echauffierten Zittern in seiner Stimme kaum versteht. Zumal der ganz dem Anschein nach durch und durch irritierte Mann, von einer Leiche erzählt, die nicht da ist, aber ein Strick ist aufgehangen, zu dem eben die Leiche fehlt, aber jemand muss daran gehangen haben und der stirbt jetzt irgend woanders, vielleicht auf dem Dachboden und er traue sich nicht, dahin zu gehen, allein schon der Weg in das Zimmer sei gewaltig gewesen. Er sei doch nur zum Blumen gießen in der Wohnung. Es tut ihm sehr Leid, aber der Teppich ist ruiniert. Aber da ist dieser durchtrennte Strick. Weiß nicht, was er tun soll. Ist ohnmächtig geworden. Ihm fehle nichts. Aber er hätte die Leiche gerade noch gesehen, wie sie blau angelaufen

ie Rekonstruktion der Tat ergab folgendes Ergebnis: Der Nachbar, dessen Name an dieser Stelle nicht wichtig ist, hat sich nicht, wie zunächst angenommen, versucht umzubringen, sondern er war tatsächlich zum Blumen gießen in der Wohnung. Das konnte nach einer drei stündigen Vernehmung heraus gefunden werden. Was ansonsten noch heraus gefunden werden konnte: Berthold Oppenheimer Lilienthal Eigentümer und nicht Mieter der Wohnung, knapp dreißig Jahre alt, ist verschwunden, aber nicht als vermisst gemeldet. Es konnte allerdings, anhand von DNA-Proben und Fingerabdrücken bewiesen werden, dass der Hausherr dort, wo vorher eine schwar-

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te, schrieb er handschriftlich einen Zettel, auf dem geschrieben stand:

ze Industrielampe aus Emaille hing, einen Strick aus Palmenfasern an einen Deckenhaken angebracht hatte. Die Deckenleuchte befand sich noch im Arbeitszimmer. Weiterhin ist allerdings nicht bekannt, ob Berthold Oppenheimer Lilienthal sich auf sein Arbeitstischchen stellte, welches den kurz beinigen dunklen Holztischen aus bekannten chinesischen Opiumhöhlen nicht unähnlich war. Sich den Strick, aus Palmenfasern, um den Hals legte, sprang, wobei der Strick augenscheinlich gerissen sein muss. Noch ist bekannt, ob es ein Versehen war, dass der Strick riss oder ob Herr Lilienthal davon wusste. Es ist auch nicht bekannt, ob er nicht auch auf den Arbeitstisch gestiegen und das Seil mit dem Opinel no. Acht durchtrennte, was man am Tatort fand. Weiterhin unbekannt: ob das vielleicht ein feierlicher Akt war, den Suizid zu besiegen. All das ist nicht bekannt und wir werden ihn auch nicht fragen können. Allerdings deuten die Spuren auf Tisch und Strick schon daraufhin, dass Lilienthal mit einem beherztem Sprunge, wie man sonst von Hochhäusern springt, versucht hatte sich aus dem Nachtmahr (der Polizei nicht bekannt, dem Leser allerdings) seines Leben zu verabschieden, dabei muss der Strick gerissen sein. Wer kommt auch auf die Idee, sich einen Strick aus Palmenfasern zu binden? Was den Beamten der Spurensicherung, allerdings die Arbeit erleichterte, denn so konnte, anhand des Trocknungsgrades der Fasern festgestellt werden: das Ganze musste sich vor ein bis zwei Wochen ereignet haben. Seitdem lag das abgetrennte Stück Strick auf dem Arbeitstisch zwischen Elefantenfuß, Philodendron und Engelstrompeten (törö törö). Noch bevor Berthold Oppenheimer Lilienthal die schwarze Lampe abgehangen und den Strick angebracht hat-

Den Tod, den überleben sie nicht. Berthold Oppenheimer Lilienthal war klassisch und hatte sich auf seinem Arbeitsstuhl, neben dem gerissenen Strick, einen schwarzen Anzug zurecht gelegt, als hätte er erwartet, zu seiner eigenen Beerdigung abgeholt zu werden. Auf dem Stapel Wäsche lag ein goldener Ring, aus dem ein schwarzer Onyxstein ragte. Zwischen Anzughose und Hemd fanden die Beamten versteckt eine Kette, die – das konnten sie aber nicht wissen – mal für die Levanterin bestimmt war. Als letztes Kleidungsstück konnte eine schwarze Krawatte und eine goldene Krawattennadel gesichert werden. Die Krawattennadel war aus dem selben Gold, wie der Ring. Die Konklusion der vorliegenden Indizien,

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ls Rainer Maria Rilke auf seinem Totenbett lag, fragte er nach Lou von Salome, die er für Jahrzehnte nicht gesehen hatte. Von deren Gegenwart er offenkundig nicht das Geringste wusste. Lou jedoch – war in seinen Gedanken – nie von seiner Seite gewichen. Die ihrerseits wahrscheinlich schon lange selbst verstorben war. Oppenheimer war ihr treu geblieben. Sie hatte sich in sein Bewusstsein eingefressen, als wäre sie ein und derselbe Traum, der sich in jeder Nacht wiederholt. In einem Kraftakt und Kunstgriff hatte Herr Berthold Oppenheimer Lilienthal, sich den Suizid als eine ungültige, weil unbegreifbare und fehlgeleitete, Tat definiert.

kommissar nahm den schwarz gefärbten Haufen Blätter an sich und klassifizierte ihn als eine Art dilettantisch zusammen geschriebene Novelle, die für den Fall an sich nicht die geringste Bedeutung zu haben schien. Erst als eine wesentlich erfahrene Kriminalbeamtin sich der Sache widmete, ergaben sich signifikante und interessante Zusammenhänge. Da lagen die gelben und nervös zerbissenen Bleistifte, einige, unter großem Druck, verbogenen Kalligraphiefedern und der Haufen wertloser Blätter, die Reiseschreibmaschine, deren Leertaste defekt war, dazwischen fanden die Beamten ein Bild von einer Frau mit Mandelförmigen Augen, braunen Haaren… – sie war gekleidet in den Roben und Tüchern, welche von Frauen, die in türkischen Badehäusern beschäftigt sind getragen werden und die stümperhaft zusammengeschriebene Novelle, entpuppte sich letztlich, als ein langer Brief. Anscheinend pflegte der verschwunden Lilienthal eine Brieffreundschaft mit einem gewissen Herrn Leonard Andorra Atanassov. Fürderhin schien es, als hätte zwischen den Beiden lange Funkstille geherrscht. Das entnahm man den Briefen Atanassov, welche in einer Schublade des Sekretärs gefunden worden waren. Welche der Datierung nach zu Urteil vor Jahren abgeschickt worden waren und es schien, als wollte Lilienthal diese alte Brieffreundschaft, vielleicht aus Einsamkeit wieder aufwärmen und aufleben lassen. Nachdem die Ermittlungen abgeschlossen waren und ausgeschlossen werden konnte, dass

Zuerst schenkte die Polizei den von schwarzer Tinte überlaufenden Schriftstücken – er musste im Sprung oder beim Anbringen des Strickes oder irgendwie anders, ein Tintenfass umgeworfen haben – keinerlei Bedeutung. Ein Kriminal-

hier jemand gestorben ist, bemühte sich die Kommissarin, eine gewisse Frau Rahel Bernstein Tschkalowa in den folgenden Wochen, diesen Brieffreund Leonard Andorra Atanassov aufzuspüren.

veranlasste die Beamten zu dem Schluss: Herr B. Oppenheimer Lilienthal, hatte wahrscheinlich nicht versucht sich umzubringen, denn ganz dem Anschein nach, war er noch mitten in den Vorbereitungen. Allerdings, merkten kritische Stimmen an, er könne sich auch versucht haben zu erhängen und die auf dem Arbeitsstuhl gefundene Kleidung sollte man ihm zu seiner Beerdigung anziehen. Oder aber Andere wiederum meinen, er hatte sich sozusagen zu Testzwecken auf Probe erhangen und dabei riss der Strick. Vielleicht hat er auch ein Gewicht an den Strick gehangen und es einer bestimmten Höhe geworfen um zu sehen, ob der Strick hält. Allerdings konnte ein solches Gewicht nicht in der Wohnung gefunden werden, noch konnten irgendwelche Spuren, wie Einkerbungen im Tisch gefunden werden.

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einer Berühmtheit schaffen. Atanassov hatte seinerseits nach einigen Jahren Erfahrungen, aus denen er nicht nur Wissen und Fähigkeiten, sondern auch eine gute Summe an Kapital schöpfte, eine Spezialklinik für personelle Destruktion gegründet. Das schloss den Suizid nicht nur mit ein, der Selbstmord war auch die Königsdisziplin der Angestellten, der Klinik und Atanassov selbst. Atanassov, der die Schweiz, mehr als sein Mutterland liebte, konnte letztlich nicht die Mittel auftreiben, seine Klinik ins Graubünden, ins Tessin, ins Berner Oberland oder in die Waadtländer Alpen zu errichten. Er hat auch kein Müsli erfunden. Stattdessen eröffnete er die Klinik in der Nähe eines Vorortes seiner Heimatstadt und von Neubau kann auch nicht die Rede sein, den bei seiner Klinik handelt es sich um ein altes Sanatorium, welches er renovieren ließ. Er saß gerade in seinem Arbeitszimmer, hatte die Hände auf dem glatten Holz seines Arbeitstisches gefaltet und zerbrach sich den Kopf über einige Manuskripte, den neben seiner Tätigkeit als Psychiater, war Andorra ein zerstreuter, aber leidenschaftlicher Literat. Was er Zeit seines Lebens, jedoch geheim hielt. Er saß also an seinem Schreibtisch und inzwischen hatte er seine Hände hinter seinem Kopf verschränkt. Selten war es so ruhig gewesen, dachte er. Selten hatte ihn niemand des Pflegepersonals gestört. Meist wird er schon vor Zwölf aufgefordert, seine täglich Visite abzuhalten. Selten wurde er verschont, von dem permanentem und penetranten Klingeln des Telefons. Selten lag links auf dem Schreibtisch in einer Ablage kein Stapel Briefe, den er zu beantworten hatte. Seine Hände unternahmen eine Reise und strebten von seinem Hinterkopf auf die Lederauflage des Schreibtisch es zu, ruhten dort einen Moment und in einem kraftlosen Atemzug, bewegte er sie auf die Holzlehnen seines Ledersessel. Er stützte sich ab und leicht seufzend stand er auf. Er sagte sich, wobei er seinen silbernen Füllfederhalter zusammen drückte: »bevor dieser Dialog nicht geschrieben ist, gehe ich nicht aus dem Büro. Noch werde ich irgendetwas anderes unternehmen, dieser Dialog ist alles, was zählt.« Er hatte Berthold einmal gesagt und das liegt nun schon Jahre zurück, allerdings hat sich Leonard‘s Meinung darüber auch nicht im Gerings-

Sie wälzte Polizeiunterlagen, durchforstete Telefonbücher und fand auch einige Atanassove, und das obgleich der Name sehr selten ist, meldete sich privat bei denen. Doch keiner der Atanassove, war der gesuchte Leonard Andorra Atanossov. Wie der Schreiber verschwunden war, so war auch der Adressat nicht aufzufinden. Als Tschkalowa‘s Verzweiflung am größten war, gab sie es auf, die Sache privat anzugehen. Sie beschäftigte ihre gesamte Abteilung diesen Herrn Atanassov zu suchen. Und es ratterten die Köpfe, es wurden Karten aufgestellt und in großen Besprechungen, wurde nach Leonard A. Atanassov gefahndet, als sei er ein Mörder. Und in der Tat er wurde gesucht wegen Beihilfe zum versuchten Selbstmord. Er hätte von den Suizidgedanken eines gewissen Herrn Berthold Oppenheimer Lilienthal gewusst. Wie die Analyse des Briefes ergab und hätte trotz dem Wissen, weder etwas unternommen, noch es gemeldet. Das sei ja irgendwie auch strafbar. Zumindest musste Herr Atanassov ausfindig gemacht und er musste vernommen werden. Dann würde man weiter sehen, inwiefern er zur Verantwortung gezogen werden könne. Vorrangig soll es aber darum gehen, Herr Oppenheimer Lilienthal ausfindig zu machen. Es gingen noch ein paar Wochen und Monate dahin. Die Abteilung, die noch gerade akribisch nach Atanassov fahndete, widmete sich wieder anderen Angelegenheit, wie Verkehrsunfällen und Diebstählen, die während des Sommerloches besonders häufig waren. Die Angelegenheit des verbrannten Bordells, welche sich drei Jahre zuvor ereignete, war zu den Akten gelegt und niemand in der Abteilung, kam auf den Gedanken, dass leitende Vorgesetzte: Frau Rahel Bernstein Tschkalowa, etwa eine Rolle in dieser beinahe tödlichen Ménage à trois spielen könne. Dass sie Berthold Oppenheimer Lilienthal gekannt habe, noch dass der Vermisste den Brand womöglich gelegt hatte. Es kam, wie es kommen musste, Leonard A. Atanassov, der von all dem nichts ahnte, der ein Leben, als mittelmäßig berühmter Psychiater führte. Berühmt gemacht hatte ihn ein schönes Buch über Trauma und Psychopathologie. Dort hatte er einige äußerst streitbare Thesen vorgeschlagen, die hier keinen Eingang finden sollen. Es soll soviel gesagt werden, nur wenn ein Werk, eine Sache, ein Mensch streitbar ist, wird er es zu

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ten geändert: »Lilienthal, der Dialog ist die Königsdisziplin der Literatur. Wissen Sie warum? Weil er so selten gelingt!« Diese Worte, ohne aber dabei an seinen verstorbenen Freund zu denken, wiederholte er einige Male für sich, als seien sie ein Gebet oder ein Mantra. Indessen er, wie gewöhnlich kreisförmige Spaziergänge in seinem Zimmer unternahm, als ganz unverhofft, die morgendliche Stille und Ruhe, durch das Läuten des Telefons unterbrochen wurde. Erst blieb er stehen, als wären seine Füße in Beton gegossen und als glitte er auf den Grund eines tiefen Sees. Dann schritt er zögernd zum Telefon und zögerlich nahm er den schwarzen Hörer in die Hand. »Hier spricht die leitende Kriminalbeamtin Rahel Bernstein Tschkalowa, ist dort Herr Atanassov, Psychiater und Leiter des Sanatoriums?«, drang eine melodische isc sche und w weibliche eibliche Stimme aus dem Hörer. »Dr. Atanassov hier«, erwiderte rwiderte der Psychiater knapp. »Ist Ihnen ein gewisser Herr Berthold Oppenenheimer Lilienthal bekannt?« Man hatte überall nach Atanassov gesucht. Steckbriefe verteilt, doch nirgends konnte er gefunden werden. Man ahnte schlicht nicht, dass er leitender Psychiater einer Klinik sein könnte. Nach einem für beide intenntensiven Telefonat, entschied sich h Tschkalowa auf eigene Faust, Faus usst, u den Brief aus dem Polizeirevier irrevier verschwinden zu lassen und an ben. Ihden Psychiater zu übergeben. rerseits versicherte Sie ihm er könne annte, w ie unbesorgt sein, denn sie kannte, wie rsönlich. er selbst, Lilienthal auch persönlich. ei um eine »Auch wenn es sich dabei de Begegflüchtige und unbedeutende a nung handele«, gab sie vor und log dabei. age nach h dem Sie hatte, nach ihrer Aussage as Mitleid mit Lesen des Briefes, doch etwas dem Vermissten und er warr ihr doch, sehr

ans Herz gewachsen. Daher überging sie die polizeiliche Schweigepflicht, es handele sich dabei so oder so nur um eine Formalität. ch selbst kenne Herrn Andorra Atanassov den Psychiater flüchtig. Er ist mehr ein Bekannter, den ich ab und an in den morgen Stunden auf meinem Spaziergang zum Kiosk treffe. An jenem Morgen wirkte, der sonst eher kühle Atanassov sehr zerstreut. Ich sprach ihn von der Seite im Kiosk an, meist entwickelt sich daraus ein kurzes und unbedeutendes Gespräch. An diesem Morgen sprach er jedoch derartig abgehackt und brüchig, indes seine Augen wild flackerten, als halte er einen Sturm an Emotion zurück. In einem knappen Moment von Empathie und Mitgefühl meinerseits, lud ich ihn in mein Atelier ein und er erzählte mir noch auf

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dem Weg dorthin, in Ansätzen den Grund für seine morgendliche Aufregung. Das Atelier an sich ist, ein altes Gebäude, auf dessen Dach ich einen Garten für Konversation eingerichtet hatte und mich im Keller auf darstellende Kunst einrichtete. Wir waren uns in unseren Berufen nicht unähnlich, wobei ich mich einer anderen Schule zugehörig fühlte. Wir saßen auf dem Dach. Ich schaute ihn an, er schaute auf die Stadt, es war ein schöner Tag im August und er begann von dem Brief seines verschwundenen Freundes zu erzählen. Er wirkte sehr bestürzt. Ich wusste, dass er insgeheim Literat war, gleichwohl er es, als dreiste Dummheit und groben Unfug ansah, zu veröffentlichen und wenn schon veröffentlichen, dann nach dem Ableben des Autors. Obendrein wusste ich, dass er sich mehr davon erhofft hatte eine Klinik zu eröffnen und Tag für Tag unzufriedener damit wurde, was er mal als seinen Traum und sein Lebensziel bezeichnet hatte. Wir redeten eine Weile, bis ich ihm eine beträchtliche Summe an Geld offerierte. Er solle davon in den Urlaub fahren, vielleicht nach Sankt Gallen riet ich ihm, oder nach Zürich, dort gibt es eine ganz hervorragende psychologische Fakultät. Ich sagte ihm zwar: »wie ich das sehe Herr Atanassov, ist der literarische Wert dieses unvollständigen Briefes, nicht unbedingt, wie soll ich sagen? Nicht unbedingt von Weltklasse, ja vielleicht ist es nicht mal lesenswert. Ich will Ihnen sagen, vielleicht, wenn man das Ganze etwas abändert, kürzt, hier und da Schwächen ausbessert, es an die Gegenwart anpasst und vielleicht noch die Namen ändert – könne daraus etwas werden. Letztlich und außerdem, zählt nicht die Qualität des Werkes, sondern eher seine Vermarktung und hier, wissen Sie, lässt sich ganz wunderbar das Verschwinden Lilienthal‘s mit einbauen. Denken Sie an die großen Autoren, des letzten Jahrhunderts, mindestens einer von Ihnen, hat zu Lebzeiten nichts veröffentlicht und wollte sich auch noch über seinen Tod hinaus dagegen wehren, woran sich Gott sei dank, ein guter Freund des Autors nicht hielt. Worauf ich hinaus will, ein beträchtlicher Anteil des Ruhmes basiert auf rumoren, munkeln und einer rigorosen Tragik und Dramatik – und geheim-

nisvoller noch als der Tod, ist das Verschwinden eines Autors.«

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erehrter Lesern, das restliche Gespräch das wissen Sie sicherlich noch finden Sie auf der ersten Seite. Sie geschätzter Leser, fragen sich, was mein Nutzen daraus ist ? Denken Sie doch mal altruistisch! Ich bin ein Mäzen und suche wo ich kann, die Künste zu fördern. Ich habe auch schon die Leinwände Lilienthals angefordert, um deren Qualität zu prüfen. Spaß beiseite. Ich bin ein Voyeur, wie Sie es sind und ich suche mein leeres und langweiliges Leben mit einer abartigen Geschichte zu unterhalten. Das Desaster der Anderen – der Vergleich, der einem die eigenen Existenz erleichtert. Ob ich mich nicht schlecht dabei fühle, also wissen Sie; zu existieren ist ja sowieso eine einzige Misere, ob dazu noch ein schlechtes Gewissen kommt, ist nun wirklich mehr als, unwesentlich. Im übrigen, was ich Ihnen nicht verschweigen möchte: es lag auf Lilienthal‘s Bett im Schlafzimmer noch ein undatiertes Stück Papier. Wahrscheinlich, hat er es entweder nachdem Brief geschrieben oder irgendwann dazwischen, davor oder wann auch immer.

nd auf einmal, da liegt wieder ein Mensch neben dir und schläft an deinem Bein. Die Haare legen sich in Streifen und Fäden über das Bett und die Hand umklammert deinen Oberschenkel, wie du da sitzt und noch arbeiten willst – ihr ihre Müdigkeit, aber nicht übel nimmst. Fast unbemerkt sich ihre Atemzüge auf deiner Haut niederschlagen und so weiter. Und für einen Augenblick ist alles ungültig. Die Momente; des Scheiterns, der Zerwürfnisse, des Hochdruckes, der Isolation, der Irrfahrten, des Labyrinthes, der Fragen nach dem Kontext, des Überlebens, der Strategien, der Ausbildung, der Prüfungen, des Einmals, der Wanderlust, der Flucht, die vielen Fragen; all diese Worte verlieren ihren Gehalt, ihre Gestalt und mehr noch(!): es ist, als hätte es sie nie gegeben, als wären sie eine ferne feine unwirkliche Beschreibung unmöglicher, unlebarer Zustände – Als wären Sie Grammatikalische Fiktion. Für einen Augenblick erkennst du; wie ungültig du warst. Merkst wie dein Leben zu einem Einzelkampf

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obachte und mir die (nur) besonders Hübsche aussuche. Ich habe euch zwar beim Namen genannt, als ich jedoch in eure Gesichter schaute, waren dort nichts als leere und ebene Flächen, denn ich war auf der reißerischen Suche nach dem Muttergesicht. Deswegen war es so unendlich schmerzhaft, wenn ihr mich verlassen habt, weil es war als hätte sich das Gesicht meiner Mutter abgewendet. Man kann jetzt denken, wieso sucht ein erwachsener Mann das Gesicht seiner Mutter? Sucht er nicht. Nicht er sucht das Gesicht seiner Mutter. Irgendwann hat mein Psychoanalytiker mir mal gesagt, man müsse die Toten begraben. Ich habe das zwar verstanden, auf einem inhaltlichen Niveau, wusste es aber nie auf mich selbst und das Leben anzuwenden. Heute sehe ich mich, wie ich ein kleiner Junge bin, der kaum den Spaten halten kann und sich und seine Mutter zusammen begraben will.

verkommen ist. Wie du eigentlich nur einmal hättest deinen Mund öffnen sollen und er hätte sprechen sollen: mein Leben ist seit einem bestimmten Zeitpunkt ein Desaster, ich aber war immer zu stolz und trotzig und habe nie jemanden merken lassen – wie es um mich steht. Das war ein Fehler. oushin, Noushin du bist die Wiederholung meiner Mutter. Du warst streitsüchtig, liebenswürdig und feindselig – und so herrschsüchtig du warst, so hast du dich mit und in Liebe in Verstrickungen und Abhängigkeiten geworfen. Und die von dir abhängigen getreten – wie meine Mutter mit einer Hand zu geschlagen und mit der anderen: Händchen gehalten. Und du hattest keine Ahnung davon. Den glücksspielsüchtigen Stiefvater, der uns in regelmäßigen Turnus ruinierte, verteufelt und im Haus gehalten. Angeschrien, gebrochen und angefleht bei dir zu bleiben. Wie Krebszellen mit Liebe einschmieren. Nicht nur du Noushin – nicht nur du, warst die Wiederholung meiner Mutter und Versuch der Re-inszenerierung dieser besonderen Mutter-(S)söhnchen Beziehung, sondern alle Frauen, die ich glaubte zu lieben, waren versuche der Re-inszenerierung. Wenn immer ich von Liebe sprach. Deborah, Hilde und Rahel euer aller Rücken ist die hautfarbige und haut-weiche Bühne meines inneren Mutter-Sohn-Stückes und Konfliktes. Deswegen musste es auch funktionieren. Ihr solltet ein fertiges Stück. Ein vorgegebenes Ritual spielen. Ich plante unsere künftige Beziehung mit meiner Blaupause von Bindung, wie Noah vor der Arche stand. Bootsfahrt mit Austern-essen, Champagner und dann verlieben oder Lagerfeuer auf dem gefrorenen See und ewig binden. Was meist sowieso, dank eurer erfolgreichen Fluchtversuche selten glückte und wenn; ich mich dann wunderte wie ich auf dem See zugefroren oder aufgetaut, nie wirklich Spaß hatte und nie tatsächlich mochte, was sich mir da als latente Verpaarung Feil bot. Deswegen gab es diese verfrühte Idealisierung, wenn Verbindungen mehr imaginiert, denn zusammen gewachsen waren. Ich nenne das Gewächshaus-Liebe, wenn ich von der anderen Seite des Glases die Pflanzen wachsen be-

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