INTERVIEW JEAN-DANIEL GERBER
Migros-Magazin 11, 14. März 2011
«Auf dass es besser werde»
Jean-Daniel Gerber, Sie sind seit 2004 Seco-Direktor und räumen Ende dieses Monats Ihr Büro. Mit welchem Gefühl?
Jean-Daniel Gerber (64) ist seit 2004 Direktor des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco in Bern und damit noch bis Ende März 2011 verantwortlich für die nationale und internationale Wirtschaftspolitik, die Arbeitsmarktpolitik sowie für Standort-, Export- und Tourismusförderung. Schweizweit einen Namen hat sich der Staatssekretär in den Jahren 1997 bis 2004 geschaffen, als er während des Balkankriegs ebenfalls in Bern Direktor des Bundesamts für Migration war. Seine berufliche Laufbahn startete der zweifache Familienvater bereits 1973 beim Seco. Danach wechselte er zur WTO in Genf, in die Schweizerische Botschaft nach Washington und unter anderem zur OECD. Von 1993 bis 1997 war der Ehrendoktor der Uni Bern Exekutivdirektor innerhalb der Weltbankgruppe. Jean-Daniel Gerbers Leitsatz lautet bis heute: «Ut melius fiat» — «Auf dass es besser werde».
Meine Gefühle sind bei meiner Arbeit. Es läuft noch so viel: die Frankenstärke, die Ereignisse in Nordafrika, die Europapolitik, die Freihandelsverhandlungen mit Indien, China und Russland. Aber Sie freuen sich auf das Ende Ihrer Seco-Aufgabe?
Freuen aufs Ende hört sich nach Todesstoss an (lacht). Wenn Sie auf meinen Lebenslauf schauen, sehen Sie, dass ich mich immer wieder beruflich verändert habe. Jeder Wechsel, auch dieser, bringt neue Herausforderungen, und darauf freue ich mich. Nur werden Sie dieses Mal als gut 64-Jähriger wohl doch ein bisschen kürzertreten, oder?
Meine Frau sagte, ich müsse aufpassen, dass ich nicht 100 Prozent weiterarbeite. Haben Sie denn schon etwas aufgegleist?
Selbstverständlich. Es laufen diverse Gespräche. Ich verfolge drei Schienen: erstens Angebote von Non-Profit-Organisationen, zweitens Anfragen von Universitäten für Vorlesungen und drittens Verwaltungsratsmandate. Ich werde gefordert sein, ein Gleichgewicht zwischen diesen drei Bereichen und der Freizeit zu finden. Welche Momente in Ihrer beruflichen Laufbahn haben Sie besonders positiv in Erinnerung?
1997 war ich Exekutivdirektor der Weltbank. Die enorme Aufgabenvielfalt, die mit der Hilfe an arme Länder verbunden ist, hat mich begeistert. Sie reicht von der Finanz- und Wirtschaftsökonomie über das Gesundheitswesen, die Bildung bis zum Bau von kontroversen Infrastrukturprojekten. Spannend war für mich die Zeit im Bundesamt für Migration, wo ich ständig zwischen Herz und Strenge gegenüber Menschen balancieren musste. Faszinierend und einflussreich auf das Geschehen der Schweizer Wirtschaft ist dagegen die Arbeit im Seco.
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Wie beurteilen Sie als ehemaliger Direktor des Migrationsamts die Umwälzungen in Nordafrika?
Wir leben heute in einer Welt der vollkommenen Transparenz. Die Leute wissen, was wo passiert und wie die übrige Welt lebt. Die Transparenz, die das Internet vermittelt, ist gewaltig. Diktaturen haben es immer schwieriger, dank dem Zugang der Bevölkerung zur Information. Das ist die gute Seite der Globalisierung.
Muss die Schweiz mit vielen Flüchtlingen rechnen?
Alles ist relativ: Zur Zeit des Kriegs in Kosovo hatte die Schweiz innerhalb von 18 Monaten 53 000 Zivilflüchtlinge aufgenommen, mehr als während des gesamten Zweiten Weltkrieges. Die Gemeinden und Kantone haben ausserordentliche Leistungen erbracht. Wenn nun auf Lampedusa 1500 Flüchtlinge eintreffen, lässt sich das von der Dimension her sicher nicht vergleichen. Die Frage ist nur, was danach kommt. Was kommt denn danach?
Ich vermute, dass kein plötzlicher Ansturm von Flüchtlingen bevorsteht. Doch auch die neuen Regierungen in Nordafrika werden die hohe Arbeitslosigkeit nicht von einem Tag auf den anderen vermindern können. Wenn die jun-
gen Menschen feststellen, dass sich ihre Situation nicht verbessert, werden sie auswandern wollen. Wir müssen uns somit auf eine wachsende Migration gefasst machen. Das Seco geriet in den letzten Tagen in die Schlagzeilen, weil es Waffenverkäufe in arabische Länder bewilligte und weil mit diesen Waffen auf die Zivilbevölkerung geschossen wird.
Die Statistik zu den Kriegsmaterialexporten zeigt, dass diejenigen Staaten, die derzeit von Aufständen betroffen sind, in den letzten Jahren entweder gar nicht oder nur mit Zurückhaltung mit Kriegsmaterial aus der Schweiz beliefert worden sind. Man könnte bei nicht demokratischen Ländern aber generell restriktiver sein.
Das sind wir, die Schweiz exportiert gerade mal 0,3 Prozent ihrer Ausfuhren in Form von Waffen, den Grossteil übrigens in westliche Länder. Die Frage stellt sich jedoch anders: Welche Länder stufen Sie als nicht demokratisch ein? Die Definition ist nebulös. Wenn Sie schweizerische Massstäbe ansetzen, kommen wir einem Waffenausfuhrverbot recht nahe, das die schweizerische Bevölkerung letztes Jahr bekanntlich
«Meine Frau sagt, ich müsse aufpassen, dass ich nicht 100 Prozent weiterarbeite.»
in einer Volksabstimmung abgelehnt hat. In einem Interview im Januar gingen Sie für 2011 von einem Schweizer Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent aus. Hat sich diese Prognose bestätigt?
Im Vergleich mit der Vorjahresperiode haben wir im vierten Quartal 2010 ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 3,1 Prozent. Ich gehe davon aus, dass unsere nächste Prognose für 2011 leicht höher als 1,5 Prozent sein wird. Die Wirtschaftssituation präsentiert sich besser als noch vor zwei Jahren.
Ja, aber die Frankenstärke belastet unsere Exporte und den Tourismus, was wir im 2011 und 2012 spüren werden. Gleiches gilt für die Arbeitslosigkeit. Deren Rückgang wird sich abschwächen.
Die Linke kritisiert, während Ihrer Amtszeit seien Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit und gegen soziale Missstände zu kurz gekommen. Verstehen Sie diese Kritik?
Für diese Kritik habe ich ein gewisses Verständnis. Es ist die ureigenste Aufgabe der Linken, immer gegen Arbeitslosigkeit und gegen soziale Missstände einzutreten. Aber schauen wir die Realität an: Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz ist im Vergleich zum Ausland gering, gegenwärtig 3,6 Prozent. Im Krisenjahr dachten wir, diese könnte die 5-Prozent-Grenze erreichen. Tatsächlich