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Wenn sogar ein Blumenstrauss zur Belastung wird Jedes Jahr werden in der Schweiz etwa 10 000 Frauen nach der Geburt ihres Kindes depressiv. Dauert der Zustand länger als ein paar Tage, ist professionelle Hilfe gefragt. Zwei Betroffene erinnern sich an ihre dunkelsten Stunden.
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eirat, Kind, happy Life … So hatte sich Michaela Iannunzio (27) aus Grüt ZH ihr Leben vorgestellt.Sie, die gerne alles plant und nichts dem Zufall überlassen möchte. Bis zum 21. Dezember 2009 verlief auch alles so,wie Sie sich das ausgemalt hatte. Sie heiratete den neun Jahre älteren Massimo, wurde schnell einmal schwanger und war glücklich. Doch mit etwas hatte Michaela nicht gerechnet. Dass ihr das durchorganisierte und strukturierte Leben entgleiten könnte. Am 21. Dezember, mit der Geburt ihrer Tochter Serena trat jedoch genau das ein. Die Kleine wog 2800 Gramm, war keinen halben Meter gross und mit einem gesegneten Organ ausgestattet. «Serena schrie permanent.» An Schlaf war nicht mehr zu denken, Milch hatte Michaela keine,und schon nach wenigen
Tagen war sie mit den Nerven fertig. Nichts klappte so, wie sie sich das vorgestellt hatte.
sie weinte tagelang, war frustriert und emotionslos Statt stolz den Kinderwagen durch das winterliche Zürcher Oberland zu schieben und die Tage mit der kleinen Serena zu geniessen, weinte die Pharmaassistentin tagelang, war frustriert und völlig emotionslos. Um die Tochter kümmerte sich ihr Mann oder ihre Mutter. «Ich hatte keine Freude,empfand für niemanden etwas — nicht einmal für meine kleine Tochter.» Michaela Iannunzio lag nur noch weinend im Bett und wartete. Auf die Frage worauf, weiss sie auch heute noch keine Antwort. Das musste auch Esther Leber* erfahren. Die 36-Jährige hat mit Thomas (8)
NR. 48, 28. NOVEMBER 2011 | migros-magazin |
und David (5) bereits zwei wilde Buben zu Hause. Bei keinem der beiden hatte sie nach der Geburt Probleme. Doch dann, am 5. Februar 2010, kam Raymond zur Welt,und alles veränderte sich.Ruth war permanent nervös, sie zerbrach sich tagelang den Kopf über Nichtigkeiten. Schliesslich, zwei Wochen nach der Geburt von Raymond brach auf einen Schlag Esthers fragile Welt zusammen. Einen eigentlichen Auslöser dafür gab es nicht. «Es war danach monatelang alles einfach sinnlos, ich konnte nicht mehr schlafen und wollte nicht mehr essen», beschreibt Esther Leber ihre damalige Gefühlslage. «Das ist typisch»,sagt Lyubka Caviezel (52), Oberärztin auf der MutterKind-Station der Psychiatrischen Klinik Beverin im bündnerischen Cazis. Mütter mit einer Wochenbettdepression, auch Postpartale (PPD) oder Postnatale Depression (PND) genannt, weinen oft ohne Grund, sind emotionslos und haben Schlafstörungen.«Das kann bedeuten, dass sie den ganzen Tag schlafen», so die Churer Ärztin «oder aber nicht mehr schlafen können.» Für Michaela * Namen der Redaktion bekannt
Drei Stufen der Wochenbettdepression und die Behandlung ■ Baby-Blues: Der Postpartale Blues oder Baby-Blues ist meist eine kurzzeitige Verstimmung, die bei einem Viertel bis der Hälfte aller Frauen während der ersten Woche nach der Entbindung auftritt. Er kann mehrere Stunden bis wenige Tage andauern und verschwindet meist spontan wieder. Kennzeichnend ist oft, dass die frischgebackene Mutter grundlos weint, traurig und reizbar ist und schlecht schläft. In dieser Phase reicht es, wenn die Mutter entlastet wird. Sei es etwa, dass die Spi-
tex ihr Aufgaben abnimmt oder ihr Partner sich mehr um sie kümmert und sie Zeit für sich bekommt. ■ Postpartale Depression: Erfährt eine Wöchnerin zu wenig oder keine Unterstützung in einer Phase des Baby-Blues kann sich dieser schleichend zu einer Postpartalen Depression – auch Wochenbett- oder Postpartale Depression (PPD) genannt – entwickeln. Dabei ist die Betroffene niedergeschlagen, weint grundlos, ist antriebslos, müde, leidet unter
Schlafstörungen, ist emotionslos auch gegenüber dem Neugeborenen. Tagelanges Grübeln, oft über Kleinigkeiten, plagt Betroffene. Eine PPD kann sich auch erst Monate nach der Geburt entwickeln. Wichtig ist vor allem, dass eine betroffene Mutter möglichst schnell professionelle Hilfe bei Arzt, Gynäkologe, Psychiater oder einer Beratungsstelle sucht. Je schneller einer Patientin geholfen werden kann, umso milder verläuft in der Regel der Krankheitsverlauf. Die Familie ist eine sehr
wichtige Stütze für betroffene Frauen. ■ Postpartale Depression plus Psychose: Verliert die Mutter zusätzlich zur depressiven Grundstimmung noch den Bezug zur Realität, spricht man von einer PPD mit Psychose. Eine solche Psychose kann sich durch Wahnvorstellungen, stark übertriebene Aktivität, extreme Ängste oder Teilnahmslosigkeit äussern. Sie erfordert zwingend eine psychiatrische Behandlung und eine Stabilisierung mit Psychopharmaka.