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MM35, 28.8.2017 | LEBEN
Gesundheit
Ein Leben mit Epilepsie
Sein Leid begann mit einem heftigen Lacher als Elfjähriger: Christoph Bleuler erlitt seinen ersten epileptischen Anfall. Heute ist der 40 Jahre alt. Wie lebt er mit der Krankheit? Text: Susanne Wagner
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ur 20 Sekunden Zeit hat Christoph Bleuler, wenn er das Vorgefühl eines epileptischen Anfalls spürt. Gerade genug lang, um sich zu setzen, um abzuwarten, ob tatsächlich ein Anfall kommt. Als Vorzeichen spürt er eine Leichtigkeit zwischen Rücken und Kopf und gleichzeitig eine Schwere am Rücken. Als ob ihn ein Vogel am Rücken greifen würde. Er hat dieses Bild einmal für einen Thera peuten gezeichnet. Während eines Anfalls wird sein Gesicht starr, der Körper über streckt sich wie in einem Krampf, und Chris toph Bleuler verliert kurz das Bewusstsein. Das Ganze dauert 30 Sekunden bis maximal zwei Minuten. Christoph Bleuler leidet an Epilepsie, seit er elf Jahre alt ist. Es begann mit einem un natürlich heftigen Lachanfall in der 5. Klasse. «Das wiederholte sich in den unpassendsten Situationen», sagt der heute 40Jährige. Als er nach einem der Anfälle bewusstlos zusammenbrach, gingen die Ärzte zunächst von einer Hirnhautentzündung aus. Später von einer schweren Epilepsie, die mit Medi kamenten behandelt wurde. Als der Primarschüler nach sechs Wochen wieder in die Schule zurückkehrte, war nichts mehr wie vorher. Seine sozialen Kon takte litten unter seiner Krankheit. Freunde wandten sich von ihm ab. Es waren schwie rige Jahre für den Teenager. Auch am Gym nasium stand er die meiste Zeit unter Stress. Christoph Bleuler findet es heute schade, dass seine Familie den offenen Umgang mit der Epilepsie nicht nach aussen trug. Christoph Bleuler lehnte sich gegen die Krankheit auf, indem er begann, exzessiv Sport zu treiben und Triathlon zu trainieren. In der schwierigsten Phase führte die Epi lepsie zu mehreren Anfällen am Tag. Das bedeutete für ihn Dauerstress und behinderte seine berufliche Integration. Nach der Ma tura liess er sich zum Deutsch und Englisch
Bilder: Monika Flückiger
lehrer ausbilden, schaffte den Einstieg ins Berufsleben jedoch nie richtig. Er absol vierte eine Ausbildung zum Fitnesstrainer, musste aber eine Anstellung in einem Sportklub wegen seiner Krankheit aufgeben. Seit zehn Jahren bezieht er eine volle IVRente, gegen die er sich lange sträubte. So offen wie heute konnte Christoph Bleuler über seine Epilepsie lange nicht reden. Die neue Offenheit hat auch damit zu tun, dass er vor neun Monaten Vater wurde. Gemeinsam mit seiner Partnerin Sara Heer und der gemeinsamen Tochter Lia lebt der in Zürich aufgewachsene Bleuler heute in Solothurn. Die zweistöckige Wohnung ist mit einem Notfallknopf ausgerüstet, den er bei einem Anfall drücken könnte, wenn er sich allein mit dem Baby in der unteren Etage befindet. Die Unsicherheit ist ein Grundgefühl
«Bevor wir Lia bekamen, stellten wir uns natürlich viele Fragen. Etwa die nach der Vererbbarkeit, aber da gab es ein klares Nein im Fall von Christoph», sagt Sara Heer. Ihr war auch klar, dass sie weiter arbeiten und sehr flexibel sein muss. «Letztlich ist es jedoch so schön, ein Kind zu haben, dass wir uns dafür entschieden haben», erklärt die Sonderpädagogin. Nach dem sechsmonatigen Mutter schaftsurlaub arbeitet sie wieder 60 Prozent. An diesen Tagen bringt Christoph Bleuler Lia am Morgen in die Krippe, denn solange sie noch so klein ist, kann er die alleinige Verantwortung nicht übernehmen. Der Kinderwagen ist mit einer Vorrichtung aus gerüstet, die den Wagen bremst, wenn er ihn wegen eines Anfalls loslassen würde. Dass er derzeit noch nicht so viel Kinder betreuung übernehmen kann, findet Chris toph Bleuler sehr schade. Aber er ist über zeugt, dass sich die Situation verändern wird, sobald Lia älter ist. «Das Grundgefühl
1 Eine glückliche Fa milie, die sich mit der Krankheit arrangiert hat: Sara Heer und Christoph Bleuler mit ihrer Tochter Lia. 2 und 3 Die SOSKarte am Kinderwagen und der Alarmknopf geben Christoph Bleuler Sicherheit, wenn er mit der kleinen Lia allein ist.