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Erfolgreich trotz Real
Arlinda Hasani
besuchte von 2011 bis 2012 die Realschule Bünzmatt in Wohlen AG. Seit drei Jahren unterrichtet sie am gleichen Ort Englisch. Schuld am Übertritt in die Real sei damals ein Umzug gewesen. «Zuvor hatte ich gute Noten, aber ich war von der neuen Situation überfordert und fand mich sozial nicht zurecht.» Die Realschule sei dann ihre Chance gewesen. Im neuen Schulhaus habe sie sich unterstützt gefühlt und sei aufgeblüht. Hasani stieg auf bis in die Kantonsschule; heute macht sie an der Pädagogischen Hochschule ihren Master. Für ein Praktikum fragte sie bei ihrer alten Schule an, wo man sich sehr gefreut habe. «Ich bereue den Umweg über die Real überhaupt nicht, das war eine wertvolle Zeit.» Die Lehrerinnen und Lehrer hätten eine Vorbildfunktion für sie gehabt – und dasselbe möchte sie nun auch für ihre Schüler sein.

Realschule? Je nach Kanton heisst die niedrigste Oberstufenschule anders. Eine Übersicht:

Nur Real– und doch erfolgreich
Die niedrigste Ober- stufenschule gilt oft als Sackgasse. Doch das muss nicht sein.
Texte: Monica Müller, Dario Aeberli, Ralf Kaminski, Benita Vogel
Arlinda Hasani (25) ist Lehrerin an der Realschule. «‹Es braucht auch Menschen, die im Zoo Elefantenhaufen wegräumen›, hat mein Reallehrer meiner Mutter gesagt. Sie war so entsetzt darüber, dass sie mir eintrichterte: ‹Du darfst alles werden, nur das nicht!› Mit seiner Einschätzung, dass ich nicht machen wollte, was alle anderen tun, lag er gar nicht so falsch. Ich entschied mich für eine Lehre als Rheinmatrose, kochte in der Kombüse, wartete die Motoren und reiste Dutzende Male von Basel nach Rotterdam und zurück. Mitte 30 begann ich ein Jus-Studium und war umgeben von 20-Jährigen, die frisch vom Gymi kamen und Latein konnten. Ich verstand kein Wort. Die Sprache der
Römer kannte ich bloss von ‹Asterix und Obelix›. Diese Lücke zu schliessen war echt hart. Vielleicht setze ich mich deshalb dafür ein, dass die Gesetze, die wir im Nationalrat schaffen, verständlich sind.»
«MEIN WEG DAUERTE

LÄNGER» , sagt Jana Figliuolo, «dafür habe ich auch mehr erlebt und gesehen als andere.» Ihr Vater ist Stromer, ihre Mutter Verkäuferin, beide hatten ebenfalls die Realschule besucht und fanden es nicht schlimm, dass es ihr nicht für die Sek reichte. Später absolvierte sie das KV in einem KMU, das Cheminées produziert. Als einzige Junge im Team musste sie schnell erwachsen werden. Besonders gut gefiel es ihr in der Marketingabteilung. So wagte sie es schliesslich nach der BMS und zwei Jahren als Anwaltssekretärin, in Chur Multimedia Production zu studieren. Rückblickend sagt sie: «Ich dachte immer, es müsse das KV sein. Heute wäre ich da offener. Warum nicht Floristin?»
«Als Kind war ich verspielt und eigensinnig», sagt Markus Neubauer, Gärtnermeister aus Erlen TG. «Ich war nur in dem gut, was mich interessierte, etwa im Lesen. Auswendiglernen ging gar nicht.» Vor allem aber sei da dieser alte Lehrer gewesen, der seltsame Regeln aufstellte und auch Schläge verteilte – was bei Neubauer jedoch erst recht seinen Widerstandsgeist weckte. «Ich habe die Schule teilweise regelrecht verweigert.» So landete er 1973 in der Realschule. «Dort jedoch fühlte ich mich von den Lehrern unterstützt und bin geradezu aufgeblüht.» Anschliessend machte Neubauer eine Gärtnerlehre, übernahm 1989 die Gärtnerei seiner Eltern und stellte als einer der ersten in der Schweiz auf Bio um. Die dafür notwendigen Kenntnisse eignete er sich an der Gartenbauschule und in Kursen an. Zwar habe er unter der Mittelstufenschulzeit gelitten, sei durch sie aber auch gestärkt worden. «Ich konnte nachher mit Widerständen umgehen.» Am meisten bedauert er, dass er Fremdsprachen Jana Figliuolo (29) nie richtig gelernt hat. co-leitet im Newsroom der Migros das Videoteam. Markus Neubauer (61) ist Gärtnermeister.

Carlo Gruber (49) ist Inhaber einer Immobilienfirma.
Er gehörte weder in der Real noch in der Lehre oder in seiner Studienzeit zu den Besten.
Carlo Gruber fragte sich oft, ob er die nächste Prüfung, das nächste Semester bestehe. «Doch ich habe immer alles gegeben und gemerkt, dass mich mein Einsatzwille trotz mittelmässiger Noten weiterbrachte», sagt er. Nach dem Metallbauzeichner wollte er es wissen, begann Architektur, Wirtschaft und Immobilien zu studieren. Nebenbei arbeitete er – und schlief wenig. Doch die Mühen haben sich gelohnt, und in ihm kehrte eine neue Ruhe ein. «Ich empfand Stolz und Genugtuung.» Er habe mehr erreicht, als er sich jemals zugetraut hatte.

«ALLE HATTEN SECHSER IM ZEUGNIS, ICH EINE FÜNF» ,
sagt Ondine Riesen. Beim Übertritt in die Oberstufe fand der Lehrer, Ondine soll in die Real. Aufgrund des AufmerksamkeitsDefizit-Syndroms habe sie eine traurige Schulzeit erlebt. «Ich habe viel geweint, mir einmal gar ins Gesicht geschlagen, weil ich meinte, ich könne mich so besser konzentrieren.» Dass sie bessere Ideen hatte als ihre Gschpänli, ein feineres Gespür für Menschen und schnell denken konnte, wurde in der Schule nicht (an)erkannt. Glücklicherweise fand ihre Mutter sie schon immer intelligent und liess sie aus der Real in eine Privatschule versetzen. So kam Ondine in die Sek und später in eine private Mittelschule, wo ein Lehrer auf sie aufmerksam wurde. «Er meinte, ich soll es im Gymi versuchen.»

Ondine Riesen (41) hat die Matura geschafft und Geschichte, Politik und Menschenrechte studiert. Vor drei Jahren hat sie die Community Ting mitbegründet.
Sie schafften den Sprung aus der Realschule ans Gymnasium. Wie das?
Die ersten zwei Jahre in der Real machten wir nix, hatten es einfach lustig. Dann kam eine neue, tolle Lehrerin. Sie spürte jeden Einzelnen und motivierte uns. Plötzlich strengte ich mich an und hatte nur noch Sechser. Nach der 3. Real wechselte ich in die Sek und besuchte gleichzeitig Klavierkurse am Konservatorium. Ich wollte Pianist werden. Dank der Musik wurde ich schliesslich in die Musik- und Sportklasse des Gymnasiums aufgenommen.
In der Primarschule unterstützten Ihre Eltern Sie bei den Hausaufgaben und schickten Sie in die MatheNachhilfe. Das brachte aber nichts. Warum?
Ich hatte mit 13, 14 Jahren einfach völlig andere Interessen: Ich liebte Skateboarden, Basketball, Snowboard, Kung-Fu und Klavier. Klavier spielte ich jeden Tag drei bis fünf Stunden. Ein Kind zu pushen, funktioniert einfach nicht. Ich war ein Dickkopf, wollte nicht. Dann geht auch nichts rein.
Der schlechteste Ratschlag?
Fokussiere dich auf etwas.
Jan Bühlmann (34) unterrichtet Klavier, Gitarre und Songwriting, ist Musicaldarsteller und Sprecher. 2010 war er Mister Schweiz.
Sophie Achermann ist Geschäftsführerin von Alliance F.
«In einem Berufsumfeld, wo alle einen akademischen Hintergrund haben, war es mir lange unangenehm zu sagen: Ich habe nur das KV gemacht. Heute bin ich stolz auf meinen Weg. Als Arbeitgeberin bei Alliance F schätze ich auch die weniger direkten Lebensläufe. Denn ich weiss, was dahintersteckt. Und ich bin mir sehr bewusst: Ich bin nicht genialer als meine Gschpänli aus der Realschule. Ich hatte das Glück, von meiner Familie unterstützt zu werden. Und an Menschen zu gelangen, die an mich glaubten und mich machen liessen.»
Sophie Achermann (29) wechselte von der Realschule in die Sek, absolvierte das KV bei den Parlamentsdiensten und schloss mit 21 Jahren, hochschwanger, die Berufsmatur als Jahrgangsbeste ab. Das Studium zur Wirtschaftsingenieurin brach sie ab.