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LEBEN | MM8, 19.2.2018  79

Lesetipps

Moderne Märchen • «Rigo und Rosa» 28 tiefsinnige ­Geschichten aus dem Zoo. Mit dem Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreis 2017 aus­ gezeichnet. Von Lorenz Pauli und Kathrin Schärer, Atlantis 2016 (5 bis 7 Jahre) Eine viel diskutierte Märchensszene: Dornröschen wird vom Prinzen wachgeküsst.

Familie

Märchen unter Verdacht Dürfen Eltern «Dornröschen» noch erzählen? Seit #MeToo stehen Märchen plötzlich in der Kritik. Eine Literaturexpertin gibt Entwarnung – Kinder können sich gut eine Meinung bilden. Text: Nora Zukker

Bild: Clyde Geronimi/Walt Disney/Collection Christophel/Alamy

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er Prinz küsst das Dorn­ röschen wach. Sarah Hall, eine Mutter aus England, hat die Szene erzürnt: Der Kuss sei nicht einvernehmlich, twitterte sie im November 2017 mit dem Hashtag #MeToo. Die Sexis­ musdebatte trägt aktuell dazu bei, dass Märchenklassiker unter Be­ schuss geraten. Für Elisabeth Mül­ ler, Lehrbeauftragte an der Päda­ gogischen Hochschule Zug, ver­ mitteln sie veraltete patriar­chale Rollenbilder. Die feminis­tische ­Literaturkritik macht frauenfeind­ liche Muster in Grimm-Märchen mit für die Unterdrückung von Frauen verantwortlich. Christine Lötscher, Literatur­ wissenschaftlerin und Dozentin mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien an der Universität Zürich, sieht das anders: «Märchen bilden weder eine Wirklichkeit ab

noch geben sie vor, wie wir leben sollen. Mit ihrer drastischen Bild­ sprache sind sie voller Widersprüche.» Dazu seien die Geschich­ ten voller Leerstellen und lüden zu neuen Deutungen ein. «Aber alle diese Deutungen können nebeneinander existieren.» Mit Ängsten auseinandersetzen

Der Vorwurf, dass Märchen Frauen als schwach und Männer als ihre starken Retter etablieren, sei zu kurz gefasst, so Lötscher: «Es gibt bei männlichen Figuren genauso viele Bösewichte und Grobiane, wie es böse Hexen und perfide Stiefmütter gibt.» Sie findet die psychoanalytischen Deutungen überzeugend, wonach das Böse den Leserinnen und Lesern helfe, sich lustvoll mit eigenen Aggressionen, Ängsten und Begehren auseinan­ derzusetzen. Sicher tue man gut

daran, mit Kindern über Märchen zu sprechen: «Aber nicht, indem man ihnen erklärt, was da steht und dass das furchtbar sei, sondern indem man sie eigene Gedanken formulieren lässt.» Am besten vergleiche man die Märchenfiguren mit imaginären Freunden: «Leserinnen und Leser sind keineswegs passive Konsumenten, die einer ideologischen Botschaft ausgeliefert sind», so Lötscher. Das gelte auch für Kinder: «Man sollte sie nicht ­unterschätzen.» Und wenn ein Kind doch mit einem Märchen überfordert sein sollte, teilt es dies mit: «Kinder reagieren stark auf Geschichten, die man ihnen vorliest. Sie sagen, wenn sie sich fürchten oder ihnen etwas nicht gefällt – auch hier sollte man sie ernst nehmen und auf sie hören.» MM

• «Die Schule der magischen Tiere» Schulabenteuer, Buchreihe seit 2013. Von Margit Auer, Carlsen (8 bis 11 Jahre) • «Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch» Krimireihe um den unbegabten Rico und den hochbegabten Oskar. Von Andreas Steinhöfel, Carlsen 2017 (ab 10 Jahren) • «Ella und das Abenteuer im Wald» Schräg und ­witzig. Von Timo Parvela, aus dem Finnischen übertragen von Anu Stohner, Hanser 2017 (8 bis 10 Jahre) • Dunne-Reihe: «Wann sehen wir uns wieder?» Poetische Texte. Von Rose Lager­ crantz und Eva ­Eriksson, aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch, Moritz 2017 (6 bis 8 Jahre Alle bei Exlibris.ch


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