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LEBEN

MIGROS-MAGAZIN | NR. 3, 12. JANUAR 2015 |

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mir niemand an»

dem Ereignis nichts mehr, wie es einmal war. Eine von ihnen ist Sarah Stucki. von ihr ab, da sie nicht wussten, wie sie mit Sarahs Verletzung umgehen sollten. «Es war der Horror», erzählt sie rückblickend. «Montag 24 Stunden nichts tun, Dienstag 24 Stunden nichts tun, Mittwoch 2 Stunden TherapieYoga, Donnerstag 24 Stunden nichts tun, Freitag 24 Stunden nichts tun.» Sie kam sich nutzlos und ungeliebt vor. Selbstmordgedanken schlichen sich in Sarahs Alltag. Die Stütze in ihrem Leben war und ist ihre Mutter. «Sie baute mich immer wieder auf und machte mir klar, dass ich ein riesiges Glück hatte, überhaupt noch am Leben zu sein, und ich soll das Geschenk des zweiten Lebens nutzen und es geniessen.»

Sie reiste allein durch Irland und Namibia Sarah Stucki lernte so, ihr Handicap zu akzeptieren, lernte, den Unfall nicht mehr als elementar hinzustellen, sondern mit den Folgen umzugehen. «Wenn ich heute das Portemonnaie verlege, entschuldige ich das nicht mehr mit meiner Hirnverletzung», erklärt sie, «ich weiss, das ist eben Sarah.» Sie lernte, dass ihre Energie begrenzt ist, dass sie nicht mehr so viel leisten kann wie früher. «Ich mag nicht mehr fünf

Stunden wandern», sagt sie. «Nach zwei Stunden bin ich schon völlig erschöpft.» Dennoch führt die junge Frau ein selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung. «Ich geniesse mein Leben wieder», sagt sie bestimmt. Dazu gehört auch, dass sie allein durch Irland reiste, Namibia besuchte, wieder Zumba, Nia oder Yoga macht und sich in Selbsthilfegruppen für Hirnverletzte engagiert. Seit sechs Jahren arbeitet sie auch wieder. Sie bekam ein 20-Prozent-Pensum als Lehrerin in einer Tagesschule. «Das gibt mir enorm viel, denn ich muss mit Menschen arbeiten können.» Und trotz all der Fortschritte musste sie Abstriche machen: «Das Thema Kinder habe ich abgehakt», sagt sie bedauernd. «Ich kann ja nicht einmal 100-prozentig für mich selber sorgen, wie soll ich da 180 Prozent für ein Kind aufwenden können?» Und auch zehn Jahre nach dem verhängnisvollen Unfall ist ihr Leben noch immer ein Ausprobieren: «Was geht, wie weit kann ich gehen, wie viel Energie habe ich?» Und dabei stellte sie immer wieder fest: «Eigentlich geht ganz viel.» Text: Thomas Vogel Bild: Vera Hartmann

«Die Mehrheit überlebt – mit Beeinträchtigungen»

Sarah Stucki hat wieder einen 20-Prozent-Job als Lehrerin.

«In der Schweiz leben mehr als 130 000 Menschen mit einer Hirnverletzung», sagt Dominique Marty, Leiterin Kommunikation bei Fragile Suisse, der Hilfsorganisation für Menschen mit Hirnverletzung. Dazu zählen Betroffene eines Schädel-Hirn-Traumas ebenso wie Schlaganfallpatienten oder solche mit den Folgen eines Hirntumors. Jährlich erleiden rund 16 000 Menschen einen Schlaganfall, und laut neusten Zahlen der Suva sind mehr als 6000 von einer Schädel-HirnVerletzung betroffen – meist durch einen Verkehrsunfall oder durch Sport. «Die Mehrheit von ihnen überlebt», so Marty «viele leben danach aber mit bleibenden Beeinträchtigungen.» Die Folgen einer Hirnverletzung sind sehr vielfältig und abhängig von der Schwere der Verletzung und davon, in welcher Region im

Gehirn die Nervenzellen verletzt sind. Dies verändert das Leben eines betroffenen Menschen und dessen Angehörigen schlagartig, das musste auch Michael Schumachers Familie nach dessen tragischem Skiunfall vor einem Jahr schmerzlich erfahren. Die Bewältigung des Ereignisses kann Jahre dauern. Die laufenden Kosten aller Schädel-HirnVerletzungen durch Unfälle beziffert die Suva mit 200 Millionen Franken jährlich. Da sind die Betroffenen, die gut versichert sind und sich zumindest finanziell meist keine Sorgen machen müssen. Anders Schlaganfall- oder Hirntumorpatienten. Diese Ereignisse gelten als Krankheit, und dafür sind die meisten Leute schlecht abgesichert. www.fragile.ch; Beratungstelefon 0800 256 256


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