Gebärdensprache als Schulfach?
102 | MM45, 7.11.2016 | LEBEN
www.migmag.ch/ gehoerlos
Familie
«Wir haben gratis eine Sprache dazugelernt
Stella und Luna Zurkirchen sind anders aufgewachsen als andere
Kinder. Ihre Eltern sind gehörlos. Nachteile hatten die beiden deswegen nie: Sie haben von klein auf zwei Sprachen gelernt, die Gebärden- und Lautsprache. Erstere nutzen sie manchmal für ganz spezielle Zwecke. Text: Claudia Langenegger
Zahlen und Fakten
Gehörlosigkeit in der Schweiz Zirka 8000 Gehörlose gibt es hierzulande. Einst waren vor allem Hirnhautentzündung und Röteln während der Schwangerschaft die Gründe für Gehörlosig keit – heute ist der Anteil der vererbten Gehör losigkeit höher. Rund 25 000 Menschen sprechen die Gebärden sprache. Wegen der einstigen Taubstummenanstalten spricht man nicht von «tauben», sondern von «Menschen mit einer Hörbehinderung». Weitere Infos: www.sgbfss.ch www.sichtbargehoerlose.ch www.procomdeaf.ch
D
Bilder: Daniel auf der Mauer
ie Gebärdensprache ist meine Muttersprache», sagt Stella Zur kirchen. Die 19Jährige mit den langen, blonden Haaren sitzt mit ihrer Schwester Luna (16) und Mutter Petra Zurkirchen (48) zu Hause am Küchentisch in Bäretswil ZH. «Die Lautsprache habe ich erst im Kindergarten richtig gelernt», erinnert sie sich. «Ich verstand, was die Kinder sagten, antwortete ihnen aber mit Gebärden.» Erst nachdem Stella begriffen hatte, dass die anderen Kinder sie nicht verstanden, stellte sie auf Lautsprache um. Die Logo pädin brachte ihr bei, wie die Grammatik funktioniert – in der Gebärdensprache ist sie vereinfacht. Bald plapperte Stella wie die Gleichaltrigen: «Als Kind lernst du schnell.» Während Stella erzählt, gestikuliert sie mit den Händen und übersetzt simultan für ihre Mutter, die oben am Tisch sitzt. Laut und Gebärdensprache beherrscht die quirlige Zürcher Oberländerin perfekt. «Ich hatte es einfacher», sagt die gut drei Jahre jüngere Luna. «Ich habe einfach alles meiner Schwester nachgemacht.» Man merkt den gesprächigen Mädchen nicht an, in was für einer stillen Welt sie mit ihren Eltern aufgewachsen sind. Sie hatten nie ein Radio, einen Fernseher aber schon.
Besonders beliebt sind in ihrer Familie SlapstickFilme wie «Dick und Doof». Und Stummfilme mit Chaplin. Anders ist bei ihrem TVGerät bloss, dass alle Sendungen mit Untertitel laufen. «Ansonsten ist alles gleich, nicht?», sagt Stella und blickt zu ihrer Schwester, die zustimmend nickt. «Wir leben einfach in zwei verschiedenen Welten und sind visueller.» Das Einzige, was mit den Eltern lange nicht ging, war Telefonieren. Doch auch dies funktioniert seit Neuestem: per Facetime mit dem Smartphone. «Ein paar Ticks haben wir schon», sagt Stella. «Wir können nicht durchs Wohnzim mer rufen, wenn wir den Eltern etwas sagen wollen. Wir gehen zu ihnen hin und tippen sie an. Das mache ich auch bei meinen Freun dinnen immer. Aber es stört sie nicht.» Freundinnen lernten Gebärdensprache
Auch anderes wie etwa das UnoSpielen funktioniert bei Zurkirchens speziell: Sie rufen nicht «Uno!», sondern klopfen auf den Tisch, denn das Klopfen ist sichtbar und die Vibration spürbar. «Ich dachte bis vor Kurzem, das machen alle so», sagt Stella. Als Aussenseiterinnen fühlten sich die beiden Mädchen wegen ihrer gehörlosen Eltern nie, ihre Schulgschpänli waren
Die Zurkirchens am Familientisch: Die hörenden Töchter «reden» mit ihren gehör losen Eltern in Gebärdensprache.