Im Inneren der Grenze

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Loreen M端ller

Eine Reise entlang der ehemaligen Innerdeutschen Grenze





Loreen Müller

Eine Reise entlang der ehemaligen Innerdeutschen Grenze, auf der Suche nach Geschichten und persönlichen Meinungen zum 20 Jahrestags des Mauerfalls, 1989 – 2009



Grenzreise Ich habe eine Reise gemacht. Im Sommer 2009 bin ich die ehemalige innerdeutsche Grenze zum großen Teil abgefahren. Ich habe hauptsächlich öffentliche Verkehrsmittel genutzt und habe in Jugendherbergen übernachtet. Auf die Idee, das als Thema meiner Bachelorarbeit zu nutzen, bin ich über folgenden Gedankengang gekommen: Vor 20 Jahren im November ‚89, ist die Mauer symbolisch in Berlin gefallen. Die Grenze war endlich offen. Jetzt 20 Jahre danach möchte ich für mich eine Bestandsaufnahme machen, ein Abbild des momentanen Stimmungsbildes. Ich denke, das die Wiedervereinigung, ein Prozess des Zusammenwachsens, im Fluss ist. Ständig in Bewegung. Das war auch ein Grund warum ich die Erfahrung machen wollte während ich selbst in Bewegung bin, während ich reise. Ich wollte „unterwegs“ sein. „Unterwegs“ beziehe ich also zum Einen auf die Geschichte von Deutschland, vom Fall der Mauer, in der Nacht des 9. November 1989, bis heute und mit einer historischen Tragweite noch über das Heute hinaus. Eine Dynamik, bei der es keinen Endpunkt bis jetzt gibt und vermutlich auch nie geben wird. Zum Anderen wollte ich, wie die Geschichte es auch ist, in Bewegung sein. Auf Reisen oder besser im Zustand von einem Ort zum anderen findet der Mensch oft die Zeit anders über die Dinge zu denken, ist in sich gekehrt und gleichsam offen, aufgeregt und entspannt. Je nachdem ob es eine Reise ist die man öfter macht oder zum ersten mal eine bestimmte Landschaft sieht und darüber nachdenkt, reagiert man anders und ist doch in der „Zwischenzeit“ des Reisens eingebunden. Für mich war meine Reise neu, viele Menschen, denen ich begegnete fahren die entsprechende Strecke vielleicht jeden Tag. Ich kann die Grenze und damit die Geschichte dynamisch Erfahren und mich über meine persönliche Wahrnehmung mit anderen austauschen. So konnte ich mich und meine Geschichte bereisen und die Reisenden auf ihre Eindrücke ansprechen. Ob sie sich bewusst sind, dass sie mit ihrer „Reise“ die ehemalige innerdeutsche Grenze überqueren? Ob sie Geschichten im Zusammenhang mit dem Mauerfall erlebt haben? Was sie im Detail dazu fühlen. „Im Inneren der Grenze“ beziehe ich auf den heutigen Grenzverlauf von Deutschland, innerhalb dessen ich mich bewegt habe. Aber ich beziehe mich auch auf die gedachte ehemalige Grenze, die vielleicht nur noch in den Köpfen ist (und deren Funktion inzwischen eher persönlicher geworden ist). Ich wollte in diese Grenze „eindringen“, sie sichtbar machen und zeigen. Mir ist klar das von der damaligen Grenze nicht mehr viel zu sehen ist. Darum wird in diesem Buch auch weniger eine Aufzählung von Grenzanlagen zu sehen sein, sondern eher einem deutschen Gefühl auf den Grund gegangen. Einem innerdeutschen Gefühl.


Mitbringsel Auf meiner Reise wollte ich die Menschen mit denen ich rede und die ich interviewe nicht nur meinen Blog im Internet nennen, sondern sie gleich von meinem Projekt überzeugen und gewinnen. Ich habe aus dem Grund ein kleines Tütchen vorbereitet, mit einer Visitenkarte, einem kleinen Faltblatt und ein bis drei Buttons. Die Interviewten haben alle Spaß gehabt an den gefundenen Gegenständen und waren dann immer sehr offen. Auch mir hat es geholfen, das Projekt kurz zusammenzufassen und es so nicht nur als etwa Fiktives präsentieren zu können.



Reiseroute Angefangen habe ich an dem Punkt der am weitesten entfernt ist von meinem Wohnort: auf dem Priwall. Von dort habe ich mich weiter vor gearbeitet in den Süden, um dann auf der Höhe von Eschwege in den Osten umzuschwenken. Auch in diesem Buch werde ich genau die Reihenfolge wo ich gewesen bin und mir die Menschen begegnet sind einhalten. So haben die Leser und Betrachter dieses Buches die Chance den gleichen Eindruck, wie ich zu gewinnen, und mich auf meiner reise zu begleiten. Auf der nächsten Seite habe ich ein visuelles Inhaltsverzeichnis gestaltet, um eine Orientierung entlang der Grenze möglich zu machen.



Route/Inhalt Deutschland

Lübeck 6 –21 S. 2

2– 25

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Schwanheide S e it e 3

Lüneburg

0 –3

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1

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Werningerode

Eschwege

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S e it e

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Schwarzburg

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83

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Seite 1 2 -15

Mödlareuth

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Berlin

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Reisestationen Landesgrenzen ehemalige Innerdeutsche Grenze Reiseroute Anreise

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Dartush im Zug von Heidelberg nach Lübeck Dartush habe ich kurz vor Lübeck im Zug getroffen, er war sehr interessiert und wir haben uns gut unterhalten. Nach dem Interview hat er mich dann noch direkt zur Jugendherberge in der Innestadt von Lübeck gebracht. Wo kommst du her? Ich komme ursprünglich aus Hamburg und habe in Hamburg fast 19 Jahre gelebt. Dann bin ich umgezogen von Hamburg. Ich bin in eine kleine Stadt gezogen, die zwischen Hannover und Hamburg liegt. Und habe dann angefangen zu studieren. Ich hab ehrlich gesagt, nicht so viel mitbekommen von diesem Mauerfall und diesem ganzen Kram bis auf das, dass immer andere Leute nach Hamburg gekommen sind und wirklich andere, andere… ich sag mal wirklich andere Charaktere waren. Die sich definitiv von den Hamburgern, den Wessis, wieder abgegrenzt ((er meinte eher unterschieden)) haben. Die irgendwie rausgestochen haben. Meistens mit Offenherzigkeit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und dergleichen, so Sachen, die man eigentlich von jedem Menschen erwartet, aber in Hamburg leider, im Westen, nicht allzu oft findet. In Hamburg leider… wahrscheinlich wegen dieser Kühlheit, wegen dem Norden. Da bewahrt man erst mal ein bisschen Distanz und wenn man dann erst mal ein bisschen Kontakt gefunden hat, dann weicht man auch ein bisschen auf, dann hilft man auch Leuten. Aber zunächst generelles Unverständnis bei den meisten Leuten. Oft? Ja. Naja und sonst, wegen mit dem ganzen Geld und so weiter, das eigentlich in den Aufbau Ost gesteckt worden ist, dass ist für mich ehrlich gesagt, ein riesengroßer Betrug. Warum? Weil man hätte alles angleichen können, einfach Schwupps die Wumpps alles angleichen können. Dann würde man nur einmal, ich sage mal, einen Nulldurchlauf haben. Dann müsste man nur einmal die ganzen Ausfälle zahlen, die entstehen würden, dann würden wir ein fast perfektes deutsches Wirtschaftssystem haben. Und wenn man sich anguckt, dass zig Milliarden in Projekte gesteckt worden sind, wie in einen Wirtschaftshafen, der in die Walachei gestellt, wurde und nichts passiert. Das gleiche mit einem Flughafen, die Auslastung ist überhaupt nicht gegeben, die Verkehrsanbindung ist überhaupt nicht gegeben, bis auf den Flughafen und den Hafen selber. Und dann stellt man natürlich die Frage, für wen ist das alles gewesen, man macht das ja nicht so, dass man 10 -15 Milliarden einfach so in den Wind schießt. Und wenn man sich jetzt die Wirtschaft anschaut, dann erfährt man so Sachen wie, dass China das gerade gekauft hat oder schon längst gekauft hat. Und wenn man dann ein wenig nachhakt, dann merkt man, dass das China sozusagen in Auftrag gegeben hat und zwar schon vor 89, vor dem Mauerfall. Und dass das alles ein riesenabgekartetes Spiel mit der Wirtschaft ist, in das wir reingesteckt wurden. Das heißt, du findest, dass da vieles falsch gelaufen ist, und dass das Ost -, Westgefälle das Ergebnis aus Dingen ist, die damals falsch angegangen und geplant wurden? Ja, definitiv! Jetzt ist es ja so, dass Deutschland zum Beispiel in dem Fall Nord- und Südkorea als beratende Instanz wirken soll. Wir sollen mit den Erfahrungen, die wir bei der Wiedervereinigung gemacht haben, anderen helfen, bestimmte Fehler nicht mehr zu begehen. Wie zum Beispiel weniger Straßen renovieren, dafür das Betreuungssystem in seiner Form erhalten und stärken. Denkst du, dass das sinnvoll ist, Deutschland um Hilfe zu fragen? Ich denke, da sollte man Tipps geben und eine kleine… eine Aufseherperson, die ein bisschen, wie gesagt, Anreize gibt und den Rest sollte man doch schon selber machen. Denn sonst könnte man sagen: „Hey, wir wollen genau dasselbe System, bitte kopiert das einmal.“ Ist genau der gleiche Fehler, den sie auch in Deutschland gemacht haben. Sie hätten es einfach kopieren können, aber haben sie aber nicht. ((Reckt sich nach hinten und schubst das Fenster zu, durch das extrem viel Krach kommt und setzt sich wieder grinsend mir gegenüber)) Heheh, Danke! ((Jetzt packt er das kleine Päckchen aus und ich erkläre ihm, was drin ist. Er will wissen, was die Pfeile auf dem Button zu bedeuten haben und ich zeige ihm die Deutschlandkarte aus den farbigen Pfeilen und erkläre, dass die Pfeile sich aufeinander zu bewegen.)) Wenn ich jemanden fragen könnte, würde ich wissen wollen, wann das mit dem Hafen und dem Flugplatz eigentlich feststand, dass das an China geht bzw. für China gebaut wird. Während der Planung? Vor dem Bau? In welchem Jahr eigentlich, wieviele Jahre vor der Wende? Weil damals nach der Wende konnte uns das niemand sagen, was ich absolut nicht glaube. Niemand … niemand stellt einen Eimer Wasser in die Wüste, oder? Das bringt ’s ja nichts. Aber was ich krass finde ist, dass das Hand in Hand mit unseren Wirtschaftsproblemen läuft, wenn man sich die ganze Wirtschaftslage anschaut hier Deutschland, ist mit der Weltwirtschaftskrise „natürlich in Arsch gegangen“. Was aber totaler Quark ist, die Auftragslage ist nicht weniger geworden, es hat sich einfach nur verlagert und zwar in die Länder, wo das Potential größer ist, zum Beispiel China. Ja? Ja. Aber habe ich gehört, denen soll es ja auch nicht so gut gehen. Erst war es immer so „ China der große Riese“ und jetzt ist das auch nicht mehr so, die leiden zuerst unter der Krise, heißt es doch. Was lernen wir denn hier überhaupt über die Leute, wir sehen doch nur, das, was wir in den Nachrichten

¬ Flughafen Parchim

2007 kauft Pang Yuliang, Chef einer Logistikfirma in Peking, den verschuldeten Flughafen Parchim in der Nähe von Schwerin. Das Land Mecklenburg Vorpommern rechnet mit bis zu 1000 neuen Arbeitsplätzen. Der Verkauf wird als Beitrag zum Aufbauost gehandelt. Die besonders lange Startund Landebahn soll vor allem für Handels-und Güterflüge genutzt werden und das voraussichtlich 24 Stunden am Tag. Es wird mit eher wenig Passagiermaschinen gerechnet. Trotz hoher staatlicher Unterstützungen ist die Privatisierung bisher gescheitert, zuletzt hat es ein britischer Investor probiert.


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gezeigt bekommen und werden doch ziemlich klein gehalten. Was ich von Freunden intern aus ihren Firmen höre… Ein Freund von mir arbeitet bei XXX und ist da für die Lageraufstockung zuständig. Der arbeitet für Werke in China und wird von Deutschland bezahlt. Wir schicken dann die Waren nach China, um die Lager aufzufüllen, ohne Geld dafür zu nehmen und die Chinesen verkaufen es dann an Ihre Arbeiter zur Steigerung des Bruttosozialprodukts von China, hergestellt von deutschen Arbeitern, ohne dass wir Lohn bekommen haben. Schaut man sich andere Preisklassen an, wie zum Beispiel Porsche: Der eine Porsche kostet hier 100.000 Euro und exakt der gleiche Porsche kostet in China 200.000 Euro. Warum macht man Produkte in anderen Ländern teurer, wenn es dem Land doch so schlecht geht, und wir Deutschen doch so gut sind? Und was hat das mit West und Ost zu tun? Was das mit West und Ost zu tun hat? Wie gesagt, dass ist schon vorn vorne herein geplant gewesen. Warum sollte man eine große Planung machen, eine große Investition, in ein anderes Land, das in den nächsten fünf, sagen wir mal nächsten 10, Jahren immer noch wirtschaftliche Probleme haben wird? Immer noch eine Wachstumsrate von was weiß ich nicht hat und immer noch nicht vor den anderen liegt, obwohl es ein Riesenpotential hat? Es ist doch klar, dass diese Sache dann irgendwann ausbrechen wird und irgendwann aktiv werden wird. Wenn man sich die Geburtenrate von China anschaut, in dem Moment, wo sie angefangen haben, zu sagen, es wird nur noch ein Kind geboren, da hat es an gefangen, dass man die Zeichen hätte erkennen müssen. Jeder normale Wirtschaftler hat die Zeichen dann wahrscheinlich auch schon erkannt, früher schon. Würdest du sagen, man sollte einige dieser Aufbaumaßnahmen, die man jetzt in China steckt, rückwirkend vielleicht nach Ostdeutschland und in die ehemaligen Ostblockstaaten umlenken, die nicht so weit weg sind, zum Beispiel Polen und Tschechien, die ja wirklich nah dran sind? Mmh, teils teils. Auf jeden Fall, die Fehler würde ich nicht noch mal machen.


Nee aber, eine Geschichte, kann ich erzählen, eine kleine. Eine kleine, ist nicht so aufregend. Aber meine Mutter, die hat sich früher, und heute immer noch, mit 2 anderen Freundinnen getroffen. Meine Mutter heißt Doris, die eine heißt Dagmar und die andere heißt René. Und das ist halt DDR. Das war immer so, da stand im Kalender immer nur DDR drin. Das wäre dann, wenn mal die STASI reingeschaut hätte bzw. die Polizei, dann hätte es vielleicht auch ein bisschen Ärger geben können. Aber das ist so die einzige Story, dir mir so zum Osten einfällt.



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Peer der Zivi in der LĂźbecker Jugendherberge


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Test,Test, Test, eins, zwei. Hallo? Ist alles noch im grünen Bereich, man kann mich anscheinend gut hören. Dann fangen wir noch einmal von vorne an, würde ich sagen. Ja. Wer bist du denn? Ich bin Peer. Peer? Hey, Peer. Ich bin Loreen, aber manche sagen Lolle. Ah, Lolle. Ok, dann sag ich Lolle. Hey. Du machst also eine Abschlussarbeit, oder hast eine gemacht? Nein, ich mach das jetzt, Ich starte praktisch heute, und dann sammle ich eine Woche lang Material an der ehemaligen Innerdeutschen Grenze. Ich bereise die sozusagen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, übernachte in Jugendherbergen und schau mal, wem ich unterwegs begegne und quatsche alle Leute an. Ok, gut. Eine Frage vorweg: „Warum kann ein Ossi nicht länger als 5 Minuten schwimmen? …Weil er nicht ganz dicht ist. Das war gut, das hätte ich dich sowieso gefragt, entweder, ob du aus dem Osten oder Westen kommst, oder, ob du einen Ossi- oder Wessiwitz kennst. Ja, ich kenne aber auch nur den einen. Ok, du hast gesagt, dass du das gar nicht richtig mitbekommen hast, du warst ja erst zwei Jahre, als die Mauer gefallen ist. Also war das bisher oder gerade jetzt zum Jahrestag 20 Jahre Mauerfall für dich relevant? Kommt das in irgendeiner Form bei dir im Alltag vor? Also im Alltag merk ich davon überhaupt nichts. Ich zahle halt nur diesen Solidaritätszuschlag. Aber das merke ich ja in meinem Alltag nicht, außer, dass mir vielleicht immer dieser Euro fehlt. Aber sonst… Ich arbeite hier auch mit einem Ossi zusammen, von daher hör ich ab und zu mal so einen ostdeutschen Slang hier. Aber sonst begegnet mir das hier überhaupt nicht. Also, ich hab da weder Probleme, noch habe ich da irgendeinen Vorteil jetzt. Würdest du dich als Deutscher oder als Wessi bezeichnen? Als Deutscher. Als Deutscher. Ja. Und der Ossi, mit dem du zusammenarbeitest, sagst du jetzt nur für mich Ossi oder… Nee, Ossi ist bei mir im Wortschatz schon fest verankert. Jetzt ist ja Lübeck nun wirklich nah an der Grenze. Ist dir das bewusst? Ja, ist mir bewusst. Am Priwall ist man schon eigentlich auf dem feindlichen Gebiet ((grinst)). Dem feindlichen Gebiet! Sehr gut. ((grins)) Da hat man den antifaschistischen Schutzwahl ja schon überschritten.

Nee, das war ein Spaß. Das geht eigentlich an mir vorbei, jetzt mit dem Osten und so. Also ich fahr gerne auf den Priwall, da ist ein schöner Strand, kann man sich ausziehen und nackt baden. ((lacht)) Nee, sonst ist da eigentlich nicht viel hängengeblieben bei mir mit dem Osten. Ab und zu mal so einen Ossiwitz, find ich ganz witzig. Der Freund von meiner Schwester ist auch Ossi, mit dem lache ich dann auch ganz gerne mal. Aber mit ihm kann man darüber lachen? Ja klar! Ich kenne paar O s t d e u t s c h e ((lacht)), mit denen ich trotz deren Vergangenheit lachen kann. Die sind nicht so verbittert. Hast du schon einen Wessiwitz erzählt bekommen? Nee, ich kenne keinen Wessiwitz. Keinen? Nein. Woher kommst du? Ich bin Lübecker. Macht die Stadt Lübeck jetzt irgend etwas zu 20 Jahre Mauerfall? Es gibt ja so ein paar Städte, die machen was. Weiß ich nicht. Weißt du nicht, dann kann es ja nicht so wichtig sein. Nee, da kann es auch nicht so groß sein, wenn irgendwo etwas sein sollte. Da gibt es bestimmt irgend etwas. Das ist ja schon ein historisches Ereignis, wo es sich wohl keine Stadt nehmen lässt, irgendwo ein kleines Fest zu machen. Denke mal, da ist auch Lübeck irgendwo dabei ((lacht)) mit so einem kleinen Stand. Vermutlich. Das war es schon? Ich weiß nicht, hast du mir noch eine Geschichte zu erzählen? Hatte deine Familie Verwandte im Osten gehabt? Oder gab es für dich mal den Moment, in dem du gedacht hast: “ Oh, ha das ist jetzt Osten – das ist jetzt Westen? Ehm, nee, nicht direkt. Also ich war natürlich auch schon mal im Osten und ein Freund von mir, ein guter, der kommt auch aus Schwerin. Da war ich natürlich ein paar mal. Also ich merke da keinen Unterschied. Bis auf den Slang halt. Versteh’ die Leute immer nicht. ((lacht))

Nee aber, eine Geschichte, kann ich erzählen, eine kleine. Eine kleine, ist nicht so aufregend. Aber meine Mutter, die hat sich früher, und heute immer noch, mit 2 anderen Freundinnen getroffen. Meine Mutter heißt Doris, die eine heißt Dagmar und die andere heißt René. Und das ist halt DDR. Das war immer so, da stand im Kalender immer nur DDR drin. Das wäre dann, wenn mal die STASI reingeschaut hätte bzw. die Polizei, dann hätte es vielleicht auch ein bisschen Ärger geben können. Aber das ist so die einzige Story, dir mir so zum Osten einfällt.


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Heute mal eher kurz von unterwegs… 6. Juli 2009 Ich habe mich heute, wie angekündigt, auf meine Reise begeben. Von Heidelberg nach Lübeck mit der Bahn. Über acht Stunden Zug fahren. Unterwegs habe ich auch schon drei Leute interviewen können – bisher – vielleicht rede ich heute noch mit den Mädels auf dem Zimmer. Die erste Dame, mit der ich heute gesprochen habe, hat mir sehr sehr ausführlich 3 Sunden lang von ihrem Leben und ihrem Charakter erzählt. Der zweite Kandidat (S.14) hat mich gleich bis zur Jugendherberge gebracht und will mich die Tage auch gleich noch einmal anrufen. Der Dritte war der nette junge Mann von der Jugendherbergsrezeption. Euch allen möchte ich ganz doll danken, dass ihr mir geholfen habt die ersten Hürden zu nehmen! So, jetzt nach einem Jever und Hering mit Bratkartoffeln bin ich in einer Sportbar mit Internet Zugang gestrandet, danach geht der erste Tag so langsam zu Ende. Lübeck ist ja noch mehr Puppenstube als Heidelberg und finde ich es hier wahnsinnig romantisch. Da ich bisher nur mit „Wessis“ gesprochen habe, hoffe ich, morgen mehr „Ossis“ zu treffen. Bisher hatte ich den Eindruck, dass sich vor allem deutsche Staatsbürger aus den Neuen Bundesländern mit dem Thema wirklich auseinander setzen, im Vorfeld habe ich ja schon mit Leuten aus meinem Umfeld gesprochen. Aber der „Wessi“ mit einer ausführlichen Meinung zu dem Thema wird mir bestimmt auch noch begegnen.


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Raid aus Pronstorf auf der Fähre von Travemünde zum Priwall

[…] Das ist mein nördlichster Punkt, von hier aus geht es eigentlich nur noch nach Süden. Schade eigentlich. Und Sie sagen, Sie kommen von hier? Also ich wohne in Pronstorf, das ist bei Bad Segeberg, das ist hier ja ganz in der Nähe. Das ist dreißig Kilometer von hier entfernt, darum hat man das hier ja alles verfolgen können. Das ist in sofern ja auch noch interessant, da ja ein Teil meiner Verwandtschaft in der ehemaligen DDR lebt. Und folglich hat man da auch immer den Wechsel erleben dürfen. Ob man hier in Schlutopahl rübergefahren ist und später auch mal über die anderen Grenzübergänge. Man kennt einige. Das heißt, während die Mauer stand, hat Verwandtschaft von Ihnen „drüben“ gewohnt? Ganz genau. Und da war reger Kontakt da? Da war reger Kontakt da, deswegen hat man auch die Entwicklung ganz gut beobachten können, also auch die wirtschaftliche Entwicklung oder auch Missentwicklung. Aber andersrum gesehen auch die menschliche Entwicklung, die ja existent war und mit der Grenzöffnung verloren gegangen ist. Also


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vieles was dort an Vereinen, Sportvereinen und ähnliches existierte, die guten zwischenmenschlichen Kontakte, die sind nach der Grenzöffnung ja leider kaputt gegangen. Das muss man ja so sagen. Weil dann ja die Ellenbogengesellschaft auch in den Neuen Bundesländern… Fuß gefasst hat. Ja, und damit ist natürlich viel kaputt gegangen. Haben Sie mir eine kleine Geschichte zu erzählen, eine Anekdote? Es sind ja diese Jahr 20 Jahre Mauerfall… ? Eine Anekdote insofern, dass mein Vater aus Leipzig kommt und damals als Redakteur ein Geschichte veröffentlicht hat, obwohl er damals ein sehr links eingestellter Mensch war. Also er war eine so genannte Rote Socke. Er hatte als Redakteur eine Geschichte veröffentlicht, die dann dazu führte, das er die DDR sehr schnell verlassen musste. Er konnte damals noch raus, das war 1961. Ja, ganz knapp, ja. Nee, kurz vor 1961 war das sogar. Also ’58 war das. Die Mauer war noch nicht existent. Genau, 61 wurde die Mauer gebaut. Er musste damals auch in der Volkspolizei, die ja aufgebaut wurde, kurzzeitig mitarbeiten, weil er studieren wollte. Aber er war leider immer ein Quertreiber. Und dann haben die gesagt: „Wir verzichten, lieber Genosse, auf ihr Mitwirken“. Und dann wie gesagt, kam diese Veröffentlichung hinzu, und dann ist er raus. Und als wir damals dann das erste Mal in die DDR fuhren, vom Westen aus, war er natürlich hochgradig nervös. Er hatte uns gebrieft als Kinder, also, dass wir uns da still zu verhalten hätten. Und als liebes Kind, das ich damals war, habe ich dann zu dem Zöllner gesagt, zu dem DDR-Zollbeamten oder Wachpersonal, wie auch immer der heißt, wir hätten keine Funkgeräte, Schusswaffen und ähnliches im Wagen. Was bei dem zu einem Grinsen führte und bei meinem Vater zu einem Schweißausbruch. Das ist so die kleine Anekdote dazu. Weil, das hat natürlich gezeigt, welche hohe emotionale Situation, das für die Menschen damals war. Die ja doch darunter gelitten haben, denn das System war ja nicht ganz ohne. Das ist wahr. Wie sehen Sie das jetzt, Deutschland ist ja jetzt 20 Jahre wiedervereint. Ist das für Sie im Alltag noch wichtig, oder spürbar. Sehen Sie sich vielleicht eher als „Wessi“ oder als Deutscher? Oder ist das für Sie ganz gleich? Also, ich habe diese Ossi-Wessi-Geschichte eigentlich nie gemocht. Weil ich meine, das ist immer eine menschliche Angelegenheit, wie man zu Dingen steht, und das man das nicht politisieren dürfte. ((holt tief Luft)) Aber es gibt diese Mauer in den Köpfen vieler und zwar zunehmend bei den Bundesbürgern in den Neuen Bundesländern, die immer mehr, sagen wir mal, frustriert sind davon, dass es eben eine hohe Arbeitslosigkeit gibt, dass diese Ellenbogengesellschaft sehr umgreifend ist. Und diejenigen, die keine Erfolge aufbauen konnten, systembedingt oder aus welchem Gründen auch immer, sind natürlich nicht sonderlich erfreut… ((atmet scharf ein)) Es gibt leider eine stärkere Trennung, menschlich gesehen, als vielleicht vorher? Vorher gab es Mitgefühl auf beiden Seiten oder auch den Willen, die anderen kennenzulernen. Also jetzt ist es mitunter fast umgekehrt. Also es ist nicht unbedingt so positiv zu betrachten, wie man es eigentlich erhoffen konnte. Aber ich sehe es anders. Sie sehen das anders? Ja! Ich sehe das komplett umgekehrt. Ich sehe das als Riesengewinn. Man hat viel dazu gewonnen. Man hat wunderschöne Gegenden gewonnen. Und Dresden, hervorragend, wunderschön gelegen, Leipzig, das sich fantastisch entwickelt. Da kann man das eigentlich nur positiv sehen. Denke ich. Das haben Sie schön gesagt. Danke sehr. Dann wünsch ich mit dem Projekt noch viel, viel Glück.


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Anke und Ellen aus Hamburg auf dem Priwall

Zwei Damen, aus Hamburg, auf dem Priwall, vor ihrem Ferienhäuschen, Anke und Ellen. Ich frage sie, da sie das Ferienhäuschengrundstück seit den 50er /60er Jahren besitzen, ob sie irgend eine Geschichte zu erzählen hätten, eine kleine Anekdote, da sie nur zwanzig Meter von der Grenze entfernt ihre Sommerurlaube verbracht haben. Und dieses Jahr sei ja 20 Jahre Mauerfall. Fotografieren lassen wollten sich die beiden Damen nicht, aber die Unterhaltung habe ich trotzdem aufgezeichnet. Ellen: An und für sich Erlebnisse gab es um die Zeit kaum, nee? ((dreht sich zu Anke hin)) Also hier war die… ((zeigt in Richtung Grenze, ein Haufen Büsche am Ende des Weges)) Anke: Ich weiß nicht, ob du das noch kennst? Das mit den Zöllner.. so? Ellen: Nein, da waren die… Nein, die Zöllner haben wir nie zu sehen gekriegt. Hier war nur der Bundesgrenzschutz gewesen, der die Grenzen bewacht hat. Die kamen dann zwei-, dreimal am Tag, mit ihrem Wagen und schauten nach, ob alles ok war. Und dann zogen sie wieder an. Ja. Es gab keine, irgendwelche großen Übergänge hier ((ich denke, sie meint Grenzüberschreitungen von Ost nach West, Fluchtversuche)). Hast du das mitgekriegt? ((sie dreht sich zu Anke)) Anke: Na, ich weiß nur, früher die Fuchspolizei, ganz früher, die kam hier dann zur LRA dann? Ellen: Ja, von der anderen Seite, das habt ihr mehr mitgekriegt, weil ihr da bei Adam gewohnt habt. Anke: Ja. Ja, wann war das? Ellen: Ja, das war Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre. Anke: 62 so etwa… Ellen: Ja… Anke: 62 war ja der Bau der Mauer, nicht wahr, Mauerbau in Berlin. Ja, überhaupt Mauerbau, ne. Und da sind die ja nicht mehr rübergekommen. Aber davor die Zeit, da sind die noch rübergekommen. Ellen: Ja, das weiß ich nicht, das hab ich nie mitgekriegt. Anke: Ne, da sind die dann mal hier rüber. Ellen: Nein, aber die VOPO, und die hier, unsere Grenzpolizei, die begegneten sich und unterhielten sich auch. Anke: Ja, die unterhielten sich auch, hier, Ellen: Da war ja auch die Grenze, der Grenzbaum da. Anke: Aber nachher, 62 als der Mauerbau war, da war das vorbei. Ellen: Ja. Anke: Ja, da war ja da hinten der Turm, dieser Turm. Ellen: Die Wachtürme und… Anke: Die Wachtürme drüben und die haben ja immer alles abgeleuchtet, den Strand und die Grenze. Und Hunde liefen da… Ellen: Ja, auch unten am Strand, das ging ja bis ans

Wasser ran, die Begrenzung. Und wenn da einer versucht hat über die Grenze zu gehen… Anke: Dann wurde er abgeführt. Ellen: Ja, entweder sie konnten ihn schnappen oder er war noch hier rechtzeitig auf der Westseite. Ansonsten… Hatten wir irgendwelche Schießereien hier? ((dreht sich zu Anke)) Anke: Ja manchmal, nein aber direkt nicht, aber mitunter nachts, da hörte man, da waren ja Minen, wenn da vielleicht Tiere oder was drauf getreten sind… Ellen: Ach so, hat das da… Anke: … da hat das geknallt Ellen: Ihr habt auch näher dran gewohnt. Anke: Ja, da waren wir auch schon hier. Das hörte man dann auch, die sind dann auf die Minen gekommen, das war ja alles da vermint ne, da konnte ja keiner flüchten. Aber es sind da doch mal welche hier rüber, das habe ich allerdings nur gehört. Dass die von Pötenitz rübergekommen sind. Aber etwas Genaues weiß ich auch nicht. Ellen: Aber wir sind ja auch nur die Sommerzeit über hier gewesen, die andere Zeit über waren wir ja in unserem Zuhause gewesen. Es war ja so, dass man hier einige Wochen verbracht hat. Anke: Oder mal ein Wochenende Ellen: Und da hast du einen Käfer (( zeigt auf Ankes T-Shirt)). Um die Zeit war es so, dass die Häuser hier nicht in dieser Art und Weise waren, es waren kleine, behelfsmäßige Häuser, die dann hier standen. Anke: Ja, das war dann nach dem Krieg, da sind viele hier von drüben. Die waren doch früher alle drüben und die sind… Ellen: Ja, das weiß ich nicht. Also da kann ich nichts drüber sagen. Anke: Der andere Herr da, der kann vielleicht mehr drüber sagen, der kam doch auch ganz früher von drüben? ((zeigt unbestimmt in eine Richtung)). Ellen: Waren da auch schon Wochenendhäuser? Anke: Drüben, ja. Nach dem Krieg sind die hier rüber gekommen, weil dann die Grenze da ja war. Hat sich jetzt eigentlich etwas geändert in den letzten zwanzig Jahren? Also ganz speziell hier an dieser Stelle oder auch für Sie? Merken Sie etwas? Anke und Ellen: Nein. Anke: Ne, ich find das nur schön, dass man jetzt rüberfahren kann.

Ellen: Jetzt haben wir hier keine Grenze mehr und können einfach ganz… Anke: rüberfahren Ellen: ja hier Ostdeutschland, jetzt fahren () irgendwie, wie hier. Anke: Sonst war für uns ja hier immer Feierabend ((zeigt in Richtung Büsche)). Und wir mussten hier ja immer mit der Fähre hier rüberfahren und jetzt können wir natürlich auch herumfahren. Wenn wir jetzt nach Hamburg wollen. Ellen: Über die A20 kommen wir dann, hier rüber. Ist angenehmer, ne. Anke: Spart man das Fährgeld. ((Drehen sich beide um, Ellen sagt ihrem Mann, er solle doch mal ruhig sein. Er hat schon 2 mal gerufen. Anke sagt, es riecht hier so nach Bratkartoffeln.)) Ich würde gerne noch eine Frage stellen. Sehen Sie sich mehr als Deutscher oder als Wessi? Gibt es diese Unterscheidung noch? Ellen: Oh, diese Frage, möchte ich eigentlich gar nicht beantworten. Nein. Das ist so ein, wie soll ich mich da ausdrücken, also wir sind Deutsche. Ob es Ost oder West ist, also ich fühl mich als Deutsche weder voreingenommen gegen den Osten noch gegen den Westen. Anke: Ja. Denn wir sind alle Deutsche. Ellen: Ja. Was sollen wir dazu sagen. Danke.


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Klaus aus Hamburg, lässt extra seine Bratkartoffeln stehen um mich mit dem Auto zum nächsten Bus zu fahren.

Nachdem ich mit Anke und Ellen fertig war, habe ich sie gefragt, wie ich jetzt vom Priwall wieder runterkomme. Man hatte mir gesagt, hier würde ein Bus fahren. Leider hat sich gezeigt, dass hier kein Bus fährt bzw. nur dahin, wo ich schon war. Nachdem wir eine Viertelstunde am Gartenzaun geplaudert hatten, roch es richtig gut nach Bratkartoffeln, und es sah so aus, als ob die Leute jetzt gerne essen würden. Spontan sagte der Mann von Ellen aber, dass er mich nach Pötenitz fahren würde, dem ersten Ort in Mecklenburg-Vorpommern, von hier aus gesehen. Am Ende hat er mich dann noch ein paar Kilometer weitergefahren nach Dassow. Auf der Fahrt hatte ich Zeit, mich noch weiter mit ihm zu unterhalten. […]genau, und hier ist dieses Dickicht, wo dann die Grenze war? Hier ist Niemandsland gewesen, dieses Stückchen hier. Also da konnte keiner… und der Turm war ja, ich sag mal 100-200 Meter, da weiter, nicht wahr. Da war der Turm. Bis zur Grenze sind ja auch die Wohnmöglichkeiten gewesen, die kleinen Häuschen. Ja, habe ich gesehen. Sind sie da mal längs gegangen, nicht? Noch nicht. ((nein, leider nicht, die Zeit war so knapp)) Ja, ja… irgendwo auf dieser Höhe stand der Turm. Da konnten wir ja alle nicht rüberkommen, das war klar. Und hier ging so ein Weg hinter. Da geht so ein Weg rum, und da marschierten dann die Kameraden dann hier längs. Soldaten, nicht wahr. Die waren ja stationiert in Pötenitz und mussten dann immer hierher marschieren. Schon noch ein ganzes Stück. Ja, das is eine ganze Ecke. Ja, man kann es bewältigen, mussten die ja auch alles bewältigen. Sie haben ja


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auch so viel Gepäck dabei, das ist ja fürchterlich ((lacht)). Das ist doch schwer, oder? Es geht, ja. Das ist ja eine tolle Sache, die sie da machen. Sie haben dann auch mit meiner Frau gesprochen und mit unserer Nachbarin? Genau. Ja, die haben bestimmt auch einiges erzählt. Die haben mir so ein bisschen was erzählt. Ja, ja… Kann ich Ihnen auch noch eine Frage stellen? Ja, natürlich! Wie sehen Sie das denn heute, damals gab es die Grenze noch, jetzt ist ja Deutschland seit 20 Jahren praktisch eins, was bedeutet das für Sie, ist das für Sie im Alltag wichtig? Ja. Ja, also ich freue mich, dass das damals so geschehen ist, dass wir wieder ein einheitliches Deutschland geworden sind. Das war ja von vornherein klar. Und wir haben ja auch mehr Freiheit jetzt. Wir können ja jetzt in dieses Gebiet rein gehen. Wir haben ja eine wesentlich breitere Palette an Ausdehnung, die wir nutzen können. Vorher ja nur bis zur Grenze, da war ja Schluss. Besonders der Priwall, das ist ja militärisches Hoheitsgebiet gewesen noch aus Adolfs Zeiten… Für uns ist das natürlich schön. Und noch etwas, der Fluss der Menschen, die ja damals nicht in dieses Gebiet reinkonnten, die waren bei uns da in der letzten Ecke auf dem Priwall stationiert und die gingen dahin in den Sommermonaten und badeten zu Tausenden. Die Strände waren voll bis zum geht nicht mehr, das war alles voll Menschen und das hat sich ja kolossal verändert, dadurch das wir ja weitere Möglichkeiten haben, die Strände in Mecklenburg-Vorpommern zu besuchen. Also das ist… Und es ist auch ein schönes Gebiet, das muss ich sagen, das ist ja Natur pur und Sie fahren ja nur durch Felder und Wälder. Mecklenburg und Vorpommern waren ja unsere Kornecke und überhaupt unser größtes Gebiet, in dem Korn angebaut wurden – Kornkammer. So, nennt man das, nicht. Und das beginnt hier, Sie sehen das überall, links und rechts große Felder. Und da ist der Pötenitzer Wick und dann kommt der Dassower See, den sehen Sie auch gleich noch ganz genau. Sie haben es wirklich schön hier oben. Ja, ja. Hätten sie ja mal reinkommen können, bei uns hinten in den Garten und sich setzten können. Ja, ich muss leider weiter, aber das wäre schon schön. Ich hab ja noch einiges vor. Ja das ist die Kehrseite. Wenn ich mehr Zeit hätte, dann könnte ich solche Sachen auch mehr ausdehnen. Wie ist denn Ihr Vorname? Klaus. Klaus umarmt mich, nachdem er mich in Dassow an der Bushaltestelle rausgelassen hat ganz fest und freut sich total, dass ich diese Reise mache. Nachdem ich ihm erzählte habe, dass ich am Vortag aus Heidelberg angereist bin und in einer Woche die ganze Grenze abfahren will, ist er schon etwas aus dem Häuschen geraten. Er versichert sich noch einmal, dass der Bus auch gleich kommt und wünscht mir noch einmal alles Gute, dann setzt er sich in sein Auto und fährt zurück zu seinem Bratkartoffeln.


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Wo gehts den hier zur Grenze? 7. Juli 2009 Heute bin ich morgens los in Richtung Travemünde, aber erst nachdem ich mir ein neues ipod-Ladegerät kaufen musste. Die gute Dame von der Bahn hat mir gesagt, dass ein Mecklenburg-Vorpommern-Länderticket auch schon ab Lüneburg und Travemünde gilt… dem war leider nicht so, aber der Kontrolleur hat mich sitzenlassen und mir nichts weiter berechnet. Danke. Ich bin dann also ganz aufgeregt in Travemünde übergesetzt zum Priwall und habe mich dann dort zur Grenze durchgefragt. Bis dahin waren meine einzigen Schuhe total voll mit Sand und ich war ziemlich fertig vom Rucksack schleppen. Dann habe ich ganz nette Leute getroffen, die mich rüber nach Meck-Pom gefahren haben, damit ich dann auch wirklich in den Osten starten konnte. Aber das war schon lustig: „Ist das hier schon Osten oder bin ich noch im Westen?“, „Nee, nee, der Osten beginnt da hinten, hinter den Häusern, da wo das Gestrüpp ist….“ Jedenfalls habe ich dann doch alle Stationen abfahren können, auch wenn ich nicht so oft aussteigen konnte, wie ich es geplant habe. Meine letzte Station am heutigen Tage in Schwanheide war allerdings echt etwas wie nicht von dieser Welt hat. Helmut hat mir erzählt, dass galt immer als d er STASIBahnhof, weil er direkt an der Grenze war. Heute ist da wirklich nichts mehr außer einem Bahnhof mit Überwachungs-Gebell (Durchsage), das alle fünf Minuten auf schnell durchfahrende Züge aufmerksam macht. Die Durchsagen kommen aber auch, wenn man ein imaginäre Linie übertritt, was schon etwas von totaler Überwachung hat. Und das immer noch nach 20 Jahren! Und die Schaffnerin hat mitgeschrieben, wie viele Leute dort ein- und aussteigen. Jetzt hab ich denen total die Statistik verhauen mit meiner Ein- und Aussteigerei. Morgen geht es weiter durch Bundesländer Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.



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Helmut in Schwanheide mit seinen drei Terriern

Helmut treffe ich in Schwanheide, direkt vor seinem Haus hinter dem Bahnhof. Er ist gerade dabei, seine drei schwarzen Terrier mit Melone zu füttern. Das ist total witzig, die kleinen kompakten Hunde und überall der Saft von der Melone… […] und man hat trotzdem damit gelebt. Man hat sein eigenes Ding gemacht. Also man wurde nicht unter Zwang getrieben dies und jenes zu machen. Nee, kann ich nicht von mir behaupten. Es gab ja auch hier einige Leute im Ort, die jahrelang hier, ich sag mal mit den Wölfen geheult und mit den Schweinen gequiekt haben, auf gut Deutsch gesagt. Und die haben danach hier getan, als ob sie die Freiheitskämpfer waren… Das war fürchterlich. Sie sagten dann, sie wurden hier vierzig Jahre lang mit Stiefeln getreten. Und oh, was haben die für Parolen rausgehauen, es war schrecklich. Und schlimm, ganz schlimm fand ich, dass diese Menschen sich so arrangiert haben und ihre Vorteile rausgezogen haben. Achtzig Prozent von den ganzen Leuten haben nur ihre Vorteile gesehen. Das hat man ja nach der Wende gesehen. Die haben sofort umgeschwenkt. Hätte einer konkrete Ideale gehabt oder wäre überzeugt gewesen, hätte er gezweifelt oder hätte erst einmal probiert. Aber die haben sofort geschwenkt, nee. Und das war die Menschen, die haben ihre Kinder an der Hand in die Kirche gezerrt und die mussten Religionsunterricht nehmen, die haben geheult und wäähh… Mein Bubi kam nach Hause damals und hat gefragt: „Was soll denn das?“, „Tja sag, ich weiß ich auch nicht.“, „Kann ich da mal mit hingehen?“, „Ja“, sag ich. Er war zwei-, dreimal da, sagt dann: „Ich finde das doof da“. Und dann war ’s das gewesen. Die Leute haben damit gelebt. Ob das nun eine Diktatur oder eine Demokratie war, das kann man auch nicht so sagen. Ich sag mal, jedes System ist so, wie die da oben sitzen, und


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die Macht haben. Ich sag mal, die Leute haben Angst und Probleme mit uns unten klarzukommen. So schätz ich das ein. Damit die ja da oben sitzen bleiben, machen die alles und tun alles, damit sie oben bleiben können. Und wenn man das damals so sieht, eine Bürokratie herrschte hier… Es hat sich auch nicht viel geändert. Es war immer ein, ein: „Ich bleibe da sitzen. Ich habe etwas zu sagen. Ich habe einen Schlüssel, oh ich bin der Größte“. Ich denke mal, da hat sich heute nicht viel geändert. Das Einzige, was ich wirklich gern hatte, ist die Fahne ((er meint seine Zeit in der Nationalen Volksarmee)), das war ’s. Der Rest ist für mich so geblieben. Wir haben den Überwachungsstaat behalten, wir haben die Menschen behalten, die früher nur gerafft haben und heute nur raffen, am besten alles umsonst, so nee. Das ist ja auch so bei den Arbeitskollegen, die jetzt immer so rumheulen. Oh, ich kann so etwas nicht leiden. Nee so: „Oh so einen Scheiß und früher war alles viel besser…“ Ich sag ja nicht, was habt ihr denn früher gemacht. Ich sag, ErichHon ((er meint Erich Honecker)) hat mal gesagt: „So wie ihr heute arbeitet, so werdet ihr morgen leben!“ Und das ist eingetroffen. Ich sag, habt ihr damit jetzt ein Problem, nee ? Ich sag, ihr müsst nicht immer rumheulen, nee… Ich find das schrecklich, dass die Menschen immer nur rumheulen. Die probieren nix Neues, die hängen nur rum und hä hä hä… Jetzt wird ’s ein bisschen laut ((Schnellzug fährt durch)). Wird die Durchsage automatisch gestartet, wenn man das Gitter übertritt? Ja. Ich dachte schon, hier beobachtet mich doch keiner… Nee, Schienenkontakte sind das. Und dass die Leute heute nicht ihre Möglichkeit nutzen, zum Beispiel Volkshochschule, nee. Die in Ludwigslust ist jetzt sehr weit weg für uns. Es gib in Lauenburg eine Volkshochschule, eine sehr schöne, Französisch-Kurse oder auch… Ach, da gibt es so viele Sachen mit Fotografie und ach alles, was man so anbietet. Oder auch Bibliotheken werden nicht so richtig genutzt oder das Kino in Boitzenburg. Aber alles heult immer rum, nee das ist… Ich vermeide immer die Ausdrücke Ost und West, das versucht man so wenig wie möglich zu machen. Aber ich sag immer, diese Verblödung der Menschen was jenseits der Grenzen in West passiert ist, hat ungefähr vierzig Jahre gedauert, aber hier hat das fünfzehn Jahre gedauert. Wirklich, diese Menschen sind so etwas von naiv und abgestumpft und heulen nur rum. Das ist nicht schön, nicht schön. Und vorher haben sie hier über ihre sozialpolitischen Maßnahmen erzählt, war ja alles nicht schlecht gewesen, alles hat darauf rumgeritten, rumgeritten, aber gemacht hat vorher auch keiner was. Die haben nur ihre Versammlung abgehalten und viel erzählt, hurra, hurra und anschließend wurde Alkohol getrunken, halbwegs und dann waren sie glücklich gewesen. Hurra, wir haben es gerettet, so ungefähr. Aber sonst so. Ich denke, die Menschen haben auch keine Ideale mehr. Wenn ich zum Beispiel Italien oder Frankreich sehe, wo wir nach der Wende hingefahren sind, was wir sehen wollten. Da wählen die Menschen, (), die wählen dreißig Jahre lang die Kommunisten, der Nachbar dreißig Jahre lang Sozialdemokraten, der andere die Christdemokraten, die vertragen sich aber untereinander. Wenn man jetzt aber diese Wahlsachen verfolgt, zum Beispiel hier im Osten. Schon wieder dieses doofe Wort. Gerade der, der am meisten erzählt, der wird gewählt. Viele Arbeitskollegen sagen: „ Oh ich hab damals die CDU gewählt, oh ich hab jetzt bei der letzten Wahl die SPD gewählt und jetzt oh, ich hab die Rechten gewählt“. Ich sage: „Ihr habt doch keine Meinung, ihr müsst doch endlich mal wissen, was ihr wollt“. Und das haben die alles so über Bord geworfen. Und früher hier im Sperrgebiet, da kam man mit den Leuten klar. Man hat sich öfter getroffen als heute. Auch die Kinder waren untereinander viel lockerer, die kamen bei irgendeinem reingestürzt: „Oh, wir möchten jetzt etwas zu trinken“ oder, „Hast du ein Brötchen, was zu essen?“, „ Ja hier eine Tüte Bonbons“. Da war so alles locker und cool, nee. Auch so unter den Kollegen, nee. Ich habe ja hier auf dem Bahnhof auch gearbeitet, nee. Da war das so, jeder war für jeden da. Ich mach heute das, ja ich komm mal vorbei und das alles. Aber irgendwo im Hintergrund war dann immer diese Sache: „Wie meint der das? Was will er nun von mir?“. Und hier hinten waren nur der S…, diese Grenztruppen, nee. Die waren für die Bewachung des Bahnhofes verantwortlich. ((zeigt auf einen überwucherten, betonierten Platz mit ein paar Flachbauten dahinter, Kasernen?)) Man hat hier die Leute gegrüßt, da hatten wir damals schon eine Hündin gehabt, die ist immer rübergelaufen zu den Posten und hat sich gefreut. Die Kinder haben mit denen erzählt. Die haben wir auch immer mal zu uns nach Hause eingeladen, zu denen haben wir auch heute noch Kontakt, immer noch


Manchmal gab es auch schöne Sachen hier, da gab ’s dann auch mal so kuriose Übungen und so was haben wir gemacht. Oder manchmal hat sich so ein Rangierer von Büchen hat sich nen Gag gemacht, hat auf dem Güterzug auf den Wagen geschrieben, in diesem Wagen ist eine Bombe… Oh ein Elend hier, ein Theater hier… Haben sie das Ding auf Nebengleis gestellt und dann stand da ein Schuhkarton mit einem Zettel drin, da stand ätsch drauf. Aber da hat man sich halt kaputt gelacht.


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ein gutes Verhältnis. Dann gab es teilweise das Hausverbot, weil teilweise Propaganda und Westfernsehen geschaut worden ist. Weil damals wie heute, auf gut Deutsch, so Schleimscheißer, das nicht wollten, dass man da so Kontakt hatte zu den bewaffneten Organen. Es könnte ja was passieren. Aber das waren auch nur einfache Jungs und junge Männer, vor allem die haben sie meistens aus dem Hinterland geholt. Denen haben sie hier Schauermärchen erzählt, oh Gott, oh Gott, oh Gott… Die waren auch recht nervös, wenn die das erste Mal hier waren. Was soll ich sagen, man hat sich arrangiert mit dem ganzen System, und in den Städten war das alles irgendwie lockerer, da hat man so eine Szene gehabt… Man hat das getan, was man gemacht hat. Da war das eigentlich noch lockerer gewesen, da hat man sich auch so eine Szene aufgebaut, da war man so drin, wo man sich sagte, oh, das funktioniert da sind Kumpels dabei gewesen. Da waren auch welche von der Staatssicherheit dabei gewesen, mein Gott, hat man nach der Wende erst erfahren. Ist trotzdem Kumpel geblieben, also wir haben es ehrlich gemeint. Also von der Warte her haben wir mit so etwas keine Probleme gehabt. Und das war alles, wie soll ich sagen, das System hat alles irgendwie funktioniert. Aber jetzt, was denken Sie, die Mauer ist jetzt 20 Jahre weg? Die Leute sind jetzt abgestumpfter geworden. Und nur noch das, was ich hab, zählt. Ich hab ja nun das und jenes… ja… „Ich hab ein Haus! „ Ich sag: „ Ja, das Haus, da sind 2 Steine, da steht dein Name drauf, der Rest, da steht noch Sparkasse drauf“, Ich sag: „Daran müsst ihr mal denken. Ihr müsst auch mal in Urlaub fahren, etwas Persönliches machen“, Ich frage dann: „Was hast du denn im Urlaub gemacht?“, „Ja, Carport gebaut, Rasen gemäht, mit der Frau ein wenig einkaufen gewesen“. „Ja, und mit den Kindern?“, „ Die haben Fernsehen geschaut.“ Das ist nicht die Welt, nee. Ich denke einmal, da leiden die Kinder auch doll darunter, wenn man das so sieht. Ich weiß noch, wie das damals war, unser Kind kommt von der Schule und heult: „Wir haben keinen Videorecorder. Ich frage: „Wozu brauchen wir so etwas?“ Das war da bei den Kindern wie bei den Eltern. Was bei den Eltern passiert ist, das ging sofort auf die Kinder über. Und das war ganz schön erschreckend, was da manchmal ablief. Ja was soll ich sonst noch sagen. Ich sag mal hier die bewaffneten Organe, ich denk, wenn es wirklich zum Ernstfall gekommen wäre hätte keiner die Knarre in die Hand genommen. Also bei uns wüsste ich genau, hätten wir nicht gemacht. Da war man sich einig, das war auch so ein Mischmasch aus jungen Männern aus allen Schichten, Maurer, Hilfsarbeiter, Müllmänner, EOS-Schüler, die studieren wollten, aber da war man sich einig: „Da machen wir nicht mit“. Dass dann aber wirklich diese Parolen im Sand verlaufen sind, das hätte man wirklich nicht gedacht. Und dann fand ich ja, das Allerfürchterlichste […] im Fernsehen, in Straußberg die Übergabe der NVA an die Bundeswehr. Fürchterlich, fürchterlich, kein Rückgrat gezeigt. Alle haben sich so angebiedert. Tja, und heute schimpfen alle. Das hätten sie sich mal vorher ein bisschen überlegen müssen, was sie machen. Die hätten ja nicht nur immer mitheulen müssen, oder rumschreien müssen, die hätten ja auch mal sagen können: „Hey Stopp, es gibt noch etwas anderes“. Aber das haben die verpasst, wahrscheinlich auch, weil das alles so gefahren ist, so eine Schiene, da wollte jeder mitmachen und jeder wollte seine Schäfchen ins Trockne bringen. Hat sich nicht viel geändert, nee. […] Was ich heute toll finde, man hat Bücher ohne Ende, was man so lesen und haben kann, ganz toll. Man kann wirklich sagen, man fährt heute ins Theater und kann da ohne Beziehungen rein. Wir fahren dieses Jahr wieder ins Sommertheater. Man fährt jetzt einfach zum Freiluftkonzert nach Schwerin, die Zauberflöte von Mozart. Man holt sich eine Karte, man fährt hin und man ist da. Oder Urlaub, es wird nichts vorgeschrieben, wo man hinfährt, oder ob man einen Platz bekommen hat. Man fährt einfach los. Und das ist wirklich eine tolle Sache, nee. Aber es wird ja nicht wirklich viel genutzt. Urlaub O.K.. Aber von den ganzen anderen Sachen her, die Leute hängen ja auch nur zu Hause rum oder gehen zu den Stadtfesten, was jedes Jahr das Gleiche ist, das ist nicht so eine Sache, nee. Aber im Großen und Ganzen, die Wende ist nun passiert. Was soll ich dazu sagen. Ändern konnte man nichts, das ging alles auch so schnell. Man hat gar keine Möglichkeiten gehabt, man war hier wirklich in der Provinz. Diese Sperrgebiet-Sache man war hier wirklich… man wusste teilweise gar nicht was hier passiert, weil man auch gar nicht so richtig dahin kam. Der PKW fehlte, die Bahnverbindungen waren so zeitmässig angebunden, dass man kontaktmässig ((er meint die Zugverbindung)) nach Schwerin hatte. ((Zug fährt durch)) Das man da gar nicht mehr in der Szene drinne war, was da so alles gemacht wurde und ablief und das ist alles so ein bisschen im Sande verlaufen, sagen wir mal vom Speergebiet zur Aussenwelt. Man hat hier so in einer Welt gelebt, die war heile, die war in Ordnung und das war ’s. Man konnte die Türen offen lassen, da hat sich keiner dran gestört. Und dann war das erledigt.[…] Und dass das Gott sei Dank friedlich abgelaufen ist, dass keiner durchgedreht hat, also das war wirklich ein Wunder. Ein Bekannter von mir, der hat damals in Berlin Bereitschaft gehabt, die wussten auch nicht, gehen die los oder was, dann kam ein Befehl: Feierabend. Die wussten ja auch nicht, was sie hätten tun sollen. Erst danach haben sie das wirklich gewusst, Aber die haben gesagt, die hätten auch nicht… Und das fand ich sehr gut. Das hätte ein Blutbad gegeben, glaube ich. Da wären mindestens zwei- bis dreihunderttausend Leute draufgegangen. Also wenn hier welche ausgerastet wären… auweia. Und das sich die russischen Truppen so zurück gehalten haben. Also das muss ich auch sagen, dass das so funktioniert hat. ((Zug fährt durch)) Ja und hier auf dem Bahnhof da erzählen immer alle: ahh Stasibahnhof. Und ich denke so, oh alles wird gleich mit der STASI verglichen. Die waren hier, die waren in jedem Betrieb gewesen. Jeder Kaderleiter musste mit denen zutun haben. Da gab es keine Diskussion drüber. Und hier war DRK, Rotes Kreuz, Bank, Zoll. Der Zoll hat mit dem Westzoll zusammen gearbeitet. Fahndungslisten und so etwas alles rausgegeben. ((es fängt an zu regnen und wir stellen uns im Hauseingang unter)) Die haben sich auch regelmäßig in Schwerin getroffen und haben ihre Fahndungserfolge untereinander ausgetauscht. Die haben auch mit den Antiterrorgruppen ganz gut zusammengearbeitet. Die haben


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richtig Abteilungen gehabt von der STASI, nee. Und hier da lief immer der gleiche Trott ab. Die Züge kamen, die wurden kontrolliert, der Zoll hat seine Bestimmung gehabt, die anderen haben ihre Einreisebestimmungen gehabt, wie jedes Land auch. Und dann war ’s das, nee. Auch wenn Leute manchmal in falschen Zug eingestiegen sind, nee. Die wollten in Büchen aussteigen und sind dann mal hier angekommen. Oh Gott, oh Gott,oh Gott, oh… ((grinst)) Die haben erstmal Verpflegung gekriegt und einen Kaffee bekommen, wurde angerufen auf der anderen Seite, hey, ja der kommt dann mit dem nächsten, ja dann ist gut und fertig, ne. Und dann war ’s das. Die haben hier nicht so ein Brimborium gemacht. Manchmal gab es auch schöne Sachen hier, da gab ’s dann auch mal so kuriose Übungen und so was haben wir gemacht. Oder manchmal hat sich so ein Rangierer von Büchen hat sich nen Gag gemacht, hat auf dem Güterzug auf den Wagen geschrieben, in diesem Wagen ist eine Bombe… Oh ein Elend hier, ein Theater hier…. Haben sie das Ding auf Nebengleis gestellt und dann stand da ein Schuhkarton mit einem Zettel drin, da stand ätsch drauf. Aber da hat man sich halt kaputt gelacht. Aber so im Allgemeinen hat man damit gelebt, so wie alle anderen auch. Und wenn ich dann jetzt diese Helden sehe und diese Freya Klier. Und wenn ich mir jetzt anschaue, wie die Leute geschuftet haben in den Betrieben, nee, die Frauen an den Bändern haben für den Export produziert ohne Ende. Und dann stellt sich eine Freya Klier hin, sie hat hier ((Zug fährt durch)), oder eine Frau Bärbel Bolay, die stellt sich hin und heult rum, die konnte nach England fahren, die war sonst wo. Die hätte sich mal in die Betriebe stellen sollen und so, die musste kaum schuften und so. Also ich sag ja ohne Frauen wäre ja die DDR 20 Jahre vorher pleite gegangen. Was die gearbeitet und gemacht haben, am Band gesessen und und und…, die hätten da schon ganz alt ausgesehen. Und dann stellen die sich hin und heulen da rum, konnten hinfahren wo sie wollten und konnten machen und tun, und das ist immer so. Die vergessen ihre Biografie, das ist nicht gut. Man muss daher immer daran denken, wo man hergekommen ist, und was man gemacht hat, und wie man es gemacht hat und nicht alles über Bord schmeißen und hurra schreien. Das geht nicht. Die Frau Merkel, FDJ Sekretärin, an der Humboldt Universität, sie muss dazu stehen, das kann man nicht so einfach alles über Bord werfen, das geht nicht. Auch diese Politiker, die kommen sonst woher, haben hier studiert alles, was es gibt. gemacht getan, die Sitzen im Landtag, SPD, FDP, CDU oder LINKE, man muss auch zu seiner Biografie stehen. Das machen viele nicht. Das ist schade eigentlich, dass sie das so vergessen. Das ist auch heutzutage mit der Bildung, alle schimpfen immer auf die jungen Leute. Aber sie sollen denen eine Chance geben, sollen sie denen… Diese ganzen Studiengebühren und so. Viele junge Leute studieren in Ungarn Medizin, weil das hier zu teuer ist, nee. Hier zum Beispiel in unserem Betrieb haben wir ein Durchschnittsalter von fünfzig Die haben schon jetzt Analysen gemacht, dass wir in zehn Jahren fast keine Arbeitskräfte mehr haben. Aber es kommen keine jungen Leute her, weil die immer alle von Anfang an ausgebildet und dann nicht übernommen wurden. Dann sind die weg nach der Ausbildung. Von unser Verwandtschaft auch, alles in Richtung SchleswigHollstein, Niedersachen, Nordrhein-Westfalen. Es, ist keiner mehr von uns geblieben. Keiner mehr? Nee, sind alle weg. Wegen der Chancen. ((seine Frau ruft, der Kaffee wird kalt)) Ja, hier Sperrgebiet, wenn ich diese Jungs mit Zeitung sehe, nee. Ich durfte nicht nach Kresse, weil ich nicht in der FDJ war, ich musste nach Beutzen runter, nee Und solche Sachen hier, weil das Nest sauber gehalten werden musste.… Ja, und heute erzählen sie Gartenschläger wurde von der STASI erschossen. Ja warum, sollte man mal nachfragen. Weil der Schwarzenbecker vom Bundesgrenzschutz, den Funkspruch uncodiert abgegeben hatte. Gartenschläger war ein innerdeutsches Problem, den mussten die loswerden, auf beiden Seiten. Das vergessen die immer alles. Dann immer dieser Vergleich hier, DDR und Nationalsozialismus. Ich find das fürchterlich. So etwas von gemein, auch was sie den Menschen damit antun. Jedes System hat seine Fehler. Und Demokratie gibt es nicht für mich. Also das ist ein Wort, das hat irgendeiner mal vor 2000 Jahren erfunden, gut definiert und dann war es das auch. Und jeder benutzt es dann heutzutage. Klar, wir hatten die vormilitärische Ausbildung gehabt, und wir haben Sport gehabt, jeder musste schwimmen können und, und, und. Und das hat funktioniert. Die Kinder haben zusammengehalten. Man will nur nicht wieder die alte Suppe hochleben lassen, nee das möchte ich nun wieder auch nicht. Aber irgendwie hat es doch besser funktioniert mit den Leuten untereinander, mit den Jugendlichen vor allem. Die haben Chancen gehabt zu studieren Klar, was ich auch doof fand war, dass einer drei Jahre zum Militär musste, weil er studieren wollte, es war schon ein bisschen Diskriminierung gewesen. Aber was die jetzt machen müssen, Studiengebühren bezahlen und unter welchen Bedingungen manche Studenten arbeiten müssen, um studieren zu können. Und dann haben sie studiert und dann?… ((er pustet in die Luft)). Ja und letztes Jahr, war ABI und da sag ich: „Du machst dir einen Aufkleber hinten aufs Auto ABI 08 und Arbeitslos 09“. Was die mit dem Kapital, dem geistigem der jungen Leute, hier machen, nee. Haben Informatik studiert und sind bei Karstadt Packer. Es ist traurig, was da so abgeht, nee. Aber wir können es nun nicht mehr ändern. Versprechen, versprechen und nichts wurde gehalten, das ist hier ja genauso. Man hat sich mit dem System arrangiert. Das war ’s, mehr kann man eigentlich nicht mehr dazu sagen. Vielen Dank.


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¬ Freya Klier,

wuchs, aufgrund der Inhaftierung ihres Vaters, im Kinderheim in der DDR auf. 1968 scheiterte ein Fluchtversuch, sie wurde zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt. Freya Klier studierte Schauspiel in Leipzig und spielte bei verschiedenen Filmen und Serien mit bis sie Regie in Berlin studierte. Anfang 1980 trat Sie der Friedensbewegung bei, was 1985 zu einem Berufsverbot führte. Freya Klier lebt und arbeitet heute in Berlin als freischaffende Autorin und Filmregisseurin. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit der DDR-Vergangenheit aber auch mit der Bewältigung der Nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland sowie dem stalinistischen Sozialismus in Deutschland und Russland. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern des „Bürger e.V“. ein Verein zur Aufarbeitung der Folgeschäden der SED-Diktatur. ¬ Bärbel Bolay

Die wohl bekannteste Bürgerrechtlerin in der DDR, Malerin aus dem Prenzlauer Berg wurde 1945 geboren. Sie wollte den Arbeiter- und Bauernstaat von innen verändern und wurde zweimal inhaftiert. Nach dem Abitur machte sie erst einmal eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Erst 6 Jahre später studierte sie an der Kunsthochschule in Weißensee. Seit 1974 arbeitete sie als freischaffende Künstlerin. Bärbel Boley: „Wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen“. Ihre Aktivitäten in der Gruppe „Frauen für den Frieden“ wurden immer von der STASI im Auge behalten. 1983 wurde sie das erste Mal inhaftiert wegen „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“. Nach 6 Wochen war sie wieder frei. 1986 wurde sie das zweimal in Untersuchungshaft in Hohenschönhausen gesteckt. Sie protestierte für das Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und wurde verhaftet. 10 Tage später wurde sie nach London abgeschoben, ohne Aussicht auf Rückkehr. Sie protestierte und wurde 6 Monate später wieder ins Land gelassen und wurde damit zur „Jeanne d’Arc der friedlichen Revolution“. ¬ Michael Gartenschläger

Politsicher Häftling der DDR und Fluchthelfer. Er wurde 1944 in Strausberg, Berlin geboren. M. Gartenschläger wurde 1961 mit 17 Jahren zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt, wegen Protesten gegen den Mauerbau und damit verbundener Brandstiftung. Nach 10 Jahren wurde, gesundheitlich geschwächt durch die Haft, von der BRD freigekauft. Von hier aus verhalf er insgesamt 31 Menschen zur Flucht in die BRD, 6 davon persönlich. Er wurde 1976 beim drittmaligen Abmontieren der Selbstschussanlage an der Innerdeutschen Grenze erschossen. Er wollte die DDR damit bloßstellen, die den Einsatz von Selbstschussanlagen immer bestritt. Gartenschläger montierte eine Anlage ab und präsentierte sie über den „Spiegel“ der Öffentlichkeit. Beim dritten Versuch am 1.Mai 1976 wurde er erschossen. Der Prozess wurde groß in der Öffentlichkeit verhandelt, denn die DDR hatte damals behauptet, Michael Gartenschläger hätte das Feuer eröffnet. Die Angeklagten wurde fast alle freigesprochen, da Beweismangel und Verjährung die Verurteilung erschwerten.



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„Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Willi Brandt, 1989 Der „Eiserne Vorhang“ hat Deutschland fast 40 Jahre lang durchschnitten, doch nach der Grenzöffnung bestand die Chance, diesen Schaden auf eine ganz andere Art wieder gut zu machen. Das ehemalige Grenzgebiet hat sich als ein wertvolles Naturreservat für Deutschland erwiesen. Der Bund „Grünes Band Deutschland“ hat sich direkt nach der Grenzöffnung auf das Bestreben von Dr. Kai Frobelhin hin gebildet und ist heute eines der wichtigsten Naturschutzprojekte des BUND (Bund für Natur- und Umweltschutz Deutschland). Noch im Wendejahr fanden sich über 400 weitsichtige Naturschützer aus Ost und West zusammen, um das zu schützen was die Mauer hat entstehen lassen. Im wenig bewohnten Grenzgebiet ist in den Jahren der Teilung eine „Wildnis“ entstanden, die Tier- und Pflanzenarten beheimatet, welche es nur in diesen Regionen Deutschlands noch gibt. Die fast 1.400 km lange ehemalige Grenze bietet von Norden nach Süden sehr viele unterschiedliche Lebensräume, von Auenwäldern, Altgrasfluren bis hin zu Niedermooren findet man alles was sonst trockengelegt oder überbetoniert wird. Der Bund „Grünes Band Deutschland“ bemüht sich mit Hilfe von Spenden Teile des Gebietes auf zu kaufen und somit vor weiterer Bebauung und landwirtschaftlicher Nutzung zu schützen. Inzwischen gibt es auch eine Organisation „Grünes Band Europa“ Der Eiserne Vorhang zog sich nicht nur durch Deutschland, die Teilung ging ja durch ganz Europa vom Eismeer bis an das Schwarze Meer. Das Projekt aus Deutschland ist Vorbild und man will in ganz Europa die wertvollen Lebensräume schützen. Das Band könnte damit das erste grenzüberschreitende Naturschutzprojekt Europas werden. Es erstreckt sich auf einer länge von 12.500 km, durch 23 Staaten.



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Heinrich aus Hannover zum Frühstück in der Jugendherberge Lüneburg Ich hab Heinrich in der Jugenherberge schon am Vorabend getroffen, da hat er mit ausführlich erzählt, dass er gerade 150 Kilometer von Hannover in seine Geburtstadt Lüneburg gefahren ist um Verwandte und Freunde zu besuchen. Er hatte im Vorjahr eine Hirntumor und ist mit einem ganz normalen Fahrrad gefahren, mit über 70 find ich das echt beeindruckend.

[…] Wir haben ein Chortreffen gehabt in Berlin. Da sind wir erst einmal in Westberlin in ein Quartier gegangen und wollten uns aber in Ostberlin mit den Chorleuten treffen. Das war vielleicht was, da über die Grenze rüber zu gehen von West- nach Ostberlin. Meine Frau sagte dann: „Mann, das gibt es ja wohl nicht, erst mal wird man von oben bis unten abgeguckt.“. Und dann waren wir auf diesem Chortreffen, und da hab ich mich ganz schön gewundert. Wir mussten ein Stück mit der Straßenbahn fahren, da hab ich, glaube ich, 20 Pfennig für eine Fahrt bezahlen müssen. Das gibt ’s ja nicht, so billig ((er grinst)). Aber dann haben wir auch über Jahre hinweg diesen Kontakt gehabt mit einer Familie, aber auch mit dem Chor. Und mit dieser Familie im Erzgebirge. Und als die Grenze frei wurde, da sind wir zwei- oder dreimal auch noch hingefahren. Da haben die uns erzählt: „Früher konnten wir ja nicht in die Alpen fahren, jetzt fahren wir mal in die Alpen.“. Ich glaub, die waren in den Karpaten gewesen, nee wie heißt das? Naja, weiß ich nicht, aber dieses Gebirge da in Tschechien, nee in Rumänien da, also in der Richtung. „Und jetzt können wir uns das leisten“. Die Leute aus Dresden kommen alle zwei Jahre zu uns, das eine Jahr kommen die zu uns, das andere Jahr fahren wir zu ihnen. Wenn wir zu denen fahren, dann zeigen die uns immer etwas in der Umgebung von Dresden, was da gerade aktuell ist dann. Und wenn die zu uns kommen, dann überlegen wir immer, was wir denen zeigen sollen in der Umgebung von Hannover. Aber die Verbindung zu der Familie im Erzgebirge ist also mehr oder weniger kaputt oder wird nicht mehr gemacht. Ist eingeschlafen? Eingeschlafen ist besser, ja. Aber das wird vielleicht mal, wenn wir das nächste Mal wieder nach Dresden fahren, dass wir mal einen Abstecher bei denen vorbei machen. Da fahren wir einen Tag eher los und machen ’nen Abstecher ins Erzgebirge, da sagen wir vorher Bescheid: „Wir wollen euch dann und dann besuchen, seid ihr da?“, Oder, „Habt ihr was dagegen, wenn wir mal wieder einen Tag bei euch vorbei kommen?“. Aber auf jeden Fall würden wir am nächsten Tag dann bis nach Dresden weiterfahren. Da bin ich ja mal gespannt, ob das was wird mit der Verbindung da, ob das zustande kommt. Ich komm ja gar nicht aus der DDR, das ist ja hier meine Heimatstadt hier, Lüneburg. Aber dadurch haben wir ja überhaupt die Verbindung zu einigen Menschen aus der DDR gehabt. Als die Grenze frei wurde, das ist auch wieder etwas, was einem so einfällt, da hatten die ja gesagt, es kommt ein Zug nach Hannover, voll besetzt mit Menschen aus der DDR, und wenn die hier ankommen, wollt ihr eine Familie aufnehmen? „Können wir machen“, haben wir gesagt. Die sind dann die Tage bei uns gewesen. Aber die haben uns dann auch eingeladen. Gar nicht weit weg von Dresden. Aber das war auch nur einmal gewesen. Einmal waren die bei uns, und einmal waren wir bei denen.

Das gibt es auch nicht mehr. Schade, manchmal ist das schade. Aber wir haben jetzt auch einen größeren Freundeskreis, dadurch auch die Hobbys, die man so hat, kann man ja nicht ständig dann auch noch sagen, dass die alle vorbeikommen können, das geht leider nicht. Denken Sie, es gibt noch Unterschiede zwischen den Alten und den Neuen Bundesländern? Oder Zwischen West und Ost? Eigentlich finanziell gesehen, dürfte es das nicht mehr geben. Ich nehme an, dass die Preise in der DDR, den Neuen Bundesländern etwas niedriger sind als hier bei uns, dafür sind ja die Löhne auch noch etwas niedriger als bei uns. Aber soweit ich das sehe, hat sich in den Jahren in der DDR, den Neuen Bundesländern, viel erneuert. Als wir nämlich vor dreißig Jahren mal einem Bummel durch Leipzig gemacht haben, sind wir fast umgefallen, was da alles kaputt war. Und wenn man jetzt nach Leipzig kommt, ist es ganz anders. Dann wollte ich mal zu den Leuten nach Dresden fahren, zu den Leuten aus dem Erzgebirge: Nee das geht nicht, da müssen wir über ’ne Huckelpiste fahren und abends wieder zurück fahren. Wir waren damals 5 Tage in der DDR und wollten mal einen Tag in Dresden übernachten, um auch mal in die Sächsische Schweiz zu fahren: Nee, das geht aber gar nicht… Das ging ja auch gar nicht. Da, wo man angemeldet war, da musste man diese drei, vier, fünf Tage sein. Und man musste sich anmelden, und man musste sich danach wieder abmelden. Ich weiß nicht, ob Sie das schon mitbekommen haben, dass das da so üblich war. Das mussten wir auch, als wir gekommen sind, uns anmelden und am Abend, bevor wir wieder gefahren sind, uns abmelden. Und man konnte eben nicht in den Tagen noch irgendwo anders übernachten. War gar nicht drin. Darum hab ich jetzt gesagt, jetzt wo die Grenze frei ist: „Du wolltest ja immer mal ins Elbsandsteingebirge oder Sächsische Schweiz“, ist ja das gleiche. Das wusste ich auch nicht das, dass das Gleiche ist. ((lacht)) Sehen sie sich als Deutscher oder als Wessi? Ich selbst sehe mich als Deutscher, nicht als Wessi. Sonst hätten wir auch damals nicht die Verbindung knüpfen wollen. Wir haben ja immer noch die Verbindung über den Chor nach Dresden hin. Das finde ich gut. Ja, das fing damals schon an, als die Grenze noch bestand, und als die Grenze dann fiel, ist das belassen worden. Erst haben wir auch gedacht, dass wird wohl nichts mehr. Da hat sich einiges geändert, in der Chorführung in Dresden. Das ist auch ein christlicher Chor, und wir haben auch Verbindung zu der Kirchengemeinde, zu der evangelischen Kirchengemeinde. Die Pastoren haben da auch gewechselt, und das letzte Mal als wir nicht mit waren, hat die Chorleiterin erzählt, der neue Pastor oder Pastorin setzt sich wieder mehr ein, dass das weiter bleiben soll. Denn, wenn da das abgelehnt wird, dann ist das schwierig. Aber wenn das auch so von den Verantwortlichen gefördert wird, besteht auch Interesse, dass das weiter bleibt. Dieses Jahr konnten wir aus persönlichen Gründen nicht mit. Aber das fand ich hinterher auch schade, dass wir nicht mit waren. Ich würde mich als Deutschen bezeichnen, ja, nicht als Wessi. Das wäre schlimm, aber ich würde sagen, dass es ganz schlimm ist wie der Kapitalismus sich so durchgesetzt und entwickelt hat, das war ja früher auch nicht so. Das darf eigentlich so in der Form nicht sein. Das find ich doch ein gutes Schlusswort.




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Erika John Künstlerin in Schnega

Erika hab ich beim telefonieren getroffen, ich habe gerade laut ins Handy gesprochen als sich Erika morgens um halb 12 beim Müslifrühstück essen in Ihrem Garten angesprochen gefühlt hat. Das habe ich gleich ausgenutzt und sie hat mich in ihren wundervollen Garten samt Atelierhaus eingeladen. Das ist ein tolles Thema. ((sie stöbert mein kleines Tütchen durch)) Ja, das stimmt, es ist auch interessant, wen man so unterwegs trifft. Hier bei Ihnen ist es ja wirklich sehr schön. Ja, nur leider dieser Baum hier, der wollte nicht mehr, der ist nach einem kurzen Wirbelsturm, ist der praktisch abgebrochen, aber sonst ist wirklich schön. Gestern Abend habe ich sogar Glühwürmchen hier gehabt, hier im Garten das war hübsch. Ich wohne in der Nähe von Heidelberg, und ich hab die letzten jetzt am Samstag gesehen, da hab ich auch das erste Mal eins bei uns im Garten gesehen zwischen den Rosen. Mmhh ist toll, nicht? Ist ja wie ein kleines Wunder so ein Glühwürmchen… Das ist aber auch total schön… ((sie hat was im Tütchen gefunden)) Oh schön. ((Sie fragt und ich erkläre ihr den Bachelorabschluss. Wessi Ossi Deutsch, schön. Sie hat den Button gefunden) ) Wenn Ihnen das gefällt, kann ich Ihnen auch noch ein paar mehr geben. Ja, aber nicht so viele, vielleicht noch eins, das wäre niedlich. Weil ich jetzt nach Köln fahre, da bring ich so den beiden mal was mit. Da leben so zwei Ärzte, die besuche ich, die sind beide schwul, und der eine ist Ossi, das ist ein Designer. Ja, der eine ist Arzt und der andere sein Freund ist Designer, und der ist eigentlich ein Ossi… Toll, das ist ja toll, schön, nett, Danke. Ich tu das jetzt erst mal wieder hier rein, nicht. Lilli, das ist gar nicht zum Essen, nein, du hast ja gerade etwas gehabt ((Sie schaut ihren Dackel an)). Lilli, oh wie schön…ich will auch einen Dackel haben. Sie wurde gefunden. Ich hab sie auf Mallorca bekommen, eine Frau rief mich an, ich arbeite auch im Tierschutz und dann fragte sie, was wir machen sollen. Ja dann müssen wir sie ins Tierheim geben, ich kann auch keinen Hund gebrauchen. Und dann bekam ich Besuch, und dann war Lilli läufig, und sie war noch so jung, und dann hat sie da so kleine Höschen angehabt, da war das dann zu familiär, und mein Freund hat gesagt, jetzt musst du sie aber behalten, du kannst sie doch nicht wieder weggeben. Ich bin richtig glücklich, dass ich sie habe, das muss ich sagen. So ein Dackel macht glücklich. Gestern Abend lagen wir beide unter der Decke und dann lag sie so auf dem Rücken, die Beine, die Pfötchen so…auf der Decke ((wir lachen beide)) Dann hab ich gesagt, jetzt müssten wir eigentlich ein Foto machen. Ja, o.k. ((sie schaut mich an)) Sie sind aus Ostdeutschland? Nein, ich komme aus Berlin, bzw. hab in Berlin gearbeitet und habe da… Sind sie jetzt enttäuscht? Nö, ich finde das interessant, weil Sie sagen, dass Sie seit 82 hier sind. ((Ha, in einer Minute werde ich erfahren, dass ich noch auf der Westseite von Deutschland bin, doch nicht im Osten wie die Dame von der Bahn gesagt hat. Aber in Blickweite zum Osten)). Berlin war ja damals noch ziemlich hermetisch, sozusagen eine geschlossene Insel Westberlin, und das war für mich ein großes Glück da mal rausfahren zu können, obwohl ich da ja nun rein wollte. Es war ein super Highlight, es war eine absolute Befreiung, eine kleine Anarchie. Es war alles noch sehr, sehr revolutionär, auch so ein bisschen so um die Zeit noch, so in den 70er Jahren und die Vietnamdemonstrationen, etc. Es war irgendwie schon eine Sache für sich.. Berlin. Aber dann hat es mich rausgezogen aufs Land, und ich wollte auch irgendwie Ruhe haben. Und dann habe ich dieses hier entdeckt, und das war auch möglich für mich, dieses zu erwerben, nicht. Das war auch schön, man fuhr immer an der Grenze lang, also man fuhr diese Transitstrecke aus Berlin raus, Marienborn, Helmstadt, und es war auch immer ganz abenteuerlich, also auch wie man durchgelassen wurde. Was da gerade für Typen standen, nee. „Fräulein nun zeigen Sie mal…“ und so ((lacht)). Da war man schon immer ganz ausgeliefert, man fühlte sich dann doch immer etwas ausgeliefert. Jetzt muss ich mal ganz doof fragen, sind wir jetzt hier in Niedersachen oder in Sachsen-Anhalt? Wir sind hier noch in Niedersachen. Wirklich, noch in Niedersachsen, weil die Dame von der Bahn gesagt hat: „Oh, da muss ich dann aber auch Ihr anderes Ticket sehen, weil, wir dann gleich in Sachsen-Anhalt sind“. Da hat sie noch nicht Recht gehabt. Nein, das ist Niedersachen. Ja, da fuhren wir immer so praktisch, das ist hier ja so eine kleine Enklave, das Wendland, weil das hier so eingeschnürt war, von der innerdeutschen Grenze, so ein bisschen eingekesselt war. Sozusagen beschützt, insofern auch von dieser starken, ja von dieser Landwirtschaft, die so ein bisschen amerikanisiert ist inzwischen. Die Infrastruktur hier war total in Ordnung, nicht, so ganz natürlich und alles sehr schön. Und mich zog es ins Wendland, weil das noch so heile und so schön war. Also, es war so unberührt. Und dann fuhr man vier Stunden hierher, und das war das absolute


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Kontrastprogramm, weil man hier noch so alte, heile Strukturen vorgefunden hat. Also „heil“ in Anführungsstrichen, es war sehr rechtslastig hier. Ist eine ziemlich schwarze Gegend hier, CDU-mässig, etc. Und ich war ja immer sehr links. Also es war ein kleiner Kontrast, aber das ist ja überall hier im Wendland, das die Künstler und die Alternativen auf so wirklich harte Fronten hier gestoßen sind, also sehr verkrustete Strukturen. Aber man lebt friedlich nebeneinander und teilweise ist das eine sehr schöne Koexistenz. Also zwischen den ansässigen Bauern hier und den sozusagen Zugereisten. Ich sag das jetzt erst mal zu der heilen Welt, nachher muss ich dann noch was sagen zu der Situation der neuen Agrarwirtschaft hier, also Massentierhaltung, die hierher kommen ist. Also da wehren wir uns ja dagegen. Wir haben jetzt eine Bürgerinitiative gegründet und das ist ein ganz neuer Aspekt. Ja, ansonsten… Ja und 82 bin ich dann… hab ich hier praktisch angefangen. In dem Dorf hier waren auch schon immer ältere Leute, die Jugend hatte ja keine Arbeit, und die zogen dann weg und so hat sich das praktisch sehr stark altersmässig, überfremdet hätte ich beinahe gesagt. Also die Dörfer sind hier letztlich überfremdet ((überaltert?))hier. Inzwischen gehöre ich ja auch schon mehr zu diesem Bereich. Was kann ich Ihnen noch erzählen? Sehen sie sich mehr als Deutsche oder als Westdeutsche? ((überlegt)) Weder noch. Also, ich sehe mich eigentlich als kleiner Satellit zwischen allen. Also, ich sehe mich gar nicht so deutsch. Ich war auch nie so richtig deutsch. Ich hab mich immer gegen dieses zugespitzt Deutsche immer sehr gewehrt, weil mein Vater ein Nazi war, und das auch immer noch mitgebracht hat und in die Familie getragen hat, und wir immer die Minderheiten verteidigen mussten vor ihm. Das hat mir das Deutsche sehr, sehr… sagen wir mal so, ich habe da auch sehr darunter gelitten, unter diesem klassischen deutschen Gefühl. Also eigentlich fürchte ich mich eher davor. Ich bin mehr so ein Kosmopolit, sag ich mal. Ich pendle ja viel hin und her und reise viel und habe da auch keine inneren Grenzen. Wenn Sie so viel im Ausland sind, haben Sie da schon mitbekommen, das Deutschland in den letzten 20 Jahren anders wahrgenommen wird? Deutschland war ja geteilt und hat sich nach einer gewissen Zeit wiedervereinigt, gibt es da inzwischen Unterschiede zum Verständnis von Deutschland? Ja, also ich habe den Anfang als es gerade soweit war, da war ich gerade in Neuseeland, als die Öffnung hier erfolgte und ich hab das von Neuseeland aus mitbekommen. Da war ich auf einer Farm und die Neuseeländer haben alle gejubelt, und die waren allerdings auch so ein bisschen, also die hatten auch diese Ostfeindlichkeit in sich, komischerweise. Das hat ein bisschen abgefärbt, dieses Bild, also das östliche, die sind alle, ein… so unterentwickelt. Oder Chruschtschow oder was weiß ich, diese Russen. Das war schon noch diese alte Ost-West Barrikade in den Köpfen dort. Die haben das alle sehr begrüßt dort, mit uns, also, dass jetzt dieses arme Volk befreit ist. So war das. Und so hab ich das dort auch mitgemacht und miterlebt. Und da ich ja nun selbst in Berlin lebte, hatte ich große Angst vor dieser plötzlichen Überflutung von Trabis und so… ((lacht)) und vielleicht vor etwas engstirnigen Menschen. Das war das. Aber jetzt hat sich das ja alles sehr verändert. Ich habe dann auch in meinem Job ganz anders gearbeitet. Ich will nur sagen, also die Wahrnehmung, wie andere Menschen das wahrnehmen… Ja, also, ich denke mal, dass sie das eher als Veränderung sehen aber auch im positiven Bereich, dass da jetzt also eine größere Freiheit im Gesamten, ein freiheitliches Denken, entsteht. Weder diese künstliche innere Sperre, die wir ja aufgeweicht und aufgebrochen haben, dieses Fremdeln und auch diese äußerlichen Unterschiede sind ja schon irgendwie verschwunden, im Wesentlichen. Aber ich glaube, diese Grundstruktur, dass die noch ganz ganz lange Jahre braucht, die Veränderung zu dieser tiefen Grundlage, dieses grundsätzlichen Denkens oder Fremdelns, was man durch alle Sinne wahrgenommen hat. Aber natürlich auch durch Literatur und Philosophie und die geisteswissenschaftlichen Geschichten, was auch so die Beeinflussung dargestellt hat. Dass das ganz schwer ist, aufgrund eines Faktes, des äußeren Faktes der Öffnung oder des Zusammenführens und des Zusammenlebens, mehr oder weniger, dass dadurch die Wurzeln dieses Fremdelns sozusagen berührt werden. Ich weiß auch von mir selbst, dass ich immer wieder dazu neige, dann eher Vorurteile zu projizieren, ich weiß, dass ich reflektiere und spiele damit so ein bisschen ironisch. Ich spiele damit und sage mir: „Naja, und so“, aber dieser Grundkern neigt bei mir dazu, obwohl ich ja total unabhängig und frei bin auf allen Ebenen, neige ich auch eher dazu, die damalige Voreingenommenheit immer wieder zu aktivieren. Obwohl ich ja damals sehr, sehr pro-DDR-mässig war, weil, ich fand das fantastisch für mich, ideologisch gesehen. Für mich war das eine Utopie, und wir haben die immer stark verteidigt, alles was dort vor sich ging, und das immer alles zu begründen und dafür einen Grund zu finden. Wir haben uns sehr sehr, gegen diese Feindlichkeit gegenüber dem Sozialismus, natürlich. Der Sozialismus ist für mich immer auch noch eine Utopie, für mich ist das immer noch da. Konnten Sie das aber verstehen, dass die Menschen aus der DDR gemeinsam wollten, dass… Ja, auf jeden Fall! Ja, ich hab auch teilweise das revidiert, was ich im Kopf hatte und hab auch verstanden, dass das wirklich Schärfste, dass diese S T A S I -Geschichte, dass das wirklich einengend war. Und auch menschenrechtlich unmöglich. Aber nichts desto Trotz war das ja so ein deutscher Sozialismus, so ein faschistoid gefärbter Sozialismus. Da waren auf der einen Seite die Nationalsozialisten, und dann ging das plötzlich auch so in die Richtung des staatlichen Reglementierens. Also diese deutsche Art, das ist absolut so eine deutsche Art, dass so extrem und perfide irgendwie zu betreiben. Das fürchte ich … ja warum eigentlich? Ja, weil die Deutschen, nie eigentlich eine wirkliche Revolution gemacht haben. Diesen Satz habe ich auch schon gehört. Die Deutschen, die sind wirklich immer noch so diese Stiefellecker und so, nein, wie heißt das? Speichellecker, die ((sie lacht)), die sich wirklich schnell so einem Obrigkeitsverhalten unterordnen oder dazu doch leicht tendieren. Also das scheint irgendwie fast auch schon dafür typisch zu sein, für diese Deutschen. Ich weiß nicht, ich kann es natürlich auch nicht begründen. Ich kann mir nur vorstellen, so


Also ich sehe mich eigentlich als kleiner Satellit zwischen allen, also ich sehe mich gar nicht so Deutsch. Ich war auch nie so richtig deutsch. Ich pendle ja viel hin und her und reise viel und habe auch keine Inneren Grenzen.


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quantentheoretisch gesehen, dass ja letztlich die Geschichte in den Genen ist, ja auch bei uns allen, dass ja vielleicht ja auf dieser Ebene, biochemisch gesehen. Das ist natürlich jetzt eine sehr postmoderne kühne Behauptung, oder? ((sie lacht)). Also jedenfalls, irgend etwas scheint da dran zu sein. Und was ich auch jetzt so festgestellt habe, wenn ich da so im Süden bin.. also Süden ist ein weiter Begriff, Mallorca ist ja fast Deutsch. Ich will nur sagen, die Spanier, die da leben, die haben auch eine Anarchie irgendwo, obwohl die ja nun auch sehr faschistoid waren unter Franko. Aber irgendwo sind die in ihrem Grundprinzip so anarchistischer in ihrem Alltagsverhalten auch, dass die sich einfach nicht untereinander regulieren. Vor allem gerade die Deutschen, wenn ich immer von Hamburg aus fliege, merk ich das, dieses Norddeutsche, dieses Hamburgische, die kontrollieren sich untereinander, ob der eine einen zu großen Koffer hat und der andere zu viel Gepäck mit in das Flugzeug nimmt, das ist ganz unangenehm. Oder immer, dass sich die Deutschen sofort in eine Schlange stellen und dann auch wirklich darauf achten. „Nein, jetzt kommt einer…“ Und das dann ist so ein Ereignis, da können die sich, glaube ich, den ganzen Tag drüber ärgern. Also ich will nur sagen, dieses Kleinliche, das kleinkarierte Denken, finde ich sehr unangenehm, das halte ich fast so ein bisschen für typisch deutsch. Und Sie würden sagen, dass das auch in beiden Hälften… ? In beiden Hälften, nach der politischen Couleur ist das praktisch geprägt worden, gepflegt worden. Also durch diesen sehr faschistoid gehaltenen Sozialismus dort und hier eben auch durch unsere Eltern, Großeltern und den preußischen Drill und das Ganze. Diese Fahnentreue. Darum sag ich ja, ist mir das Deutsche gar nicht mal so ungeheuer. Das Land liebe ich sehr, aber die Menschen an sich, da habe ich … ((Lilli mischt sich kurz ein und will etwas von mir)) Ja, da ist jetzt vielleicht etwas unstrukturiert in die Luft gesprochen, aber es ist für mich da. Also ich sag mal dieses Abgezirkelte hier, dieses Eingekastelte entspricht auch dem inneren Denken, teilweise, also dieses teilweise auch sehr enge Denken. Auch so dieses sich zurückziehen in die eigenen Häuser auch, das ganze Leben ist ja so hinter verschlossenen Türen. Im Süden ist das alles so offen. Natürlich haben die auch ein ganz starkes Privatbedürfnis und lassen dich auch nicht so rein, wenn du da kommst. Und sie haben da auch so eine starke eigene Familientradition, aber ich will sagen, dass es insgesamt angenehmer, leichter ist. Jetzt haben Sie gesagt, dass sie das offener empfinden? Ja. Jetzt sehen ja viele, dass in der DDR, einfach durch die Enge, dass die Menschen sozusagen auf einander angewiesen waren, dass die Leute auch recht offen waren. Und ich hab jetzt schon mehrmals gesagt bekommen, das geht immer mehr verloren, in den letzten 20 Jahren. Ah, ja. Haben Sie das in irgendeiner Form auch schon mal so erleben können? Also, dass die Leute im Osten offener waren, an sich, und das geht jetzt verloren? Ja. Ich habe gestern jemanden getroffen, direkt letzter Bahnhof im Osten,der sagte, dass war überhaupt kein Problem, hier waren richtig viele Familien, die Haustür war immer offen, die Kinder sind einfach rein und haben gesagt, dass sie etwas zu trinken und zu essen wollen, das war überhaupt kein Ding, und jetzt ist alles zu. Man beäugt sich auch. Er war sehr offen, aber seine Frau ist drei-, vier mal kucken gekommen, mit wem der da spricht. Ja, das kann ich mir schon vorstellen. Der Kapitalismus fördert ja schon so ein Besitzdenken, dass das mein Eigen ist mein Privates. Ich kann mir das schon vorstellen, dass in der DDR durch den Begriff Verstaatlichung, Kollektiv etc. was ja wirklich so ein Erziehungsinhalt war, dass dadurch das einfach gestoppt wurde. Man hatte einfach nicht diesen Privatanspruch, also dieses Separieren, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Auf der anderen Seite war eine starke Kontrolle da, wie eine Gehirnwäsche oder Kontrolle vielleicht. Das weiß ich jetzt nicht. Das keiner dachte, wie er wollte und keiner einen Radiosender hören konnte, der vielleicht…. Dass es da schon Leute gab, die da nicht konform gingen und dann das in ihrem Privatbereich gemacht haben. Aber, wenn ich das Verhältnis zum Besitz anschaue, da kann ich mir wirklich vorstellen, dass das anders war, dass das offener war und nicht so kleinkariert und wie hier einfach spießig kleinbürgerlich. Und dann noch mit diesem ideologischen Anspruch- wir sind frei – diesem Pseudo-Freiheitsbegriff, das kann ich mir auch vorstellen. Ja, Sie haben vorhin gesagt, dass sich nach der Grenzöffnung Ihre Arbeit auch verändert hat, inwieweit hat sich das denn bei Ihnen niedergeschlagen, auch in Ihrem künstlerischen Wirken? Ich hab ja zu der Zeit noch als Lehrerin gearbeitet, also ich hab da noch nicht so viel im Kunstbereich gemacht. Das mache ich erst seit einiger Zeit. Aber rein im Bewusstsein hat sich damals auch viel bei mir verändert, ich wurde damals als Dozentin an die Uni nach Potsdam geschickt und sollte da den Sonderschulzweig mit aufbauen. Und da hatte ich da so zehn Stunden Fachdidaktik und bin das erste Mal eben auf die Menschen gestoßen, die dort ein Studium machten, die sogenannten Unterstufenlehrerinnen Es waren also mehr oder weniger Kindergärtnerinnen, die jetzt sozusagen in innerhalb von vier Semestern zu Sonderschullehrern ausgebildet wurden. Wir hatten da sehr viele, auch Ausländer in Berlin, und auch zweisprachigen Unterricht und so, und es ging um das Bewusstsein für Ausländer, Ausländer in Deutschland. Und dann wurde es sehr spannend, da habe ich dann wirklich schlucken müssen teilweise, weil ich dachte, Gott, wie kann man so rigide sein, da war so eine Grundtendenz da, zu einer ganz strengen Regulierung. Also entweder sie fügen sich in diese Kultur, oder sie müssen wieder gehen, und da hab ich mich doch sehr erschrocken. Es war dann natürlich auch von meiner Seite aus, dass ich dachte, mein Gott, das ist dusselig, wie kann man so grausam sein und so hart sein. Und dann dachte, ich mein Gott, irgendwie ist das jetzt auch so ne Art, was wir ja versucht haben in den 60ern in einer Form von großer starker Konfrontation, die bestehenden Strukturen zu verändern. Und das haben


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die ja gar nicht mitgemacht, sich so zu wehren, zum Beispiel auf dem Campus an der Uni, oder in dem Bereich, oder überhaupt Widerstand zu leisten. Da dachte ich auch, da müsste man sich ja gerade zu schämen, so etwas überhaupt laut zu sagen. Aber das war ja auch ein bestimmtes Klientel, der waren gestandene Frauen die berufstätig waren und auch ihren Haushalt machten, die dann auch ne sehr klare Vorstellung hatten, wie die Welt sein muss und nicht zu sein hat und dann war das ja auch nur so ein kleiner Querschnitt, im Prinzip. Aber ich musste dann auch so in meinem Inneren schauen, dass ich da nicht borniert reagierte und mich angeekelt wegwandte, so iiihh, das kann ich gar nicht mit anhören ((sie lacht)) Aber wir haben das dann das Anderssein genannt, wie man da rankommt. Was tut sich bei uns, das soggenannte Anderssein und so weiter. Das war so ein Thema. Es ging ja um Behinderte. Das wurde ja teilweise auch sehr vernachlässigt, teilweise sehr sehr stiefmütterlich behandelt, da waren ja tatsächlich auch so eine Art Anstalten, nicht wie bei uns, ganz früh durch die italienische Bewegung, öffneten sich die. Also dieser Kritik in der Psychiatrie haben wir uns ja angeschlossen und haben das ja auch verändert und so ja auch ein anderes Menschenbild entwickelt, und da hatte ich das Gefühl, dass das noch so ein bisschen im Argen lag. Das war auch so eine Bestandsaufnahme für mich, so: „Scheiße, das dauert jetzt ja doch noch ein bisschen.“ Ich könnte mir vorstellen dass das mit Angst zu tun hatte, weil Sie hatten schon ein paar Jahrzehnte mehr Zeit, sich mit Ausländern auseinanderzusetzen. Da war natürlich im Osten die Angst, da kommen dann die anderen. Es gab ja nicht wirklich viele und wenn… Dann waren die ja auch aus sozialistischen Länder! Genau. Richtig. Genau das stimmt. Und so faschistische Sachen durfte es ja auch gar nicht geben in der DDR. Oder auch Frauenbewegung, das gab es ja gar nicht, das hatten die ja gar nicht nötig, weil sie ja alles schon,… sie waren berufstätig… Zu neunzig Prozent…, Ja, genau das stimmt. Das war ja ein ganz anderes Denken auch. Das war aber nicht von der Basis her erarbeitet worden, das merkte man auch, eigentlich definiert, so und so und das ist es dann. Und das war dann, dass diese feinstöfflichen Unterschiede hochgährten, wo man sich sagte: „Mensch, das muss ja erst mal ganz durchlitten werden, sonst kann man das doch gar nicht annehmen“, denn wir haben teilweise richtig drunter gelitten, unter so patriarchalischen Verhältnissen, die wir auch den alten Nazivätern etc. verdankten. Und uns schwer gewehrt. Und da war das scheinbar gar nicht notwendig. Da war ich schon sehr skeptisch. Da ist das anders entstanden… Ja… Wollen wir noch einen abschließenden Satz finden? Von damals zu heute…? Ich hoffe einfach auf eine stärkere Neugier aufeinander, darauf hoffe ich, dass sie auch mehr Lust aufeinander entwickeln und das nicht so zähflüssig betreiben, und auch mehr Lust aufeinander, auf die beidseitige Geschichte. Sie schaut ihren Dackel an „ Ne, das haben wir schön gesagt Lilli.“



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Von Lüneburg in den Harz oder ich und der Harz 8. Juli 2009 Oh je, heute war nicht mein Tag – bisher! Es war irgendwie alles sehr anstrengend. Außerdem habe ich bisher die Erfahrung gemacht, dass es viel, viel besser funktioniert, die Leute am Gartenzaun anzusprechen als im Zug, wie es mein ursprünglicher Plan vorsah. Im Zug und auf den Bahnsteigen ist jeder hinter Kopfhörern versteckt oder schläft. Ich befürchte, der Harz und ich können nicht wirklich miteinander, jedes mal wenn ich hier bin empfinde ich es als dunkel, warum weiß ich nicht. Ich habe mich vorhin voll gefreut als die Bahn in einer langen Kurve auf den bergigen Harz zufuhr, was echt eine Abwechslung war nach dem Flachland. Wenigstens hab ich hier mal einen Computer, an dem der Bildschirm und die Tasten funktionieren wie es sein sollte. Die letzten 2 Tage habe ich mich nur mit halbfunktionstüchtigen Geräten rumgeschlagen. Ja, ich weiß, das klinkt jetzt voll, als ob ich durchhänge und leider ist es das auch. Meine Bindehautentzündung wird und wird nicht besser, und ich vermute, dass ich tatsächlich morgen zum Arzt muss. Mein Auge ist fast zugeschwollen und es macht keinen so guten Eindruck, wenn ich mit meinem dicken roten Auge die Leute anspreche. Aber ich hatte heute auch ein sehr schönes Erlebnis. Zunächst bin ich zwar mal wieder an der falschen Station ausgestiegen, Das Bahnpersonal hat nicht so ganz die Übersicht gehabt, wo Niedersachsen aufhört und Sachsen-Anhalt anfängt, dadurch habe ich eine ganz liebe und interessante Künstlerin getroffen (Erkia, S.42). Sie hat mir ihre Ruheoase gezeigt, die sie sich geschaffen hat. Außerdem hat sie mir sehr ausführlich ihre Meinung erzählt, und wir haben gemeinsam einige neue Gedanken angestoßen… Gerade sitze ich im Hasseröder Indoor-Ferienpark mit unheimlich lauter Beschallung (der Hammer nach diesem ruhigem Tag). Es gibt hier einen Internetanschluss und wenn man mal seine Kinder los werden möchte, kann man sie hierher bringen. Sie können zu „Cowboy- und Indianerschlagern“ im Kreis tanzen. So, als nächstes gehe ich zu einem mir empfohlenen Italiener und hoffentlich finde ich bis dahin noch Gesprächspartner am Gartenzaun. Morgen ist mein abendliches Ziel Hessen, und dafür werde ich über den Tag den Harz erkunden und mal nach Thüringen rüber schauen. Ich werde das Innere der Grenze suchen und finden – versprochen.



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Gert in der Harzer Schmalspurbahn von Werningerode nach Nordhausen Nord So… Mit Ton und Bild? Jetzt ist vor allen Dingen erst einmal eine Tonaufnahme dran. Sie kommen woher? Ich komme aus Berlin. Ah, aus Berlin, ach schön. Kommen Sie aus Ostoder Westberlin? Also eigentlich aus dem Süden Berlins, da ich ja noch nie die Trennung zwischen Ost und West gemacht habe. Also ich bin Westberliner, aber ich wohne geografisch im Süden Berlins. Das ist ganz interessant, dass hätte ich Sie nämlich als nächstes gefragt, ob Sie sich mehr als Wessi oder als Ossi sehen. Eigentlich als gelernter Wessi, sag ich immer. Weil ich ja immer alles mitbekommen habe von Kindheit an, vom 17. Juli, Mauerbau, Mauerfall, und das ganze Elend mit den Zonengrenzen. Ist ihnen das bewusst, dass sie heute in der Nähe der ehemaligen Grenze unterwegs sind? Das ist mir durchaus bewusst, ja. Ist das für Sie dieses Jahr Thema, es sind ja jetzt 20 Jahre Mauerfall? Gerade in Berlin sind ja viele Veranstaltungen zu dem Thema. Es ist für mich überhaupt kein Thema. Ganz bewusst nicht? Ganz bewusst nicht. Für mich war das ein ganz normaler Vorgang. Man hat ja nur das Unnormale abgestellt. Deutschland ist ja jetzt seit 20 Jahren wiedervereint, denken Sie, dass der Weg zu diesem Zustand heute, ich denke da ist noch Bewegung, dass da alles richtig gelaufen ist, hätte man Sachen anders machen sollen?

Für mich als Wessi hat es ja keine einschneidenden Maßnahmen gegeben, für mich als Westberliner allerdings, finanzieller Art, es ist einiges weggefallen. Aber ansonsten ist für mich das ein ganz normaler Zustand jetzt. Bewerten Sie das positiv, oder? Nee, das ist positiv! ((Durchsage: Unser Zug erreicht nun den 540 m hoch gelegenen Bahnhof Drei-Anna-Höhe. Fahrgäste zur Weiterfahrt, nach Nordhausen müssen jetzt umsteigen)) Denn ich sagte ja schon vorhin, dieser Zustand war ja etwas Unnormales, was Einmaliges, wenn man von Korea mal absieht, ist das ja was Unnormales, was einem Volk angetan wurde. Und noch etwas zu dem Ablauf hier. Es ist wunderbar, dass das so friedlich abgelaufen ist. Bloß bin ich hinterher der Meinung, man hätte noch mehr Sanktionen machen müssen bei den Leuten, die verantwortlich waren für die Teilung. Danke schön Hach das tut mir aber leid, dass ich das abbrechen musste. Aber wie schon in der Durchsage zu hören war, ich muss hier raus… Ich fahre heute quer durch den ganzen Harz. Die meisten fahren von hier aus aber weiter auf den Brocken hoch. Darum muss ich leider umsteigen.


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Ärztemangel und Grenzbahnhöfe 9. Juli 2009 Heute habe ich mich früh als erstes dazu entschieden, mit meinem Auge zum Arzt zu gehen… Dies war wohl keine so gute Idee im Osten Deutschlands. Denn hier herrscht bekanntlich Ärztemangel, ich habe das voll gespürt, auch wenn der Arzt mir versichert hat, dass ich noch Glück hatte. Ich hatte einen Sitzplatz im Wartezimmer bekommen. Die Leute würden sonst schon auf dem Boden sitzen. Ich hatte auch Glück, da ich nur eine halbe Stunde angestanden habe, um an die Rezeption zu kommen und eine weitere dreiviertel Stunde, um mit dem Arzt zu sprechen. Ich kann also Entwarnung geben für alle Leute, die mich bisher schon auf der Reise gesehen haben… ich bin nicht ansteckend! Heute Abend bin ich wie geplant in Eschwege angekommen. Es ist hier wie auf dem Dorf. Die Jugendherberge ist leer, aber wie es aussieht, teile ich mir trotzdem mit jemandem das Zimmer. Auf meinem Weg bin ich heute mit der Schmalspurbahn durch den Harz gekurvt, was wirklich sehr schön war, aber auch recht kalt. Und weil ich echt etwas verfroren bin und keine Lust habe auf die düstere Herberge habe, überlege ich mir jetzt, was ich heute Abend noch mache… Ach ja Grenzbahnhöfe, die sind alle ziemlich einsam, verlassen und runtergekommen, egal ob auf West- oder Ostseite, und man muss auf ihnen immer mindestens eine Stunde warten bis ein Zug kommt. Und da es dort sehr einsam ist und man kaum Leute trifft, ist es nicht einfach, Gesprächspartner zu finden. Morgen bin ich hauptsächlich in Thüringen unterwegs und will am Abend in Schwarzburg im tiefsten Thüringer Wald einkehren. Am Samstag möchte ich gerne das Mauermuseum in der Nähe von Hof besuchen (S. 78-81).



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Claudia auf dem Bahnhof Eichenberg

Woher kommen Sie denn? Geboren bin ich in Mecklenburg-Vorpommern und aufgewachsen in Sachsen-Anhalt und seit fast sechzehn Jahren lebe ich in Göttingen. Das heißt, es hat Sie rübergezogen? Ganz genau, zwecks Studium. Als ich achtzehn war, bin ich umgezogen. Und bin dann dort hängen geblieben. Ja, das passiert vielen, dass hat ja dann wenig mit Ost und West zu tun. ((wir lachen)) Jetzt ist ja dieses Jahr 20 Jahre Mauerfall, in Berlin wird da ein Menge rundherum veranstaltet, berührt Sie das auch im Privaten, wird darüber gesprochen? Also im Privaten eher nicht, aber da ich ja im Osten arbeite, eigentlich täglich. Wirklich, wieso? Ja. Das wird täglich thematisiert, wie es früher war, wo die Grenze war, wie kontrolliert wurde und so weiter, fast täglich. Das ist ungewöhnlich, die meisten sagen, dass das nicht so eine Rolle spielt. Ja, da wir in der Arbeitsvermittlung arbeiten, wir sind ein privater Bildungsträger, haben wir viele Praktikanten und deswegen arbeiten wir auch häufig mit dem Grenzland-Museum zusammen, und von daher… eigentlich immer. Ja, da ist ja hier eines in der Nähe. Ja, ganz genau. Würden Sie sich eher als Ossi oder als Wessi betrachten oder als Deutscher? Deutscher! Das war schon immer so, damit habe ich überhaupt keine Probleme. Interessanterweise konnte ich beobachten, ich arbeite jetzt sieben Jahre im „Osten“ des Eichfelds ((sie schmunzelt, der Bahnhof, auf dem wir sitzen heißt Eichenberg und der liegt im Westen)), dass die Ostdeutschen mehr über die Westdeutschen herziehen als umgekehrt. Ja? Ja, das ist interessant. Und wie ist das dann bei Ihnen so, denken Sie denn eher negativ über die Ossis? MMhh, die Frage ist interessant, aber leider ist sie sehr beruflich geprägt. Ich hab leider entweder mit Arbeitslosen zu tun, die schon sehr lange arbeitslos sind und dementsprechende Verhaltensweisen an den Tag legen oder mit sehr sehr schwierigen Jugendlichen, straffällige Jugendliche oder auch Drogenkonsumenten, auf jeden Fall läuft nichts in geraden Bahnen. Von daher ist das schwierig zu sagen… nö, also… Nö. ((sie lacht))

Deutschland ist seit 20 Jahren wiedervereinigt, ist das vom Gefühl her alles richtig so? Ich muss ganz ehrlich sagen, aus der DDR-Zeit hab ich auch noch ganz gute Erinnerungen. Wenn ich so zurückdenke, war eigentlich alles schön. Es war alles gut organisiert und es war immer Sommer. Aber ich glaub, das ist typisch Kindheit. ((wir lachen)) Das bleibt so hängen, aber letztendlich, also, als die Wende kam, war ich dreizehn, vierzehn. Das ist sowieso ein Alter, in dem man kritisch wird, es gab ja damals noch dieses Fach Staatsbürgerkunde, Wende hin oder her, der Herr (sie meint den Lehrer)) hat es nicht leicht mit uns gehabt. Wir haben nur kritisch hinterfragt, wie kann das wirtschaftlich überhaupt funktionieren, wenn das so billig verkauft wird? Die ganzen Firmen waren ja subventioniert, nee. Also er hatte kein leichtes Los mit uns, und ich denke, es war ein Akt der Befreiung, also bei allen Sorgen, die wir jetzt haben. Was ich noch sagen wollte, von wegen beruflich geprägter Blick, ich hab das Gefühl, viele Leute haben die Orientierung verloren und fordern eigentlich wieder jemanden, der einem sagt, wo es langgeht, so die führende Hand von oben, aber wie gesagt, ich hab auch mit schwierigen Menschen zu tun. Es gibt ja auch viele Leute, die blühen auf und denen geht es gut. Das heißt, Sie haben schon auch auf jeden Fall davon profitiert? Auf jeden Fall. Haben Sie noch eine Geschichte zu erzählen, damals oder heute, die dieses Ost-, Westgefälle bewusst deutlich macht? Vielleicht auch einen Witz, Ossi - Wessi - Witz? ((Wir lachen)) Das eigentlich nicht, aber als wir das erste Mal rübergefahren sind, wir lebten zehn Kilometer von der Grenze entfernt, also nicht ganz Sperrgebiet, aber ziemlich nahe, als wir das erste Mal rüber gefahren sind, standen ganz viele Westdeutsche an der Grenze und haben uns mit kleinen Geschenken empfangen. Das fand ich total süß. Was war das zum Beispiel? Da war Hanuta drin, kann ich mich noch daran entsinnen. Ich glaube ein Marsriegel, und so ein kleinen Taschenbuch, das man so für 2,90€ kauft. Ich weiß gar nicht mehr, wie die heißen, es war aber glaub ich, ein Jugendbuch, Mystery oder irgendwie so etwas, fand ich ganz süß. Und ich glaube, das waren private Menschen, das war nicht irgendwie öffentlich organisiert, oder so. Ich hab da jetzt keinen geschäftlichen Wagen in Erinnerung. Die standen einfach da, Fenster runtergekurbelt, rein…


Ich muss ganz ehrlich sagen, aus der DDR-Zeit hab ich auch noch ganz gute Erinnerungen. Wenn ich so zurĂźckdenke, war eigentlich alles schĂśn. Es war alles gut organisiert und es war immer Sommer.


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Peter und Florian in Eschwege Die beiden Jungs habe ich auf dem Marktplatz in Eschwege beim Eisessen angesprochen. Ich hatte kaum noch Speicherplatz darum musste das Interview recht kurz werden. Du kommst aus dem Osten und du aus dem Westen? Peter: Ja. Florian: Ja, richtig. Und ihr wohnt beide hier? Peter: Arbeiten hier. Florian: Arbeiten. Arbeiten… Und wo kommt ihr her? Peter: Ich komme aus Halle. Florian: Ich komme aus Bad Karlshafen. Das ist in der Nähe von Kassel. Jetzt ist ja dieses Jahr 20 Jahre Mauerfall, merkt ihr das, ist das Gesprächsthema bei euch? Peter: Oh ja, ja sehr ((nickt ganz heftig)) Florian: Ja! ((nickt auch)) Peter: Ost-Westkonflikt ist bei uns immer noch, also die Mauer ist im Kopf, kann man sagen. Florian: Sogar bei uns im Zimmer… (( Peter schaut ihn an, und sie lachen)) Das heißt, ihr wohnt hier zusammen? Peter: Wir wohnen in einer WG könnte man sagen. Aber es gibt jetzt keine Mauer bei euch quer durch…? Peter: Nein! Peter: Es ist schon klar, dass wir ein gesamtes Deutschland sind. Dann würde ich doch mal fragen, seht ihr euch eher als Wessis, als Ossis oder als Deutsche? Peter ((mit breitem Dialekt)): Also ich fühl’ mich eher als Ossi. Echt? O.K. Florian: ((dreht seinen Kopf etwas von Peter weg)) Wie oft hab ich schon gesagt, du sollst so was nicht sagen. ((alle lachen)) Peter: Das ist aber so. ((zuckt mit den Schultern und grinst ganz breit)). Florian: Er sagt auch immer, er ist ein DDR-Bürger. Peter: ((stupst seinen Ellenbogen in Florian)) Los mach! Florian: Ja, ich fühl mich mehr als Deutscher. Ja? O.K. Und warum fühlst du dich mehr als Ossi? Peter: Weiß nicht, weil ich im Osten geboren wurde und von meinen Eltern so erzogen wurde. Florian: Du hast von dem gar nichts erlebt. ((dreht wieder seinen Kopf weg)) Peter: Halt die Klappe! Florian: Du hast gar nichts miterlebt. Peter: Doch! ((Beide schauen auf ihr Eis und fangen an zu grinsen)). Peter: Das war meine Frage. Wenn du sagst,dass du damit aufgewachsen bist, möchtest du dann, dass das wieder zurück- oder…? Peter: Nö, ich bin schon mit Gesamt-Deutschland zufrieden. Es ist nur so durch die Erziehung, da hieß es immer im Osten, im Osten, im Osten. Da ist das einfach hängen geblieben, darum ist das als Gewohnheit hängen geblieben, denk ich mal. Denkt ihr, dass das richtig so gelaufen ist mit der

Wiedervereinigung, oder hätte man Sachen besser machen können? ((die Jungs schauen sich an, Peter nickt Florian zu, beide grinsen.)) Florian: Es war alles ein bisschen überstürzt, so denke ich mal, aber ich hab jetzt auch nicht das fundierte geschichtliche Wissen, aber ich denke das war schon gut so. Peter: Da schließe ich mich deinen Worten an. Florian: Boah, das hast du gerade ersthaft… Also ihr hätte keine Sachen anders gemacht? Peter: Nö, war schon so ok, im Endeffekt ist es eh egal. Jetzt kommt ihr ja beide ein bisschen von außerhalb, und hier in Eschwege kann man ja praktisch auf die ehemalige Innerdeutsche Grenze raufschauen, merkt man das im Ort? Wisst ihr, ob das eine Rolle gespielt hat in der Geschichte. Peter: Wissen schon, aber merken, nö. Florian: Bei Bad Sooden-Allendorf ist das doch, wo die genau in der Mitte verlief. ((Peter schaut ihn stirnrunzelnd hat an.)) Florian: Bad Sooden… Peter: Ja? Ja! Florian: Da war Sooden auf der einen und Allendorf auf der anderen Seite. Dass die noch Konflikte mit einander haben…. Die haben immer noch Konflikte? Florian: Glaube ich. So genau weiß ich das auch nicht. Peter: Ich auch nicht, ich geh’ da bloss baden. ((räuspern sich beide)) Peter: Sehr zu empfehlen. Da gibt es ja auch ein Grenzmuseum wisst ihr das? ((beide nicken)) Wart ihr da schon mal? Beide: Nee. Peter: Öh, wir können doch etwas erfinden. ((wir lachen alle drei)) Nein, authentisch! Peter: OK, ((ganz strenges Gesicht)) Nein, keine Ahnung. Jetzt noch so zum Abschluss. Ist das für euch jetzt eher positiv oder negativ mit der Wiedervereinigung und dem Mauerfall? Peter: Ich find es positiv. Florian: Ja. Peter Ja. Ja? Florian: Ja Peter: Ja… ich bin zufrieden Florian: Wundervoll. ((Peter lacht)) Peter: Unfassbar. Florian: Ja. Peter und Florian machen beide eine Ausbildung bei der Bundespolizei in Eschwege. Nach dem kurzen Gespräch haben sie mich noch auf ein Bier in eine total uhrige Kneipe eingeladen, und die beiden haben mich noch zur Jugenherberge zurück gefahren. Das war so lustig und ich hoffe jeder versteht, dass das nicht ganz ernst war.

¬ Bad Sooden-Allendorf

Die kleine Stadt war leider nie selbst geteilt, sondern liegt nur in direkter Nähe zur ehemaligen Innerdeutschen Grenze. Das Grenzmuseum „Schifflersgrund“ liegt aber in direkter Nähe zur Gemeinde und zur Stadt Eschwege. www.grenzmuseum.de


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Astrit und Inge in Eschwege

Die beiden Damen vom Verkehrsverbund treffe ich morgens in Eschwege im Kundenbüro. Zuerst wollte Astrid nicht, dass ich sie zu diesem Thema befrage und das Gespräch auch noch aufzeichne. Ich denke, dass das nichts mit einer Scheu vor Interviews zu tun hat, sondern schon speziell mit diesem Thema zusammenhing. Zuerst ist sie deutlich mehrere Schritte zurück gegangen, um dann aber während des Gesprächs wieder näher heranzukommen und habt mir auch über das Interview hinaus auch noch ein bischen was erzählt..


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Astrid: … Ost und West vereint, das passt ja bei uns sogar. Ja? ((schauen sich beide an)) Ja. Würden Sie noch ein kleines bisschen näher kommen, damit die Sprachaufnahme sicher gestellt ist, damit das funktioniert? Astrid: Müssen wir jetzt ein Interview geben? Ja…?! Astrid: Nein, nein. Ach, bitte nicht. Och bitte. Ich bin ja kein Soziologiestudent, ich sammle ja keine Fakten, um die dann wissenschaftlich auszuwerten, sondern nur Stimmungsbilder. Das heißt, je lockerer es ist, um so besser. ((lange Pause, mit einem etwas gequälten Blick von Astrid)) Inge: Was haben Sie denn erst einmal für eine Frage? Wo kommen Sie denn her? Kommen Sie aus dem Osten oder kommen Sie aus dem Westen? Inge: Ich komme aus dem Westen. Astrid: Ich komme aus dem Osten. Ah, ok und Sie wohnen beide in Eschwege? Astrid: Ja. Inge: Ja, in Reichensachsen. Das ist aber auf der Westseite dann? Inge: Ja Würden Sie sich als Ossi oder als Wessi bezeichnen? Inge: Ich mach da eigentlich gar keine Unterschied mehr. Machen Sie keinen mehr? Inge: Nein. Und wie ist das bei Ihnen? ((Ich schaue zu Astrid)) Astrid: Vierundzwanzig Jahre da, Zwanzig Jahre hier. Pfff. ((Schulterzucken)) Neutral, mittlerweile. Mittlerweile. Astrid: Ja. Hat es ein bisschen gedauert für Sie? Astrid: Ja. Sie wohnen ja in Eschwege, das ist ja gerade so im Westen, direkt an der Grenze. Wie ist es denn dazu gekommen, dass Sie jetzt hier wohnen? Astrid: Ich habe Verwandschaft hier. War das auch schon so als die Mauer noch stand, dass ein Teil der Familie direkt an der Grenze lebte…? Astrid: Ja. Das heißt, das hatte schon große Auswirkungen, persönlich auf Sie gehabt? Astrid: Ja, absolut. Der eine Teil der Familie war hier und wirklich auch so grenznah. Das heißt, Sie haben dann auch im Sperrgebiet gewohnt? Astrid: Genau. Ist die Westverwandschaft dann schon zu Ihnen rüber gependelt oder nicht? Astrid: Die durften ja nicht ins Sperrgebiet, wir mussten uns dann immer woanders treffen. Aber ein-, zweimal im Jahr kamen sie schon hierher. Also in den Osten. ((sie lacht)) Ich sag hierher… in den Osten natürlich. Ist immer schwierig mit „hier drüben“, früher war das Drüben hier und umgekehrt. Genau, das ist echt schwierig. Astrid: Das ist echt schwierig! Auch der Grenzverlauf scheint gar nicht so klar zu sein, wenn man die Menschen fragt. So, jetzt gehen wir doch mal in die heutige Zeit. Jetzt ist ja dieses Jahr offiziell 20 Jahre Mauerfall. Und in

manchen Städten, gerade in Berlin, wird das sehr ausführlich begangen, mit viel Ausstellungen und Trara. Ist das für Sie ein Gesprächsthema, im Privaten und der Familie? Ist das wichtig? Inge: Nein, eigentlich nicht. Astrid: Nicht politisch. Genau, sagen wir mal im Privaten eigentlich immer, weil es immer eine große Aktion damals war als wir weggegangen sind. Wir sind ja den Weg über Ungarn. ((Astrid ist 1989 mit ihrer Familie über Ungarn ausgereist aus der ehemaligen DDR)) Das ist jetzt gerade wieder Thema, weil klar, es ist ja jetzt 20 Jahre her. Aber nur familiär und privat, nicht im ganz Großen. Jetzt hat mir gestern im Bus jemand gezeigt, da oben auf dem Berg da lief die Grenze. Ist das In Eschwege noch irgendwie zu merken, war das früher Thema, wir sind direkt an der Grenze? Wir sind Grenzgebiet? Inge: Nein, das hat man hier auch eigentlich gar nicht gemerkt. Gut, ich bin früher auch öfter mal rüber, weil wir da Verwandschaft hatten, in Heierode. Wir sind in Herleshausen über die Grenze gefahren. Da gab es eigentlich auch keine Probleme oder irgend etwas. Das wir so grenznah gewohnt haben, das hat man eigentlich nicht so gemerkt. Man ist damit aufgewachsen, sag ich mal. Astrid: Ich denke auch, wir sind hier reingeboren. Ich weiß immer noch, wir wohnten, direkt, also so 100 Meter oder etwas mehr, vom Grenzzaun entfernt. Da bin ich geboren. Für mich war klar, da ist die Grenze, da ist irgendein Schluss. Aber es war nie die Frage: Wieso? Weshalb? Warum? Es war einfach so. Wenn man da reingeboren wird, ist es einfach so. Das erste Mal ist mir dieser ganze Wahnsinn bewusst geworden vor 20 Jahren. Das war noch vor Grenzöffnung, da war das ja mit dem Besuchsrecht schon etwas gelockert, da war ich das erste Mal hier in Eschwege bei meiner Verwandschaft, weil meine Tante 60 geworden ist. Und da hat mein Onkel mit uns so eine Fahrt am Grenzverlauf gemacht, aber von hiesiger Seite. Und da ist mir das erste Mal dieser Wahnsinn so richtig bewusst geworden, ob man es glaubt oder nicht. Obwohl ich bis dato 24 Jahre an der Grenze gewohnt habe. Wir sind dann nach Kella. Ich weiß nicht, ob das Ihnen etwas sagt. Nein. Kella ist Ostseite. Direkt von Westen hier konnte man in den Wald, hinter dem Dorf, und da konnte man sogar die Leute sprechen hören, so dicht konnte man da ran an den Zaun. Man konnte die Leute sehen, ich kannte die ja, die ich da gesehen habe. Ich habe die gehört, ((Stimme verändert sich ganz leicht)) aber der Zaun war da. Und da war mir das erste Mal in meinem ganzen Leben bewusst, was das für ein Wahnsinn war. Die Grenze war immer da, ich hab die immer gesehen. Ich hab als Kind immer wieder gefragt, was ist denn dahinter. Da haben sie immer gesagt, da ist Kassel. Und dann war das gut. Da darfst du nicht hin, da waren auch immer Hunde, da war… ja. Das war für mich immer so wie für ein Kind, das gesagt bekommt, es darf nicht an den Ofen fassen, weil es heiß ist, oder so. Das war einfach so. Es gab immer Aufregung, wenn jemand nach irgend welchen Festen, Feierlichkeiten mal über die Grenze gestiegen ist, da gab es immer großen Tumult, aber ansonsten hat mich das… das war einfach so. Das war so…

Astrid: Ja, das war so… Und jetzt 20 Jahre danach, denken Sie, dass im Zuge der Wiedervereinigung alles richtig verlaufen ist, hätten Sachen anders gemacht werden können, oder sollen? ((lange Pause)) Inge: ((ganz leise)) anders gemacht…? ((lange Pause)) Oder ist alles gut, so wie es jetzt ist? Inge: Es ist nie gut so, wie es jetzt ist, was hätte jetzt anders gemacht werden sollen. Kommt darauf an, auf was Sie jetzt hinauswollen. Manche auf meiner Tour haben angebracht, dass sie fanden, der Aufbau Ost ist nicht richtig verlaufen, es wurde an falschen Stellen investiert… ((eine Kundin kommt rein, ich warte erst einmal)) Inge: Gut, dass weiß ich jetzt nicht, wo was investiert worden ist, da kann ich jetzt nichts dazu sagen. Aber das macht ja auch nichts. Astrid: Ich denke einfach… Inge: Moment, es geht gleich weiter. Astrid: Ich denke einfach, dass Vieles im Osten nicht schlecht war, gerade was so Familien und Kinder anbelangt. Die Kinderbetreuung war super. Familie und Arbeit, Frau und Arbeit, das konnte man immer gut unter einen Hut bringen, weil das mit der Kinderversorgung geregelt war. Das Schulsystem fand ich… besser. Ich weiß nicht, das wurde irgendwie alles platt gemacht und mittlerweile fällt doch auf, dass es gar nicht so schlecht war. Und jetzt wird so getan als, ob das alles neu erfunden wird. Wenn man so darüber diskutiert, was eventuell wieder eingeführt werden soll, so Kindergrippen, Ganztagsbetreuung und Schulen. Das haben wir alles gehabt, das gab es doch schon. Das ist keine neue Erfindung. Und es hat eigentlich alles wunderbar funktioniert. Obwohl ich jetzt keine Verfechter bin von Kindern, die was weiß ich wieviele Monate in die Kindergrippe gingen, also das habe ich am eigenen Leibe verspürt. Aber das ist nichts, was jetzt neu erfunden werden muss. Man hat uns damals gesagt, dass das alles schlecht war. Das war alles nicht gut, das wird jetzt alles diskutiert. Oder dass die Kinder sich erst in der achten Klasse entscheiden müssen, ob sie auf das Gymnasium gehen, das war alles gar nicht schlecht, meiner Meinung nach. Auch dieses Durcheinander im Schulsystem, dass jeder irgendwie versucht… Kein Wunder, dass wir in der PISA- Studie schlecht abschneiden. Es gibt kein richtiges Konzept mehr, ist meine Meinung. Ich bin im Osten zur Schule gegangen und das, was ich aus meiner Schulzeit weiß, das Wissen, was mir damals vermittelt wurde, das ist heute noch präsent. Bei meinen Kindern, muss ich sagen, was die letztes Jahr hatten, das ist weg. Und das liegt bestimmt nicht an der Blödheit meiner Kinder. Jeder wurschtelt hier rum, in der Schule macht das jeder Lehrer anders, wenn hier jemand wegziehen muss in ein anderes Bundesland, da hat man gar keine Chance mehr, weil jeder sein eigenes Süppchen kocht, verstehe ich nicht. Das war früher besser! Das war auf jeden Fall besser. Das ist das, was mir zu dem Thema einfällt, weil, da hab ich auch wirklich den Vergleich, wie es war und wie es jetzt ist. Danke schön.


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Ist immer schwierig mit „hier drüben“, früher war das Drüben hier und umgekehrt.


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Hartmut in Eschwege

¬ A44

Seit 80 Jahren soll die Autobahn die bei Aachen beginnt, fertig gestellt werden, doch Krieg und Geldmangel sowie Deutsche Teilung machten die noch fehlende Stecke zwischen Eisenach und Kassel, lange für Straßenplaner uninteressant. Kurz vor Hessen ist die Autobahn exakt gerade geschnitten und hatte herausnehmbare Leitplanken, um zur Not als provisorische Landebahn im Verteidigungsfall gegen die Sowjets fungieren zu können. Doch die letzten 60 km werden einfach nicht fertig. Dieses Jahr hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die Autobahn nun bis 2016 fertig gestellt werden soll. Der Werra-Meißner-Kreis wird voraussichtlich bis 2020 die größte Abwanderungsrate in Deutschland haben. Aus diesem Grund könnte die Autobahn wirtschaftlich gesehen für die Region sehr wichtig werden. Umweltschützer und Anwohner sind besorgt um die Naturlandschaft in diesemGebiet, weshalb wird der Weiterbau immer wieder durch Klagen verzögertwird. Auch der Nutzen für die Region wird angezweifelt.

Woher kommen Sie denn? Ich komme aus Eschwege. Das ist ja ziemlich genau an der Grenze. Ziemlich grenznah, ja. Wohnen Sie da schon immer? Ne, Ich wohne hier in Eschwege seit 15 Jahren, früher in Kassel. Und das ist wo? Kassel ist 50 Kilometer von hier. Stimmt Kassel… Jetzt ist dieses Jahr 20 Jahre Mauerfall, ist Ihnen das bewusst? Hab ich mich gerade vorhin unterhalten, mit Leuten, die aus der ehemaligen DDR waren. Und da haben wir drüber gesprochen. Es kommt einem eigentlich so vor, als ob das gerade mal nicht so passiert ist ((???? ich glaube er meint als wenn es gerade erst passiert ist, oder)) Ja? Als Sie nach Eschwege gezogen sind vor ungefähr 15 Jahren, war Ihnen das bewusst, dass Sie da ins Grenzgebiet ziehen? Ja gut, aber da war die Grenze schon offen. Das stimmt, ja. Aber das hat eigentlich keine Bedeutung. Sehen Sie sich eher als Deutscher oder als Wessi? Ich bin ganz normaler Deutscher, wie alle. ((ich lache)) Ob Wessi oder Ossi, wir sind alle Deutsche. Das stimmt. 20 Jahre Mauerfall, Sie haben gesagt, Sie haben sich vorhin mit den Leuten darüber unterhalten, spielt das auch eine Rolle bei ihnen? Zuhause in der Familie? Eigentlich weniger jetzt, ab und an fällt mal ein Wort darüber. Aber eigentlich ist das Normalität geworden. Denken Sie, dass im Zuge der Wiedervereinigung alles richtig gelaufen ist? Wurde alles so richtig gemacht? Hätte man Sachen besser machen können? Na ja, ich denke in manchen Regionen hier hat man den Westen vergessen. Wollen Sie mir darüber etwas erzählen? Ach naja gut, was soll ich da erzählen. Ich glaube, allein arbeitsmässig, muss ich ehrlich sagen, ist das oben wesentlich schlechter geworden, anstatt besser, weil viele Firmen sich mehr in Osten ansiedeln. Der Werra-Meißner-Kreis hat die Wende, ich will nicht sagen verschlafen, da ist der ganze Staat daran Schuld. Das sieht man heute noch an der Autobahn, die gebaut werden soll, die A44, die gebaut werden soll, praktisch vom Westen in den Osten. Und wie viele Kilometer sind gebaut von der Autobahn, drei oder vier Kilometer in 20 Jahren! Bis die mal fertig ist, ich glaube… das fehlt, auch der Region hier, dem Werra-Meißner-Kreis. Können Sie mir noch eine kleine Geschichte erzählen, eine kleine Begebenheit, bei der sie sagen dass ist für sie so richtig typisch West oder Ost. Oder eine Situation, in der Sie ein Ungleichgewicht richtig wahr genommen haben? Was heißt direkt Geschichte…. Also ich muss feststellen, zum Beispiel, was ich so festgestellt hab, persönlich, im Eschweger Raum gibt es ja nun auch so Kaufhäuser und, und, und dort kommt immer mehr der Dialekt von den Thüringern durch. Als wenn die Westdeutschen nicht arbeiten wollen. So hört sich das hier im Eschweger Raum an. Sind die vielleicht weggezogen? Wer? Die Eschweger. Das glaub ich nicht, nee. Weiß ich auch nicht,

wahrscheinlich sind das billigere Arbeitskräfte, geh ich mal davon aus. Könnte sein, ja Es könnte nicht so sein, es ist so. Es wird wahrscheinlich so sein, zum Teil sind die Lebenshaltungskosten noch etwas günstiger in den Neuen Bundesländern. Ja, stellenweise. Ja, gut, aber die Preise werden auch langsam anziehen. Am Anfang konnten die hier noch locker die Stunde für fünf oder sechs DM arbeiten. Da waren die Mieten drüben noch billig, aber das hat sich natürlich jetzt ein bisschen umgewandelt. Die Mieten sind ja nun auch teurer. Aber ich glaube, die arbeiten immer noch für weniger als ein Westdeutscher. Sagen leichter „Ja“ zu allem. Haben Sie noch andere Unterschiede feststellen können? Wenn Sie sagen, dass die leichter ja sagen, gibt es da noch andere Unterschiede, woran merkt man das? Also das kommt drauf an. Also ich, rein menschlich, muss sagen, ich hab mit den Leuten keine Probleme, die sind wie du und ich. Ich mach mein Ding, auf dieser Seite, was die nun zu Hause machen, womit die zufrieden sind, das kann ich schlecht beantworten. Gut! Danke schön. Gut. (( er grinst))


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Udo aus Minden Udo habe ich getroffen als ich es endlich aus Eschwege raus geschafft hatte. Mit ihm habe ich mich nett unterhalten, aber wenn ich das Interview mit jetzt so anschaue, dann habe ich vermutlich auch mal ausführlich mit Jemanden Reden wollen und nicht immer nur Zuhören wollen. Darum habe ich wohl mehr geredet wie Udo. Warten Sie auch auf den 41er? Ich überlege, ob ich nach Eisenach oder Bebra fahre. Ja, kommt drauf an wohin man will. Ja, hahaha. Wieso, was machen Sie denn? Ich hab bisher eine Radtour gemacht, aber bei dem Wetter hab ich keine Lust mehr. Und dann wollte ich Richtung Göttingen fahren, und da ist Bebra ja besser… Das stimmt. Was machen Sie denn für eine Tour? Ich mache gerade eine Woche lang eine Tour entlang der ehemaligen Innerdeutschen Grenze. Ach, das ist ja interessant. Wandern? Oder…? Öffentliche Verkehrsmittel. Mit einer Woche Zeit geht das ja gar nicht anders. Ah, wenn es komplett sein soll. Genau. Ist ja auch eine harte Sache. Ja, schon. ((das hab ich aber mit einem Lachen gesagt)) Mit Bus und Bahn. Und wo los? In Travemünde? Ja. Ich bin am Montag losgefahren. Ich wohne bei Heidelberg, von da aus bin ich nach Lübeck gefahren und von da aus nach Travemünde. Und seit dem immer in den Süden, heute schwenke ich jetzt nach Osten. Ich hatte das eigentlich auch in Erwägung gezogen, da entlang zu fahren. Das sind 1400 Kilometer, wenn man die Grenze ganz genau nimmt. Ja gut, das kann man aber in Wochen schaffen. () …ich komme ja eigentlich aus dem „Osten“ und wohne seit ’94 in der Region um Heidelberg, geboren bin ich in Görlitz. Ich kann Ihnen auch einmal mein Projekttütchen geben, denn wir warten hier ja noch beide Ewigkeiten bis der Zug hier weiter geht. Joa… Kann ich das behalten? Natürlich, das hab ich Ihnen jetzt geschenkt. Schön, danke. Dann kann ich Sie vielleicht dafür gewinnen, mir noch zwei, drei Fragen zu dem Thema zu beantworten? Das mache ich nämlich auch, ich mache Fotos und befrage Leute auf der ganzen Stecke. Ja, das ist kein Problem. Das heißt, Sie machen keine Tour „Just for Fun“? Nee, da würde ich das wesentlich entspannter machen und mich nicht die ganze Zeit in Zügen aufhalten. Das ist manchmal schon schade. Ich komm abends in den Jugendherbergen an und da ist oft ja gar nichts mehr los. Dann muss man Morgens gleich wieder los. Heute hatte ich etwas Pech, ich hing zwei Stunden in Eschwege fest.

Da war leider auch nicht viel los. Und kalt und nass war es. Ich studiere Kommunikationsdesign und mache diese Tour, um Material zu sammeln. Mein Ziel ist es, ein kleines Buch zu machen, um darin alle Sachen, die ich die Woche sammle, zu zeigen und darüber zu berichten. Es geht mir darum, es ist dieses Jahr 20 Jahre Mauerfall und in Berlin und in anderen Städten wird viel zu diesem Jahrestag veranstaltet. Ich suche ein Stimmungsbild, was denken die Leute, direkt an der Grenze. Joa, das hört sich gut an. Gerade der Grenzbereich… es war ja auf beiden Seiten Zonengrenzgebiet, so wie das damals hieß. ((jetzt hole ich den ipod raus und sehe, dass er schon läuft und lass ihn weiterlaufen…)) Auf der Ostseite war richtig Sperrgebiet. Das war richtig Sperrgebiet, und im Westen war es so… naja so eine Randregion, so unterbelichtet, irgendwie. Da war es eben zu Ende. Da ging man weg, da fand man keine Arbeit, oder jedenfalls nicht viel. Ja auf der Ostseite ist es schon sehr verschlafen, man sieht das auch richtig, die Grenzbahnhöfe, dass da mal richtig was gewesen ist, gerade durch die Bewachungsanlagen und die Truppenbelegungen war da richtig viel los. Heute ist da tote Hose und die Leute ziehen weg. Obwohl ich rein vom Arbeitsmarkt her das Gefühl habe, dass es direkt an der Grenze besser ist als weiter in den Neuen Bundesländern. Echt? Ja, das sagen die Leute auch selber. Naja, bei mir sind das ja nur Vermutungen, Sie haben sich ja jetzt damit beschäftigt. Ja, ich habe mich auch auf die Reise begeben, weil auf Reisen man die Dinge anders sieht, man reflektiert die Dinge anders als aus seiner gewohnten Position heraus. Und ich versuche auch mit Reisenden in Kontakt zu kommen, denen es genauso geht. Und dieses Gefühl wollte ich mit der Wiedervereinigung gleichsetzen. Es ist zwar 20 Jahre Mauerfall dieses Jahr, aber der Zusammenschluss ist ja auch noch nicht vollzogen sondern ist ein fortlaufender Prozess, wie auf einer Reise. Am 9. November wird es keinen Glockenschlag geben und Ost und West sind dann völlig gleich. Im Moment gibt es diese Unterschiede noch. Aber diese Unterschiede wird es, glaube ich, immer geben. Wenn ich jetzt alleine bedenke, wenn ich als Norddeutscher nach Bayern fahre, dann bin ich eigentlich immer noch ein Saupreuß. ((ich lache)) Wo kommen Sie denn genau her? Aus Minden. Das kenne ich! Würden Sie sich jetzt eher als Deutscher oder als Westdeutscher bezeichnen. Als Deutscher, meine Mutter kommt aus Halle an

der Saale. Also während der Teilung hab ich immer Kontakt gehabt in die DDR. Mir sind auch so einige Denkweisen der Menschen bekannt, die in der DDR gelebt haben, in den Neuen Bundesländern. Das ist auch schon so eine Sache, dass man nach einem Ausdruck sucht. Das ist schon komisch. Durch meine Verwandten, die ich immer besucht habe, kenne ich einige Denkweisen, die andere Westdeutsche überhaupt nicht kennen. Können Sie das nachvollziehen? Also diese Denkweisen, selbst wenn Sie sie nicht befürworten? Joa, ja. Doch. Jetzt kommt ja so ein DDR-Hype, so was. Das Nostalgie-Ding, ja. ((er lacht)) Ja. Ich weiß, was Sie meinen. Das ist ein bisschen komisch, aber auch verständlich. ((lange Pause)) Naja. Denken Sie, dass das alles richtig war, wie die Wiedervereinigung abgelaufen ist? Das hätte man langsamer und gründlicher machen können. Besser vorbereiten können. Was mich damals sehr gestört hat war, dass man funktionierende Ostbetriebe einfach hat untergehen lassen. Statt denen auf die Beine zu helfen, das Geld ausländischen Investoren einfach so in den Rachen zu werfen, die dann ein paar Jahre dafür gesorgt haben, das es weiter geht und dann waren die Betriebe weg. Und die Leute sind heute arbeitslos. Das hätte man alles anders machen können. Aber naja. Kann man ja eh nicht mehr ändern. Ne, das stimmt. Was ist denn das? Das ist mein iPod, den hab ich zum Diktiergerät umfunktioniert. Und Sie nehmen uns gerade auf…? Genau. Da müssen Sie ja vorher fragen, nicht? Ich nehme das auf um es abzuschreiben und würde Sie auch fragen ob ich ein Foto von ihnen machen kann. Ich hab dann noch ein Schreiben vorbereitet, damit Sie sehen, dass ich damit keinen Unfug anstelle und Sie bekommen auch einen Beleg von mir. Das trau ich Ihnen auch nicht zu, dass Sie damit Unfug anstellen. Ist das jetzt auch drauf? Ja. Das ist aber nicht schlimm.


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Schwarzburg im Thüringer Wald 10. Juli 2009 Im Thüringer Wald habe ich mich wirklich wohl gefühlt. Mir war gar nicht bewusst, dass Schwarzburg so abgelegen ist. Schwarzburg ist ein inzwischen sehr verschlafenes kleines Dörfchen, in einer beeindruckenden Berglandschaft mit einer malerischen Burg auf einem steilen Berg. Rundherum ist alles ganz dick bewaldet, was total schön ist. Ich hab den ganzen Tag Jagdhörner im Kopf gehört und röhrende Hirsche hinter jedem Baum vermutet. Ich bin dann auch spontan die lange Route zur Jugendherberge durch den Wald gelaufen. Abends habe ich dann mein ganzes Geld zusammen gezählt und bin eine super leckere Forelle essen gegangen, mit einer Kruste… toll. Die wurde, glaube ich dort im Tal gefangen, der Wirt hat nämlich sehr viel übers Angeln und „sehr, sehr große Fische“ erzählt. Auf der Suche dem einem schönen Restaurant habe ich einen Mann auf der Straße angesprochen, der vor seinem kleinen Elektrowaren-Geschäft den Ort im Auge behalten hat. Er erzählte mir, dass Schwarzburg früher ein sehr beliebter Ferienort war. Auf dem Gelände der Jugendherberge standen wohl ganz viele Bungalows, und es waren im Sommer um die 3000 Gäste da. Heute sagt er, sind es gerade mal 300. Aber die ganzen Hotels stehen noch und an fast jeden Haus steht ein Schild, das auf Ferienwohnungen und Zimmervermietung hinweist. Der Ort ist auf jeden Fall genau das Richtige, um mal alles hinter sich zu lassen. Kaum Handyempfang, dreimal am Tag ein Bus, kein Geldautomat, dafür Wald und Wanderwege und die Schwarza, die sich durchs Tal schlängelt und röhrende Hirsche und Jagdhörner im Kopf. Aber ich musste dann auch am nächsten Tag echt früh aufstehen, da mir über die Hotline der Deutschen Bahn gesagt wurde, dass ich sonst erst wieder gegen Mittag aus dem Ort wegkomme, und dann hätte es ca. 5 Stunden bis zum Museum Deutsch Deutschen Museum gedauert.



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Panzer hinter Glascontainern 11. Juli 2009 Gestern konnte ich mich ja leider nicht melden, da ich wirklich im tiefsten, tiefsten Thüringer Wald war, und es dort nicht einmal einen Geldautomaten gab… Heute bin ich dann in Plauen gelandet, von wo es morgen wieder nach Hause geht. Ich habe heute das Deutsch-Deutsche Museum bei Töpen besucht. Das war vielleicht ein Ding, da heute hinzukommen. Erstmal musste ich heute morgen sehr früh aufstehen, damit ich nicht im Schwarzatal hängen bleibe. Dann bin ich in einer großzügigen Schleife über Bayreuth nach Hof gefahren, da ich einfach nicht herausfinden konnte wie es weiter geht, bin ich von dort mit dem Taxi (ja Taxi, Studenten haben es auch so dicke) zum Museum gefahren und dann weiter getrampt. Das Museum war wirklich interessant gewesen. Aber ich muss es jetzt erst einmal auf mich wirken lassen… Auf dem Parkplatz standen ein Hubschrauber und ein Panzer (hinter Glascontainern) und es alles wirkte so … nett. Der Gegensatz war dann aber die Ausstellung. Die Geschichte des Ortes ist schon beeindruckend und der Wahnsinn der Trennung wird da sehr deutlich. Das muss ich erst einmal auf mich wirken, darum erzähl ich später wie das so war (S.80–83). In Eschwege habe ich noch einige Leute interviewen können. Zwei davon waren Flo und Peter (S.66), die waren total lustig und haben mich zu einem Bier eingeladen und zurück zur Jugendherberge gefahren. Die Jugendherberge selber war schon komisch. Es kam nämlich erst mal nur braunes Wasser aus dem Duschkopf… Ich hatte auch keinen Schlüssel zum Zimmer, weil vielleicht noch jemand kommen könnte. Darum konnte ich das Zimmer nicht abschließen. Dabei war ich der einzige Gast, in dem Teil des Hauses. Aber egal, am nächsten Tag hab ich leider den Anschluss aus Eschwege nicht bekommen. Also musst ich mit dem Bus ziemlich umständlich zum nächsten Bahnhof fahren. Und es hat so geregnet und war so kalt. Meine Socken sind über Nacht nicht trocken geworden, weswegen ich barfuß in den Schuhen rumgelaufen bin. Am nächsten Tag bin ich nach Schwarzburg gefahren. Darüber habe schon berichtet Jetzt bin in Plauen, und hier ist es recht schön, muss ich sagen. Hier ist auch ein Mobil unterwegs, ein Ausstellungsbus, mit dem Thema „1989 [Unser Aufbruch] 2009“, total gut gemacht. Da werde ich mich morgen Vormittag noch einmal postieren, um eventuelle Interviewpartner zu treffen. Die beiden, die das Mobil hier in Plauen betreuen, habe ich auch schon interviewt (S.84).


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¬ „Little Berlin“-Mödlareuth

So nannten die Amerikaner den kleinen Ort an der Tannbach, der durch die Deutsche Teilung getrennt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete der kleine Bach in der Mitte des Ortes die Demarkationslinie zwischen der Sowjetischen Besatzungszone und der amerikanischen Zone. Nach 1949 gehörte der eine Teil zu Bayern und der andere zum Staat Thüringen und somit zu einem Teil zur DDR und der andere zur Bundesrepublik. 1952 wurde ein übermannshoher Bretterzaun durch den Ort gebaut. 1966 wurde der durch eine 700 Meter lange Bentonmauer ersetzt. Diese war genau wie die in Berlin 3,40 Meter hoch und teilte Mödlareuth 37 Jahre lang. 1989 wurde im Dezember eine Möglichkeit für Fußgänger geschaffen. Ein Teilabriss im Juni 1990 stellte die Geburtsstunde des Museums dar, denn man beschloss den Rest als Mahnmal, Gedenkstätte und Museum stehen zu lassen.

Das Deutsch Deutsche Museum in Mödlareuth Das Museum hatte schon eine spezielle Wirkung auf mich gehabt, wie schon im vorherigen Text zu lesen war. Es war dort alles sehr nett gestaltet gewesen, obwohl in dem Film zu sehen war, dass dies während der DDR-Zeit nicht der Fall gewesen ist. Ich denke aber, dass die Wirkung des Museums auf mich vor allem auf meine Irritation zurückzuführen ist. Darüber, dass ich das Gefühl hatte, es wurde verfälscht. Ich weiß nicht inwiefern die Dinge, die man da noch sieht, nach der Wende so belassen wurden, oder ob man erst später beschlossen hat die Türme und Anlagen zu nutzen, um ein Museum draus zu machen. Vielleicht wurden einige der Dinge erst später wieder an diese Stelle geräumt, denn es wirkte auf mich alles etwas unecht. Es erscheint mir einfach unrealistisch, dass die Mauer so malerisch weiß war, und sie sich so gut in die schönen sanft geschwungenen grünen Wiesen geschmiegt hat. Natürlich ist es gut, zu sehen, dass es der Ort trotz der Mauer, geschafft hat, das bedrückende Kostüm zu zerschneiden und das Eingesperrtsein abzulegen, so dass man sich nicht mehr bedroht fühlt. Aber für mich ließ sich der Schrecken, den ein so getrennter Ort besessen haben muss, nicht richtig nachvollziehen.



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Anekdote aus dem Museum Wenn man in das Mauermuseum geht, wird einem zuerst ein Film gezeigt, der den Alltag an der Mauer verdeutlicht. In dem Vorführungsraum steht eine Couch. Und wie ihr sehen könnt keine ganz gewöhnliche. Die Couch steht dort eher nebenbei drin, am Rand. So nebenbei, das eine Frau, die vor mir saß, sich zu ihrer Begleitung wandte und meinte: „Ob die wirklich solche Couchen da hatten“. Ich musste da spontan Auflachen und habe ganz deutlich zu ihr gesagt, dass das Quatsch ist, und die sich niemals auf ihre Fahne gesetzt hätten. Die Frau war von meinem plötzlichen Einwand vermutlich nicht so angetan, schaute mich irritiert an und sagte dann zu ihrer Begleitung gewandt: „Man weiß ja nicht, wie das da so war…“ Ich könnte jetzt Vermutungen darüber anstellen, woher die Frau gekommen ist und ob sie das wirklich so gemeint hat… aber ein Detail will ich noch anmerken, die Couch stand im Westteil des kleinen Ortes. Ich fand das irgendwie erschreckend naiv, belustigend und beleidigend zugleich. Ich kann aber sagen, das außer ein paar flachen Witzen unter Bekannten ich in keiner Form darauf gestoßen bin, dass sich die Wessis und die Ossis gegenseitig nicht leiden können.


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¬ Ausstellungsbus „1989 [Unser Aufbruch] 2009“

Von Mai bis Oktober 2009 schickt das Land Sachsen den 18 Meter langen umgebauten Linienbus durch mehr als 30 Orte. Die friedliche Revolution wird als Freiheitsrevolution der Deutschen gewürdigt. Die drei Themenbereiche des Busses sind chronologisch nach der Zeit gegliedert und geschichtlich hangelt sich der Bus entlang einzelner Zeitzeugenberichte. Der Bus stellt nicht primär eine Chronologie der Geschichte dar, sondern die Geschichte wird ausschließlich über persönliche Berichte erfahrbar gemacht. Der erste Teil ist eine Bestandsaufnahme des Alltags in der DDR in den 80er Jahren. Der zweite Teil ist den Umbruchsereignissen gewidmet, der dritte Teil ist ähnlich wie der erste Teil eine Bestandsaufnahme der Revolution.

Benjamin in Plauen

Benjamin habe ich in Plauen getroffen, er ist da mit der Wanderausstellung „1989 [Unser Aufbruch] 2009“ unterwegs gewesen. Der Bus war sehr schön gemacht und durchdacht gewesen. Das Land Sachsen möchte mit diesem Bus den Menschen und der Friedliche Revolution, die 1989 zum Mauerfall führte gedenken und erinnern. Die vielen Zeitzeugenberichte die vielen vielen Ton- und Bildaufnahmen aus dieser Zeit, waren sehr beindruckend und manches kannte ich auch schon aus den Medien, die zu diesem Thema, dieses Jahr schon Artikel veröffentlicht hatten. Woher kommen Sie denn? Ich bin Benjamin und komme aus dem südlichen Raum, aus Chemnitz. Ja genau, und ursprünglich aus dem Schwarzwald, Bereich Villingen Schwenningen. Ich bin ’92, Stop ’91 im Februar hier rübergezogen. Oh das ist ungewöhnlich, dass Leute vom Westen in den Osten gezogen sind. Warum war das so? Also mein Vater war damals bei der Krankenkasse als Beamter angestellt, quasi, und hat dann hier eine Führungsposition angeboten gekriegt, und hat dann einfach gesagt ok, dass schau ich mir an, dass probier ich und dann sind wir praktisch zwei Jahre später hier rübergezogen.


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¬ Friedliche Revolution

Als „Friedliche Revolution“ wird der Wandel bezeichnet, der sich im Sommer ’89 getragen von der DDR Bevölkerung vollzog und am 9. November im Fall der Mauer seinen Höhepunkt erreichte. Der gesellschaftspolitische Wandel began mit den Kommunalwahl im Mai ’89: Als erste in der Geschichte der DDR wurden diese von unabhängigen Wahlbeobachtern begutachtet und das Wahlergebnis von den Bürgern, als zu Gunsten der SED geschönt, entlarvt. Im Sommer flüchteten viele Bürger über die Ungarische und Tschechische Grenze in den Westen, die Botschaft der BRD in Prag wurde öffentlichkeitswirksam besetz. Die Opposition der DDR formierte sich neu und die ersten friedlichen Demonstrationen fanden im frühen Herbst statt. Die Montagsdemonstrationen. Am 4 September kam es zu den ersten Massendemonstrationen im Leipzig, nach dem Friedensgebet zogen tausende Menschen von der Nikolaikirche aus um den Altstadtring. Diese Demonstrationen wurden zur Regelmässigkeit. Immer größere Menschenmassen fanden sich Montags auch in anderen Städten zusammen. Wichtige Orte und Tage waren: Dresden, 4. Oktober, Plauen, 7. Oktober, Dresden, 8. Oktober, Leipzig, 9. Oktober, Leipzig, 16. Oktober. Die Menschen hatten große Angst und verfassten zum Teil Abschiedsbriefe an ihre Verwandten. Der Staatsapperat reagierte und am 9. Oktober marschieren 5000 Sicherheitskräfte auf, Schützenpanzer und Wasserwerfer wurden in Position gebracht, doch mit 70.000 friedlichen Demonstranten hatte niemand gerechnet. Die Parolen „Wir sind das Volk“, „Auf die Straßen“ und „Keine Gewalt“, sind noch heute in den Köpfen der Menschen. Später sagte Horst Sindemann vom SED-Zentralkomitee „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“

Also er zuerst und wir sind ihm dann gefolgt. War das gut so, dass Sie hier rübergezogen sind? Ja, muss ich sagen, Also damals im ersten Moment, ich war damals sieben Jahre alt, war es ein bisschen ungewohnt, war ja schon ein riesengroßer Kontrast. Aber wenn man das alles so betrachtet, wie sich das so entwickelt hat und wie man sich selber entwickelt hat, was man für Möglichkeiten hatte, wie auch immer. Ich muss sagen, also aus der Sicht, muss ich es als positiv bewerten die Entscheidung damals. Würden Sie sich eher als Wessi oder als Deutscher bezeichnen? Oder vielleicht auch als Ossi? Keine Ahnung. Also gut ok, also als Deutscher würde ich mich schon bezeichnen, ja definitiv. Wobei ich jetzt sagen muss, es gibt schon noch Unterschiede, in der Mentalität vor allen Dingen. Da würde ich mich trotz alledem als Ossi bezeichnen. Also ich fühl mich auch hier im Osten… also das ist meine Heimat. Genau, das bekomme ich auch immer wieder mit durch die Tätigkeit, die ich mache. Ich bin selbstständiger Gewerbetreibender im Marktforschungsbereich, Promotion, quasi. Und da ist man auch viel in Deutschland unterwegs und da kriegt man das dann schon noch hautnah mit. Auch weil die Verwandschaft noch im Westen lebt, meine Großeltern und meine Mutter. Die sind nie hier rübergezogen, wie auch immer. Und da kriegt man die Unterschiede schon noch mit. Wie denken Sie über die Wiedervereinigung, jetzt ist das 20 Jahre her? Denken Sie, dass da alles korrekt gelaufen ist, oder hätte man Sachen anders machen können? Ok, was jetzt die Wiedervereinigung direkt anbelangt, kann ich nur das beurteilen, was ich aus Lehrbüchern kenne, was ich aus Erzählungen kenne, was ich jetzt vom Ausstellungsbus her an Meinungen kenne. Da muss ich sagen, hätte Einiges anders laufen können. Da ist die ganze Geschichte mit der Treuhand, was oftmals eingebracht wird. Wo dann gesagt wird, hier im Osten wurden wirklich Betriebe abgewickelt. Aber wenn man das mal von der Unternehmersicht her sieht, die hatten ganz andere Strukturen damals in der Planwirtschaft, die war auf die Soziale Marktwirtschaft nicht ausgerichtet. Das ist natürlich die Frage, hat das die Berechtigung, das ((den Betrieb)) dann abzuwickeln oder wäre eine Umstrukturierung vielleicht doch besser gewesen. Ja, das ist dann so ein Punkt, wo ich immer sage, ok, da hätte man wirklich etwas mehr Aufklärung betreiben können und sich ganz einfach mal, sag ich jetzt mal so, Mühe geben können. Es ist halt schwieriger eine Firma umzustrukturieren als zu sagen, ok, wir wickeln die in inherhalb von kürzester Zeit ab. Das ist eine Sache, wo ich sage, das hätte man auf jeden Fall besser machen können. Was man auch auf jeden Fall besser hätte machen können… Naja, das wird hier auch immer angebracht, dass ehemalige SED-Parteimitglieder bzw. Funktionäre, IMs, also die verdeckten Ermittler, quasi der Stasi, Staatssicherheit, auch heute noch in Schlüsselpositionen sitzen, da sie gedeckt wurden. Einige Jahre danach sind die wieder in die Politik eingestiegen, bzw. dass die teilweise Geschäftsführer bei Banken sind und so weiter und so fort. Also in Führungspositionen, wo man sagt, ok, es war ja eigentlich so nicht gedacht und nicht gewollt. Da sind Sie der Meinung, da hätte man konsequenter sein sollen? Da hätte man konsequenter sein sollen. Gut, das soll nicht heißen, dass heute alles rosig ist und super läuft, wie auch immer. Man muss sehen, wo es sich hinentwickelt, aber das würde ich jetzt einfach so beurteilen, was die Wende anbelangt. Aber Ihnen geht es jetzt gut, mit dem Deutschsein? Also momentan, mir persönlich geht es gut, ja. Wenn man das politisch und gesellschaftlich sieht, könnte man da sehr sehr viel machen, sehr viel besser machen, rein theoretisch. Was halt noch in die Praxis umgesetzt werden sollte. Abgesehen davon, geht es mir definitiv gut. Hätten Sie mir vielleicht noch eine kleine Geschichte zu erzählen, die sie jetzt in dem Bus erfahren haben, Sie sind ja jetzt die ganze Zeit mit dem Thema konfrontiert. Gab es da ein Vorkommnis, jemand, der auf Sie zugekommen ist und etwas Beeindruckendes gesagt hat, oder Sie angepöbelt hat? Da gibt es die verschiedensten Charaktere..… Ein besonderen Ereignis? Es kommen jeden Tag viele Besucher her und jeder hat so seine eigene Geschichte, die immer in jeder Hinsicht interessant ist, weil es halt kein Lehrstoff ist, quasi aus der Schule. Da fügt sich halt immer das Eine zu dem Anderen hinzu und dann denkt man, ok, gut in Ordnung, das hat man jetzt auch noch noch nicht gewusst. Und was Spezielles, wo ich jetzt sagen könnte, das war jetzt wirklich phänomenal, da möchte ich jetzt nichts Besonders heraus heben. Weil ich sagen muss, das ist alles sehr sehr interessant, was die Leute so erzählen. Die privaten Gegebenheiten, man merkt halt schon, dass es die Leute emotional bewegt, und dass das Thema noch nicht aufgearbeitet ist, aufgearbeitet wurde, dass es noch nicht jeder ruhen lassen kann. Es gibt Leute, die sind hier richtig wütend geworden. Wir hatten auch viele Menschen, die in Tränen ausgebrochen sind, die das ((die Ausstellung?)) dann wirklich auch berührt hat. Das sind dann Ereignisse, die stimmen mich auch nachdenklich, da hängen dann viele Emotionen daran. Das finde ich auch faszinierend. Man lernt das immer nur so trocken und hört das dann, Ossi Wessi… wie auch immer, irgendwelches unwissendes Gerede, zum großen Teil, und das wird einfach so aus dem Ärmel geschüttelt, da wird einfach etwas behauptet. Aber es gibt doch viele Menschen, die es wirklich richtig beschäftigt, selbst 20 Jahre später noch. Danke schön.


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Stefan aus Plauen

Stefan habe ich direkt nach meiner Rückkehr in Mannheim getroffen, ich kenne ihn schon länger aber erst als ich von meiner Reise erzählt habe, haben wir uns darüber unterhalten wo wir eigentlich herkommen. Das war schon witzig, ich sagte ich komme gerade aus Plauen und er sagte „Da komm ich auch her…“ So drei kleine Fragen. Wo kommst du denn her? Aus Plauen. ((Im Hintegrund lacht jemand)) Ganz knappe Antworten. Würdest du dich eher als Deutscher oder als Ossi bezeichnen? Als Deutscher. Ja? Ok. Ja. Wie lange bist du jetzt schon hier, im tiefen tiefen Westen? Im tiefen tiefen Westen… ähm, in meiner wilden Zeit bin ich in den Süden gegangen und dann in den Westen. Und bist da hängen geblieben? Und bin da hängen geblieben. Ich bin seit 2005, bin ich hier in Mannheim. Das ist ja noch gar nicht so lange. Wenn man allerdings von dem Begriff Westen Osten ausgeht bin ich 2002, äh 2000, in den Westen gegangen, allerdings erst in den südlichen Westen und dann in den westlichen Westen. Jetzt hast du ja sozusagen hautnah die „Unterschiede“ erlebt. Kann man das auch wirklich so sagen? Also du bist ja im Osten groß geworden und lebst jetzt hier, sind da Unterschiede schon noch spürbar? Also Aufgrund meiner Erfahrung, dass ich bis zu meinem neunten Lebensjahr im Osten aufgewachsen bin, und dann in den Westen gegangen bin, ist es für mich natürlich schon klar ein Umbruch, der stattgefunden hat. Und durch die Wende, die ich mitbekommen habe, sind klare Veränderungen eingetroffen, die ich miterlebt habe und die mich auch geprägt haben, in meinem Leben. Daher kann ich schon von der Situation im Osten aufgewachsen, im Westen leben, sprechen. Allerdings gibt es für mich inzwischen, den Osten, den Westen, den Süden und den Norden, das sind einfach nur noch Himmelsrichtungen und keine Bezeichnungen für Regionen in dem Sinne, für politische Regionen. Das heißt 20 Jahre nach dem Mauerfall gibt es für dich diese Unterteilung nicht mehr… Überhaupt gar nicht mehr. …Westen Deutschlands, Osten Deutschlands,

Neue Bundesländer… Ich rede auch gar nicht mehr von Neuen Bundesländern, für mich gibt es nur noch Bundesländer, es gibt weder alte noch neue. Weil, für mich existiert ein Land, ein Deutschland, das habe ich so anerkannt und fühle mich damit auch sehr gut, dass das so ist. Wenn du sagst, du hast das anerkannt, muss es ja irgendwann einen Punkt gegeben haben, an dem du dich damit auseinander gesetzt hast? Das hab ich freilich. Das passierte genau an dem Punkt… Sagen wir mal so, ein paar Jahre nach der Wende als ich dann älter wurde und mich mit der Thematik beschäftigt habe und auseinander gesetzt habe, sind natürlich auch solche Fragen aufgekeimt. Zwangsläufig, wenn man in diesen „Westen“ geht und mit Menschen zusammentrifft, die einen auch ausfragen, wenn sie wissen, woher man kommt, also dass man in der DDR aufgewachsen ist. Da fängt man zwangsläufig an, sich darüber Gedanken zu machen. Jetzt ist ja die Wiedervereinigung 20 Jahre her, die Mauer wurde vor 20 Jahren geöffnet, seitdem findet eine Wiedervereinigung statt. Ich betone das jetzt so, da ich denke, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Das sehe ich genauso. Es gibt natürlich interes sante Veränderungen, zum Einem hängt das damit zusammen, dass sehr viele Menschen vom Osten in den Westen gegangen sind, weil es natürlich eine neue Erfahrung war, die sie natürlich auch sammeln wollten. Es existierte im Vorfeld eine Spannung, praktisch zwischen beiden Hälften von Deutschland und durch die Öffnung dieser Grenze, die so etwas war wie ein Widerstand dazwischen, hat sich diese Spannung etwas ausgeglichen, schlagartig. Und seitdem ist es so, dass die Menschen von beiden Seiten ihre Erfahrungen machen. Ich kenne sehr viele, ehemals westdeutsche Menschen, die in den Osten gegangen sind und dort leben. Und dort auch Schönheit… schöne Erfahrungen gesammelt haben. Und dahergehend, was ich sagen will ist, es ist ein ständiger Austausch, der statt findet. Und dass sich diese

beiden Hälften Deutschland wieder aneinander annähern und anpassen. Und dieser Prozess ist freilich noch nicht zu Ende, in vielen Köpfen ist einfach noch diese gesellschaftspolitische Trennung vorhanden, die löst sich aber immer mehr auf. Also die zerfließt. Würdest du sagen, dass, wirtschaftlich und politisch gesehen, die Wiedervereinigung richtig verlaufen ist? Hätte man Sachen besser machen können oder ist das richtig so, wie es war und ist? Hast du da vielleicht ein Beispiel? Ein konkretes Beispiel wäre vielleicht, das Schulsystem. Ich denke nicht, dass alles optimal gelaufen ist. Ich glaube auch, dass der ehemalige Osten auch erst mal ordentlich verkauft wurde an den Westen. Und man hat nicht danach gestrebt, bestehende Dinge erst einmal umzustrukturieren, sondern man hat viele Dinge erst einmal komplett abgeschaltet und wollte erst einmal nur Dinge, die aus dem Westen kommen, im Osten etablieren. Damit wurden natürlich eine Vielzahl an guten Dingen, die es im Osten gab, abgeschafft und erst im Laufe der Zeit wieder entdeckt. Das Schulsystem ist für mich halt ein gutes Beispiel, weil für ich das Schulsystem in der DDR und das Schulsystem des Westens kennengelernt und erfahren habe. Und ich muss sage, dass das Schulsystem im Osten um einiges besser und effizienter war. Hast du noch einen abschließenden Satz, ein Resüme, eher positiv oder negativ? In wie fern positiv oder negativ? Wie du dich jetzt fühlst, du hast vorhin schon einmal gesagt, dass du dich mit deinem Deutschsein wohlfühlst. Denkst du dass das die meisten Menschen so sehen? Nö das glaub ich nicht, dass das die meisten Menschen so sehen. Ich fühl mich wohl dabei. Also, dass es (( er meint Deutschland)) wieder ein Land ist. Dass es nicht diese innere Trennung gibt, das fand ich sehr schade, dass es die gab, und zum Teil noch existiert, das finde ich sehr schade. Aber ich bin dankbar dafür, dass beide Hälften wieder zusammen wachsen und ich denke, daraus kann noch einiges erwachsen.


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Ich in Berlin 10. September 2009 Ich bin in Berlin. Jeder, der es noch nicht weiß, ich kenne mich hier ganz gut aus… Da ich hier früher mal gewohnt habe und Verwandschaft von mir hier lebt, sowie auch ein paar Freunde, ist Berlin für mich nicht so neu wie die Reise entlang der ehemaligen Grenze. Hier ist das schon ganz etwas anderes, als so mitten in Deutschland zu sein. Alle Leute auf meiner Reise habe ich gefragt, ob sie den Jahrestag Mauerfall überhaupt mitbekommen und das war eigentlich nicht so wichtig für sie gewesen. Direkt an der Grenze gab es nie diesen Hype um die Grenze wie um die Mauer in Berlin. Darum ist auch der Jahrestag nicht so entscheidend, und wird nicht so ausgeprägt und bewusst begangen wie jetzt zum Beispiel in Berlin mit der Mauer und in Leipzig mit der Friedlichen Revolution. Hier in Berlin laufe ich direkt in die erste Freiluft-Aussstellung am Alexander Platz und konnte dann dort gleich zwei nette Leute interviewen. Die Erfahrungen, mein Eindruck, sind hier schon ganz anders. Mal sehen, was mir hier noch so begegnet. Ich bin jetzt eigentlich in der Situation, dass ich gar nicht weiß, wo ich zuerst hingehen soll, weil es so viele unterschiedliche Angebote gibt.… Aber als erstes werde ich mir die Gedenkstätte zum Mauerbau in der Bernauer Straße ansehen. Da kann man sich dann ein GPS-Gerät ausleihen, das einen entlang der Grenze/Mauer führt. Ich weíß aber nicht, ob ich das mache, wie viel Zeit das in Anspruch nimmt. Ich schau mir das mal an.



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Susanne und Stefan auf dem Alex Susanne und Stefan habe ich beide auf dem Alexander Platz getroffen. Die beiden haben für ein Kinderhilfswerk gesammelt und Stefan hat mich angesprochen, das habe ich gleich genutzt, um ihm und Susanne auch ein paar Fragen zu stellen. Ich war in dem Moment noch ziemlich überwältigt von der Freiluftausstellung auf dem Alex zum Jahrestag 20 Jahre Mauerfall. Eine große strahlenförmige Anordnung mit Buchshop und Führungen. Außerdem waren Spruchbänder als feste Installation über den Platz gespannt „WIR SIND DAS VOLK“, waren die Worte, die man da lesen konnte. …also das tippe ich eher ab… Stefan: Ach so dann, dann ist das ok, solange man meine Stimme darauf nicht hören muss. Ich finde ich hab eine ganz furchtbare Stimme. Ach Quatsch, das geht schon. Dein Name ist Stefan? Sehe ich auf deinem Schild ((wie praktisch, Leute, die Leute befragen, lassen sich selbst leichter befragen) Stefan: Mein Name ist Stefan. Stefan aus Berlin. Ich bin im Osten geboren, übrigens. Weil ich ja, wie gesagt, da keine Unterschiede mache. Und in welchem Stadtteil? Stefan: Friedrichshain. Aber jetzt wohne ich in Spandau, am anderen Ende, also in Berlin West, quasi. Dabei sagen die Spandauer immer, sie gehören nicht zu Berlin, weil Spandau ja fünf Jahre älter als Berlin ist. Spandauer sind Spandauer und keine Berliner. Um Gottes Willen, wenn man da…? Stefan: Das ist ganz schlimm, da die Spandauer, die sind da ja… Du hattest vorhin gesagt, die Mauer in Berlin ist immer noch da ist. Dass die Leute dann sagen, sowie du vorhin, sie wohnen in Berlin… West ((gleichzeitig)) Stefan: Ost-West Genau, und würdest du dich jetzt selbst als Wessi, Ossi oder Deutscher sehen? Stefan: Als Deutscher. Ja, also ich speziell, als Deutscher. Wir haben auch viele Kollegen, die sagen: "Ich bin stolz, ein Ossi zu sein.“ Mit welchem Grund? Wie gesagt ich bin jetzt 24, 1985 geboren, ich hab von Ost und West nischt mitgekriegt und deswegen sag ich halt, ich bin en Deutscher. Weil, für mich gibt es diese Teilung nicht, für mich gab es die och nie. ((Pause)) Er schaut auf meine Unterlagen, die er netterweise für mich hält und entdeckt etwas. Stefan: Designer?! Du machst Design und… und… die deutsche Teilung? Kommunikationsdesign und das ist mein Abschlussthema. Stefan: Ach Kommunikationsdesign, die bringen Menschen zueinander, oder was heißt das? Ne, die meisten Menschen würden sagen, dass das Studium mit Werbung zu tun hat. Aber das ist nur ein Bereich, in dem man nachher arbeiten kann. Der Kommunikationsdesigner würde auch nicht unbedingt die Anzeigen gestalten, sondern eher das Auftreten und die Strategie für eine ganze Firma konzipieren.

Stefan: Wie bei uns halt. Genau, ihr tragt alle rote Pullover und sagt, wie das hier auszusehen hat… Stefan: Und welche Art der Werbung gemacht wird, denn wir könnten ja auch Fernsehwerbung machen, machen das aber bewusst nicht, weil das teuer wäre und die Leute eher auf persönliche Ansprache reagieren. Wie ein Gespräch unter vier Augen. Und wenn du dann sagst, dass es welche gibt, die stolz sagen, sie sind Ostbürger und du sagst, die sind ja noch gar nicht so alt und haben das doch gar nicht richtig mitbekommen, woran, denkst du liegt das? An der allgemeinen Verherrlichung, weil die von Eltern, die im Osten groß geworden sind, so erzogen wurden, oder weil sie noch nie richtig im „Westen“ gelebt haben, oder…? Stefan: Nicht nur von den Eltern, sondern einfach von Freunden, also der Kumpel, den ich mal hatte, mit dem ich auch viel zusammengearbeitet hatte, der trägt jetzt so diese Klamotten von, wie heißen die, Lonsdale und so, das ordnet man eigentlich so in die rechtsradikale Ecke ein. Aber er sagt, er ist stolz, Ostberliner zu sein, und ick glaube, das ist der Umgang mit den Menschen, mit den er dann so verkehrt. Also da hängt das nicht am Elternhaus, sein Vater ist sehr renommiert, der ist Beamter hier in Berlin, seine Mutter ist zwar schwerbehindert und sitzt im Rollstuhl. Aber ich glaube halt, dass das der Umgang ist, weil er wenig Zuspruch von zuhause bekommen hat. Wenig Aufmerksamkeit, durch die Behinderung der Mutter, da hatte der Vater natürlich wenig Zeit und geht auch noch arbeiten als Polizist, und da sucht er sich natürlich Umgang, so wie vorhin besprochen. Er rutsche dann in so eine bestimmte Gruppe und das schon seit Jahren. Ich denke halt, dass das der Umgang ist, der ihn da so geformt hat. Weil, er ist 21, er hat das ja überhaupt gar nicht mitbekommen, ich ja auch nicht, denn ich sag immer, bevor ich nicht fünf Jahre alt war, kann ich mich an nichts richtig erinnern. Aber Ost und West ist für ihn ein ganz großes Thema, immer. Hat er schon mal richtig im Westen von Deutschland gelebt? Stefan: Nee, gar nicht. Wahrscheinlich nicht, nee? Er hat hier erst in der Friedrichstraße gewohnt, im Osten von Berlin, jetzt in Lichtenberg, da ist halt die Szene, in der er verkehrt, sehr stark vertreten und findet da sehr viel Zuspruch.

((Jetzt schaltet sich Susanne ein und fragt, was wir da machen.)) Stefan: Na wir haben da so ein Thema hier, Ost und West… über die? ((fragender Blick zu mir)) Die ehemalige Innerdeutsche Grenze. Susanne: Oh ja, die Szene ist immer noch vertreten, leider. Stefan: Ja, bei den alten Leuten. Susanne: Ja, ganz extrem, wenn ich zum Beispiel, wie heißt das, wo die Borsig-Werke da hinten sind. Wenn ich da bin und die Leute frage, ob sie mal kurz Zeit haben für Kinder und Tiere. Da hat mir einer gesagt: „Tierschutz ist, wenn wir um den Osten wieder eine Mauer bauen und alle Ossis reinschmeißen.“ Also solche Sachen hat man dann schon, die man ständig an den Kopf geschmissen bekommt. Ist schon hart. Oder: „Die im Osten haben alles kaputt gemacht.“ Jaja, die Ossis. Stefan: So was hab ich schon oft gehört. Susanne: Ja, da sag ich dann, es wurde auf beiden Seiten viel kaputt gemacht, das ist jetzt nicht so, dass man, das ist ja der Staat gewesen, das waren ja nicht wir, oder so. Meine Eltern zum Beispiel haben die Wende vom Kopf her gar nicht mitgekriegt. Die sind beide Alkoholiker geworden, weil sie beide arbeitslos wurden, und, und, und. Das war dann schon hart für viele, die haben das nicht überlebt vom Kopf her. Also ich bin die ehemalige Innerdeutsche Grenze schon entlang gereist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und da hatte ich eher das Gefühl, die Ossis denken da viel drüber nach. Das ist sehr kompliziert für sie, und die haben auch alle ganz breitgefächerte, detaillierte Meinungen zu vielen Sachen und bei den Wessis war es oft so: „Och, ist doch alles schön, ist doch gut so gelaufen…“ Glaubst du, dass dann solche Sachen wie „Ossis wegsperren, das ist Tierschutz“, glaubst du, das ist eine spezielle Berliner Sache? Susanne: Nee, ich würde sagen, wenn ich jetzt mit einem Bayer oder mit jemanden aus Magdeburg, Sachens-Anhalt spreche, da gibt es große, große Unterschiede. Also vom Westen her wird uns oft die Schuld zugeschoben, dass wir im Westen soviel kaputt gemacht haben. Wiederum sagen die Ossis auch, die Wessis haben viel kaputt gemacht. Das Schlimme ist nur, die im Westen haben ja keine großartige Veränderungen gehabt, die haben schon immer so gelebt. Bei uns war es so, wir hatten zwar nicht viel Geld und konnten nicht ausreisen, aber wir haben eine gewisse Art


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von Sicherheit im Kopf gehabt und auch im Bauch, und das hat viele im Osten nach der Wende kaputt gemacht. Also wenn ich jetzt Hohnschönhausen sehe und Marzahn, also gerade die reiferen Menschen, wie meine Eltern für die ist schon hart, wie sehr die leiden. Mein Vater war Gießereifacharbeiter, versuch mal in Berlin eine Gießerei zu finden. Stefan: Von heute auf morgen arbeitslos. Susanne: Genau. Und dann heißt es auf einmal: „Du bist zu alt.“, Und er hat kein Geld mehr mit nach Hause gebracht, war deprimiert und dann fing er an zu saufen, meine Mutter musste jetzt das sechste Mal von vorne anfangen, bei einer Firma. Ich meine, sie ist ja arbeitswillig, aber das ist es ja dann schon… Als Kinder, wir wurden als Kinder ja ganz anders gefordert… Kann ich euch noch eine Frage stellen? Stefan: Ja. Susanne: Ja, na klar. Jetzt ist dieses Jahr zwanzig Jahre Mauerfall und seitdem wächst Deutschland immer mehr zusammen, ich denke, dass ist ein fortlaufender Prozess, der auch noch nicht abgeschlossen ist. Stefan: Nee, noch lange nicht. Wenn ihr die Entscheidung treffen könntet, würdet ihr es noch einmal genauso machen? Oder würdet ihr das Zusammenwachsen anders regeln? Weil vielleicht Fehler gemacht wurden, oder war das das Beste, wie es gemacht wurde? Susanne: Also ich würde sagen, das war so schon richtig, weil, man darf ja nicht vergessen, das unsere Jugend, sprich wir, ja schon wieder ganz anders aufwachsen als unsere Eltern. Wir haben das ja ganz anders mitgekriegt. Unsere Eltern waren ja nun mal schon reifer an dem Punkt. Dadurch wächst Deutschland auch immer mehr zusammen, weil uns jungen Menschen ist es ja egal, wir sind ja froh, dass wir uns alle haben, wir uns kennenlernen, das wir unsere Zeit genießen können. Was natürlich der Nachteil ist mit der Arbeit. Gut, da kann man dem Staat oder der Wirtschaft alles zuschieben, aber von der Sache her, ich würde es genauso wieder machen. Es wollten ja auch alle, Ossis genauso wie die Wessis, dass die Mauer weg ist. Klar, dass das dann alles so kommt mit der Arbeit, das das kaputt geht, das ist nicht alles richtig. Stefan: Das es immer ein paar gibt, die das nicht wollten, ist klar. Ich meine, so die Großverdiener, die viel hatten, die das alles nicht verlieren wollten. Susanne: Vielleicht hätte man sich mehr einigen müssen, dass man einiges auch aus dem Osten übernimmt, das man mal hätte schauen können, was ist da positiv, das ist das einzige, aber ansonsten. Stefan: Ich glaube, so die gravierenden Merkmale, dieser Streit zwischen Ost und West, daran merkt man halt, da wo die Grenze sehr nahe war. Aber

wenn man nach Baden-Württemberg oder Bayern fährt, die merken da nichts, die haben das nie mitgekriegt. Für die ist das egal, aber wenn du dann so in Grenzgebiete fährst, so Dresden, Leipzig, da merkt man das schon. Die Leute sind zwar froh, dass das stattgefunden hat. Es gab ja diese Aktion „Aufbau Ost“ Neue Bundesländer, die haben schon gemerkt, das es dann besser wurde. Es wurden neue Strassen gebaut. Es wurden neue Häuser gebaut. Es wurde saniert, aber alles nur dadurch, dass das von Westinvestoren aufgekauft wurde. Dann sind aber die Mieten gestiegen, das heißt, die Leute sind aus ihren Häusern geflogen, weil sie die Mieten nicht zahlen konnten. Weil ja auch viele Firmen, nach der Grenzöffnung vom West aufgekauft worden sind, haben die natürlich neue Leute eingesetzt und nicht mehr die alten beschäftigt, die wurden dann alle arbeitslos. Also das hat man dann schon gemerkt, das merkt man auch heute noch. Die Leute im Osten merken das sehr massiv. Wir arbeiten oft im Osten. Susanne: Die Arbeitslosigkeit ist ganz extrem dort. Stefan: Ja, die ist sehr hoch. Ich glaube, wenn man nach Rheinland-Pfalz, Nordrhein Westfalen fährt, die haben das nicht so mitbekommen, für die Leute ist alles so geblieben. Darum musste ich auch für meine Materialsammlung immer aus Baden-Württemberg rausfahren. Susanne: Gerade in Berlin kriegste das auch mit, die Bezirke unterscheiden sich ganz extrem. Also man sieht im Osten, da wurde viel gemacht, da ist alles sehr sauber, jetzt ist ja Aufbau West. Jetzt gibt es ja keinen Aufbau Ost mehr, sondern Aufbau West. Aber die Menschen an sich, wenn du im Ostteil oder im Westen bist, sind komplett anderes. Man fühlt sich, als ob man in einer komplett anderen Welt lebt. Wenn du drüben in Zehlendorf stehst. Stefan: Ich hab ja schon gesagt, wenn du hier die Leute nach fünf Euro fragst, sagend die ja, obwohl sie nischt haben. Im Westen, da fragst du die Leute, die mit ihrem dicken Mercedes vor der Tür, ob sie vier, fünf Euro im Monat haben. Da sagen die: „Nee, mehr als zwei Euro kann ich nicht spenden.“ Da fragt man sich dann schon warum. Susanne: Das sind auch oft Leute, die im Westen wohnen, die einem dumme Sprüche an den Kopf hauen: „Was brauchen wir ein Kinderhospitz, das ist doch alles natürlich“. Da haben die Tiere mehr Platz, sollen die Kinder doch alle sterben. Die sterben doch sowieso alle im Krankenhaus. Das sind dann alles so Sachen, wo die Leute nicht darüber nachdenken. Stefan: Ich glaube, das hat auch nicht so viel mit Ost und West zu tun, sondern mehr auch damit, dass die soziale Schicht ganz anders ist. Susanne: Doch. Stefan: Ich meine in Hohnschönhausen, Hellersdorf, Marzahn, da leben Menschen, die verstehen

sich untereinander. Da hat man auch relativ ein Alter, die haben alle Kinder, das heißt, die haben auch einen ganz anderen Zusammenhalt. Ich glaube, im Westteil von Berlin geht jeder so seinen Weg. Da sind viele Firmen, da sind viele Unternehmer und die sind natürlich alle auf sich selbst gepolt. Susanne: Ich wollte noch sagen, mein Haus, wie groß ist mein Haus, sechs Etagen, und ich kann mir vom ersten bis zum letzten Stock ein Ei borgen, auf mein Kind wird aufgepasst, wenn wirklich mal Not am Mann ist. Also es gibt keine Probleme, ist auch wirklich egal, ob das Vietnamesen sind oder so, ist egal. Geh ich aber in den Westteil, die wissen nicht einmal, ob sie Nachbarn haben, weil sie die ewig nicht sehen, nicht mal: „Guten Morgen“, gar nichts. Und das ist dann schon traurig. Auf dem Spielplatz da unterhält man sich: „Hier schau mal, die Hose von meinem Kind, die passt nicht mehr, die kannst du haben.“ Das hat man drüben nicht. Stefan: Der Zusammenhalt, der fehlt, gerade in Berlin merkt man das sehr stark. Obwohl der Zusammenhalt in Bayern, auf den Dörfern natürlich wieder extrem ist. Susanne: Da haben sie aber auch nur sich, das sind ja auch kleinere Zahlen, die kennen sich ja dann. Stefan: Aber die kennen halt auch nicht solche Probleme. Die Leute, die sich nicht einzuschätzen wissen… Ich glaube, wenn dir auf die Stirn geschrieben wäre, du bist Wessi oder Ossi, dann wären die auch ganz anders zu dir. Das sieht man auch hier am Stand. Da fragt man so ältere Menschen: „ Ja wo kommen Sie den her?“, „Ja, aus Spandau“, und wenn ich dann sage: „Aus Friedrichshain“, dann versteift sich oft schon die Mimik. Hätte ich jetzt gesagt, dass ich auch aus Spandau bin, hätten sie sich gefreut und hätten mit dir erzählt und gemacht und getan. Aber, wenn man den Leuten erzählt das man Ossi ist, ist man unten durch. Bei vielen Älteren hat man das. Susanne: Das ist genauso in Magdeburg, als ich da das erste Mal gearbeitet habe, ich kam mir echt verkohlt vor von den Menschen, weil die so super lieb waren… Und am Ende das Tages hab ich gedacht, die Leute verarschen mich hier. ((wir lachen)) Und dann hat man mir gesagt, nee, die Leute sind so. Stefan: Aber da kennt auch jeder jeden. Susanne: Ja genau, aber wenn man dann in Spandau steht, die tun so, als ob sie taubstumm sind, die schauen über uns rüber… und wer hilft mir denn, wer unterstützt mich denn. Dass das aber für ihre Kinder ist, damit sie mit denen was machen können, darüber denkt keiner nach. Danke schön. Susanne: Bitte schön Stefan lacht.


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¬ Gedenkstätte Berliner Mauerbau

In der Bernauer Straße spielten sich damals zum Mauerbau 1961 viele aus den Medien bekannte Szenen ab, wie: der Soldat, der über den Stacheldraht springt und die Menschen, die aus den Fenstern über die Mauer klettern. Das hat sich dort zugetragen und ist geschichtlich belegt. Die Gedenkstätte wurde am 17. September 2008 als „Stiftung des öffentlichen Rechts“ errichtet, um den Mauerbau und der Fluchtbewegung aus dem Osten und dem Notaufnahmelager Marienfeld zu gedenken. Die Gedenkstätte ist so gestaltet, dass man auf einen Turm steigt, um in das abgeteilte, erhaltene Stück Grenz-/Todesstreifen blicken zu können. Entlang der Bernauer Straße werden gerade Mauerteile restauriert sowie Gedenk- und Infotafeln aufgebaut. Die Holzkreuze im ehemaligen Todesstreifen zeigen Stellen auf, an denen Menschen bei der illegalen Grenzüberschreitung gestorben sind.

¬ Conrad Schumann:

Es ist eins der berühmtesten Fotos der Zeitgeschichte: Am 15. August 1961 springt der 19-jährige DDR-Soldat Conrad Schumann über die gerade entstehende Berliner Mauer in den Westen. Seine Waffe ließ er dabei noch auf Ostberliner Seite fallen.


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Claas in seinem Laden Aloha Berlin Hallo Hallo, wie ist denn dein Name? Meine Name ist Claas. Und du kommst aus Berlin? Nein. Ich komme ursprünglich aus Mannheim. ((ich mach ein Gesicht und Claas muss lachen)) Da studiere ich. Und jetzt bin ich seit elf Jahren hier. Seit elf Jahren? Ja. Gut und das Geschäft, ist das dein Geschäft? Das ist mein Geschäft, das mach ich jetzt das sechste Jahr. Vorher, ich kam nach Berlin ’98, im Oktober, hab ich erst einmal verschiedene Nebenjobs gemacht. Da war ich zum Beispiel Bauhelfer, um einen Baumarkt aufzubauen, oder war Plakatekleber oder war Promoter für Radiogeschichten und hab dann ein paar Jahre Kulissenbau fürs Theater gemacht, und dann habe ich den Laden hier aufgemacht. Ist das Absicht, dass du deinen Laden vis-à-vis zum Mauerpark hast? Nee, ich war erst hier um die Ecke, in der Oderbergerstraße und hab mich dann räumlich vergrößern und in der Gegend bleiben wollen. Das war dann schon beabsichtigt, aber die Oderbergerstraße, eine schöne gemütliche Straße, war aber mehr Zufall. War das eine bewusste Entscheidung, als du von Mannheim weggegangen bist, für Berlin oder für den Osten von Deutschland? Das war eine Entscheidung für den Osten von Deutschland, ja. Und dann war es Zufall, dass ich Leute auf einem Konzert kennenlernte aus Berlin und die mir sagten… Und ich wollte gerade weg aus Mannheim, und dann dachte ich erst an Leipzig, oder so. Wäre ich eigentlich lieber hingegangen, weil mir dieser Berlin Hype eigentlich nie so gepasst hat, so. Ja genau. Dass immer alle Leute das so cool finden nach Berlin zu gehen. Berlin stand für mich eigentlich gar nicht zur Wahl, nur als mir Leute sagte, hier gibt es billige Altbauwohnungen und so dachte ich, ich rufe da mal an, wenn was frei wird… Und dann rief einer tatsächlich nach zwei Wochen an, das bei ihm eine Wohnung frei wird. Und da hab ich mich entschieden, ohne groß die Wohnung anzuschauen. Bin nur einmal hingefahren, um die Wohnung anzuschauen, und dann war alles klar, Stadt ist schön. War vorher noch nie da, außer mal zur Klassenfahrt, in Westberlin dann noch, ja und dann bin ich hier gelandet. Jetzt ist ja mein Thema 20 Jahre Mauerfall, das ist ja jetzt 20 Jahre und ich frage die Menschen, wie die das heute sehen. Jetzt bist du ja direkt in Berlin und hier ist eine ganze Menge los. Ich bin schon die Innerdeutsche Grenze abgefahren und da ist das nicht so angekommen. Findest du das nervig, wie viel da jetzt hier ist? Oder bekommst du das überhaupt mit? Ist das wichtig in deinem Alltag? Wie viel hier los ist ? Ja,so viele Ausstellungen. Nö, ich find das… nee, ich find das schön, weil, das ist ja schon Geschichte, Das ist eine Stadt, die schon immer im Umbruch war. Nicht nur die Grenze war im Umbruch hier, deshalb ist das eine sehr interessante Geschichte für mich, von Berlin. Hab da auch mal so eine Führung hier mitgemacht mit so einem Touri-Scout. Und ich habe da auch noch mehr über die Geschichte erfahren und mir gefällt das architektonisch super hier. Oder wenn man die Industrialisierungszeit nimmt, da gibt es also immer so Epochen, die Berlin interessant gemacht haben. Darum bleibt das interessant und das nervt mich gar nicht, nee. Mich nervt, dass die innerdeutsche Grenze nicht mehr nachzuvollziehen ist. Was du wahrscheinlich bei deiner Reise gemerkt hast? Ja.


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Das wurde alles von der damaligen CDU-Regierung weggerissen, um zu vergessen. Und wegreißen, um zu vergessen, ist nichts. Man macht das nicht ungeschehen, weil man es wegreißt. Man hätte lieber mehr erhalten sollen von der Mauer, innerstädtisch. Da unten ist ja noch ein Stück. ((Zeigt die Straße runter)) Ja, da war ich gerade eben. Da gab es hier auch eine Menge Türme, das sieht man alles nicht mehr, es stehen in Berlin glaube ich noch drei Türme, ja. Und mehr sieht man nicht mehr. Und für nachwachsenden Generationen ist das gar nicht mehr nachvollziehbar. Denen kann man das gar nicht mehr zeigen. Die können das gar nicht mehr kapieren: „Wie, war mal geteilt? Und wie sah das denn aus?“ Und noch weniger sieht man es, wenn man aus Berlin rausgeht. Oder um Berlin herumgeht, nicht nur in eine Richtung, überall. Da ist dann ein Schild; Hier Mauerweg, Mauerwanderweg und du denkst: „Na, wo war denn hier nun die Mauer?“ Und das ist find ich eben schade, weil das alles weggerissen wurde. Zum Beispiel, ist vielleicht eine ganz andere Geschichte, aber Konzentrationslager sind auch Mahnmale, die ganz wichtig sind. Hätte man Auschwitz abgerissen, gäbe es jetzt nur noch irgendwelche Geschichten. Also es wäre nie mehr möglich, man könnte jetzt nicht mehr die kleinen Leute, die Zwölf-, Dreizehnjährigen daran erinnern, was mal war. Und das kann man hier auch nicht mehr. Und dieser Tourismus, dieser Hype, find ich, nervt mich nicht. Naja gut, ich verleih’ auch Fahrräder, von daher, mmh. Aber auch, wenn ich es nicht machen würde, es gehört einfach dazu. Und ich find es nicht nervig, sondern eher schön und bestätigend, dass ich in der richtigen Stadt gelandet bin, die interessant ist. Denkst du, dass die Beseitigung der Mauerreste, dass man es nicht mehr sieht und spürt, auch so mit der DDR-Glorifizierung zusammenhängt, dieses „Ah, früher war alles besser“, weil man es eben gar nicht mehr merkt und weiß? Alles besser… Nee, glaub ich nicht, egal ob man es auch sehen würde. Alles, was in der Vergangenheit liegt, dazu sagt man: „Ach, damals war doch alles schön“. Also als Ostler und Westler oder als Italiener irgendwie hat man immer irgendwelche Sachen aus der Zeit rausgenommen, glorifiziert die und vergisst dann gewisse andere Sachen. Weil man ja in seinem Gedächtnis auch irgendwelche Sachen ausblendet. Kindheit war toll, aber du hast auch viel geweint als Kind. An die Szenen kannst du dich auch nicht mehr erinnern, so nee. Ich glaub auch nicht, dass das daran liegt, dass das glorifiziert wird. Ich denke nur, dass das zusammenhängt mit der sozialen Sicherheit der Leute. In der DDR, da war man einfach aufgehoben. Hat da seinen Weg vorbestimmt bekommen, und dann musste man einfach nur funktionieren. Und dann war das eben leichter. Aber man konnte nicht seinem Individualismus frönen, wie man das heute kann. Und wenn man die Leute heute fragt, die das Alte glorifizieren, die sind auch zufrieden mit den Dingen, die sie jetzt durch die Wende haben. Das ist nur, man will immer heulen, glaub ich, so ist halt der Mensch, einfach. Ja vermutlich. Siehst du dich mehr als Wessi, Ossi oder als Deutscher? Als ganz starker Wessi. Und das sage ich, obwohl ich ganz viele Ossis kenne und das gar nicht sage, um mich abzugrenzen gegen Ossis, sondern ich bin ganz stark geprägt als ein Wessi. Ich hab auch teilweise im Ausland gelebt. Als Kind bin ich in Italien im Kindergarten gewesen, und hab nie Verwandte gehabt aus dem Osten. Ich habe das nur in der Schule durchgenommen. Für mich war das nur Theorie. Wie wenn man in der Schule etwas über Griechenland lernt, unerreichbar. Darum hat mich das Ganze nie betroffen, also betroffen gemacht, noch wirklich interessiert. Weil das in der Schule dran genommen wurde, kommt ja drauf an, welcher Lehrer das drannimmt. Ob einen das mitreißt, interessierter macht. Aber wir hatten auch mal einen Flüchtling, einen Ostflüchtling, in der Klasse und selbst der wurde super aufgenommen. Er hat auch davon erzählt, aber irgendwie war das in unseren ganzen Köpfen, gab es das nicht wirklich. Das war so surreal. Und ich merke es ja immer wieder. Also ich mag sehr die Mentalität der Ostdeutschen, die für mich vergleichbar ist mit der Mentalität von Italienern, so dieses kumpelige. Ich hab eine Exfreundin aus Thüringen, das ist das beste Beispiel. Meine Eltern haben sich von meinen Freunden immer Siezen lassen. Herr und Frau, eben so. Und das war auch normal, da hat sich auch keiner Gedanken drüber gemacht. Erst, wenn man sich ganz lange kannte oder wenn vielleicht die Väter miteinander zu tun hatten, dann hat man sich auch geduzt. Aber das war nie eine Hürde, das war ganz normal. Im Osten, ich kam da hin, zu den Eltern meiner damaligen Freundin, und die haben mich gleich geduzt. Das war gleich eine ganz andere Ebene und das geht uns Wessis einfach ab. Ich bin auf jeden Fall total wessimässig geprägt, finde aber, diese Gesellschaftsstrukturen, oder diese Mentalität, die sich durch die DDR gebildet haben, finde ich gut. Darum möchte ich auch nicht so sein: „Nein, ich bin Wessi. Ich habe mit dem Osten nichts zu tun“, das möchte ich nicht. Wir können eine Menge von einander lernen, ja. Und das ist eben oftmals nicht passiert wegen dieser Feindschaften, Feindlichkeiten, nee. Aber… ich bin halt ein Wessi, das merke ich immer wieder durch Freunde. Da kommt nachher noch einer oder der. ((zeigt auf einen jüngeren Kollegen/Freund)) Er ist ja die jüngere Generation Ossis, die das gar nicht mehr mitgekriegt haben, nur so als kleines Kind. Naja, weiß nicht, ob man das so sagen kann, Ossis sind ehrlicher, bodenständiger und das begrüße ich. Und da fühle ich mich manchmal in meinem Wessitum gar nicht so gut. Danke schön. Claas bin ich zufällig in die Arme gelaufen, als ich entlang des Mauerparks unterwegs war, kurz nachdem ich die Gedenkstätte Mauerbau besucht hatte. Er ist Besitzer von Aloha Berlin. Mit seiner Statement zum Verschwinden der Mauer in Berlin und der Grenze in Deutschland hat er mir voll aus der Seele gesprochen und ich bin froh, dass gerade nur 600 Meter von Claas’ Geschäft entfernt der Mauerpark gerade erweitert wird und ein Stück Grenzstreifen wieder hergerichtet wird, zusammen mit einer Erweiterung der Gedenkstätte.


Mich nervt, dass die innerdeutsche Grenze nicht mehr nachzuvollziehen ist. […] es stehen in Berlin glaube ich noch drei Türme, ja. Und mehr sieht man nicht mehr. Und für nachwachsenden Generationen ist das gar nicht mehr nachvollziehbar. Denen kann man das gar nicht mehr zeigen. Die können das gar nicht mehr kapieren: „Wie, war mal geteilt? Und wie sah das denn aus?“ Und noch weniger sieht man es, wenn man aus Berlin rausgeht. Oder um Berlin herumgeht, nicht nur in eine Richtung, überall.




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NINA in Berlin

Von NINA habe ich erzählt bekommen und habe sie daraufhin gefragt, ob sie sich interviewen lassen würde. Sie war sehr unsicher und wollte genau wissen, in welcher Art ich das Interview verwenden werde. Sie hat sich dann aber doch entschieden, ein Pseudonym anzugeben und sich nicht fotografieren zu lassen. Ich hätte schon wirklich gerne, dass es richtig anonym ist. Ja, ich nehme ab jetzt schon auf. Ja, ich weiß nicht, mir ist das immer etwas unangenehm, wenn ich öffentlich, also wenn ich zu irgendetwas Stellung beziehen muss, dafür bin ich, glaube ich, zu schüchtern. Ich kann dir auch zeigen, wie das aussehen soll, damit du ein Gespür dafür bekommst und dann können wir entscheiden, wie wir das Foto machen. Ach ein Foto gibt es auch noch? Ja, ich habe jeden fotografiert. Meisten habe ich die Leute ja unterwegs getroffen im Regen, da sieht keiner top gestylt aus. Vielleicht könnte ich mein Foto ja etwas verändern in Photoshop. Ja, ich hab da noch eine Idee, aber das kann ich dir später zeigen. Ja, da können wir später noch einmal drüber reden. Wer bist du? Ich bin NINA, ich bin 25 Jahre alt und komme aus Nordrhein-Westfalen, aus einer kleinen Stadt, die man eigentlich nicht kennt. Aus dem Sauerland eigentlich, eine halbe Stunde vom Ruhrgebiet entfernt. Das heißt, du kommst so gesehen aus dem tiefen Westen? Genau, tiefer Westen, und ich habe auch mein Bachelor Studium tief im Westen weitergeführt bzw. überhaupt erst einmal begonnen. Ich habe drei Jahre in Siegen studiert. Und bin dann vor etwas über zwei Jahren nach Berlin gekommen, um meinen Master hier an der FU zu machen. War das eine bestimmte Entscheidung nach Berlin zu ziehen, oder in den Osten? ((kleine Unterbrechung um mit dem letzten Kandidaten einen Termin auszumachen)) Bist du jetzt extra nach Berlin gekommen um zu interviewen? Um ihn speziell zu interviewen? Nein, ob du deine Recherche hier machst? Nein, nicht extra für Ihn, aber um Interviews zu bekommen, ja. Ich bin schon eine Woche lang die ehemalige Innerdeutsche Grenze abgereist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln und in Jugendherbergen

und so… Von Norden nach Süden, das war ganz schön anstrengend. Und ich habe dann über FrauVeruschka Götz noch gesagt bekommen, dass es ja noch viele Leute gäbe, die ebenfalls interessant sind, aber die sitzen alle in Berlin. Und da ich zu Zeiten des Mauerfalls in Ostberlin gewohnt habe, ist es nicht schlecht, wenn ich auch Berlin in meine Arbeit mit einbeziehe. Meine Abschlussarbeit heißt ja „Im Inneren der Grenze,“ und ich beziehe mich auch auf die ganze Grenze. Es heißt ja immer Mauerfall und symbolisch gemeint war damit die Berliner Mauer, aber das ganze Land war ja davon betroffen. So, wo waren wir? Du bist nach Berlin gekommen… Genau, ich bin nach Berlin gekommen, weil ich in erster Linie Lust hatte auf eine große Stadt. Bis dahin hatte ich immer in kleinen Städten gelebt. Da war es mir wichtig, dass ich für das Masterstudium dann in einer tollen Stadt sein kann. Irgendwie Berlin und Hamburg, das war zu dem Zeitpunkt völlig egal und war auch völlig unabhängig von diesem Gedanken Ost oder West. Also das hat meine Entscheidung nicht beeinflusst. Speziell Berlin als Hauptstadt oder einfach große Stadt? Ja, Berlin schon als Hauptstadt, ich kannte Berlin gar nicht so gut. Ich war einmal vor 5, nein 8 Jahren in Berlin auf Klassenfahrt und fand es da schon Klasse. Und dann war ich vor 5 Jahren, das zweite Mal in Berlin. Und zwar habe ich in Neuseeland, eine, ja, Ostberlinerin kennengelernt, die mich eben nach Berlin eingeladen hat. Und vorher habe ich noch einen Kommilitonen in Dresden besucht und war da das erste Mal tatsächlich in Ostdeutschland, also vor fünf Jahren in Dresden. Und dann war ich mit der Julia eine Woche in Berlin und fand das schon super. Und ich habe dann bei diesem Literaturfestival eine Praktikum gemacht, dabei habe ich sofort die ganze Bandbreite der Kultur mitbekommen und war wirklich Feuer und Flamme und dachte: „Hey, Hauptstadt und hier ist soviel los“, und ich fand es super, und dann habe ich mich entschieden, zu bleiben. Du hast erzählt, als du vor fünf Jahren in Dresden warst, warst du das erste Mal in Ostdeutschland? Ja. War das dann schon so, dass du dachtest: „Aha, das ist jetzt der Osten!“ Du kanntest ja bisher nur den Westen. Also ich bin bei dem Thema immer relativ, wie soll ich sagen, naiv gewesen. Weil, wo ich aufgewachsen bin, war das gar kein großes Thema. Weil ich ja, wie gesagt, im tiefsten Westen aufgewachsen bin, war das tatsächlich so, dass ich gar nicht viel von Ost und West mitbekommen habe. Ich weiß noch, dass meine Tante nach Nordrhein-Westfalen gekommen ist, die in Westberlin gelebt hat, als die Mauergefallen ist. Und sie hatte so kleine Mauerteilchen mitgebracht, und dann gesagt: „ Ah, NINA, jetzt ist die Mauer gefallen.“ Da kann ich mich dran erinnern, dass ich das erste Mal mit diesem Thema in Berührung gekommen bin. Aber diese Ost-, Westthematik wurde von meinen Eltern eigentlich nie angesprochen. Ich muss dazu sagen, mein Großvater, ist Sorbe, also kommt er, glaube ich aus der Niederlausitz und ist nach dem ersten Weltkrieg, glaube ich, im Westen aufgeschlagen und ist dann da geblieben. Da gab es ja noch nicht richtig West und Ost nach dem ersten Weltkrieg. Aber er hat das nie thematisiert, ich glaube, er stammt aus einer relativ ärmlichen Bauernfamilie. Aber er hat sich dann auch völlig von seinen Verwandten distanziert. Und da wurde dann auch zu DDR-Zeiten ein Tuch darüber gehängt, das


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wurde nie erwähnt. Und dann bin ich eben das erste Mal nach Dresden gefahren und das war eigentlich so, dass ich jetzt gar nicht so sehr gedacht habe: „Aha, das ist jetzt Osten“, sondern, dass eher in Dresden die Leute mit dem Thema auf mich zugekommen sind. Womit ich gar nicht gerechnet hatte. Ich wurde dann tatsächlich so begrüßt: „Aha, du bist also die Freundin aus dem Westen“. Und da dachte ich schon: „Ah, da wird es jetzt interessant“. Und die Eltern meines Freundes haben da tatsächlich häufig darüber gesprochen. Die haben beide in einer großen Firma in Dresden gearbeitet und haben das auch so aufgezählt: „Wir haben fünf Schweden und vier Japaner, ach und drei Wessis haben wir auch“ ((in der Firma)). Und dann wurde so gestockt beim Essen: „Ach Entschuldigung, Sie sind ja auch Wessi“. Und dann dachte ich, … ich weiß nicht, dann war ich ganz verunsichert und wusste selber gar nicht, was so richtig passiert, weil ich mir nie so viele Gedanken über das Thema gemacht hatte. Und dann passiert auch tatsächlich so etwas, dass ein Taxifahrer zu mir gesagt hatte: „Scheiß-Wessi“, als ich die Tür nicht gleich aufbekommen hatte. Und dann: „Die Scheiß-Wessis sind ja auch zu dumm ein Taxi aufzumachen“. Da war ich dann schon geschockt gewesen. Ich bin dann weiter gereist nach Berlin und hab dann die Eltern der Freundin kennengelernt, die aus Ostberlin kommen, die mir dann auch durch die Blume zu verstehen gegeben haben, dass das, was ich denke doch ganz schön naiv ist, das alles eins sei. Dass es für sie da schon noch Unterschiede gibt. Und dass sie die Reaktion des Taxifahrers nicht so ungewöhnlich fanden. Also ganz nett haben sie versucht, mir das beizubringen. Ich hatte da das erste Mal an den Begriff „die Mauer in den Köpfen“ gedacht. Dass ich plötzlich auf diese Mauer gestoßen bin. Das fand ich dann schon interessant und ziemlich einprägend, diese Begegnungen. Ich habe dann tatsächlich angefangen, darüber nachzudenken und angefangen mich mit dem Ost-West-Thema auseinanderzusetzen, weil es vorher halt fernab von meiner Lebenswelt war. Würdest du sagen, dass das so ein Ostding ist, dass man da soviel darüber nachdenkt und spricht? Glaube ich nicht, Ich glaube, dass ist eine Sache des Alters. Weil, meiner Freundin aus Ostberlin, der hatte ich von meinen Begegnungen erzählt, und sie war da schon überrascht, weil ihr selbst so etwas auch auch noch nicht begegnet ist. Dass da so bewusst etwas aufgebrochen ist. Ich glaube, das hat was mit dem Alter zu tun. Wenn ich mehr mitbekommen hätte von der DDR, ich glaube ich war 6 Jahre, als die Mauer gefallen ist, wenn ich älter gewesen wäre, denke ich, würde ich anders darüber nachdenken. Aber ich denke nicht, dass es speziell so ein Ost-Ding ist, immer nur darauf rumzureiten, das glaube ich nicht. Vielleicht kann man das aber gar nicht so sagen, weil es auf persönliche Erfahrungen und Familienverhältnisse ankommt. Ich könnte mir vorstellen, dass es einfach von Person zu Person unterschiedlich ist. Siehst du dich mehr als Wessi, Ossi oder als Deutscher? Also, ich hab mich bisher immer als Deutsche gesehen. Und dann hatte ich eben hier, als ich dann schon eine Weile in Berlin gelebt habe, eine ganz krasse Begegnung. In einer Volkshochschule, mit einem Dozenten. Dieses Ereignis ist vermutlich auch der Grund, warum man mich an dich empfohlen hat. Das war eine ganz erstaunliche Sache, und da hab ich dann manchmal gedacht, dass ich doch ein Wessi bin. Fühlst du dich als Wessi abgestempelt oder dazu gedrängt? Ich weiß es auch nicht so richtig. In diesem Volkshochschulkurs gab es diesen Dozenten und neben mir, glaube ich, noch vier Kursteilnehmer. Ich war halt der einzige Mensch aus dem Westen und habe das aber nicht gesagt. Die anderen waren alle über 50, und ich war die einzige Junge, junge Frau. Das war ein Buchführungskurs. Und es war so, dass von Anfang an, also wirklich schon von der ersten Stunde an, diese Leute im Kurs alle absolut gegen den Westen waren. Und das war halt hier die Volkshochschule in einem Ostbezirk. Die haben alle gleich gedacht, ich sei aus dem Osten, weil ich da nach Lichtenberg zu dem Volkshochschulkurs gekommen bin. Und da war es so, dass dieser Lehrer sehr viel von sich erzählt hat. Er war vielleicht ein bisschen über 60 Jahre alt, und diese Frauen so über 50. Und ich glaube, es war so, dass die Frauen alle komplett nach der Wende arbeitslos geworden sind und auch tatsächlich Schwierigkeiten hatten Fuß zu fassen. Und er hat direkt Berufsverbot bekommen, nach der Wiedervereinigung. Er war eigentlich Lehrer und durfte dann nicht mehr unterrichten. Und er arbeitet jetzt als Privatdozent bei privaten Bildungsträgern, ist jetzt also nicht mehr im Schuldienst. Hat er erzählt, warum er Berufsverbot bekommen hat? Nee, hat er nicht gesagt. Das war dann auch schon gemeinsame Sprache, die die gesprochen haben, die ich ja zum Teil gar nicht kannte. Manchmal haben die dann so Sachen angedeutet, da war den Leuten dann schon klar, was gemeint war. Und für mich nicht. Ich glaube aber, dass er in der DDR eine relativ große Rolle gespielt hat, also seine Frau durfte zum Beispiel auch frei reisen und das durfte ja meines Wissens nach nicht jeder kleine Bürger. Die Frau war wohl an der Hochschule Lehrer und war dann international viel unterwegs. Denen schien es halt sehr gut gegangen zu sein in der DDR. Und er war dementsprechend immer noch frustriert, dass die Mauer gefallen ist. Und er hat dann tatsächlich so Hetztiraden gegen den Westen losgelassen. Die haben zum Beispiel regelmässig Zeitungsartikel ausgeschnitten und aufgeregt ausgetauscht, um sich zu zeigen, was irgend ein Westidiot über irgendein Thema geschrieben hat, wovon er ja überhaupt keine Ahnung habe. Also zum Beispiel ging es um eine Ausstellung in einem Berliner Museum. Die haben super-antiwestlich gesprochen und haben so Sachen gesagt… zum Beispiel haben sie mich gefragt, wo ich arbeite und da habe ich eben gesagt, dass ich in Schöneberg arbeite. Dann haben sie gesagt: „Ach ja, das arme Kind muss ja sogar nach drüben fahren zum Arbeiten. Ja, wir gehen nie rüber, da wollen wir gar nicht hin“. Also, die sind auch offensichtlich wirklich nicht, also nach der Wiedervereinigung, nach Westberlin gefahren. Er ist wohl einmal rüber gefahren und fand es halt „voll Scheiße“ und wollte auch sein Begrüßungsgeld nicht abholen. Das hätte er total boykottiert. Also er hat immer mindestens eine halbe Stunde über sich gesprochen und darüber, wie er jetzt die politische Situation beurteilt, der Kurs ging acht Stunden die Woche an zwei Tagen,. Einmal hatte ich Husten und er sagte dann, ja kein Wunder, mit der Westmedizin kann der Husten ja nicht weggehen. Ob ich kein Pulmotin-Brustbalsam kenne. Dann hab ich halt gesagt: „Nee“

¬ Berliner Mauer

Die Berliner Mauer wurde als Folge des Kalten Krieges in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 von der NVA errichtet. Zu dem Zeitpunkt ist die Bezeichnung Mauerbau allerdings nicht ganz richtig, denn es wurden in dieser Nacht "nur" Sektorenzugänge abgeriegelt und Hauseingänge zugemauert. Erst später wurden in mehreren Schritten die Mauer erbaut, noch in den 80er Jahren war die Mauer nicht überall geschlossen. Nach der Wiedervereinigung sind Pläne gefunden worden für die Mauer der Zukunft. Für das Jahr 2000 waren Laserüberwachungen und Drucksensoren und weitere hochtechnische Feinheiten geplant gewesen. Bei den Versuchen, die 167,8 Kilometer langen und schwer bewachten Grenzanlagen in Richtung West-Berlin zu überwinden, wurden viele Menschen getötet. Die genaue Zahl der Todesopfer an der Berliner Mauer ist umstritten und nicht gesichert, sie liegt nach derzeitigem Forschungsstand zwischen 136 und 206 Todesopfern. Die Mauer bestand nicht nur aus einer Betonmauer sondern auch aus Wassergrenzen und war mehrschichtig aufgebaut. Die Mauer an sich war nur das, was der Westen im Fernsehen sehen konnte. Der so genannte Todesstreifen war 50 bis 500 Meter breit. Hier gab es Kolonnenwege, Hundelaufanlagen und KfZ-Sperrgräben, Spurensicherungsstreifen, Beton-Überwachungstürme…



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Ich habe nie gesagt, dass ich aus dem Westen komme. Ich hatte wirklich total Schiss, dass ich da irgendwie auffliege, weil ich auf diesen Kurs angewiesen war. Und ich muss auch mal sagen, dass er total viel getan hat um mich zu unterstützen mit diesen kaufmännischen Sachen, die ich vorher überhaupt nicht beherrscht habe. Und dann hab ich mich wirklich tatsächlich nicht getraut zu sagen, dass ich aus dem Westen komme, weil ich Angst hatte, dass ich dann in dem Kurs nicht mehr richtig lernen konnte. Die waren wirklich richtig feindlich eingestellt. Und dann hab ich gesagt: „Nee, den Brustbalsam kenne ich jetzt nicht“. Und dann kamen sofort die Frauen dazu: „Ach, die ist doch viel zu klein dafür, die kann den ja auch nicht kennen. Aber Mutti hat ja vielleicht noch was im Keller“. Und dann hab ich gesagt: „Mmh, ich weiß nicht, ich war als Kind nicht so oft krank“, habe mich so ein bisschen rausgeredet, was halt auch immer funktioniert hat. Und dann haben sie gefragt, ob ich mich noch an die Ostmark erinnere, und ich sagte denen: „ Nee, ich hatte keine Taschengeld, das hab ich erst viel viel später bekommen.“ Und dann haben sie gesagt: „Ach, deine Oma hat doch bestimmt noch ein paar alte Münzen, die kannst du dir ja mal anschauen.“ Und dann sind die wirklich so ihren Nostalgietrip gefahren… Und das fand ich auch so krass, da hat er dann noch gesagt, dass sich im Osten der bewaffnete Widerstand formiert gegen die Westmacht, die ja das Land besetzt hält und den Ostmenschen ausbeutet und sich jetzt dieser Arbeitskraft bedienen möchte und der Ressourcen, die im Osten schlummern und alles tun will, um den Ostmenschen loszuwerden und auszurotten. Und er würde persönlich Leute kennen, die da jetzt im Widerstand sind und sich bewaffnen, um gegen den Westen in den Kampf zu ziehen. Und so was hat er original gesagt. Das klingt, als wenn der Leiter ein bisschen paranoid war. Ja, und er hat dann auch immer so Sachen erzählt wie, er habe heute morgen beobachtet, wie die Kollegen von drüben Antennen auf dem Nachbarhaus installiert haben. Ich glaube, er hat damit den BND gemeint. Das kennt er ja auch noch diese Technik, und die haben sich seiner Erfindungen bedient und die jetzt auf die Nachbarhäuser geschraubt, um von da abzuhören. Und solche Geschichten kamen da reihenweise, und ich dachte dann, ich bin im falschen Film. Und dann hat er auch gesagt, sein Sohn wohnt jetzt in der Schweiz, und er war jetzt lange in der Schweiz, um dieses System dort zu studieren. Weil er denkt, dass die Schweiz das gelungenste Staatsmodel ist, das ja auf DDR-Idealen basiert, und dass die Schweiz quasi die bessere DDR sei. Und wenn der blöde Wessi nicht gekommen wäre, dann wäre es in der DDR auch so gut gewesen, und sie wären reich gewesen, und so weiter. Und solche Geschichten passierten da halt jede Stunde. Die haben dann auch gesagt, der Volksaufstand in Leipzig, das sei ja nur eine Erfindung des Westens gewesen. Die Frauen wussten auch immer etwas Unterstützendes zu

¬ 17. Juni 1953

Um den den 17. Juni kommt es in Berlin zu Streiks und Demonstrationen gegen Normenerhöhungen. Im Mai ’53 wurde vom Zentralkomitee der SED beschlossen, dass die zu erbringende Arbeitsleistung für den Lohn erhöht werden muss. Außerdem wurde ein Prozess zur „Sowjetisierung“ der DDR Anfang Juni beschlossen. Die Kursänderung wurde von der Bevölkerung auch als Einknicken der SED Regierung gegenüber der Sowjetführung gewertet, was auch den Mut zu diesen Protesten gab. Am 17. Juni kam es flächendeckend zu Arbeitsniederlegungen, was dazu führte, das der Ausnahmezustand für 167 von 217 Landkreisen ausgerufen wurde. Das gewaltsame einschreiten der Kasernierten Volkspolizei an diesem und nächsten den Tagen forderte ca. 55 heute belegte Opfer. In der BRD war damals die Rede von 506 und in der DDR von 25 Todesopfern. Der „17. Juni“ wurde im August 1953 von der BRD zum Nationalen Feiertag ausgerufen: „Tag der deutschen Einheit“.

¬ Pulmotin

Hersteller: Serumwerk Bernburg AG Wirkstoffkombination: Anisöl, Campher, Eukalyptusöl, Thymianöl, Koniferenöl, Thymol Rezeptfrei anzuwenden bei: Husten bei Erkältungskrankheiten, Atemwegserkrankungen mit Verschleimung, Erkältungskrankheiten, Lungenentzündung, Reizhusten, akute Bronchitis, Grippe, Schnupfen, Nasennebenhöhlenentzündung und chronische Bronchitis. Die Tube kostete damals in der Apotheke nur 80 Pfennig, und ist heute noch vielen als Allzweckwaffe gegen Erkältungsbeschwerden im Gedächtnis geblieben. Heute schwanken die Preise zwischen 2,87€ und 4,70€ für die 25g Tube.

seinen Thesen zu sagen, und dann haben die das auch bezeugt, dass der Volksaufstand nie stattgefunden hätte. Da wurden dann aus dem Westregime ein paar Betrunkene aus dem Knast hingefahren, die mit Alkohol abgefüllt waren und die haben sich dann ein bisschen gekloppt, und das war dann der Volksaufstand und der Versuch für Demokratie zu kämpfen. Die meinten den 17 Juni? Nee, in Leipzig um die Nikolaikirche war doch was, ich weiß nicht, was damals passiert war. Da war ja schon so eine Widerstandsbewegung um das Zentrum. ((Sie meint die Montagsdemonstrationen in Leipzig; Infotext S. 85)) Die Friedliche Revolution? Ja, die Friedliche Revolution, das waren eigentlich betrunkene Westknackis, die da ein bisschen Randale gemacht haben. Und dann haben sie auch gesagt, dass sie gesehen haben, dass Leute auf die Schienen gefallen sind und denen die Beine abgefahren wurden und kein Preis war dem Westen zu hoch, um zu suggerieren, dass die DDR-Bürger Demokratie wünschen. Und das waren am laufenden Band solche Geschichten. Würdest du sagen, dass in dem Kurs hauptsächlich „Wendeverlierer“ waren? Also, ich bin mir nicht ganz sicher, weil dieser Dozent ja noch arbeitet, und der hat auch ein sehr spezielles Wissen und verdient damit auch Geld, der hat wohl auch gut zu tun, mit seinen Lehraufträgen. Er hat auch erzählt, er hat sich ein kleines Haus gekauft, weil er die Finanzkrise schon erahnt hat. Und dann hat er sein Geld in ein Haus investiert. Wenn man sich ein Haus kaufen kann, dann hat man ja nicht wenig Geld. Von daher hatte ich schon den Eindruck, dass es ihm finanziell nicht so schlecht geht. Und bei den Frauen bin ich mir nicht so sicher, da hat auch jede nicht so viel Persönliches erzählt. Aber bei zwei Frauen war das schon irgendwie klar, die eine Frau war Architektin und die hat keine Bein mehr auf den Boden bekommen. Da ist mir zum erst Mal die Idee gekommen, dass das Leute sind, die vor mir sitzen, die nach der Wende keine Chance mehr hatten in ihrem gelernten Beruf zu arbeiten. Ich denke, dass dieser Wendeverlierer-Begriff zum Teil schon gepasst hat. Aber nicht auf alle. Und weil das zum größten Teil auch Leute waren, die eine akademische Ausbildung oder einen akademischen Hintergrund hatten. Darum hat mich das doppelt gewundert. Wenn das jetzt eine einfache Hausfrau gewesen wäre, die nicht soviel Bildung genossen hat, vielleicht auch nicht viel Kontakte hat, weil sie viel zu Hause ist. Dann hätte mich das vielleicht nicht ganz so gewundert, aber das fand ich wirklich schon sehr beeindruckend. Ich fand das auch so schlimm, weil das mit soviel Hass und unmenschlichen Verurteilungen zusammen gegangen ist. Das fand ich erschreckend. Ja, das ist heftig. Weil einzelne Menschen überhaupt nicht gezählt haben, wirklich nur West und Ost. Und ich weiß nicht, wenn die gewusst hätten, dass ich aus dem Westen komme… ich weiß nicht, was dann passiert wäre. Aber ich weiß, dass sie mir bestimmt nicht freundlich gesonnen gewesen wären. Du hättest vielleicht für alle Wessis gerade stehen müssen und ihnen Antworten liefern müssen die du gar nicht hast. Ja. Das war im letzten Herbst, meine aktuellste Erfahrung.


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Das ist schon böse. Bisher war es so, dass ich zwar immer auf den eher etwas unbedarften Wessi gestoßen bin, für den das alles ganz gut ist und auch schon auf eine Menge Ossis, die sich viele Gedanken machen und auch viel zu kritisieren haben, aber auch sagen: ,, Die Ossis, die jammern nur. Es gibt so viele neue Sachen, die Möglichkeiten sind doch viel besser. „ Also eigentlich schon, dass es die Wiedervereinigung ganz gut ist. Glaubst du, dass sich dein Erlebnis aus der Mischung der Leute ergeben hat, das einfach bestimmte Menschen aufeinander getroffen sind? Ich kann mir das gerade nur so schwer vorstellen, dass dies der Regelfall ist. Also bei diesem Typen bestimmt… Ja, ich weiß es auch nicht so richtig. Ich weiß, dass dieser Kurs sonst viel größer ist. Es sind sonst immer 20 – 30 Teilnehmer und ich kann mir schon vorstellen, dass, wenn mehr Leute da gewesen wären, die eher zu dem Inhalt Fragen stellen wollen. Da wäre gar nicht so viel Raum gewesen für diese privaten Unterhaltungen. Und für ihn wäre nicht so viel soviel Raum gewesen seine Ansichten zu präsentieren. Ich hab mir dann auch überlegt, ich wohne in Friedrichshain, was ja auch ehemaliger Osten ist, wo inzwischen viele Wessis und Studenten wohnen… Ja, Studenten. Das war mein erstes Mal, dass ich weiter in Richtung Osten gegangen bin, in Richtung Stadtgrenze. Ich hab mich gefragt, ob denn alle Leute in Lichtenberg so radikal drauf sind, aber das kann ja auch nicht sein. Das war wahrscheinlich ein absoluter Zufall, diese Mischung. Wenn das jetzt ein anderer Lehrer gewesen wäre, dann hätten sich diese Frauen auch ganz anders verhalten. Ich hatte schon das Gefühl, dass er da so ihren Nerv getroffen hat und sich einfach viel entladen hat, was sich so angestaut hat. Also die wirkten nicht total verbittert oder böse, die waren auch nett zu mir. Und sie haben sich auch bemüht, mir zu helfen. Die Frauen wirkten nicht wie bösartige Menschen. Also ihn fand ich schon etwas speziell, aber diese Frauen waren schon ganz nett. Von daher weiß ich nicht, ob er da so einen Nerv getroffen hat, das sich da soviel entladen hat… Du sagtest vorhin, das ist eine Altersfrage, das hat heute auch schon mal jemand zu mir gesagt, ich könnte mir das schon vorstellen… Also ich hatte auch schon das Gefühl, dass Leute aus der älteren Generation auch wirklich mehr Nachteile gehabt haben. Was heißt mehr Nachteile, dadurch das sie schon im Berufsleben standen, aber mit ihren Berufen nicht mehr so richtig Fuß fassen konnten. Vielleicht ist es so, dass es diese Generation besonders getroffen hat. Ich weiß es nicht so richtig. Aber auch nicht durchweg alle. Das ist auch von Ort zu Ort unterschiedlich, habe ich das Gefühl. Es gibt sicher Orte, die sich gut entwickelt haben und welche nicht so gut. Was glaubst du, wo ist es gut? Wo es gut ist, ist Leipzig und was ich auch nicht wusste, Plauen scheint auch total gut zu sein. Ich selbst komme aus Görlitz, da ist ein deutlicher Rückschritt zu sehen Was heißt, es hat sich da eingepegelt. Görlitz ist die Rentnerstadt Deutschlands, da wohnen sehr viele alte Menschen, Es gibt einen gewissen Kulturbetrieb. Es gibt dort wenig Arbeitsplätze, aber nicht unbedingt die schlechtesten. Ich habe auch jemanden getroffen, der hat gesagt, seine Freundin hat da einen sehr guten Job, eine führende Position, darum zieht sie nicht weg. Sie könnte überall arbeiten, aber nicht in dieser Position. Man sieht da viele sehr jungen Frauen, die schon Kinder haben, man hat den Eindruck, die, die nicht wegziehen, werden früh Eltern. Ja, aber ich weiß nicht, ob das in manchen Teilen im Westen auch so ist, dass gut ausgebildeter Kräfte abwandern, weil es in der Region nicht viel Industrie gibt und nicht so viele Arbeitsmöglichkeiten und die, die dableiben sind die, die mit achtzehn anfangen Kinder zu bekommen, und dann, weiß ich nicht, mit 25 vier haben. (( wir lachen)) Ob das nicht auch viel mit Stadt und Land, mit Regionen zu tun hat. Aber das ist jetzt nur eine These. Ja, da kann man viel drüber nachdenken. Jetzt ist ja der Mauerfall schon fast 20 Jahre vorbei. Seit dem wurde viel getan, um den Osten den Westen anzugliedern, denkst du, dass damals alles richtig gemacht wurde, hätte man Sachen anders machen können? Also darüber weiß ich zu wenig, dass kann ich nicht beurteilen, weil ich nichts über die Maßnahmen weiß, die ergriffen wurden, um es gleich zu machen. Möchtest du noch was sagen? Sonst sind wir fertig. Dann sind wir fertig. Danke schön.



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Ostalgie Hype Knusperflocken und Bautzener Senf stehen bei mir ganz oben auf der Liste der DDR-Dinge, die ich gerne auch in meinem Supermarkt kaufen würde. Aber manchmal entsteht ja durch die Knappheit eines Gutes der Reiz, der es erst so begehrlich macht. Am Hauptbahnhof in Mannheim, gibt es ein Geschäft, in dem man den Senf kaufen kann und den auch schon in einigen Supermärkten. Die Knusperflocken jedoch die bekommt man wirklich nur im ehemaligen Osten. Zum Glück aber auch an jedem Bahnhof in den Neuen Bundesländern. Aber über die Durststrecken kann einem auch einer der zahlreichen „Ostalgieshops“ hinweghelfen. Dort werden nicht nur Dinge verkauft, die man zu den Genussprodukten zählen kann, sondern auch Sachen, die einfach Kultstatus erworben haben durch den Mauerfall. Wer von den ehemaligen DDR-Bürgern kann sich nicht an den unverkennbaren Geruch aller Regierungseinrichtungen erinnern? Ein Putzmittel aus Russland kann auch noch heute diesen Geruch in jedes Gebäude zaubern. Die Nelke aus Seide für jede DDR-Party, das Trabimodell für die Vitrine und den Palast der Republik als Bastelbogen, gleich nachdem man den Bastelbogen WBS 70 (das Erfolgsmodel des Plattenbaus schlecht hin) geklebt hat, um die Jugend im genormten Plattenbau wieder auferstehen zu lassen. Bei mir in der Kindheit gab es eher die verheißungsvollen Westprodukte, dafür bin ich nicht zu jung gewesen, um mich daran erinnern zu können. Der Inbegriff für meinen Westen war Nussmuss oder besser bekannt unter Erdnussbutter. Später habe ich erfahren, dass mehrlagiges Toilettenpapier in der Hauptstadt wohl der absolute Renner war. Was ich verstehen kann, denn das Norm-Toilettenpapier aus der DDR, das wir zuhause hatten, war sogar dicker als das, was wir in manchen öffentlichen Toiletten heutzutage finden. Doch ist der ganze Hype angebracht? Ist es sinnvoll, so ins Schwärmen zu geraten über eine Zeit die, da ist man sich mehrheitlich einig, man froh ist, los zu sein. Ich denke, dass ist ganz verständlich. Erst einmal war in der Vergangenheit nicht alles schlecht und wenn man in der DDR gelebt hat, gab es immer viele schöne Momente. Und der Mensch behält naturgemäss die ganzen schönen Dinge lieber im Blick als die schlechten. Darum träumen viele Menschen aus der DDR von Dingen, die sie damals umgeben haben. Diese Sehnsucht wird durch die Neugier der jungen Generation, die Spaß hat an dem alten Verstaubten am Leben erhalten. Wie sagte doch einer meiner Interviewpartner: „…Es war immer Sommer. Aber ich glaub, das ist typisch Kindheit.“(S.58) Gewisse Dinge möchte man einfach ewig haben, und wenn es nur der Mixer ist, der einen garantiert nie im Stich lässt und den man für nur wenige Euros bei ebay für „so gut wie neu“ erwerben kann. Claas von Aloha Berlin hatte mich in einen Shop um die Ecke geschickt zu einem Freund von ihm, Mario. Mario ehemaliger Punk (obwohl man das denke ich nicht sagen kann: ehemalig…), der sich mit dem Verkauf von Ostprodukten eine goldenen Nase verdient. „VEB Orange“ nennt sich sein Laden, und er wirbt mit dem Slogan „Das Kaufmuseum“. In seinem Laden kann man fast alles kaufen, je nachdem wie selten es ist und wie groß die Chance, es wieder beschaffen zu können. Mario hatte leider keine Zeit für ein Interview, aber ich hab ihn trotzdem gefragt, ob er an den ganzen Sachen hängt und ob er da sentimental wird? Er sagte mir, dass er da keine Gefühle hat. Aber es fällt ihm schwer Sachen zu verkaufen, von denen er weiß, dass er sie vielleicht nie wieder beschaffen kann. Außerdem würde er genauso gerne Dinge aus dem Westen aus dieser Zeit in seinem Laden haben wollen. Doch gerade diese überwältigende Menge an Ost-Interieur macht es so faszinierend, in seinem Laden zu stehen. Wenn man allerdings richtig hinschaut, sieht man zum Beispiel auch Lampen vom sogenannten kapitalistischen Klassenfeind. Warum gibt es solche Läden mit „New Antiques“ nicht auch im Rest von Deutschland? Der Run auf organge farbene Lampen, egal ob aus dem Westen oder dem Osten, wäre doch dort genauso groß?


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Hans-Hendrik Grimmling in der Lindower Straße

Wer sind Sie denn? Wer ich bin… Genau. Ich bin Hans-Hendrik Grimmling, Maler, Schreiber und Professor für bildnerische Grundlagen an der Berliner Technischen Kunsthochschule. Aber in der eigentlichen Passion bin ich Maler. Wir befinden uns gerade in Ihrem Atelier… Ich hab gelesen, dass Sie ‚86 aus Ostberlin ausgereist sind, und und seit dem in Westberlin leben und tätig sind. Da stand ganz explizit, dass Sie ausgereist sind, heißt das Sie haben sich um eine Ausreise beworben und durften dann das Land verlassen? Ja, also es gibt unter den „Nachwende-Geborenen“ ziemlich viel Streit, wie man sich nennt, wenn man die Zeit beschreibt. Ist man ein Ausgereister, ein Ausgebürgerter, ein Auswanderer? In manchen Notizen, in manchen Katalogen, wo andere über mich, über meine Vita geschrieben haben, da steht ausgebürgert. Dann krieg ich aber wieder von Insider-Kollegen Kritik: „Ja, du bist doch nicht ausgebürgert“, ausgebürgert zu sein, ist unter Insidern eigentlich wie ein Moralkodex, ausgebürgert ist jemand, der rausge-


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¬ 1. Leipziger Herbstsalon

Stellt eine „furiose Schluss-Attacke nach vergeblichen Reformversuchen im Künstlerbund der DDR“ dar. Günther Huniat, Hans-Hendrik Grimmling, Olaf Wegewitz, Frieder Heinze, Lutz Dammbeck und Günter Firit sind die Namen der an der Kunstaktion 1984 beteiligten Künstler. Vom 15.11.84 an, drei Wochen lang wurde im Herzen von Leipzig Kunst gezeigt, die nicht staatlich abgesegnet war und es geschafft hat, trotz sofort eingesetzter Verbotsmaßnahmen, der DDR-Öffentlichkeit präsentiert zu werden. Ständige Schließung drohte den sechs etablierten Künstlern. Man versuchte über die Messeleitung den Künstlern eine vorzeitige Schließung aufzudrücken, doch der Anwalt Svend-Gunnar Kirmes schaffte es, dies abzuwenden. Der 1. Leipziger Herbstsalon wird für die Künstlergruppe zum furiosen Schlussakkord ihrer Geschichte. Eine solche Präsentation teils umstrittener Kunst wurde vom Staat nicht ohne weiteres hingenommen und als konterrevolutionär verurteilt. Noch im selben Jahr stellen Lutz Dammbeck, Hans-Hendrik Grimmling und Günther Firit Ausreiseanträge und übersiedeln wenig später nach München, Hamburg und Berlin.

schmissen wurde. Also Biermann ist rausgeschmissen worden. Ich bin nicht rausgeschmissen worden, aber auf jeder Urkunde, eines Ausgereisten, mit „Ausreiseantrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft“ steht dann in der Entlassungsurkunde: „ausgebürgert“. Es gibt eine Differenzierung zwischen der Amtssprachen und der Kultursprache. In der internen Kultursprache verlangt man eine Differenziertheit im Sinne der moralischen Differenziertheit, des moralischen Pathos, ausgebürgert intern, gilt eher als rausgeschmissen. Und ausgereist gelten die, die mit Antrag nach dem Westen gegangen sind, aber amtssprachlich heißen alle ausgebürgert. Ich bin damals weg. Das wäre wahrscheinlich Ihre nächste Frage. Ich bin damals weg,.… weil ich,… weil alles zu Ende war für mich. Alle Versuche in künstlerische Expansionen oder künstlerische Emanzipationen hatten ein Ende oder waren ausgereizt, mehr war nicht drin. Ich habe mich in einem Künstlerkreis bewegt, der viele gruppendynamische Experimente gemacht hat, um auch den hermetischen Rahmen der DDR zu sprengen, den verbandsorganisierten Künstlerrahmen zu sprengen, zu unterminieren vielleicht sogar. Alle diese Experimente, die teilweise verboten wurden, teilweise realisiert wurden mit Sonderklauseln, das war alles ausgereizt, mehr war nicht möglich. Und nach der letzten Aktion die wir gestartet haben, die wir realisieren durften, der 1. Leipziger Herbstsalon, da spürte ich dann, das war die Kulmination, das war das Möglichste, das war das Höchste mehr geht nicht. Wenn ich geblieben wäre nach dieser großen Gruppenaktion, wären ganz wahrscheinlich nur zwei Varianten übrig geblieben, entweder ich hätte diese Schritte verschärft und den Knast provoziert, oder ich hätte ein noch stärkeres Berufsverbot bekommen. Ich hatte vorher schon Ausstellungsschließungen. Oder es käme das Geschenk des Staates, das Geschenk der Privilegien, um die wir gekämpft haben. Also man hätte mir Westreisen angeboten oder Ankäufe im Westen, die ja immer vom Staat koordiniert und lanciert wurden, alles war ja staatlicher Kunsthandel. Also ich wollte vor allem diesen Geschenken ausweichen. Aber ich hatte auch Angst, meine Aktionen verschärfen zu müssen, um dann dieses andere Extrem leben zu müssen oder eigentlich leben zu wollen. Auch wir wollten an die Grenze gehen, eigentlich. Aber wir hatten auch immer ein bisschen Angst vor dem Knast, und es war dann schon die Zeit als ich den Antrag stellte ’84. Es war dann schon die Zeit, wo man das Gefühl hatte, dafür wandert man nicht mehr in den Knast, das machen viele, das geht eventuell gut und man darf raus. Und das hatte ein Jahr gedauert, Hinzu kamen noch private Sachen. Ich hatte ein neues Kind, und ich hatte die Vorstellung, wenn dieser kleine Wurm mit dem ewigen Palaver aufwächst, in dem ich mich bewegte, in dem inzestuösen Dauerthema, des sich nicht gerecht behandelt Gefühlten oder des Diskreditierten…. Ich dachte, wenn das Kind in so einer Stimmung aufwächst, wo der Vater immer nur meckern muss und immer nur melancholisch ist und sauer und deprimiert, dem wollte ich auch ausweichen. Ich wollte das Kind aufwachsen lassen, wo alle meine Sehnsuchtsbilder stationiert waren. Hat sich das erfüllt für Sie? Nein! Das erfüllt sich ja nie. Alle Sehnsuchtsbilder sind Imaginationen. Aber diese, fast biologische Translokation und diese Stationierung im gleichen Land eigentlich im gleichen Sprachraum. Deutsche Sprache, deutsche Kultur, es schien eben so, als ob dort Träume wahr werden würden. Aber eigentlich ahnt man schon mit dem Älterwerden, dem Heranwachsen, dass Träume dazu da sind, immer den nächsten zu ersetzten. Träume sind nicht realisierbar, also die Träume waren Illusionen, weil die nächste Anpassung auf dem Fuß kam. Die Verschärfung eines Wettbewerbs, also Kapitalismus in Hochform. Das war zwar gewollt, die Kunst sollte endlich wahrer sein. Das ganze Merkantile sollten meine Bilder wirklicher erfahren als durch ideologische Transfers oder Manipulation. Aber auch dieser Wettbewerb verlangt Anpassung, und die anderen Formen von Unfreiheit waren nun vor der Tür. Aber alles muss man versuchen zu erleben, alles kann man nicht erleben, von der Klippe runterspringen, das kann man nicht erleben, das kann man sich nur vorstellen. Die Freiheit kann man probieren zu erleben, und ich glaube, ein Stück Freiheit habe ich erleben können, weil ich diesen Schritt gegangen bin. Das heißt, ich habe mir ein Stück Freiheit genommen. Aber das löst nicht alle Probleme des Lebens. Die Schwierigkeiten neuer Verhaftungen und Verwurzelungen zu schaffen oder zu leben sind dann auch nicht so ganz unterschiedlich gewesen. Die Schwierigkeiten der Kunst der sogenannten Selbstverwirklichung, des eigentlich noch größeren Traums als die eigentliche Freiheit. Nämlich dem … man könnte denken, es gäbe so etwas wie Gleichberechtigung, wie Chancengleichheit. Es gäbe so etwas wie Verteilung, gerechte Verteilung. Das war natürlich eine Illusion, der Kapitalismus ist eine sehr schöne Braut, es gibt keine schönere, aber sie ist die radikalste unter den Bräuten. (Pause)) Hat man Sie gerne gehen lassen? In meinen Akten steht, dass alle sich schnellsten bemüht haben, mich gehen zu lassen, dass die bürokratischen Mühlen sich schneller drehen. Also man war froh, dass ich weg war, mit mir ist noch einer gegangen, nach uns zweien ist der Dritte gegangen. Unsere sogenannte Künstlergemeinschaft. Wir waren keine homogene Truppe, es gab auch keine gemeinsame Auffassung von Kunst, Wir hatten uns nur so eine Art Aktionsteppich gewoben, auf dem wir uns nun entlang bewegten. Also drei dieser sechs Leute verließen das Land in Folge. Und Ich glaube, dass war den Verwaltern, dieses kleinen Gefängnisses DDR, das war denen schon recht, das solche Gruppen sich selbst auflösten, weil man ja Angst hatte, dass deren Legenden mehr Schule machten. Und unsere letzte große Ausstellung, der 1. Leipziger Herbstsalon war schon ziemlich legendär, zu Lebzeiten. Wie gesagt, ich hätte mir auch eine Karriere denken können innerhalb dieser Hermetik, mit dieser kleinen Legende Herbstsalon. Man hatte natürlich die Chance bekannter zu werden in diesem engen Territorium, mit dieser Legende, ein Störenfried, ein Halbverbotener oder ein ganz Verbotener zu sein. Aber wie gesagt, ich war… ich wollte nicht die Wahl treffen müssen zwischen noch mehr Partisan spielen zu müssen oder beschenkt zu werden vom Staat. Vor diese Wahl wollte ich mich selbst nicht mehr stellen müssen. Ich glaube, ich hatte mehr Angst vor den Beschenkungen als vor den Bestrafungen, die dann gekommen wären. Ich wollte von diesen Arschlöchern keine Geschenke annehmen. Heute stellt sich raus, dass es vielleicht dumm war. Alle, die sich damals beschenken ließen, sind auch im Kapitalismus besser zurecht gekommen. Die haben ihr Leben


so geschönt, dass sie heute als die kritischen Künstler dastehen. Ich lese was vor vielleicht. Ja! Sie dürfen. Das passt zu allem. Das ist aus meinem Buch, ich hab eine Selbst… eine Autobiografie geschrieben, die ist schon zwei Jahre auf dem Markt, und trägt den Titel die „Umerziehung der Vögel“. Und ist der Titel eines gleichnamigen Triptychon, das ich in der DDR ‚78 gemalt habe. Ein großes Triptychon, das heute in einer Privatsammlung hängt. Das war sehr signifikant für die Zeit, hatte sehr große Wirkung, wurde aber nicht oft veröffentlicht, dürfte nur einmal in der Öffentlichkeit gezeigt werden. Und wurde in der Presse der DDR runtergerissen und als Beeinflussung imperialistischer Dekadenz deffamiert. Aber es stellt eigentlich einen großen schwarzen Vogel dar, der von nackten Männern zum Tanz gezwungen wird. Im Mittelteil. Auf dem linken Teil versuchen die gleichen nackten Männer mit dem Vogel zu fliegen, und auf dem rechten Teil stürzen sie alle in die Tiefe, obwohl sie schon Flügel haben. Also die Umerziehung der Vögel, so habe ich meine Autobiografie genannt. Ich habe schon immer kleine tagebuchartige Notizen oder kleine Essays geschrieben. Zu Geschichtsabläufen, die… nun, die auch mein Leben beeinflusst haben. 1990 habe ich eine Selbstdarstellung geschrieben, kurz nach dem Mauerfall, die heißt „Zur neunen Brüderlichkeit, an die Betreffenden“: ((Er liest vor)) „das weggehen vor fünf jahren, aus einem land voll zwietracht und lethargie in das biotop westberlin bedeutete äußerste anspannung und verlust, risiko und gewinn. gute freundschaften waren schwer belastet, gewachsene beziehungen wurden bis zur verleugnung strapaziert, zerreißproben eigener verwurzelungen bis hin zur verdrängungssucht, mussten ausgehalten werden. aber es war der gewinn, sich einer selbsthuldigenden, ‚kulturistischen‘ nomenklatur, entzogen zu haben, sich einer gleichmachenden vereinnahmung nicht verfügbar gemacht zu haben, auch nicht als opfer. es war hoffnung und versuch nicht mehr mit verlogenen über wahrheit streiten zu müssen, nicht mehr mit privilegierten über verzicht, und gleiche rechte debattieren zu müssen, nicht mehr mit diffamierenden über die notwendigkeit offener diskussionen verhandeln zu wollen. es war der gewinn, die ganzen scheißer nicht mehr sehen zu müssen. die mauer war mir ein schmutziges pflaster auf schrundige wunden, dennoch hatte ich an dessen fraglichen schutz geglaubt, jetzt ist er weggerissen, vor der heilung. wunden bluten nicht, sie eitern an dieser neuen alten luft. sie bleiben eine krankheit. die mauer war die Illusion einer heilung. selbst zur errungenen normalität gibt es sie nicht. aber ich werde mir die wunden nicht lecken zum gebotenen tarif. eines bleibt eine befreiende entscheidung – ich wollte nie in ein boot, in dem von der jeweiligen zeit honorierten rechtfertigungen, man sagen kann, wir säßen doch alle drin. aber leider werde ich solche boote auch nie sinken sehen. die krankheitsverursacher spielen sich jetzt als heilpraktiker auf, und der ‚freie markt‘ ermöglicht ihnen niederlassung und kundschaft. mit solchen ‚dynamikern‘, den sogenannten fortschrittlichen, mit diesen lästigen zeitgenossen werde ich weiterleben… aber ich werde nicht so brüderlich tun, als gäbe es eine gemeinsame suppe auszulöffeln.“ Und sehr viel später als ich das Buch zu schreiben begann, schrieb ich einen Artikel über den Wedding, wo wir jetzt sitzen, und ich beschreibe die Ankunft hier, auch die Begegnung mit neuen Freunden. ((er blättert in seinem Buch)) Und da ist ein diesbezüglicher Absatz drin. Ich beschreibe, dass ich viele weggegangene Künstler treffe, eine Art neue Gemeinschaft fühle, oder gefühlt habe, alles ändert sich zum Alten hin: ((Er liest vor)) „Wir waren jetzt alle West-Berliner. Das was wohl jeder loswerden wollte, die DDR, verband uns nun irgendwie und machte uns stark, auch wenn wir uns in vielen Streitereien und Dissenszen die Köpfe einschlugen. Um uns brach die Mauer weg, als risse man uns die Kleider vom Leibe und wir froren unter der gleichen Kälte und dem gleichen Gestank von zynischen Fusionen und Vereinigungstümeleien. Im offenen Berlin liefen uns nun Leute über den Weg, die wir zur Hölle gewünscht hatten und auf deren Partisanenlegenden sogar neue westdeutsche Freunde reinfielen. Ich musste mir wie im Osten anhören, dass ich alles nur bemäkeln würde. Kritik war kein Wort, gute Laune solle ich doch endlich mal zulassen und zeigen. Das Singuläre an mir blieb, dass ich als der einzige Leipziger Maler in diesem Kreis galt.“ Ich beschreibe dann weiter noch diesen Freundeszusammenhang und finde am Schluss eine Metapher, für dieses Stück Berlin oder für dieses noch kleinere Stück Wedding: in ewiger drehung reist mein gestreckter arm dem horizont eng um mich in so fallenden kreisen türmt sich ein panorama von mir von draußen ausgeschlossen, gebunden an den radius meiner seele verbrauche ich wiederholung

„Jetzt, wo der neue S-Bahn Ring das vereinte Berlin umschließt, als hielte er die Stadt schieneneisernen zusammen, schien es, als könnten die Züge, wenn sie schneller sausten, keine Lücke lassen für ein wiederholtes Entkommen. Aber auch so, als könnten sie von innen alle Geschwindigkeit aufnehmen, dass nichts verloren geht nach draußen. Manchmal stehe ich auf der Hochstation, der S-Bahn-Brücke über der Weddinger Müllerstraße, der S-Bahn Station Wedding und schaue auf die Lindower Straße als wäre sie der Mittelpunkt der Welt. Ja die Lindower Straße, ist dass, wo wir jetzt sitzen. Und darunter steht ein Gedicht von 1996, was irgendwie dazu passt: (∆ nebenstehend) ((Er liest das Gedicht vor)) Eigentlich hat man damit alles gesagt. ((er sieht mich an)) Eigentlich schon. Darf ich Ihnen trotzdem noch zwei Fragen stellen? Ja. Was wollen wir noch reden. Die Frage, die ich bisher auch jedem gestellt habe ist die. Deutschland wächst seit der Wiedervereinigung zusammen und man versucht, die beiden Teile wirtschaftlich und politisch anzugleichen.


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¬ Jürgen Fuchs (1950 – 1999)

J. Fuchs fiel schon früh durch seine Konflikte mit der DDRObrigkeit auf. Erst durch eine Eingabe konnte er Sozialpsychologie studieren. Und er wurde Mitglied der SED. Doch durch Auftritte mit der Band „Klaus Renft Combo“ und aufgrund seiner Gedichte und Prosawerke wurde er aus der SED ausgeschlossen und politisch zwangsexmatrikuliert, was sein Studium kurz vor der Diplomübergabe nutzlos machte. Durch Proteste gegen die Ausweisung Wolf Biermanns kam er 1976 neun Monate ins Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Durch internationale Proteste wurde ein Freilassung in den Westen erzwungen. Von Westberlin aus setzte er sich für die Friedensbewegung und die Bürgerbewegung in der DDR ein. Nach dem Mauerfall arbeitete er mit an der Aufklärung von MfS-Verbrechen. 1999 starb er an Krebs. Bekannt wurde er durch seine Äußerung 1991 über die Methoden der Staatssicherheit der DDR als „Auschwitz der Seelen“..

Denken Sie, dass da alles richtig gemacht wurde, oder hätte man bestimmte Dinge anders machen können? Natürlich, ich stell jetzt immer fest, wenn ich bei Diskussionen bin, selbst an Podien teilnehme, dass sich natürlich auch die eigenen Position wandelt, mag sein, dass es sich auch neuen Zwängen anpasst. Ich habe immer was gegen das Wort „Anpassung“ gehabt. Aber das ganze Leben ist natürlich eine Form der Anpassung. Ich war am Anfang in der frischen Wendezeit sehr gegen die Bürgerrechtler, die verlangt haben, die Zeit noch zu stoppen, die DDR noch länger in Form eines runden Tisches, länger am Leben zu erhalten. Wahrscheinlich war ich auch neidisch oder traurig, dass ich nicht dabei war. Das, was da in Leipzig losging, hätte ich schon gerne erlebt. Aber ich durfte ja nicht einreisen. Ich durfte ja nicht einmal meine kranke Mutter besuchen. Also ich konnte nie zurück. Erst dann, als alles möglich war. Vielleicht war ich auch neidisch auf die Bürgerrechtler, ich war sehr dagegen, dass sie die Zeit anhalten wollten, in Form des runden Tisches. Heute, heute sag ich wiederum, schade, dass sie es nicht geschafft haben, aus einem Grund, heute sitzen alle die, wieder in Ämtern, denen alles scheißegal war, die nur so tun, als kämpfen sie für irgendwas oder für irgendwen. Die sitzen heute alle bei der PDS oder bei den Linken. Welche sitzen sogar bei den Rechten. Ich hätte mir gewünscht, dass einige von den begabten, den großen Bürgerrechtlern durchaus in der Regierung sitzen, in höheren Posten. Die Merkel ist nun gar kein gutes Beispiel, die war ja auch mal FDJ-Funktionärin. Aber gut, über die muss man nicht so sehr streiten. Aber es sitzen in anderen Parteien Leute, die sich nicht einmal kaufen lassen müssen, die sich nicht einmal überprüfen lassen müssen. Auch in der Wirtschaft sitzen Leute, die wunderbarst untergekommen sind. Natürlich weiß man aus der Weltgeschichte, es ist immer so, wenn man mal Fouché gelesen hat von Stefan Zweig, das sind natürlich immer dieselben Menschen dieselben Charaktere. Das meine ich aber nicht fatalistisch oder deprimiert. Was weiß ich, wenn der Fuchs noch gelebt hätte und in ein Amt gekommen wär, oder die Bärbel Boley, dass man sie besser anerkennt, anstatt sie ständig nur durchs Feuilleton schleift, ständig in der Zeitung, aber eigentlich wird sie ja etikettiert als eine gescheitete Bürgerrechtlerin und das finde ich echt traurig. Ob das den Kapitalismus verlangsamt hätte, das steht auch in den… Es gibt keine Alternative im Moment, es ist reformierbar, durch solche Leute, aber es ist nicht aufzuhalten. Das ist ein Dilemma, wahrscheinlich ist irgendwann eine neue Form des Zusammenlebens möglich, wenn alles zusammenkracht. Ich denke schon, dass das noch lange reformierbar ist, die Krise zeigt ’s. Aber auch die Krise zeigt, dass nicht alle, bestraft werden, die das verursacht haben, sondern immer die, die es auf ihrem Schultern austragen müssen. Das kennt man aus der Weltgeschichte. Ich bin weiß Gott nicht deprimiert, ich hab viel mehr Lust am Leben, als ich am Leben bemängele. Aber sobald man drüber nachdenkt, um so mehr kommt eben die Kritik zum Vorschein. Das ist eben durch das Denken, so ist das Denken, dafür ist es da, dass Kritik übrig bleibt oder benutzt wird. Ja, was kann man noch sagen, also. ((Pause)) Ja was kann man denn noch sagen zu dem Thema, Freiheit gibt es nicht wirklich, Freiheit ist nur in der Kunst möglich. In Beschreibungen von Sehnsüchten oder in Gefühlen nach etwas, also in Gefühlen wie Sehnsucht. Und dennoch würde ich sagen, jetzt lebe ich freier, als damals. Jetzt lebe ich freiheitlicher, ich kann ziemlich offen reden. Ich muss in meiner Schule als Professor auch viele Kompromisse machen und eine Sprache finden, die nicht ganz meiner Mentalität oder meinem Denken entspricht, also Anpassung findet immer statt. Und dennoch, ich fühle keine Angst. Auch nicht vor sozialen Abbrüchen, die immer vor der Türe stehen. Also Harz IV kann jeder heute werden, davor habe ich keine Angst. Ich hab auch keine Angst, dass ständig irgendwo eine Wanze ist. Also es hat sich vieles geändert. Ich kann mich bewegen, wie ich will. Ich kann zu den Bildern fahren, die ich immer sehen wollte, wenn ich will. Das ist ein großer Gewinn ein meinem Leben. Das hört sich gut an, ja. Das sag ich einer Görlitzerin. ((er lächelt)) Ich war noch nie in Görlitz. Vorgestern war ich in Weimar gewesen, das war ja auch ziemlich weit unten. Das war in der Goethe Gesellschaft. Das war eine schöne Episode. Meine Lesung war nicht all zu voll, es gab eine Parallel-Lesung, nicht unweit, von der Goethe Gesellschaft, wo ich gelesen habe. Und nach der Parallel-Veranstaltung saßen wohl einige in der bekannten Kneipe in Weimar, wo sie alle hingehen. Und an dem Nachbartisch erkannten mich ein paar Leute, und die kamen rüber zu mir und meinten: „Wir könnten doch mal für dich hier eine Ausstellung machen. Stell dir vor, wir haben letzten Monat die herrliche Grafikmappe von Willi ausgestellt“. Ich sage: „Welchen Willi denn?“, „Na vom Willi Sitte.“, „Ja, ihr wisst schon, ich bin der Grimmling“, „Ja schon, das waren so tolle Arbeiten vom Willi“. Ich sage: „Kannst du mal bitte an deinen Tisch zurück gehen.“ Also ich wollte nie wieder neben einem Willi Sitte hängen, und dass Leute so glücklich tun, dass sie den zeigen dürfen. Das zeigt mir, dass sich in manchen Städten des Ostens nicht viel geändert hat, intern, nicht. Also dass dieser Mann, der so tut, als hätte er nur Gutes getan, sich so verbreiten kann, wieder, das ist… Aber so ist das in allen Gesellschaften nach Umbrüchen. Es gibt irgendwie ein altes chinesisches Sprichwort, Parabel, das heißt: „Die Tröge ändern sich aber die Schweine bleiben die gleichen.“ Den kenne ich, ja. Sehen Sie sich mehr als Wessi, als Ossi oder als Deutscher? Naja, ich schreib in meinem Buch übrigens auch viel über Heimat. Am Schluss zum Beispiel, schreibe ich auch etwas über Heimat, um so einer Frage vielleicht auch zuvor zu kommen. Es ist aber nicht eine Flucht, weil es abstrakt klinkt, das meine ich schon so. Da ist in dem Schlussabsatz: „Man kann nicht wieder in die Kindheit zurück, man kann nicht wieder an den Orten sein, die man verlassen hat, aber wir suchen die Anfänge trotzdem. Man kann es nicht leben, aber denken und fühlen. Dieses Sehnsüchtigsein ist der eigentliche Ort der Heimat. Er ist hinter den Barrieren, Heimat ist nicht senkrecht. Dort kreuzen sich die Dinge nicht mehr, sie schneiden sich nicht mehr. Sie legen sich in Parallelen, die sich einig geworden sind. In diesem Flachen ist die Sanftheit, die ich im Grün vermute. So


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gebrauche ich es als Synonym für ein Gefühl von Endlichkeit und Frieden, von Aussöhnung mit Abfahrt und Ankunft.“

¬ Willi Sitte (* 28. Februar 1921)

Willi Sitte wurde früh durch seine Lehrer gefördert, da seine Zeichnungen hervorragend waren. Er wurde

So, nee, also das geht. Das beantwortet meine Frage. So am Anfang, die Bilder, das Buch beginnt mit dem Kapitel Schwarz und endet mit Grün. Ein Stückchen vorher heißt es:

aufgrund von Kritik an der Lehre an der Hermann-GöringMeisterschule für Malerei in Kronau 1940 an die Ostfront strafversetzt. Wegen Gelbsucht wurde er auf Heimaturlaub nach Italien geschickt, wo er desertierte und sich den Partisanen anschloss. Nach dem Krieg wurde er bald

„Solange meine Bilder immer und immer wieder neue Senkrechte produzieren, stellen sie sich störrisch ins Weite und scheinen die nächste Imagination nicht zulassen zu wollen, als sei dort nichts zu finden. Ich muss sie immer wieder aufs neue überwinden, sie stellen sich mir in den Weg, sie sind mein Weg, so entsteht Zeit und in ihr die Sehnsucht nach Heimat.“

Professor auf der Burg Griebichenstein und Mitglied der SED. 1964 stieg er aktiv in die Politik ein. Er wurde einer der wichtigsten Künstler der DDR. Willi Sitte war Präsident des Künstlerverbandes und mit seiner Kunst ein Vertreter des sozialistischen Realismus. Seine Rolle als Kulturfunktionär

Und dann kommt das mit der Kindheit, also das ist vielleicht so eine Teilantwort. Immer, wenn ich ganz woanders bin, oder abends, ich war ich Chile, in China innerhalb eines Monats, also fast einmal um die Kugel. Und ich hab da jeweils nur Erschütterung gefühlt, also Erschütterung von der Größe der Welt vor den unbegreifbaren Dimensionen. Auch von Wettbewerb, die unglaublichen Skylines in Shanghai, diese Zerbauung von alter Kultur und diese wahnsinnige Armut in den Favelas in Chile, also dieses Unbegreifliche macht einen klein, aber aber dennoch in einer seltsamen Form glücklich, weil selbst, wenn das ganze Leben zu Ende ist, liegt noch soviel vor einem. Alles dreht sich und wandelt sich, alles stirbt und wird geboren, also diese Unendlichkeit merkt man eben, wenn man sich bewegt. Da fühle ich weder so zu sein noch so, da fühle ich mich einfach klein und demütig. Und in irgendeiner Form trotz dieser Überspanntheit glücklich. Aber, wenn ich innerhalb Europas unterwegs bin, in Paris meine alten Freundinnen und Geliebten besuche, die mich damals in Leipzig besucht haben. Als Marché Anhänger, so als Kommunisten, da fühle ich mich eher als so eine Art Linker, so als müsste ich immer noch so tun, als gäbe es einen Ort, ein Experiment, dem Kapitalismus auszuweichen. Ich nehme das dann aus der Literatur, fühle mich dann oft irgendwelchen Werken anverwandt und rede wirres Zeug und fühle mich irgendwie in einer Verteidigungshaltung. Sobald ich aber im Osten bin, in meinem anvertrauten Osten, in alten Städten der DDR, dann fühle ich mich, als wenn ich allen erklären müsste, dass die DDR nicht mehr da ist. Also nicht als Wessi, sondern dann fühle mich auch oft als Hasser, da ertappe ich mich oft bei schlechten Gefühlen bei Intoleranz. Dabei war ich noch nicht mal im Knast, ich kenne viele, die eigentlich traumatisiert sind. Also da fühle ich komischerweise alte Wut, also da ist auch irgendwas in mir traumatisiert und nicht vorbei. Wie gesagt meine Tochter ist sicherlich auch durch mein Gerede gebrandmarkt, meine letzte Tochter, und was hab ich dadurch erreicht. Sie wird nach langem Studium nach Afrika gehen, sie hat das große Gefühl in sich helfen zu wollen. Das ist was Schönes aber ein Vater hat Angst um sein Kind. Aber sie will keine Karriere machen, sie will helfen. Das ist wunderbar traurig für jeden Vater, der möchte lieber dass das Kind Geld verdient. Vielleicht erfüllt sie sich ihre Träume anders als ich. Ich glaube, dass glaubte ich früher schon, dass alles, was nicht vereinbar ist mit seinem realen Leben mit seinen Vorstellungen und Wünschen, das kompensiert man als Künstler in seiner Kunst. Ich glaube der Künstler hat eine große Möglichkeit sich Freiheit, also für sich selbst Freiheit zu leben. Weil, er kann etwas ausdrücken, was niemand verlangt, was ihm niemand auferlegt. Ob er davon leben kann, ist etwas ganz anderes. Aber er kann sein Gedanken formulieren, ohne dass seine Gedanken reglementiert oder diskreditiert werden, das ist natürlich ein großartiger Zustand. Man kann aber nicht allen sagen: „Werdet Künstler.“ Nee, dass kann man nicht. Meine Kunst ist nie Auftragskunst, auch wenn ich meinen Studenten immer lehren will, fähig zu sein für ein Briefing, sich für eine Auftragsarbeit beweglich zu machen. Ich selber kann das gar nicht leisten. Ich male etwas, von dem ich gar nicht weiß, ob das gebraucht wird oder ein Bedarf dafür da ist. Das, was ich male, ist sehr egozentrisch, und geht nur von mir aus, immer in dem Glauben, das was ich denke, will ein anderer auch denken. Das ist natürlich eine Anmaßung. Aber das ist ein eigener Wiederstand, der so und so bis zum Tod währt. Und selbst dann ist er nicht die Erlösung, der Zweifels setzt sich fort in der nächsten Kunst. Die Freiheit der Kunst ist halt nur solange da wie man Kunst macht. Ab da ist sie auch schon in den Händen anderer. Da haben wir doch schön geredet. ((er lächelt))

in der DDR ist umstritten.

¬ Hans H. Grimmling hat aus seinem Buch „Die Umerzie-

hung der Vögel: ein Malerleben“ gelesen. Erschienen ist das Buch im Mitteldeutschen Verlag, 2008 erschienen. www.h-h-grimmling.de



¬ 120

Anfang und Ende in Einem Jetzt bin ich zurück von meiner Reise, und es wird spät im Jahr. Meine Arbeit ist nun auch bald abgeschlossen. Schon in wenigen Wochen ist der 9. November und der Mauerfall jährt sich nun endgültig zum 20 mal. Die Medien haben uns überhäuft mit Filmen, Büchern und Dokumentation. Der Osten und der Westen sind diese Jahr vorgeführt worden wie nur in den Jahren direkt nach der Grenzöffnung. Da hat zum Beispiel ein Architekt ein völlig unberührte Wohnung in Leipzig gefunden, die 20 Jahre nicht betreten wurden, zur Ruhe gebettet im Sommer ’89. Die Zeit ist stehen geblieben und wir staunen über die Bilder aus der Wohnung wo sogar noch das Dederon Einkaufsnetz mit den Brötchen liegt, das am Tag der Flucht, des ehemaligen Bewohners, dort liegen gelassen wurde. All die Sachen, die damals keiner mehr haben wollte, werden jetzt bewundert wie aus einem antiken Grab und man überlegt was das heutzutage kosten würde, so original und gut erhalten. Aber was war das damals für ein Gefühl? Über Dinge, die es nicht mehr gibt wird viel mehr nachgedacht, als über Dinge, die man jeden Tag bekommt, oder die ohne eine große Sache daraus zu machen ersetzt wurden, und es nie einen wirklichen Mangel gab. Die Bürger der Ehemaligen DDR haben Vieles „weggenommen“ bekommen und es wurde viel Aufsehen darum gemacht. Der Vergleich von damals zu heute oder sogar von damals zu einem Jahr später ist beträchtlich gewesen und es wird immer so sein. Und es sind viele Veränderungen gemeint nicht nur das Angebot in der Kaufhalle. Die Freizeitgestaltung, die Regierung, die Arbeit und das Gesellschaftliche Leben. Aber warum, sagen „Ossis“ so oft dass die alte Zeit doch nicht so schlecht war? Sie machen es sich ja dadurch nicht leichter! Und sie können über das Thema nicht so unbefangen reden wie „Wessis“. Kann es daran liegen das viele der Dinge von früher nur noch in der Erinnerung existieren und nicht mehr zum Alltag gehören. Ich denke das ist mit ein Grund. Es gibt eine Stelle in dem Buch „Zonen Kinder“ von Jana Hensel, die dies treffend beschreibt: „Wenn mir heute Freunde aus Heidelberg oder Krefeld sagen, sie hätten lange gebraucht, sich dran zu gewöhnen, dass Raider nicht mehr Raider, sondern irgendwann Twix hieß, und wie sehr sie es lieben, in den Ferien für ein paar Tage nach Hause zu fahren, weil man es da zwar nicht lange aushalten, aber alles noch so schön wie früher und an seinem Platz sei, dann beneide ich sie eine bisschen. Ich stelle mir in solchen Momenten heimlich vor, noch einmal durch die Straßen unserer Kindheit gehen zu können, die alten Schulwege entlangzulaufen, vergangene Bilder, Ladeninschriften und Gerüche wieder zu finden. […] Die Dinge hießen einfach nicht mehr danach, wie sie waren.“ Auf meiner Reise habe ich Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten getroffen. Alle haben erzählt, dass sie sich eigentlich als Deutsche sehen und alle finden es gut wie es gekommen ist. Manche konnten mir erzählen was sie gerne besser gemacht hätten, im Zuge der Wiedervereinigung, und alle haben mir erzählt was sie nach dem Mauerfall jetzt besser finden. Unterschiede in den Meinungen gab es weniger zwischen West und Ost als zwischen Jung und Alt. Also zwischen der Generation, die schon immer in EINEM Deutschland lebt und der, die es lernen und sich daran gewöhnen musste. Der Umbruch im Herbst ‚89 wurde von ganz Deutschland gewollt, aber die großen Veränderungen trägt der Osten. Keiner möchte es mehr so haben wie vorher aber leider fehlen uns Jungen manchmal die Vergleiche, darum ist es gut, das in diesem Jahr wieder soviel über „Damals“ gesprochen wird. Ich habe für mich ein viel differenzierteres Bild zu dem Thema gewonnen, aber meine Meinung hat sich nicht im Kern geändert. Ich hatte die ganze Zeit gehofft das es vielleicht noch eine „andere Wahrheit“ gibt, aber mein Bild war und ist für mich nach wie vor richtig: Ich denke die Zeit wird nicht alle Wunden heilen aber Deutschland ist inzwischen nun einmal geeint. Ich denke, das sich alle bemühen sollten, nicht an den Unterschieden festzuhalten sondern sie abzuschaffen. Damit meine ich nicht die gewachsenen kulturellen Unterschiede sondern die wirtschaftlichen. Es gibt Prognosen, das selbst in 50 Jahren Unterschiede geben und das Bruttosozialprodukt der Bevölkerung eher aus Westdeutschland kommen wird. Doch auch in anderen Ländern gibt es Wirtschaftlich starke und weniger starke Regionen, und wir müssen diese Unterschiede nun einmal als gegeben hinnehmen und nicht ständig in einer geschichtlich-politischen Erinnerung erstarren wenn es um das Thema Ost-West geht. Lieber zusammen neu gestalten, als getrennt für sich verharren. Die Meinung ist eine Mischung der Menschen, die ich in Ost und West getroffen habe, sie ist mal mehr mal weniger idealistisch. Es ist die Meinung einer Generation, die eigentlich schon immer in einem geeinten Deutschland lebt und das auch so möchte.



Dank Ich möchte mich bei meiner Betreuerin Frau Prof. V. Götz bedanken, das sie so spontan begeistert war und mich damit viel unterstützt und bestärkt hat. Ich möchte Peter danken, das er jeden kleinen Gedankengang mit mir durchgegangen ist und immer bereit war sich alles anzuschauen und anzuhören. Meinen Eltern möchte ich danken, dass sie mit ihrer Unterstützung diese Arbeit möglich gemacht haben. Und ich möchte mich bei allen Menschen denen in unterwegs begegnet bin ganz herzlich bedanken. Es war mutig von euch sich meinen Fragen zu stellen und soviel von euch preiszugeben.


Quellenangaben: Aus alle Quellen, die ich hier aufgeführt habe, habe ich direkt Information bezogen bzw. ich habe sie während der Arbeit gelesen und weiß das sie mich beeinflusst haben. Internet: Wickipedia.de DDR_Lexikon.de Berliner Morgenpost dhm.de berliner-mauer-dokumentationszentrum.de berliner-mauer-gedenkstaette.de ddr-fotos.de die-berliner-mauer.de ritter-barum.de grenzanlagen.de moedlareuth.de grenzmuseum.de welt.de friedlicherevolution.de focus.de Bücher, die ich zu dem Thema gelesen habe: Karl C. Thalheim „Die wirtschaftliche Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland“, 3.Auflage 1889 Zeit Magazin, Geschichte „1989 die geglückte Revolution“, Deutschland 2009 Edgar Wolfrum „Die Mauer“ Geschichte einer Teilung, C.H. Beck Verlag 2009 Rolf Hosfeld „Was war die DDR“, Verlag Kiepenheuer & Witsch 2008 Jana Hensel „Zonen Kinder“, Rowohlt Verlag 2002 FLIX „Da war mal was…“, Carlsen Verlag 2009 Verwendete Landkarten: Europäische Kommission, Karte der Strukturfonds für Förderfähige Gebiete, aus dem Internet Organisationskarte, Deutschland 1: 600 000; Berndtson & Berndtson Verlag ca. 90er Jahre Gasolin Deutschlandkarte, Teil B und A, Ausgabe von 1954 Google Maps

Impressum Bachelorarbeit von Loreen Müller © 2009 „Im Inneren der Grenze“ Betreuer: Frau Professor Veruschka Götz Hochschule Mannheim für Technik, Gestaltung und Soziales Fakultät Design Studiengang Kommunikationsdesign Die erwähnten Personen haben eine Einwilligungs Erklärung unterschrieben, das Fotos und Text in dieser Form, für die Arbeit verwendet, werden dürfen. Keines der Interviews fand mit einer vorherigen Inhaltlichen Absprache statt. Alle haben spontan geantwortet. Digitaldruck und Weiterverarbeitung: ABT. Print und Medien, Weinheim ________________ / 10 Exemplaren




2009: 20 Jahre Mauerfall, ein denkwürdiges Jahr in der deutschen Geschichte. Ist das Trauma der Teilung eigentlich schon überwunden, fühlen wir uns Deutsch? Oder sind wir immer noch die Wessis und die Ossis, von hier oder von drübern (egal von welcher Seite der gedachten Mauer)…? Ich bin über eine Woche entlang der ehemaligen Innerdeutschen Grenze gereist, habe die Mauer in Berlin besucht, um darauf Antworten zu finden und persönliche Geschichten und Meinungen zum Jahrestag des Mauerfalls, zur Wiedervereinigung und dem ganzen Gerede darüber in Wort und Bild zu sammeln. Eine Reise „Im Inneren der Grenze“.


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