MADAME FRIGO | 2.9.2019 | 15
Es ist ein Geben und Nehmen beim Kühlschrank am Waisenhausplatz in Bern. Das Gerät des Projekts «Madame Frigo» ist Tauschplatz für Lebensmittel.
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ina Fassbind (24) steckt ihren Kopf in den Kühlschrank. Es ist kurz nach halb elf am Vormittag. «Fast alles weg», sagt sie zu Lukas Siegfried (24) und ist zufrieden. Denn leer ist nicht etwa der WG-Kühlschrank der beiden, sondern ein öffent licher auf dem Kiesplatz vor dem Kultur zentrum Progr in Bern. Der gelbe Kleber zeigt: Er gehört zum Projekt «Madame Frigo». Jeder kann in diesen Kühlschrank Lebensmittel stellen oder kostenlos etwas daraus mitnehmen. «Mit dem Tausch wollen wir den Food-Waste in den Privathaushalten verringern», erklärt Nina Fassbind, eine der Gründerinnen von «Madame Frigo». Heute ist sie mit Projektmitarbeiter Lukas Siegfried unterwegs. Siegfried und Fassbind öffnen die Kisten in ihrem Veloanhänger. Aprikosen, Ananas, Äpfel, Bananen, Pfirsiche, Gurken – alles Lebensmittel, die im Laden nicht mehr verkauft werden können. Mit dem gelben «Madame Frigo»-Velo haben die beiden heute morgen die Lebensmittel im strömenden Regen abgeholt und durch die Stadt gefahren. Sie packen die Früchte und das Gemüse aus, werfen ein paar verfaulte Aprikosen weg und waschen die Pfirsiche, bevor sie alles in den fast leeren Kühlschrank legen. Der volle Kühlschrank lockt auf Facebook
Kaum ist der Kühlschrank gefüllt, nähert sich auch schon der erste Interessent. Stevi Burri (37) schaut regelmässig vor dem Einkaufen bei verschiedenen Kühlschränken in Bern vorbei. «Ich nehme die Lebens mittel mit, die ich sowieso einkaufen wollte, und besorge den Rest im Laden», sagt er und greift nach ein paar Aprikosen, den Bananen und einem Brot im Regal oberhalb des Kühlschranks. Normalerweise bringen Fassbind und Siegfried das Essen und verlassen den Ort gleich wieder. «So bekommen wir meist nicht mit, wer nimmt und wer bringt», sagt Fassbind. Heute ist das anders. Eine Woche lang ersetzt «Madame Frigo» die alten
oder Brot, das sie nicht mehr verkaufen können. Mitgenommen habe sie noch nie etwas. Heute überredet sie der kleine Leon: «Mama, kann ich so ein Brötchen haben?», fragt er und beisst gleich herzhaft zu. Die Berner sind noch etwas zurückhaltend
Verschenken statt wegwerfen: Soeben haben Nina Fassbind und Lukas Siegfried den «Madame Frigo»-Kühlschrank vor dem Berner Kulturzentrum Progr mit Gemüse und Früchten gefüllt.
Kühlschränke und weiht neue Standorte ein, insgesamt gibt es bald 25 davon in der Schweiz. Da bleibt auch etwas Zeit zum Beobachten. Die beiden sitzen in Sichtweite und bereiten einen Facebook-Post vor. Mit einem Foto des gefüllten Kühlschranks wollen sie Leute zum «Progr» locken. «Ich bin sehr gespannt, wer vorbeikommt», sagt Lukas Siegfried. Kurz darauf taucht Stephanie Beutler (36) mit ihrem kleinen Sohn Leon auf. Sie arbeitet im Café Lehrerzimmer gleich neben dem «Progr». Oft bringt sie Kuchen
«Mit dem Tausch wollen wir Food-Waste verhindern.» Nina Fassbind Gründerin des Projekts «Madame Frigo»
Vor vier Jahren haben sich die beiden Jus-Studentinnen Nina Fassbind und Jana Huwyler dem Kampf gegen Food-Waste verschrieben. Seit einem Jahr werden sie von Engagement Migros unterstützt, konnten ihre Nebenjobs kündigen. Derzeit arbeiten 50 freiwillige Helfer für das Projekt. Viele Berner kennen «Madame Frigo» zwar, sind aber noch zurückhaltend. So auch Dominik Huber (45), der neugierig zum Kühlschrank kommt. «Ich habe schon vom Projekt gehört, aber noch nie einen Kühlschrank benutzt.» Er achte zu Hause darauf, dass er keine Lebensmittel wegwerfe und habe deshalb auch nichts, das er in den Kühlschrank stellen könne. Ganz ohne Spielregeln geht es nicht
In die Kühlschränke dürfen Früchte, Gemüse und Produkte, die über ihrem «mindestens-haltbar-bis-Datum» sind. Aber kein Fleisch, Fisch, geöffnete Produkte, verarbeitete L ebensmittel oder Produkte, deren «zu-verbrauchen-bis-Datum» bereits abgelaufen ist. Bei diesen Dingen könne man nicht gut überprüfen, ob sie noch geniessbar seien. «Die Leute halten sich gut an die Regeln», freut sich Fassbind. Doch auch bei den öffentlichen Kühlschränken ist es wie zu Hause: Es gibt mehr Hände, die den Kühlschrank leeren, als solche, die ihn auffüllen. Deshalb gebe es einen Probelauf mit Lebensmittelhändlern, die ihnen nicht mehr verkäufliche Produkte überlassen. «Vollere Kühlschränke bedeuten mehr regelmässige Besucher, die dann hoffentlich auch mehr Lebensmittel reinstellen», sagt Fassbind. Kurz nach dem Mittag liegen im Kühlschrank noch eine Ananas und eine Gurke. Eine Stunde später ist er komplett leer und wartet auf die nächste Lieferung. MM