Migros Magazin 03 2010 d OS

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GESUNDHEITSSERIE

LANGZEITPATIENTEN

Ahnung hat und meine Hände sieht, weiss, was los ist», sagt Zutter. Den anderen erklärt er, dass er muskelkrank ist. Zutter ist kontaktfreudig und ist pragmatisch. Er organisiert bereits jetzt einen Elektrorollstuhl für die Wohnung, pflegt den Kontakt zu den Freunden, die ihm lieb und wichtig sind – und macht sich Gedanken über eine Patientenverfügung. Bald wird er entscheiden, ob er beatmet werden will, wenn die Atemmuskulatur noch schwächer wird. «Ich möchte auf keinen Fall, dass meine Frau diesen Entscheid fällen muss», sagt Zutter. Und nach einer Pause: «Ich kann mir gut vorstellen, dass ich eines Tages wirklich nicht mehr mag und hinnehme, was kommt.»

weil er die Treppen allein nicht mehr bewältigen

kann. Das war vor gut einem Jahr. Inzwischen ist vieles anders. Die Zutters haben ihr Haus verkauft, die meisten Möbel gleich dazu, den Garten, das Auto und das Segelboot aufgegeben und wohnen in einer rollstuhlgängigen Wohnung mit Blick auf Niesen und Thunersee. Die Krankheit nimmt ihren Lauf. Im Dezember hat Martin Zutter seine drei Töchter informiert, seit April ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Damit sass er im Sommer auf der Terrasse und schaute zu, wie die anderen im See planschten. Als Zutter der Verdacht auf ALS eröffnet wurde, weinte nur seine Frau. «Mir kommen die Tränen eher, wenn ich sehe, wie andere Leute etwas erleben und fröhlich sind. Dann bin ich traurig.» Neidisch sei er aber nicht: «Ich habe das alles ja auch gehabt», sagt er, und stemmt sich in seinem Rollstuhl hoch – wegen der Schwäche der Rücken- und Brustmuskeln fällt es ihm schwer, gerade zu sitzen, und er leidet unter ständigen Schmerzen in den Schultern. Zutter hat in den letzten zwölf Monaten gelernt, loszulassen. Nicht nur materiell. Irgendwann im Frühjahr, so erzählt er, haben seine Frau und er nach langem Ringen und intensiven Gesprächen diesen Spagat geschafft: einerseits die Krankheit zu akzeptieren, anderseits klar zu sagen, wir wollen leben, gemeinsam. Fluchtgedanken habe sie zu keinem Zeitpunkt gehabt, sagt Ruth Zutter: «Trotz all dem Tragischen ist es schön, dass wir diese Zeit zusammen durchstehen dürfen.»

Durch die Krankheit zum Optimisten geworden

Die ALS gönnt den beiden keine Pause. Was heute noch möglich ist, ist es morgen vielleicht nicht mehr. Jetzt kann Martin seiner Ruth noch den Arm um die Schulter legen, aber sich selber kämmen geht nur noch an guten Tagen, wenn die Kraft reicht, um die Hände über den Kopf zu heben. Die von den Ärzten verschriebenen Antidepressiva hat Zutter

Migros-Magazin 3, 18. Januar 2010

Bald wird ihn ein Hilfshund wirksam unterstützen

ALS Serie: Lebeleidnetmseiitt dre i

Martin Zutter LateralJahren an Amyotropher nen sklerose (ALS). Auf sei Wunsch hin begleitet das -Jährigen Migros-Magazin den 55 und en nat Mo in den nächsten mit en Leb n sei berichtet über heit. ank nkr rve Ne der tödlichen

fast ganz abgesetzt. «Ich will spüren, was abläuft», sagt er. Er habe sich in den letzten Monaten neu kennengelernt, sei spiritueller geworden, gläubiger, dankbarer und freue sich am Gesang eines Vogels, am Duft einer Blume. Bei jedem anderen klingt das kitschig, nicht aber bei Martin Zutter. Die Krankheit liess ihn auch zum Optimisten werden. «Im Berufsleben konnte ich nicht immer mich selber sein», sagt Zutter, «habe mich oft negativ beeinflussen lassen. Jetzt habe ich alle Zeit der Welt, um Bücher zu lesen, mir Gedanken zu machen, Gedanken, die mich stärken.» Den Ordner auf seinem Computer, der mit ALS

Martin Zutter und sein 18-jähriger Liebling Woody. Bald erhält das Büsi Gesellschaft von einem Hilfshund.

beschriftet war, hat er bewusst umbenannt in «Gesundheit». Das Wort «warum», sagt er, habe er aus seinem Wortschatz gestrichen. Seit er die Phase der Abwehr hinter sich habe, nehme er an, was kommt. Was ihn schmerzt: «Jeder kennt MS oder Krebs, aber was ALS ist, weiss kaum jemand.» Die ersten Sommerwochen im Rollstuhl empfand Martin Zutter als erniedrigend; er – braungebrannt – hatte den Eindruck, er werde für einen Simulanten gehalten. Inzwischen ist der Muskelschwund an einer charakteristischen Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger deutlich sichtbar: «Wer eine

Daneben beschäftigt ihn aber im Moment vor allem ein freudiges Ereignis: Martin Zutter wird als einer von wenigen ALS-Patienten in der Schweiz einen Hilfshund erhalten. Der speziell ausgebildete Hund hebt ihm zu Boden gefallene Dinge auf, bedient Schalter, bringt das Telefon und holt Hilfe, wenn der Rollstuhl kippt und Zutter hilflos am Boden liegt, wie es kürzlich schon einmal geschehen ist. Er wird Martin Zutter auch auf seinen Elektrorollstuhlausflügen in die Umgebung begleiten. Ein wenig Sorge bereitet Zutter noch die Frage, wie sein 18-jähriges Büsi Woody auf den neuen Hausgenossen reagieren wird. «Ich beobachte Woody genau», sagt er, «und er wird mir zeigen, ob er den Hund noch kennenlernen will oder nicht. Manchmal muss man auch den Mut haben zu sagen: Jetzt ist gut, jetzt ist die Zeit für den Abschied gekommen.» Texte Karin Aeschlimann Bilder Véronique Hoegger

www.migrosmagazin.ch ALS, HIV oder MS: Die Krankheiten und die Chancen auf Heilung.

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