Allgäu LIVE IN (02.2014)

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„Verrückte Sachen hab ich schon immer gemacht. Und das mach ich immer noch. Aber vielleicht sollt’ ich’s einfach a‘wink weniger verrückt machen wie früher,“ schmunzelt der ehemalige Profi-Skifahrer und versucht eine Kreisbewegung mit der linken Schulter. Dabei hält er abrupt inne, weil ihn offensichtlich ein plötzlicher, kurzer Schmerz daran hindert. Der leicht lädierte Mann, der uns zum Interview gemeinsam mit seinem Irokesen-tragenden Bandkollegen im Café gegenüber sitzt, der Mann mit diesem neugierig funkelnden Blick und dem unperfekten Kajalstrich um die Augen, dem kantigen Gesicht mit den vielen Lachfalten, dem Hut, in dem vorn eine Feder steckt, den weißen Schlangenleder-Boots und dem ansteckenden Lausbengel-Lachen ist Karl. Karl Gehring. Almhirt, Hüttenwirt, Käser, Besitzer einer von der Fifa authorisierten Fußballtrainer-Lizenz (die Franz Beckenbauer übrigens nie besaß) und nicht zuletzt: Frontman einer Punkband. Die natürlich nach ihm benannt ist.

So ein Käse! Aber der Reihe nach: Eigentlich begann es mit dem Käse. Die Eigenkreation des Gitarren-Bergkäs’ ist eine sehr schmackhafte Spezialität der Kappeler Alp bei Nesselwang und ein erstes Indiz für eine weitere Leidenschaft von Karl Gehring, der Musik. Seitdem er vor etwa zehn Jahren begann sich selbst Gitarre spielen beizubringen, begleitet sie ihn täglich. Ob allein in der Hütte oder auf der schönen Terasse zusammen mit den Gästen, ob eigene Kompositionen zwischen Flamenco und Schlager, spontane Jamsessions mit anderen Musikern oder einfach traditionelle Weisen aus dem Alpenland die Musik lässt ihn nicht mehr los. Und während einer dieser besagten Sessions mit befreundeten Musikern, zu der natürlich auch eine Verköstigung mit dem Käse in Form eines Gitarrenkorpus gehörte, kam der Musiker und Filmemacher Martin Kilger auf die „zündende Schnapsidee“, wie sie selbst sagen.

aber mehr als das, es ist eine ehrliche Liebeserklärung an die einzigartige Ostallgäuer Landschaft, das naturverbundene Leben abseits der Autobahnen und Großraumbüros und dank des schlitzohrigen, phantasievollen und herzhaft lachenden Hauptdarstellers ein echter Feel-Good-Movie. Übrigens nicht mit Untertiteln erhältlich, was dem Absatz im Norden Deutschlands aber keinen Abbruch tut. Im Gegenteil. Dieser Karl von der Alm fasziniert einfach, vielleicht sogar mehr noch fernab der Heimat. Möglichen Sprachbarrieren zum Trotz. Das passt auch zu ihm.

Ein Tanz, ein Held, ein Tod Über den nächsten Schritt, eine gemeinsame Punkband zu gründen, ranken sich unterschiedliche Geschichten. Offenbar war es aber eine alles andere als unerwartete Wendung für die Beteiligten. Und was nun daraus folgte, konnten in den vergangenen anderthalb Jahre sowohl die treuen Gäste der Almhütte, Konzertbesucher im ganzen Allgäu und in Berlin sowie tausende YouTube-User beobachten: Die Schaffung einer einzigartigen Künstler-Kombo um eine Kunstfigur, die neben dem Sound selbst eigentlich nur diese Botschaft hat: Dagegen! Kompromisslos Spaß haben, zwischendurch ein bisschen auf die Fresse (metaphorisch, versteht sich), bloß nix gefallen lassen und: Dagegen. „Natürlich gibt es momentan eine Menge Punkte an denen sich unsere Gesellschaft heute reiben kann. Und alles was gerade so langsam anfängt die Menschen aufzurütteln, fließt automatisch auch in unsere Musik ein“, erklärt Kilger alias Kloake, der sich nicht nur professionell mit Film und Musik beschäftigt, sondern auch regelmäßig an Marathonläufen teilnimmt.

der wissen inzwischen ebenfalls, dass man mit El Carlos als Speerspitze auch immer mit etwas Unerwartetem rechnen muss. Zum Beispiel, dass der Sänger für die Länge eines halben Songs irgendwo verschwindet und erst wieder erscheint, wenn auch der letzte Zuschauer lauthals im schnellen Takt des Titelsongs „EL CARLOS“ schreit. Wo er wohl war? Vielleicht in der Nähe eines branntweinhaltigen Getränks oder in den Armen einer sympathischen Begegnung. Oder beides.

Shakespeare und Anarchie

Hier ist eine Gruppe entstanden, die klassische Elemente des Punkrocks mit Allgäuer Mundart verbindet, wie selbstverständlich Ska-Beats mit einem Alphorn kombiniert und während ihrer Live-Auftritte eine Geschichte erzählt, die den ältesten Dramen der Zivilisation in nichts nachsteht. Der Weg eines Heldes, der das größte Abenteuer seines Lebens sucht, strauchelt und fällt, sich wieder aufrichtet, schließlich triumphiert, um am Ende dem entgegenzugehen, was uns alle ausnahmslos eines Tages erwartet. Der Protagonist formuliert das so: „Es ist ein Tanz. Stay Anti! Es ist wie das Leben. Und soviel ist „Aber wir sind weder für das eine noch mal sicher, irgendwann ist das vorbei. das andere“, fährt er fort. „Und wir neh- Und dann beginnt wahrscheinlich das men als Band auf keinen Fall irgendei- nächste Abenteuer.“ Aus dem Mund ne politische Haltung ein“, beschreibt dieses sympathischen, zuversichtlider Hamburger ihre Philosophie. „So- chen, zähen Mannes, dem man seine bald wir uns für das eine oder gegen vielen unterschiedlichen Etappen des das andere aussprechen würden, wür- Lebens durchaus ansieht, wirkt das Die Biografie verfilmt den wir ja dadurch dieses ganze absur- sehr tröstlich und plötzlich gar nicht Sie wollten gemeinsam eine Video-Do- de System, in dem wir uns befinden, mehr so bedrohlich. kumentation über Karl, seine Hüt- legitimieren. Wir sind grundsätzlich gete, seinen Lifestyle und eben jenen gen jedes System, das den Menschen GenerationenüberKäse, dessen geheime Zutat angeblich aufgezwungen wird. Aber in allerersgreifender Pogo Rock’n’Roll ist, produzieren. Es dauer- ter Linie wollen wir einfach mit unsete nicht sehr lange und das ersponne- rer Musik und den Leuten bei unseren Einig sind sich die beiden Musiker ne Projekt wurde greifbar. Aus dem als Gigs Spaß haben.“ Wer sie schon einmal auch darin, dass ihr eigenwilliger Stykurzen Imagefilm angedachten Video- live erlebt hat, weiß auch, dass ihr Pub- le ein ungewöhnlich breites Publikum clip wurde schließlich eine 45minüti- likum ganz gern unweigerlich in diese begeistert. „Was ich so schön daran finge Autobiografie über das schillern- energiegeladene Performance mit ein- de ist, dass es Jung und Alt gleicherde Unikat aus dem Allgäu. Der Film ist bezogen wird. Und die Bandmitglie- maßen anspricht“, berichtet Karl. „Von

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den Älteren höre ich manchmal, dass sie es gut finden, wenn jemand mal was Unkonventionelles macht. Und die Jungen, die zum Beispiel bei mir ihren Geburtstag feiern und über Nacht bleiben, sind oft wahnsinnig textsicher. Die können fast jeden Song vom Album auswendig. Das ist brutal!“ Und wieder ist Karl die Freude ins Gesicht geschrieben. Er, der 55-jährige Frontman, der dem Projekt seinen Namen und sein Charisma leiht, der Hamburger Bassist Siphone, der Drummer Schlakke aus der Nähe von Koblenz und Kloake an der Leadgitarre. Sie sind El Carlos. Sie machen Punkrock. Und sie sind dagegen.

Ein multimediales Faszinosum Abschließend möchten wir jedem, der jetzt neugierig geworden ist und jedem der unserer offenen Faszination für El Carlos skeptisch gegenüber steht, seinen YouTube-Auftritt empfehlen. Auf www.youtube.com/user/ KilgerMedia findet Ihr unter den Videoclips auch den zu ihrem heimlichen „Superhit“. In dem Musikvideo „Tatütata“, dem Titelsong ihres ersten Albums, werden Kloake und El Carlos auf einem Quad fahrend von einem Streifenwagen den Berg hinauf gejagt. Was es mit den ungewöhnlichen Dreharbeiten auf sich hat, ist aber eine andere Geschichte. Vielleicht erzählt sie Euch Karl, wenn Ihr ihn besuchen geht. Ein Besuch auf der schönen Kappeler Alp lohnt sich auf jeden Fall. Neben einer hervorragenden Bewirtung, dem ersten Album von El Carlos und der DVD „Karls Käs“, bekommt Ihr dort auch die Gelegenheit eine ausgezeichnete Rodelstrecke auszuchecken. Und der Weg zur Hütte ist auch für eher ungeübte Bergwanderer gut zu erklimmen. Selbst ohne Bergaufstiegs-Hilfsmotor auf dem Rücken. www.facebook.de/feuchtgebiet

www.live-in.de

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