Locnuoctanan october 2016

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DER HENGST KONNTE FAST NICHT MEHR LAUFEN Wie der Unfall ablief, sah niemand. Aber es war ein Unfall mit Folgen. „Als ich Gawain von der Weide holen wollte, hob er das rechte Hinterbein nicht mehr an“, erinnert sich Besitzer Hans-Peter Berroth. Vermutlich war der Friesenhengst gestürzt; nun zog er den Huf hinter sich her, das Becken hing auf einer Seite ganze zwölf Zentimeter tiefer. Der Besitzer rief sofort den Tierarzt, aber der stand ratlos vor dem damals fünfjährigen Hengst. Vier weitere Mediziner suchten nach der Ursache. Keiner konnte bei Gawain eine Verletzung an Knochen oder Bändern feststellen. Weder Röntgenbilder noch die Ergebnisse einer Szintigraphie lieferten eine eindeutige Diagnose. Nur in einer Sache waren sich alle einig. Hans-Peter Berroth: „Alle sagten, dass ich dieses Pferd nie wieder reiten können würde.“ Sie rieten zur Kastration, einer Koppelpause oder gleich zum Schlachter. So schnell wollte Berroth sein Pferd aber nicht aufgeben. Vier Monate lang gab er dem Hengst Schmerzmittel und versuchte, das Bein nach Anleitung eines Pferdephysiotherapeuten zu mobilisieren. Als er nicht mehr weiter wusste, brachte er ihn zu KlassikAusbilderin Anja Beran nach Binding auf den Rosenhof. „Als ich ihn gesehen habe, dachte ich: Da kann man nichts machen“, sagt die Ausbilderin. „Das Pferd kam überhaupt nicht aus dem Hänger raus. Es war nicht nur lahm – es konnte einfach überhaupt nicht mehr laufen.“ Trotzdem wollte es Anja Beran versuchen. Sieben Monate lang holte sie den Hengst jeweils vier- bis fünfmal am Tag aus der Box und ließ ihn wenige Minuten an der Hand von rechts nach links übertreten. Wobei „treten“ nicht ganz richtig ist: „Das Bein ging zuerst weder nach vorne noch nach oben. Es rutschte nur rüber. Wir haben

jedes Mal Schleifspuren im Sand hinterlassen“, erzählt die Ausbilderin. Gawain hatte das Gefühl für das Bein vollständig verloren. „Es kam in seinem System einfach nicht mehr vor.“ Trotzdem sah die Ausbilderin Chancen für Gawain: Schon beim ersten Übertreten an der Hand reagierte der Hengst sofort. „Er hat es versucht. Da wusste ich, dass ich ihm helfen kann.“ Mit der Touchierpeitsche gab sie Gawain Impulse und stimulierte das Hinterbein. „Er hob es immer mehr an“, erzählt sie. „Die Koordination kam ganz langsam zurück.“ Stück für Stück fügte sich das Bein immer mehr in einen normalen Bewegungsablauf ein. Nach zehn Monaten war Traben an der Hand möglich, nach zwölf Monaten setzte sich Anja Beran zum ersten Mal auf den Friesenhengst. „Ich saß ganz schief. Ich fühlte mich, als würde ich zur Seite runterkippen.“ Vom Sattel aus konnte Beran jedoch ganz genau spüren, wo Gawains Probleme lagen – und gegensteuern. Mit Übungen wie Schulterherein auf der rechten und Schenkelweichen auf der linken Hand baute sie Muskeln auf und Verspannungen ab. „Die Gymnasik half Gawain. Nach dem Reiten war sein Becken fast gerade. In der Box ist es wieder runtergerutscht.“ Heute steht es zwar immer noch ein bisschen schief – aber das bremst Gawain nicht mehr aus.

Nach dem Unfall hing Gawains Becken auf einer Seite zwölf Zentimeter tiefer.

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Tr aining & Ausbildung · C AVALLO

Kompliment, Gawain: der 17-jährige Friese unter Silvia Wimmer, Elevin der Anja-Beran-Stiftung, und mit seinem Besitzer Hans-Peter Berroth.


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