Migros-Magazin-03-2013-d-ZH

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Nr. 3, 14. JaNuar 2013 | migros-magazin |

«Es war, als liefen in meinem Kopf drei Radios gleichzeitig. Mit verschiedenen Sendern.» Irene Wehrli, ADHS-Betroffene

der Abklärung fragte ich mich immer: Warum kann ich nur mein Potenzial nicht ausschöpfen?» Dann wusste sie, warum.

dern.» Einfach mal auf dem Sofa liegen und entspannen – für sie undenkbar. Diese Defizite haben lange Zeit an ihrem Selbstwertgefühl genagt. Heute kann sie auch ihre Stärken sehen: ihre zerstreutheit ist kein symptom, Kreativität, ihre Flexibilität, ihre Sensi­ sondern ein Wesenszug bilität und die Fähigkeit, sich in andere Tatsächlich zeigen sich die Kernsymp­ Menschen hineinzuversetzen. Typische tome bei Erwachsenen leicht anders als Eigenschaften ADHS­Betroffener. Irene bei Kindern: Zwar sind Aufmerksamkeit Wehrli geht sogar noch einen Schritt und Impulsivität noch immer gestört, weiter: «Wenn es einen Knopf gäbe, um aber die Hyperaktivität hat eher nach­ ADHS abzustellen, ich würde ihn nicht gelassen. Leichter macht dies die Dia­ drücken.» gnose nicht. «Bei Erwachsenen kommen Auch Ronald Schaulin weiss um seine noch andere Krankheiten wie etwa eine Stärken. Er hat Spediteur gelernt, nach manisch­depressive Störung als Ursa­ 30 Jahren in diesem Beruf arbeitet er che in Frage», sagt ADHS­Expertin heute in der Industrie, in einem spedi­ Ursula Ammann (51) aus Lau­ tionsnahen Bereich – und fen BL. Deshalb werden beim sieht sich nach wie vor am richtigen Platz. Hier sind Erwachsenen vier weitere seine schnellen Problemlö­ Kernsymptome abgeklärt: Temperament, emotionale sungsstrategien, seine Flexi­ Überreagibilität, Affektlabili­ bilität und sein Talent für Fremdsprachen gefragt. Er tät sowie Desorganisation. Doch «Hitzköpfigkeit», ge­ selbst habe auch weniger un­ ringe Stressresistenz oder ter der Krankheit gelitten als Zerstreutheit allein sind noch sein Umfeld. Vor etwa zwei Jahren hat Ronald Schaulin keine Beweise für ADHS, im Einzelfall sind es sogar ganz Ursula Ammann ist mit einem Coaching angefan­ normale Wesenszüge. Ent­ ADHS-Coach und gen. Auf Bitten seiner Frau. scheidend bei der Diagnose Vorstandsmitglied Hier lernt der Familienvater seien die Summe der Symp­ der SchweizeStrategien, die ihn im Alltag tome, ihr Ausprägungsgrad rischen Fachruhiger reagieren lassen. In und die Dauer ihres Auftre­ gesellschaft ADHS Konfliktsituationen erst tief tens, betont Ursula Ammann. in Laufen BL. durchatmen – dann antwor­ Irene Wehrli hat vier Beru­ ten, zum Beispiel. Zusätzlich fe. Sie ist Maschinenzeichnerin, Spiel­ nimmt er das Medikament Concerta, das gruppenleiterin, Lehrerin für kirchli­ wie Ritalin den Wirkstoff Methylpheni­ chen Unterricht und Mediatorin. Dass dat enthält. Der amphetaminähnliche sei so, weil sie vielseitig interessiert sei. Wirkstoff mache ihn nicht wacher, aber «Meinen ersten Job in einem Maschi­ aufnahme­ und arbeitsbereiter, auch nenbauunternehmen habe ich geliebt», wenn es gerade langweilig werde, sagt er. erinnert sie sich. Aber am Ende habe sie behandlungserfolg hängt vom kündigen müssen. Nach einem Chef­ arzt und vom medikament ab wechsel hatte sich das Betriebsklima verändert. Viel zu sensibel habe sie dar­ «Nicht jeder Betroffene braucht Medi­ auf reagiert, jede schlechte Stimmung kamente, aber jeder, der sie braucht, auf sich bezogen. Sich nicht abgrenzen sollte sie nehmen», betont Ursula Am­ können, alles persönlich nehmen, auch mann. Bei ihr seien das etwa 20 bis 30 das gehöre zu ihrer ADHS­Symptoma­ Prozent der Klienten; bei anderen auf tik. Ihre anderen grossen Baustellen: ADHS spezialisierten Psychiatern sei die Haushaltsführung und die Unfähigkeit, Rate höher, da diese es oft mit stark be­ innerlich zur Ruhe zu kommen. «Es war, troffenen Patienten zu tun hätten. als liefen in meinem Kopf drei Radios Für Irene Wehrli übertraf die Wirkung gleichzeitig. Mit verschiedenen Sen­ von Methylphenidat alle Erwartungen:

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ritalin oder focalin Welche und wie viele Tabletten brauchts? Einige erwachsene aDHS-Betroffene benötigen Medikamente. Infos zu Wahl und Dosierung des Mittels.

«Plötzlich konnte ich mit meinem Sohn Hausaufgaben machen, ohne die Geduld zu verlieren», erinnert sie sich. Trotz­ dem kenne sie Nebenwirkungen wie Kopfweh oder Schwindel. Wie in einer «chemischen Zwangsjacke» – so wer­ den Ritalin und Co. oft bezeichnet – habe sie sich aber nie gefühlt. Sie räumt aber ein: «Der Behandlungserfolg hängt entscheidend davon ab, ob man einen kompetenten Arzt findet, der einen rich­ tig auf das Medikament einstellt.» Wä­ re das die Regel, würden der Krankheit vielleicht weniger Vorurteile entgegen­ gebracht – und den Betroffenen mehr Verständnis. Das wünscht sie sich. Text: Evelin Hartmann Bilder: Basile Bornand

www.sfg-adhs.ch; www.igads.ch; www.adhs.ch

Ronald Schaulin bewegt sich gerne und viel. Am liebsten fährt er Fahrrad.


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