MENSCHEN 26 |
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PORTRÄT
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NR. 6, 2. FEBRUAR 2015 | MIGROS-MAGAZIN |
Mein kleiner Bruder
Sie suchte ihren Vater und fand ihren Bruder: In Stäfa am Zürichsee haben sich Madeleine Schadegg-Rück und Daniel Giberstein in die Arme geschlossen. «Jetzt habe ich das Gefühl, angekommen zu sein», sagt sie.
Zu Tränen gerührt: Madeleine Schad eggRück und ihr Halbbruder Daniel Giberstein. Ausschnitt rechts: Bericht des MigrosMagazins vom 5. 1. 2015.
D
aniel Giberstein (63) schrieb am 13. Dezember 2014 ein E-Mail an seine Halbschwester Madeleine Schadegg-Rück (72). «Bonjour Madeleine, ich bin Daniel. Ich habe dein aufwühlendes Schreiben erhalten. Gern würde ich dich sehr bald kennenlernen, ich kann auch in die Schweiz kommen. Dein kleiner Bruder Daniel.» Daniel Giberstein lebt in Paris. Er ist Madeleine Schadegg-Rücks Halbbruder, den sie noch nie zuvor gesehen hat. Er ist einer von zwei Söhnen des erfolgreichen jüdischen Unternehmers Bernard Giberstein, verstorben 1976. Während der Recherchen für ihr Ende Jahr erschienenes Buch «Spuren – von einer Vatersuche und Millionen nahtloser Strümpfe» hatte Madeleine Schadegg-Rück herausgefunden, dass sie Halbgeschwister hat. Das Migros-Magazin berichtete am 5. Januar über ihre Lebensgeschichte.
Madeleine Schadegg-Rück erzählt drei Wochen nach dem Besuch noch sichtlich bewegt: «Am 9. Januar war er da. Zwei Tage verbrachte er bei uns, erzählte und zeigte unzählige Bilder: die Familie in den Ferien, der Vater mit dem französischen Präsidenten Mitterrand und anderen Prominenten, mit Arbeitern in seiner Fabrik … Eine ganze Welt tat sich für mich auf. Und ich musste Daniel immer wieder berühren.» Beide hätten viel geweint, er aber noch mehr, «ich musste ständig neue Taschentücher holen». Daniel Giberstein sagt auf Anfrage des Migros-Magazins: «Es ist sehr bewegend, plötzlich und unerwartet eine Schwester zu haben, nach so vielen Jahren! Es macht mich auch für sie sehr glücklich, weiss ich doch, dass dies der Kampf ihres Lebens war. Ich musste bei unserem Zusammensein auch oft an meinen Vater denken, der nichts von Madeleine wuss-
te, und ich denke, er wäre sehr glücklich, dass wir uns nun getroffen haben.» «Ein Mensch ohne Wurzeln fliegt», hatte Madeleine Schadegg-Rück auf die Frage geantwortet, was sie ihr ganzes bisheriges Leben zur Suchenden gemacht hatte. Von ihrem Vater, einem polnischen Juden, wusste sie ausser Namen und Geburtsdatum nur, dass er ab 1941 für einige Monate in Winterthur interniert war, wo ihre Mutter ihn kennenlernte. Was macht das nun mit ihrer Identität, einem Bruder in die Augen schauen zu können, in die Familiengeschichten eingeweiht zu werden und plötzlich gar Teil von ihr zu sein? «Hier», sagt sie und tippt auf ihren linken Arm, «bin ich gewachsen. Links hatte ich immer eine körperliche Schwäche. Jetzt habe ich das Gefühl, ganz zu sein. Und angekommen. Jetzt ist einfach gut.» Text: Esther Banz
Migrosmagazin.ch
LESEN Das sagt der Bruder So erlebte Daniel Giberstein das Treffen mit seiner Halbschwester: das Interview.