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Nr. 2, 9. JaNuar 2012 | migros-magazin |
De Chasperli isch da
Seit 45 Jahren begeistert Lausbub Kasperli die Schweizer mit seinen Abenteuern und frechen Sprüchen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Doch neue Kasperli-Versionen machen dem alten Schlingel das Publikum streitig.
A
bgegriffen, geklebt, wieder gerissen. Schon die Plattenhülle erzählt eine Geschichte. Sie steht in Rahel Kobelts (26) Wohnzimmer in Luzern. Die Hülle ist in fröhlichen, mittlerweile verblassten Farben gehalten. «Kasperlitheater Nr.1», steht darauf geschrieben. «S Häxegärtli» und «De verzaubered Schpiegelweiher». Es sind Rahel Kobelts liebste Abenteuer mit dem Kasperli. Sie sind unzertrennlich verknüpft mit den Erinnerungen an ihre Kindheit. Vor 20 Jahren hat Kobelt die Platte in die Hände bekommen. Bereits gebraucht und zerkratzt von zwei ihrer Geschwister, die zehn Jahre älter sind. «Gemeinsam mit meiner jüngeren Schwester habe ich die Platten rauf und runter gehört», erinnert sie sich und lächelt verträumt. «Wir kannten die Geschichten auswendig, Wort für Wort.» Darunter waren auch
Fantasiewörter, die entstanden, weil der Tonabnehmer das Gesprochene verzerrte, wenn er über die Kratzer holperte. Jahre später hat sich Rahel Kobelt ein paar der Geschichten auf CD nachgekauft, weil einige ihrer Platten unterdessen verschollen waren. Plötzlich waren alle Wörter klar vernehmbar. «Gewisse Passagen verstand ich erst richtig, als ich sie ab CD hörte», sagt sie.
Kasperli wurde bis heute rund drei millionen mal verkauft Mit Kobelt erinnern sich Hunderttausende andere. Denn seit 1967 das erste Kasperlitheater-Hörspiel auf den Markt kam, ist der zipfelbemützte Lausbub nicht mehr aus Deutschschweizer Kinderzimmern wegzudenken. Bis 1976 erschienen 20 Platten mit insgesamt 40 Geschichten. Alle geschrieben und ge-
«Ich und meine jüngere Schwester haben die Platten rauf und runter gehört.»
sprochen vom beliebten Volksschauspieler Jörg Schneider (76), der seither erfolglos dagegen ankämpft, andauernd als «Kasperli» angesprochen zu werden. Auch Ines Torelli und Paul Bühlmann waren stimmlich in jeder Geschichte vertreten. Die Kinder, die damals ihre frisch gepressten Kasperlistücke hörten, sind heute teilweise Eltern oder gar Grosseltern. Die Welt ist anders geworden. Die Möglichkeiten, Kinder zu unterhalten oder unterhalten zu lassen, sind beinahe unbeschränkt. Doch Kasperli trotzte nicht nur allen Bösewichten und jeglicher Autorität, sondern auch dem Lauf der Zeit. Insgesamt wurden laut Wladek Glowacz von der Tudor Recording AG, die den Kasperli heute verlegt, rund drei Millionen der Platten, Kassetten und CDs verkauft. Noch heute sind es jährlich 65 000 Einheiten, obwohl es seit gut 35 Jahren keine neuen Stücke mehr gibt.
Die stücke sind für viele eltern eine zeitmaschine
Als Kind erbte Rahel Kobelt die zerkratzten Kasperliplatten von ihren Geschwistern. Als Erwachsene kaufte sie sich die CDs und verstand zum ersten Mal alles.
In Murten tobt Noe (8) mit einem Freund über die Wiese vor dem Haus. Seine Schwester Laura (12) kommt von der Schule heim. Die Kinder sind vor kurzem einer intensiven Kasperli-Phase entwachsen. Er spiele jetzt lieber mit Lego, sagt Noe schüchtern. Und Laura steht auf Musik von den Black Eyed Peas. Die Kasperli-Geschichten seien immer noch gut, beteuert sie. «Aber für die Kleinen.» Das sieht Mutter Nadine Barcos (38) anders. Sie ist eine von unzähligen Müttern und Vätern, für die es keine Qual war, tagein, tagaus den Kasperli zu hören. Im Gegenteil. Einst selbst ein Kind, das nicht von den Kasperli-Stücken lassen konnte, war Barcos «fifi-fädi-fudi-frööli», als auch ihre Kinder vom Virus befallen wurden. «Ich fühlte mich auf einen Schlag in die Fantasiewelten von damals zurückversetzt. Ich sah das ‹Häxegärtli›, den singenden Eiszapfen oder Kasperli, wie er etwa auf einem Delfin nach Afrika reitet, in denselben Bildern vor mir wie schon