Migros magazin 39 2015 d lu

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MENSCHEN | MM39, 21.9.2015 | 21

Hörbehinderte leben anders. Wie, erfährt man am Samstag in Bern zum Welttag der Gebärdensprache. Auch Ueli Matter und Barbara Bucher kennen die Herausforderungen der Gehörlosigkeit. Und deren Vorzüge. Text: Yvette Hettinger

Experteninterview

«Russische Gebärdensprache verstehe ich nicht»

Bilder: Simon Iannelli

Psycholinguistin Penny Boyes Braem erforscht seit über 30 Jah­ ren die Gebärdensprache und gründete 1982 das Forschungs­ zentrum für Gebärdensprache in Basel (Fzgresearch.org). 2014 ver­ lieh ihr die Universität Zürich ein Ehrendoktorat.

Immerhin ist die Gebärdensprache heute erlaubt. Vor 40 Jahren war sie in der Schule noch verboten und in der Öffentlichkeit verpönt, weil man befürchtete, Gehörlose würden sich durch eine eigene Sprache vom Rest der Gesellschaft abgrenzen. Die Eltern von Barbara Bucher – der Vater taub, die Mutter schwer­ hörig – verwendeten die Sprache nur zu Hause. Inzwischen verdient die Dolmet­ scherin aus Thalwil ZH damit ihr Geld. Sie doziert an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich, über­ setzt die «Tagesschau» am Schweizer Fernsehen sowie an Sitzungen, Ge­ sprächen und Kongressen, bei denen Hörbehinderte anwesend sind. «Von der Geburt bis zur Beerdigung sind alle Themen des Lebens dabei», sagt sie, «und dazwischen geht es um Schulgespräche, Weiterbildung, Arzt­ besuche und Fachkurse zu allen mög­ lichen Themen von der Elektronik bis zum Baumschneiden.» Gefragt sind also ein grosses Allgemeinwissen und breit gefächerte Interessen, aber auch die Bereitschaft, sich zu exponieren. «Beim Gebärden steht man optisch immer im Mittelpunkt», sagt Bucher, «damit muss man umgehen können.» Eine «Tagesschau» mit all ihren Kriegs­, Hunger­ und Katastrophen­ meldungen lässt die Dolmetscherin emotional praktisch unberührt: «Diese Sendungen werden textlich

Barbara Bucher hat hörbehinderte Eltern und schon als Kind Gebärden­ sprache gelernt.

Penny Boyes Braem, was ist das Besondere an der Gebärdensprache? Sie hat wie die Lautsprache eine eigene Struktur und Grammatik­ regeln. Zum Beispiel kommt es bei jeder Gebärde auf die richtige Handform und Handstellung an, und darauf, mit welcher Bewegung und wo sie ausgeführt wird. Ist es eine universelle Sprache? Nein. Ich zum Beispiel habe die amerikanische und Deutschschwei­ zer Gebärdensprache gelernt, ver­ stehe hingegen die russische oder britische nicht. Einige Gebärden sehen in verschiedenen Ländern ähnlich aus – etwa jene für «Baum» oder «Stuhl». Aber ein Haus wird bei den Inuit ganz anders dargestellt als in der Schweiz. Macht das Cochlea-Implantat (siehe Box auf folgender Seite) die Gebärdensprache eines Tages überflüssig? Es kommt darauf an, wann der Hörverlust eingetreten und wie ausgeprägt er ist. Nach Meinung vieler Mediziner müssen Gehörlose nur die Wörter hören, um fliessend sprechen zu können. Aber es gibt auch Gehörlose mit Cochlea­ Implantat, die ganz bewusst die Gebärdensprache lernen wollen, da es für sie die einzige Sprache ist, in der sie sich wirklich differenziert ausdrücken können. Text: Evelin Hartmann


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