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Ekel: Ein Schutzmechanismus
Kotz, würg, bäh! Warum wir uns ekeln
Einiges erzeugt bei fast allen Ekel, anderes nur bei wenigen. Ekel kann sehr gross sein oder nur klein – in jedem Fall ist er ein wichtiger Schutzmechanismus.

Text: Ralf Kaminski Illustrationen: Daniel Müller

Weshalb ekeln wir uns?
Es ist ein Schutzmechanismus vor Krankheiten und Infektionen: Ekel sorgt dafür, dass wir uns von potenziellen Gefahrenquellen fernhalten. Wobei sich laut Studien Frauen mehr ekeln als Männer und alte Menschen weniger als junge. Die These: Da Frauen sich eher um den Nachwuchs kümmern, müssen sie mit möglichen Infektionsherden noch vorsichtiger sein. Und weil ältere Menschen sich nicht mehr fortpflanzen, wird dieser Schutz weniger wichtig. Das Ausmass des individuellen Ekelempfindens wird bis zu einem gewissen Grad vererbt.
Wie äussert sich Ekel?
Es ist eine starke Abneigung – so stark, dass sie oft mit unkontrollierbaren körperlichen Reaktionen verbunden ist. Zu den harmloseren Varianten gehört das Verziehen des Gesichts, es kann aber bis zu Übelkeit, Schweissausbrüchen oder Ohnmacht reichen.
Wie entsteht Ekel?
Kleinkinder ekeln sich vor gar nichts, haben allerdings bereits Geschmackspräferenzen: Süsses mögen sie meist, Bitteres nicht. Das Ekelgefühl entsteht im Alter von zwei bis vier Jahren und wird von der jeweiligen Umgebung kulturell geprägt: Das, was für Familie und Freunde okay ist, ist auch für mich okay. Ekel wird also erlernt und ist eng mit dem Würge und Brechreflex verbunden.
Gibt es Dinge, vor denen sich alle ekeln?
Kot, Urin, Eiter, Leichen sowie der Anblick oder Geruch von verdorbenen Lebensmitteln lösen nahezu universell Ekelgefühle aus. Ähnliches gilt für Dinge, die eine klebrige, matschige oder schleimige Konsistenz haben – und für vieles, das kriecht, wimmelt oder krabbelt.
Kann Ekel auch später im Leben entstehen?
Ein Beispiel dafür hat der Psychologe Martin Seligman beschrieben. Nachdem er ein Filet mit Sauce béarnaise gegessen hatte, musste er sich übergeben. Schuld war eine MagenDarmGrippe, er entwickelte trotzdem einen dauerhaften Ekel gegen diese Sauce. Mit diesem Mechanismus erklärt sich die Wissenschaft auch, weshalb es Menschen gibt, die sich vor ganz harmlosen Dingen wie Knöpfen ekeln: mutmasslich, weil diese einst in einem ekelrelevanten Zusammenhang aufgetaucht sind.

Weshalb gibt es besonders viele Ekelgefühle rund ums Essen?
Weil verdorbene oder giftige Lebensmittel ein Gesundheitsrisiko darstellen. Es gibt aber auch viele kulturell geprägte Ekelgefühle gegenüber Nahrungsmitteln, besonders bezüglich tierischer Produkte. In Sardinien zum Beispiel wird ein Käse sehr geschätzt, in dem sich lebende Maden tummeln, auf den FäröerInseln gelten schwarz verkohlte Schafsköpfe als Delikatesse.
Entsteht Ekel im Kopf?
Das zumindest legen Experimente nahe. Bei Labortests mit Geruchsproben kam es schon zu ganz unterschiedlichen Reaktionen auf dieselbe Probe: Manche Probanden hielten den Geruch von Erbrochenem für leckeren Käse. Manche assoziierten beim Geruch von verbranntem Menschenfleisch ein nettes Barbecue.
Lässt sich Ekel überwinden?
Prinzipiell schon, aber wie gut es gelingt, ist sehr individuell. Der Schweizer Neurowissenschaftler Nicolas Godinot schätzt, dass es ein bis zwei Generationen dauert, bis lang gehegte Ekelgefühle gegenüber einem Lebensmittel – zum Bespiel Insekten – gesellschaftlich überwunden sind. Positive Gefühle zu wecken, sieht er als möglichen Ansatz: Deformiertes Obst und Gemüse ist laut Godinot schwer verkäuflich, weil Deformierung oft mit Krankheit gleichgesetzt wird. «Das lässt sich zum Beispiel ändern, indem wir betonen, dass das Aussehen nichts am hohen Nährstoffgehalt ändert, und es einen positiven Effekt für die Umwelt hat, auch dieses Gemüse zu konsumieren.»
Je zivilisierter wir wurden, desto mehr Ekelauslöser tauchten auf. So war es in Europa im Mittelalter durchaus verbreitet, sich in die blosse Hand zu schnäuzen und beim gemeinsamen Essen am Tisch auf den Boden zu spucken oder sich gar zu übergeben. Auch der Umgang mit Fäkalien war entspannter – gerade in den Städten hat es wohl extrem gestunken. Ebenso wurden Tiere in der Öffentlichkeit geschlachtet, und es wurden Dinge gegessen, vor denen sich heute viele ekeln, wie etwa Euter oder Innereien.
Wozu dient Ekel sonst noch?
Der Emotionspsychologe Paul Rozin glaubt, der Ekel diene vor allem dazu, unsere genetische Verwandtschaft mit Tieren zu verdrängen – «animalisches Verhalten» werde generell als ekelhaft bewertet, wobei die Definition dafür sich im Lauf der Zeit verändert habe und inzwischen auch unmoralisches Verhalten umfasse. Ekel erfüllt so eine soziale Funktion und dient der Abgrenzung zu anderen Personen, Gruppen oder Kulturen.
Wirkt sich Ekel politisch aus?
Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Markus Freitag von der Universität Bern zeigen, dass Menschen, die sich schneller und stärker ekeln, mit einer höherer Wahrscheinlichkeit dazu neigen, autoritäre Positionen einzunehmen. Sie fühlen sich eher bedroht und stellen die kollektive Sicherheit über die individuelle Freiheit. Die Demokratie birgt für sie zu viele Unsicherheiten – sie setzen lieber auf starke Persönlichkeiten und Traditionen. Dabei handle es sich jedoch um Wahrscheinlichkeiten, betont Freitag. Nicht jeder, der zu Ekel neige, ticke so.