MENSCHEN | MM49, 5.12.2016 | 27
Interview
«Das Leben ist wie ein Baum mit vielen Verzweigungen» Woran erinnern wir uns – und warum? Der Psychologe Andreas Maercker über das Verdrängen von negativen Erfahrungen, traumatische Erlebnisse und die Prozesse, die in uns Menschen ablaufen, wenn sich alles plötzlich verändert. Text: Selina Wegmüller
Jessica Black (39) hat an der Medien schule den Jour nalismus entdeckt.
Kolumne
Eine Sekunde, ein Herzschlag Auf die Sekunde genau sein, das ist erst seit 1585 möglich.
Damals brachte der Toggenburger Uhrenmacher Jost Bürgi erstmals den Sekundenzeiger an einer Uhr an. Der Berner Physiker und Laborleiter für Photonik, Zeit und Frequenz, Jacques Morel, erklärt es so: «In der Vergangen heit wurde die Sekunde durch die Rotationszeit der Erde um ihre Achse definiert.» Das ist der mo dernen Physik aber zu ungenau, und so wird die Sekunde heute durch Atomuhren bestimmt. «Eine Abweichung grösser als eine Sekunde tritt damit erst nach über 30 Millionen Jahren auf», sagt der Physiker.
Andreas Maercker, fragt man Menschen nach Situationen, die ihr Leben von einer Sekunde auf die andere verändert haben, fallen den meisten mehrere ein. Wie erklären Sie sich das? Wir alle sind bemüht, unser Leben im Rückblick zu ordnen. In dieser Ordnung geben wir den einen Erinne rungen mehr Gewicht, den anderen weniger. Es gehört zur menschlichen Natur, dass wir unser Leben in einer Linie sehen und uns sagen, was toll und was schlecht war. Doch tatsäch lich ist das Leben wie ein Baum mit vielen Verzweigungen. Entlang dieser Zweige entwickeln wir uns. Sind negative Augenblicke prägender als positive? Das hängt von der Person ab. Für manche sind die negativen Augen blicke prägender, für andere die posi tiven. In der menschlichen Psyche gibt es aber schon die Tendenz, dass schlechte Erfahrungen sich eher nach vorne drängen. Wir hoffen ja alle, dass unser Leben positiv ver läuft, die negativen Dinge werden dann als starker Kontrast gesehen.
Doch was bedeutet die Sekunde im Alltag? Bei Ruhepuls schlägt
Zur Person
Der Psychologe Andreas Maercker (56) ist Professor
am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Dort leitet er die Abteilung Allge meine Psychotherapie. Er ist spezialisiert auf Traumata, Altersprobleme und Online behandlung.
das Herz eines Erwachsenen etwa ein Mal pro Sekunde. Die Schrecksekunde steckt noch lange in den Knochen. Der Sekundenschlaf kann gefährlich werden. «Noch fünf Sekunden» löst Stress aus, «nur noch fünf Sekunden» jedoch bringt Erleichterung.
Die Sekunde ist nicht nur eine wichtige physikalische Einheit,
sondern bedeutend für unser Leben. Denn dieses kann sich von einer Sekunde auf die andere komplett ändern.