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bin Ukrainerin, ich gebe nicht auf»

Olena Chepurenko (44)

Finanzfachfrau, Rorschach SG; Heimatort: Kiew

Seit dem 9. März 2022 in der Schweiz

Aktuelle Lage: Sie lebt mit ihrer Tochter (16) und ihrer Mutter bei einer Gastfamilie, arbeitet Teilzeit als Übersetzerin und sucht einen Job.

«Ich bin dankbar, dass wir hier sein dürfen. Da will ich wenigstens selbst für meine Familie sorgen. Am Anfang habe ich gedacht, ich müsste gut Deutsch können, damit ich einen Job finde. Deshalb habe ich fünf Monate einen Intensiv-Deutschkurs bei der Migros-Klubschule besucht. Heute habe ich Niveau B2, verstehe und spreche fliessend Deutsch. Doch mittlerweile weiss ich, dass es nicht auf mein Sprachniveau ankommt.

In der Ukraine habe ich die Finanzabteilung eines staatlichen Unternehmens geleitet, dann eine staatliche IT-Firma geführt und zuletzt mit meinem Geschäftspartner eine eigene Baufirma gegründet. Doch hier ist das

Einzige, was man mir anbietet, ein Job als Putzfrau oder Tellerwäscherin. Aber ich will nicht klagen. Für Schweizer Firmen ist es schwierig, Leute mit Schutzstatus S einzustellen. Sie müssen Zeit und Geld investieren, ohne zu wissen, wie lange die Person in der Schweiz bleibt. Das ist ein grosses Risiko. Ich verstehe das, ich war selbst Arbeitgeberin. Immerhin kann ich Teilzeit als Übersetzerin arbeiten. Anfang Februar habe ich zudem eine Ausbildung als Brückenbauerin begonnen. Da lerne ich, wie ich Geflüchtete mit psychischen Problemen oder einem Trauma unterstützen kann. Ich hoffe, dass ich damit eines Tages auch meinen Landsleuten zu Hause helfen kann, zum Beispiel mit Videoberatungen. Das Geld ist knapp. Jedes Mal, wenn wir einkaufen, müssen wir rechnen, wie viel uns bleibt. Ich habe über 80 Bewerbungen geschrieben, bisher leider ohne Erfolg. Aber ich bin Ukrainerin, ich gebe nicht auf.»

Geflüchtet aus der Ukraine

76 727

Personen aus der Ukraine haben in der Schweiz bis Ende Januar den Status S beantragt, 73 924 haben ihn erhalten. Ein Drittel der Geflüchteten ist männlich.

8824

Personen haben den Status S wieder aufgegeben und die Schweiz verlassen. Unklar ist, ob sie heimgekehrt oder in ein anderes Land weitergezogen sind.

35

Prozent aller ukrainischen Geflüchteten in der Schweiz sind gemäss Schweizerischer Flüchtlingshilfe noch immer bei Gastfamilien untergebracht.

14,6

Prozent betrug Ende Januar die Erwerbsquote bei den ukrainischen Geflüchteten. Haupthürde ist oft die Sprache.

8

Olena Chepurenko hat trotz Erfahrungen als Unternehmerin und Finanzchefin Mühe, hier einen Job zu finden.

Millionen Menschen aus der Ukraine sind seit Kriegsbeginn ins Ausland geflüchtet, zusätzlich fünf Millionen innerhalb des Landes auf der Flucht. Fast 40 Prozent der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe und der Verein «Zürich hilft der Ukraine» sind weiterhin in der Ukraine und hierzulande engagiert. Informationen und finanzielle Unterstützung auf: fluechtlingshilfe.ch, zhdu.ch

Oleksandr Sheviakov arbeitet seit November bei der Migros Ostschweiz in Gossau SG.

Oleksandr Sheviakov (38)

Mitarbeiter Lebensmittelindustrie, Speicherschwendi AR; Heimatort: Dnipro

Seit September 2022 in der Schweiz (Frau und Kinder, 6 und 11, schon seit März 2022)

Aktuelle Lage: eigene Wohnung dank der Gastfamilie; die Eltern arbeiten und lernen Deutsch.

Sie sind nach Kriegsbeginn in der Ukraine geblieben und haben den Truppen geholfen. Weshalb sind Sie im vergangenen Herbst doch noch Ihrer Familie in die Schweiz gefolgt?

Weil ein Freund und ich im Sommer bei einem Einsatz nahe der Front von einer Bombe getroffen wurden. Wir waren mit einem Auto voller Material unterwegs zu den Truppen, als es zur Explosion kam. Ich wurde verletzt, er starb, das war sehr hart. Ich bin vollständig genesen, aber danach entschloss ich mich, meiner Familie in die Schweiz zu folgen. Und für mich war klar: Ich will so rasch wie möglich arbeiten.

Wie schwierig war es, einen Job zu finden?

Nicht so schwierig, vielleicht hatte ich auch Glück. Ich habe lange bei Banken gearbeitet, war aber in den Jahren vor dem Krieg in der Lebensmittelindustrie tätig, in der Herstellung von Pflanzenöl. Schon im Oktober kam ich mit der Migros ins Gespräch, die damals personelle Engpässe im Fleischbereich hatte. Am 7. November konnte ich anfangen und mache nun nach Ende der Probezeit eine richtige Ausbildung. Ich organisiere das Kühllager mit den Fleischprodukten und bediene den Trennfleischschneider. Die Arbeit gefällt mir, nun muss ich einfach mein Deutsch weiter verbessern.

Wie geht es Ihrer Familie hier?

Unsere Situation ist inzwischen recht stabil, meine Frau arbeitet ebenfalls, als Sportlehrerin an der Universität St. Gallen, die Kinder gehen zur Schule, unser Deutsch macht Fortschritte. Aber natürlich machen wir uns grosse Sorgen um Familie und Freunde in der Ukraine –zum Beispiel um meine Eltern, die zu alt sind, um zu flüchten und ihr Leben nochmals komplett zu ändern. Wir telefonieren jeden Tag.

Wollen Sie nach dem Krieg so rasch wie möglich zurück oder lieber hierbleiben?

Ich liebe die Ukraine, und wir vermissen Familie und Freunde. Aber niemand weiss, was von meiner Heimat am Ende des Kriegs übrig sein wird. Gleichzeitig fühlen wir uns hier wohl und sind sehr dankbar für die Hilfe – auch für die grosse Unterstützung, die ich hier bei der Arbeit bekomme. Ich denke, wir können erst entscheiden, wie es weitergeht, wenn der Krieg endet. Ich wünschte mir sehr, dass dies noch 2023 passiert, aber es kann auch noch Jahre dauern. Wir träumen deshalb nicht von der Zukunft, sondern konzentrieren uns auf die Gegenwart.

Julia (15) und Viktoriya (11) Tsarinna, Schülerinnen, Weiningen ZH;

Heimatort: Poltava-Region, östlich von Kiew

Seit Juli 2022 in der Schweiz (mit Mutter und jüngerer Schwester; der Vater folgte im November; er ist Strassenbauarbeiter, sie Lehrerin)

Aktuelle Lage: teilen sich eine Wohnung mit einer anderen Familie, die Eltern haben noch keinen Job, alle lernen Deutsch.

Die beiden Mädchen wirken aufgeweckt und entspannt. Nichts weist auf die schwierigen Monate hin, die sie hinter sich haben: die Sirenenalarme, die Raketen, die sie am Himmel vorüberfliegen sahen, die Ängste, die Flucht, die in Schweizer Asylzentren verbrachten Wochen. Ihr Leben wurde in kürzester Zeit total umgekrempelt.

Viktoriya, die Jüngere, hat sich schon ganz gut eingelebt. Sie geht in Weiningen zur Schule und fühlt sich recht wohl hier.

«Wenn die anderen Französischunterricht haben, mache ich mein eigenes Programm, um besser Deutsch zu lernen.» Besonders gern macht sie Sport.

Beide haben inzwischen neue Freundinnen gefunden, Julias Gefühle sind jedoch gemischter.

Julia (links) möchte so schnell wie möglich zurück, Viktoriya hat sich recht gut eingelebt.

Kateryna Potapenko (28) Synchronsprecherin und Journalistin aus Kiew ums Leben zu kommen, sei immer noch höher. Und fast grösser sei die Angst, dass die Welt den Krieg in ihrem Land vergesse. «Viele von uns sind nach einem Jahr müde: müde vom Kampf an der Front, müde von der ganzen Situation.»

Aktuelle Lage: hat vier Monate mit Mutter und Bruder in Winterthur ZH gewohnt, seit August ist sie zurück in Kiew. Schreibt bis heute ein Tagebuch für den «Beobachter».

«Es gefällt mir hier, aber es ist alles noch so neu, und ich vermisse meine Freunde von Zuhause», erzählt sie mithilfe einer Übersetzerin. Wegen komplizierter Einschätzungsverfahren, auf welchem Klassenniveau sie ist, kann sie die Schule erst demnächst starten. Ausserdem ist sie ständig in Kontakt mit dem alten Umfeld in der Ukraine und verfolgte bis vor Kurzem intensiv die Nachrichten aus der Heimat. Ihre Schwester dagegen versucht, den Krieg möglichst zu verdrängen. Beide sorgen sich um die zurückgebliebenen Grosseltern, Onkel und Tanten.

Für Julia ist klar: «Ich will zurück, wenn der Krieg vorbei ist und die Lage sich gebessert hat.» Sie denkt, dass sie ihren Berufswünschen als Malerin oder Designerin in der Ukraine besser nachgehen kann. Viktoriya ist unentschlossen, könnte sich auch vorstellen zu bleiben. Generell fallen ihnen Zukunftsvorstellungen derzeit schwer. «All unsere bisherigen Pläne sind in der Ukraine geblieben», sagt Julia. «Wir leben in einem Schwebezustand.»

Dienstag um 9 Uhr, Mittwoch ab 14 Uhr oder Donnerstag um 9.30 Uhr: Weil es bei Kateryna Potapenko in Kiew nicht immer Strom gibt, braucht es mehrere Zeitfenster für ein Onlinegespräch. Aber es klappt gleich beim ersten Termin. «Heute geht es mir gut», erzählt sie in gutem Englisch. «Die Sonne scheint, und ich bin zuversichtlich. Aber vor ein paar Tagen war es ganz anders. Es ist eine emotionale Achterbahn.»

Seit August ist sie mit ihrer Familie wieder zurück in Kiew und bereut den Entscheid keine Sekunde. «Wir flohen am siebten Kriegstag, weil unsere Stadt eingekesselt war. Ich dachte, dass die Russen uns besetzen würden. Hätte ich damals gewusst, wie es weitergeht, wäre ich nicht geflohen», sagt sie heute. Klar sei da diese «irrationale Angst, von einer Bombe getroffen zu werden», wie sie es nennt. Aber das Risiko, bei einem Autounfall

Jeden Tag gibt es mehrere Stromausfälle und Luftalarme. Daran habe sie sich jedoch schnell gewöhnt. «Für mich war es schlimmer, als ich nicht in der Ukraine war», sagt sie. Damals hatte sie ständig Alarmmeldungen auf ihrem Handy und Angst, dass es jemanden von ihren Freunden oder ihren Vater getroffen haben könnte. «Seit ich zurück bin, kann ich die Gefahr besser einschätzen.»

Trotz Krieg sei vieles wie früher. Potapenko arbeitet als Journalistin und Synchronsprecherin, lebt mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder in ihrer Wohnung im Zentrum der Stadt, trifft am Abend ihre Freunde –neu meist an Orten mit einem Keller – und hat ihren Buchclub. Aber um 23 Uhr muss sie wieder zu Hause sein, dann beginnt die nächtliche Sperrstunde. Dass der Krieg bereits ein Jahr dauert, macht sie traurig. «Ich hoffe, dass die Welt uns nicht vergisst und wir das Zusammengehörigkeitsgefühl nicht verlieren.»

Trotz Stromausfall und Luftalarm bereut Kateryna Potapenko nicht, dass sie nach Kiew zurückgekehrt ist.

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