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Ein Chromosom zu viel

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Affenpocken

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«Das ist wie zwei Sechser im Lotto»

Zwei von drei Kindern der Familie Schmid haben das Downsyndrom. Das war zu Beginn ein Schock, doch mittlerweile sind die Eltern glücklich mit ihrer besonderen Situation.

Text: Andrea Söldi Bilder: Désirée Good

Ruben begrüsst den Besuch gleich an der Haustür mit einer Umarmung. Danach rennt er ins Wohnzimmer, wo er auf der Matratze herumhüpft, auf einen Stuhl klettert und dann in sein Kartonhaus schlüpft. «Wir haben uns so eingerichtet, dass sich die Kinder austoben können», sagt Mutter Michal Schmid. «Für Kinder mit Downsyndrom ist die motorische Förderung besonders wichtig.»

Familie Schmid aus St. Margrethen SG hat drei Kinder, Ruben (7) und sein Bruder Elijah (4) sind mit dem Downsyndrom auf die Welt gekommen, Schwester Zoë (5) nicht. «Das ist wie zweimal ein Sechser im Lotto», lacht die Mutter. Natürlich sei die Diagnose zuerst einmal ein Schock. Doch mittlerweile ist das Elternpaar glücklich mit seiner besonderen Situation. «Es ist, wie wenn man nach Italien in die Ferien fliegen will und dann in Holland landet. Man hat wahrscheinlich die falschen Kleider dabei. Aber es ist auch in Holland schön.»

Viele Föten werden abgetrieben Die Behinderung ist nach dem englischen Arzt John Langdon Down benannt, der sie im 19. Jahrhundert beschrieben hat. Häufig wird auch von Trisomie 21 gesprochen, weil das 21. Chromosom in den Zellen dreifach statt doppelt vorhanden ist. Neben geistigen Einschränkungen treten häufig auch körperliche Komplikationen auf. Je älter die Mutter, desto höher das Risiko für ein entsprechendes Kind. Bei deutlichen Hinweisen auf ein Downsyndrom entscheiden sich etwa 90 Prozent der Paare für einen Schwangerschaftsabbruch.

Michal Schmid war mit 35 Jahren noch nicht besonders alt, als sie mit Ruben schwanger wurde. Auf spezielle Tests hatte das Paar verzichtet. «Wir wollten nicht vor einer schwierigen Entscheidung stehen», meint Reto Schmid. «Und für uns hätte sich sowieso nichts geändert.»

Ruben war als Baby ziemlich gesund, wuchs jedoch wegen seines Herzfehlers nur wenig. Im Alter von elf Monaten wurde er erfolgreich operiert, seither entwickelt er sich gut. Mit 21 Monaten lernte er laufen – eher spät, aber immer noch in der Norm. Vom Verhalten her sei er jedoch ein anstrengendes Kleinkind gewesen, so Michal Schmid: «Oft lief er auf die Strasse hinaus oder tobte auf dem Trottoir.» Zu Beginn sei sie wohl etwas zu nachsichtig mit ihm gewesen, räumt sie ein. So habe sie ihn zum Beispiel im Wohnzimmer essen lassen, wenn er dies unbedingt wollte. «Hauptsache, er ass überhaupt.» Doch durch die Beratung einer Physiotherapeutin, Weiterbildungen sowie Bücher erkannte sie, wie wichtig es ist, Ruben an gewisse Normen zu gewöhnen – was unterdessen auch gelungen ist. «Wir wollen, dass unsere Kinder möglichst selbständig werden und sich in die Gesellschaft einfügen können.»

«Wir wollen, dass unsere Kinder möglichst selbständig werden.»

Michal Schmid

Frühkindliche Förderung wichtig Das Spektrum der geistigen Fähigkeiten von Menschen mit Downsyndrom sei relativ breit, sagt Kinderneurologe Robert Steinfeld von der Universität Zürich. «Die meisten benötigen ein Leben lang Unterstützung und arbeiten im geschützten Arbeitsmarkt.» Mit den heutigen Behandlungsmöglichkeiten habe sich ihre Prognose zwar stark verbessert. Doch die nötigen operativen Eingriffe am Herzen seien oft beschwerlich, gibt Steinfeld zu bedenken. «Für einen günstigen Verlauf ist eine gute frühkindliche Förderung ausschlaggebend.»

Gerade kommt Elijah mit Vater Reto von der Logopädie zurück. Er wirft einen Blick in die Küche und streift mit dem Finger über seine Zunge. Mutter Michal versteht das Zeichen. «Nein, jetzt gibt es kein Glace», lacht sie. Elijah setzt sich auf ihren Schoss. Er hat eine ruhigere Natur als sein Bruder. Im Alter von neun Monaten trat bei ihm eine Form

Viel Platz zum Austoben: Michal und Reto Schmid mit den Kindern Zoë, Elijah und Ruben (von oben) in ihrem grossen Garten

Ruben (7, oben) und Elijah (4) sprechen noch wenig, verstehen aber alles. Die beiden lieben es, zusammen zu spielen.

von Epilepsie auf, die unterdessen wieder abgeheilt ist. Beide Knaben sprechen noch wenig, verstehen aber alles. Häufig kommunizieren sie mit einfachen Gebärden. Ruben wählt seinen Znüni aus, indem er auf Bilder von Heidelbeeren, Rüebli oder Crackers zeigt. Seit 2019 besucht er den normalen Kindergarten im Dorf. Dort macht er gut mit, hat Freunde gefunden und wird auch oft zu Kindergeburtstagen eingeladen. Ob er im August in die Volksschule integriert werden kann, ist zurzeit in Abklärung.

Schwester weiss Bescheid Dass ihre Brüder speziell sind, weiss auch Zoë, die an diesem Mittwochnachmittag ebenfalls am Küchentisch sitzt und malt. In der Entwicklung ist sie ihrem älteren Bruder in vielem voraus. Die Eltern haben das Downsyndrom mit dem Mädchen schon früh thematisiert. «Wir wollten nicht, dass Zoë im Kindergarten erfährt, dass ihre Brüder behindert sind», erklärt Michal Schmid. Wichtig ist ihnen zudem, dass die Schwester nicht die Rolle der Betreuerin einnimmt und ihren Brüdern etwa beim Anziehen hilft oder auf dem Kindergartenweg auf Ruben warten muss. Sie spielt gern mit Ruben und Elijah. «Es ist immer

lustig mit den beiden», sagt die Fünfjährige.

Die ersten Jahre seien anstrengend gewesen mit den drei Kleinkindern, blickt Michal Schmid zurück. Zum Glück habe sie viel Unterstützung von der Familie erhalten. Ihr Mann war als Bauleiter damals stark eingespannt. Unterdessen haben die beiden ihre Rollen getauscht: Die Lehrerin hat eine 60-Prozent-Stelle angenommen, während er hauptsächlich Hausmann ist. Finanziell sei das machbar, sagen die beiden. «Genügend Zeit für die Familie ist uns wichtiger als Luxus», so Reto Schmid. «Unter Stress würden wir das nicht packen.» Die Ferien verbringt die Familie meist in ihrem grossen Garten, wo sich die Kinder auch an diesem Nachmittag austoben: Während Elijah die Leiter der Rutschbahn erklimmt, beschäftigt sich Ruben in der Spielküche, und Zoë übt den Salto auf dem Trampolin. MM

Ruben (vorn) besucht den normalen Kindergarten. Ob er im August an die Volksschule kann, wird noch abgeklärt.

Anzeige Hilfe bei schwierigen Entscheidungen

Wenn zu Beginn einer Schwangerschaft der Verdacht auf Trisomie 21 aufkommt, können weitere Tests zu mehr Gewissheit führen. Bevor man eine Entscheidung trifft, sollte man die Vor- und Nachteile gut abwägen. einen Einblick in den Alltag:

hope21.ch

• Eltern von Kindern mit

Downsyndrom sind im

Verein für Betroffene und

Angehörige vernetzt:

insieme21.ch

Bei einem entsprechenden Befund bleibt nur wenig Zeit zu überlegen, ob man das Kind austragen will oder nicht. Folgende Organisationen bieten Beratungen an:

• Informationen zu pränataler

Diagnostik:

praenatal-diagnostik.ch

• Kontakte zu Familien mit Downsyndrom-Kind für Einen Austausch für Mütter und Väter von Kindern mit allen Arten von Behinderungen bietet zudem die Organisation Procap. In der Onlineserie «Flügge – Leben mit einem Kind mit Behinderung», die vom Migros- Kulturprozent unterstützt wird, kommen Expertinnen und Betroffene zu Wort. Infos und Anmeldung:

procap-bern.ch/fluegge

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