Lotta 13, FRAUEN. LEBEN. LINKS!

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Juni 2017

FRAUEN. LEBEN. LINKS!

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Banden bilden – Aufbruch der Frauen!

Aktionen von, mit und für Frauen. 100 Jahre Frauenwahlrecht. Verband Alleinerziehende feiert Geburtstag. Riesinnen in der Geschichte. Warum wir Zeitsouveränität brauchen. Unser Thema! Lotta: Frauen in der Politik. Erfahrungen. Erfolge. Engagement. S.14


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13 Foto: Uwe Steinert

EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,

leichstellung ist noch nicht erreicht. Das wissen wir nur allzu gut. Und doch ist es wichtig zu sehen, wie vieles Frauen schon erstritten und erreicht haben, das uns selbstverständlich erscheint.

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Nicht als Beschwichtigung, sondern als Quelle von Mut und Inspiration. Die Lotta blickt deshalb auf 100 Jahre Wahlrecht zurück und noch weiter zum Kampf für Menschenrechte – auch für Frauen – in der französischen und Russischen Revolution.

Die Gleichstellung ist noch nicht erreicht. Aktuell erleben wir sogar, wie bereits Verbrieftes wieder infrage gestellt wird und besonders Frauen in ihrem Alltag immer stärker unter Druck geraten. So etwa hinsichtlich des Rechts von Frauen, über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Oder des Ausverkaufs der sozialen Infrastruktur, der Frauen sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch zu Hause besonders trifft.

och historisch wie gegenwärtig erleben wir auch, wie Frauen widerständiger werden, sich engagieren, für ihre Rechte eintreten – hier und weltweit, in selbstorganisierten Initiativen, in Verbänden, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisiationen, politischen Initiativen und natürlich auch in Parteien. Von diesem vielfältigen Mosaik wollen wir einen kleinen Ausschnitt in diesem Magazin vorstellen und von dem Aufbruch von Frauen und ihrem Einsatz für eine solidarische Gesellschaft erzählen.

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Cornelia Möhring ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende und leitet den Bereich Feministische Politik in der Fraktion DIE LINKE

iel zu selten wird von der Kraft der Frauen berichtet. Die allgemeine Geschichtsschreibung und Berichterstattung lässt hier häufig eine Lücke. Dadurch fehlen Vorbilder, Anregungen und Vorarbeiten, an denen sich leichter anknüpfen lässt.

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Die Ausgangssituation von Frauen war nie leicht, aber wo wir uns zusammentun, mutig und selbstbewusst nach vorne gehen, da können wir auch was erreichen. Veränderung liegt auch in unserer Hand.

n diesem Sinne soll diese Lotta-Ausgabe auch Ansporn und Anregung sein, Banden zu bilden und Bande zu knüpfen: sich zusammenzuschließen und aktiv zu werden und Bündnisse zu suchen, Bande zu denen zu knüpfen, die das Ziel einer emanzipatorischen Politik teilen. Meine Fraktion ist gern eine parlamentarische Bande für Frauenrechte!

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Cornelia Möhring

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Foto: Uwe Steinert

Inhaltsverzeichnis

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Von Rotstrumpf, Rakete 2000 bis Women’s March

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Illustration: Stock photo ©PenWin

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Editorial Banden bilden – hier und weltweit

Aufbruch Aktionen und Projekte von und mit Frauen

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Frauen als Wegbereiterinnen

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Frauenwahlrecht Frauen dürfen seit fast 100 Jahren wählen und gewählt werden. Was bedeutet uns das heute? Spurensuche Was wären wir Frauen von heute ohne die Frauen von gestern? Wer aber erzählt ihre Geschichten?

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Foto: Julia Nowak

Foto: Stephan Pramme

Erinnern

Foto: https://de.wikipedia.org /wiki/Alexandra_Michailowna_Kollontai#

JUNI 2017

Sommergespräch

Kirsten Tackmann (l.) und Cornelia Möhring im Ost-West-Dialog

14–17 Politikfrauen Zwei Politikerinnen, eine Ost, die andere West, eine linke Fraktion. Erfahrungen, Wünsche und Wahlen. 18–20 Frauenrente Frauen bleiben bei der Rente auf der Strecke! Gründe & Alternativen

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Alleinerziehend

Heute und vor 50 Jahren. Immer noch keine Gleichstellung von Einelternfamilien

21–23 Alleinerziehend Der Bundesverband alleinerziehende Mütter und Väter e.V. feiert den 50. Geburtstag. Erinnerungen an die Anfänge und Probleme von heute. 24

Spinnboden Stöbern. Entdecken. Staunen – ein Besuch im Lesbenarchiv Berlin

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Selbstbestimmt

Zeitnöte

Lebenszeit, Arbeitszeit, Sorgezeit. Wie kommen wir zu mehr Zeitsouveränität?

Frauen wollen selbst über ihre reproduktiven Rechte entscheiden. Dieses Menschenrecht wird ihnen vielfach genommen

26-29 Selbstbestimmung Mein Körper, meine Entscheidung: Weltweit wird versucht, den Frauen ihre gesundheit liche Selbstbestimmung zu nehmen. Verbote und Verfolgung von Frauen in Europa, Lateinamerika und den USA. 30

Care Revolution Warum bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit neu organisiert und demokratisiert werden muss.

Foto: Stock photo ©wildpixel

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Foto: Gettyimages © stevanovicigor

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Foto: iStock photo ©South_agency

Alles drin? Alles toll? lotta@linksfraktion.de

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Gewalt Gewalt in der Partnerschaft – „Und er wird es wieder tun“, eine Buchempfehlung.

33–35 Zeitnöte Meine Zeit, deine Zeit, unsere Zeit – Wie verfügen wir über unsere Lebenszeit?

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Aufbruch! THEMA: BANDEN BILDEN

Aktionen, Initiativen, Projekte von Frauen mit Frauen für Frauen. Zusammengestellt von Alexandra Wischnewski und Geraldine Carrara.

Rakete 2000 – Die Rakete unter den Lesebühnen

ier Frauen – Mareike Barmeyer, Lea Streisand, Insa Kohler und Eva Jacobi – ergreifen das Wort, nehmen sich Raum. Zusammen bilden sie die Lesebühne Rakete 2000. Ein festes Ensemble bestehend aus bis zu sieben Autorinnen, das seit neun Jahren in Berlin-Neukölln alle zwei Wochen mit neuen Texten sich ihrem Publikum präsentiert. Für Frauen immer noch eine Besonderheit. „Warum sind bei euch eigentlich nur Frauen?“, wurde Eva Jacobi von einem Kollegen gefragt und gab die Gegenfrage zurück: „Keine Ahnung! Warum sind bei euch nur Männer?“ Das beachtliche Missverhältnis zwischen den Geschlechtern im Bereich Komik hat eine lange Tradition. Frauen sind die, die lachen, wenn Männer Witze machen. Sie sind das Publikum. Gerne wird auch über Frauen gelacht. Die ganze Welt sexistischer Witze steht hier offen. Wenn Frauen jedoch komisch werden, führt das zu großer Irritation. Denn auch Komik bedeutet Macht. Es bedeutet, eine Situation analytisch zu durchdringen und in ihr Gegenteil zu verkehren. Wer eine Person oder eine Begebenheit ins Komische verkehrt, setzt sich darüber hinweg. Frauen in Machtpositionen sind für viele immer noch eine komische Vorstellung. Aber die Rakete 2000 startet durch und wirbelt diese Vorstellungswelten kräftig auf. So inspirieren sie auch andere Frauen und öffnen ihnen im besten Sinne eine „Bühne“.

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Foto: Stephan Pramme

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Die Lesebühne Rakete 2000: Eva Jacobi, Insa Kohler, Lea Streisand, Mareike Barmeyer (v. l.)

Rotstrumpf

ewrite the system!“ steht auf der ersten Seite. Die Zeitschrift Rotstrumpf ist selbst Ausdruck davon. Sie ist Ergebnis einer Schreibwerkstatt von und für junge Frauen, die Die Linke.SDS und linksjugend ['solid] im Juli 2014 in Bochum ausrichteten. Die sie antreibenden Fragen: Warum beteiligen sich Frauen weniger an Publikationen, Kommentaren und Positionspapieren? Was hat das für Folgen? Und: Was tun, um diesen Zustand aufzumischen? „Einfach machen!“ war ein Ergebnis der Diskussion. Am besten gemeinsam, um so die – meist von Frauen angelernte Angst – in die eigenen Fachkenntnisse und vor öffentlicher Kritik

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Foto: Frank Schwarz

Die Fraktion DIE LINKE hatte in der DDR geschiedene Frauen zur Debatte über einen Ausgleichsfond für sie in den Bundestag eingeladen. Mit dabei: Barbara Riechert, Vereinsvorsitzende (3.v.l.) und Marion Böker (2.v.r.) Beraterin für Menschenrechte.

Verein der in der DDR geschiedenen Frauen

eit 1999 kämpfen die in der DDR geschiedenen Frauen für ihr Recht auf einen angemessenen Versorgungsausgleich. Der Einigungsvertrag von 1990 erkannte ihre Lebensleistung plötzlich nicht mehr an. Im DDR-Rentensystem wurden frauentypische Erwerbsbiografien berücksichtigt und Anwartschaften blieben auch bei familienbedingten Ausfallzeiten erhalten. Nach der Wende sollte das „alte Recht“ nicht mehr gelten, zugleich wurde der westdeutsche

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Versorgungsausgleich den in der DDR geschiedenen Frauen nicht zugestanden. Eine Ungerechtigkeit, die bis heute fortbesteht und für viele der Frauen schlicht Altersarmut bedeutet. Ihr Verein musste etliche Enttäuschungen vonseiten der politisch Verantwortlichen erleben. Jetzt besteht endlich Hoffnung. Der UN-Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen hat nach sechs Jahren genauer Prüfung von Deutschland offiziell eine Wiedergut-

leichter überwinden zu können. „Einfach gemacht“ haben die jungen Frauen dann ein Magazin, das sich sehen lassen konnte – mit Beiträgen zu Streiks und Sexarbeit, zu HipHop und einer feministischen Strategie in den eigenen Verbänden. Aber es muss auch grundsätzliche strukturelle Veränderungen geben. Denn Frauen halten sich auch deshalb beim Schreiben zurück, weil ihnen neben dem Job und der CareArbeit im privaten Umfeld schlichtweg die Zeit für diese Arbeit fehlt. Und so schlief dieses Projekt nach einer ersten Ausgabe leider ein. Was aber hindert uns Frauen, ein neues, ähnliches zu starten?

machung gefordert und schlägt einen Ausgleichsfonds vor. Es ist auch höchste Zeit: Von ehemals 800 000 betroffenen Frauen leben heute schätzungsweise noch 250 000. Aber die Rentnerinnen kämpfen weiter. An ihrer Seite die Fraktion DIE LINKE, im Bundestag: Im Juni 2017 forderte sie die Bundesregierung auf, den Ausgleichsfond für die Frauen endlich einzurichten und sie zu entschädigen.

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THEMA: BANDEN BILDEN

Foto: Andreas Saalbach

Pink, frech und mit Pussyhats demonstrieren Frauen auf Lübecks Straßen. In der Mitte mit der pinkfarbenen Figur steht Katjana Zunft, die Initiatorin der Demonstration.

Women’s March in Lübeck berall leuchten pinke Mützen in den ersten Sonnenstrahlen des Lübecker Frühlings. Etwa 1 000 Menschen ziehen an diesem 11. März 2017 durch die Innenstadt, viele von ihnen tragen den „Pussyhat“, der sich als Zeichen gegen den Sexismus des neuen US-Präsidenten Trump und seinesgleichen etabliert hat. Er wurde zum Symbol einer erstarkenden, selbstbewussten Frauenbewegung. „Ich träume schon seit Jahren davon, die Frauenbewegung in Lübeck wieder aktiv zu machen“, sagt die Initiatorin der Demonstration, Katjana Zunft. Sie ist Mitglied der Partei DIE LINKE. SchleswigHolstein und Mitarbeiterin eines Frauenhauses. „Es gibt viele aktive Arbeitskreise, aber am Ende bleibt jede Gruppe unter sich.“ Das sei jetzt anders. Als sie Ende Januar 2017 die Mobilisierung zum Global Women’s March sah, die Millionen Frauen, die einen Tag nach der

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Amtseinführung von Donald Trump auf allen Kontinenten auf die Straße gingen, entschied sie spontan, so etwas auch in Lübeck zu initiieren. Idee und Einladung verbreiteten sich über Facebook und E-Mail in rasender Geschwindigkeit. Viele Frauen aus lokalen Initiativen schlossen sich begeistert an. Die Linkspartei unterstützte mit Infrastruktur und Erfahrung. Ein Logo und Flyer entstanden, ebenso „ein Arbeitskreis über Parteigrenzen und Gesellschaftslinien hinaus, von jung bis alt, von konservativ bis links“. Auch Frauen, die sich bis dahin selbst als völlig unpolitisch bezeichnet hatten, kamen und halfen kräftig mit. Sechzig Bündnispartner*innen unterschrieben einen gemeinsamen Aufruf. Mit Energie, Witz, Selbstbewusstsein und in großer Vielfalt fand die Demonstration dann statt. Der Spielmannszug Freibeuter heizte ein, DJ Lizzie Liebe und Sängerin Sarah Marie feierten

die Frauen. Kurze Reden wurden kurzerhand in die jeweilige Muttersprache übersetzt. „Ein voller Erfolg. Ein fröhlicher, bunter, kreativer Protest mit ernstem Hintergrund.“

either trifft sich das Organisationsteam regelmäßig und plant weitere Aktionen. Auch abseits davon ging es – angespornt von der guten Resonanz auf den Women’s March – mit feministischen Vorhaben weiter. Katjana Zunft kündigte gemeinsam mit anderen Aktiven an, das U-Boot vor einem Marine-Ehrenmal pink anstreichen zu wollen, um auf die Folgen der Kriegs- und Krisengeschäfte hinzuweisen. Damit kamen sie auf die Titelseiten der Landespresse und sie sorgten für Unruhe in der rechten und militärischen Szene. Das Boot strichen sie zwar nicht pink, aber ihr Ziel, Öffentlichkeit zu bekommen, hatten sie erreicht.

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it mehr als einer halben Million Mitglieder ist der Deutsche LandFrauenverband (dlv) der bundesweit größte Verband für Frauen. Unter dem Verbandsdach sind 22 Landesverbände mit rund 430 Kreisund mehr als 12 000 Ortsvereinen. Seit fast 70 Jahren vertritt er die politischen Interessen aller Frauen in ländlichen Regionen und den Berufsstand der Bäuerinnen im Besonderen. Sein Ziel ist die Verbesserung der Lebensqualität und der Arbeitsbedingungen im ländlichen Raum – auch um gerade die Abwanderung junger Frauen zu stoppen. Das ist gelebte Frauenpolitik. So klären die eigens dafür ausgebildeten Equal Pay Beraterinnen andere Landfrauen zu den Themen Erwerbsunterbrechung, Teilzeitfalle oder Minijobfalle auf und beraten sie. Das ist ein wichtiger Beitrag, um

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weiblicher Einkommens- und Altersarmut vorzubeugen und etwas gegen die Entgeltlücke der Geschlechter von immer noch 21 Prozent zu unternehmen. Auch international engagieren sich die Landfrauen und kooperieren beispielsweise mit Landfrauen in Uganda und Ghana.

„Stimmgewaltig. Mitbestimmend. Mittendrin.“ – mit diesem Motto präsentiert sich der dlv seit April 2017 auf der Internationalen Gartenausstellung in Berlin. An den Aktionstagen können sich alle Landfrauen mit eigenen Ideen und Aktionen beteiligen, um sich mit ihren lokalen Anliegen und Herausforderungen als Landfrauen öffentlich Gehör zu verschaffen. „Wir sind Bürgerinnen und gestalten unsere Gesellschaft mit. Wir nutzen damit eine der

schönsten und größten Möglichkeiten, die unsere Demokratie bereithält. Jedoch sind wir manchmal zu bescheiden, übernehmen Aufgaben ohne große Worte.“ Deshalb sei „stimmgewaltig“ ein wichtiger Teil ihres Mottos, sagt Brigitte Scherb, dlv-Präsidentin. Während der Aktionstage organisieren LandFrauen Begegnungen mit Bundestagskandidatinnen und -kandidaten, laden Gäste in landwirtschaftliche Betriebe ein, informieren über ehrenamtliches und kulturelles Engagement im ländlichen Raum und noch vieles mehr. Mehr unter www.landfrauen.info

rauen haben schon immer bei ungewollten Schwangerschaften abgetrieben und sie werden es weiter tun. Egal wie rigide die Gesetzgebung im jeweiligen Land auch sein mag. Die Frage ist nur, welche Risiken und finanziellen Anstrengungen müssen sie auf sich nehmen, auf welche Unterstützungsnetzwerke können sie zurückgreifen, oder müssen sie alles allein aushalten und tragen – emotional und finanziell? Das Netzwerk Ciocia Basia berät, begleitet, unterstützt betroffene Frauen. Die Gruppe aus polnischen und deutschen Aktivistinnen hilft Frauen aus dem östlichen Nachbarland, sicher und möglichst geschützt vor strafrechtlicher Verfolgung ungewollte Schwangerschaften zu beenden. Die Netzwerkerinnen von Ciocia Basia – übersetzt Tante Barbara – bringen die

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schwangeren Frauen nach Deutschland, begleiten sie bei allen Terminen, bieten Übersetzung, Unterkunft und emotionale Betreuung. Sie sind da für die Frauen, die sich häufig an niemanden sonst mit ihrem Problem wenden können. Denn Polen hat nicht nur eines der schärfsten Abtreibungsgesetze in Europa, sondern der landesweit verankerte Katholizismus stigmatisiert Frauen besonders stark. Offene Beratung ist rar. Ciocia Basia bietet hier konkrete Hilfe und Hoffnung. Dafür erhielten sie in diesem Jahr auch den Clara-Zetkin-Preis, den die Fraktion DIE LINKE für herausragende Leistungen von Frauen verleiht. Ciocia Basia braucht die Solidarität und Unterstützung – sowohl finanziell als auch organisatorisch. Dazu einfach ciocia.basia@riseup.net kontaktieren.

Foto: DIE LINKE

Ciocia Basia heißt Tante Barbara

Natalia Kolodziejska (r.) und Sarah Diehl vom Netzwerk Ciocia Basia bei der ClaraZetkin-Preisverleihung 2017.


100 Jahre Frauenwahlrecht

THEMA: BANDEN BILDEN

Was bedeutet uns das heute? Von Cornelia Möhring

Im November 2018 wird das allgemeine und passive Wahlrecht für Frauen 100 Jahre alt. Frauen mussten lange dafür kämpfen, wählen und gewählt werden zu dürfen. Wie sieht es heute damit aus? Von Cornelia Möhring

nde 1918 wurde Frauen zum ersten Mal das passive und aktive Wahlrecht verliehen. Im Januar 1919 wurden 37 Frauen in die Deutsche Nationalversammlung gewählt. Das entsprach damals einem Anteil von 9 Prozent. Kein unbeachtlicher Auftakt. Doch in den bald 100 Jahren, die folgten, konnte diese Quote nur um knapp 30 Prozent gesteigert werden. So gehörten dem 18. Deutschen Bundestag, der sich im Jahr 2013 konstituierte, nur 230 Frauen an – sprich 36,5 Prozent. Auf kommunaler Ebene sieht es sogar noch schlechter aus. Hier liegt der Frauenanteil im Durchschnitt bei 25 Prozent. Hauptamtliche Bürgermeisterinnen machen nur 4 Prozent aus.

Illustration: Stock photo ©PenWin

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Stimmt es also, wie hier und da behauptet, dass Frauen schlicht weniger Interesse an Politik haben? Die Wahlbeteiligung spricht dagegen: So wird das damals hart erkämpfte Wahlrecht von Frauen heute nur unwesentlich weniger wahrgenommen als von Männern. Konkret gingen zur Bundestagswahl

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13 2013 von den wahlberechtigten Frauen nur 0,5 Prozentpunkte weniger als von den wahlberechtigten Männern zu den Urnen. Der Gebrauch des aktiven und des passiven Wahlrechts fällt also deutlich auseinander. oran liegt es, dass Frauen auch 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts sich noch immer nicht in gleichem Maße politisch betätigen? Gleiche Rechte sind die Ausgangsbedingung, aber sie führen eben nicht automatisch zu den gleichen Möglichkeiten, diese Rechte auch in Anspruch zu nehmen.

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Schon Clara Zetkin, die eine der prominentesten Kämpferinnen für das allgemeine Frauenwahlrecht war, verstand das aktive Wahlrecht als eine Möglichkeit zur Schulung. So forderte sie am 14. September 1902 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands auf ihrem Parteitag in München dazu auf, das Frauenstimmrecht in den Kämpfen wieder in den Vordergrund zu rücken. „Erst das Frauenstimmrecht fordert die Aufklärung und Organisation der Frauen heraus und ermöglicht ihre unbeschränkte Teilnahme am politischen und wirtschaftlichen Klassenkampf. Wir dürfen nicht auf dem Standpunkt stehen, die Frau sei noch nicht reif für das politische Stimmrecht. Das Stimmrecht ist nicht Zuckerbrot für politische Einsicht und Wohlverhalten, sondern Mittel zur politischen Erziehung und politischen Macht der Proletarierinnen.“ Mag dies zunächst instrumentell klingen, so steckt doch dahinter eben jene prozesshafte Vorstellung, dass das allgemeine Wahlrecht in einer parlamentarischen Demokratie ein notwendiges Mittel unter anderen ist, politisches Bewusstsein anzuregen, das auch die Demokratie selbst wieder verändern wird.

n ähnlicher Weise sollten wir heute über das passive Wahlrecht nachdenken. Die letzten 100 Jahre haben gezeigt, dass hier mehr benötigt wird, als das bloße Recht, sich als Kandidatin aufstellen lassen zu können. Wir brauchen einen Kulturbruch in der männlich dominierten Parlamentsarbeit und ein paritätisches Wahlrecht, also eine paritätische Besetzung von Wahllisten und Wahlkreisen in Deutschland. Aber mit dieser Forderung müssen wir die Debatte darüber verbinden, was Frauen bisher davon abhält, sich zu beteiligen, und was wir aus den gegebenen Umständen entwickeln können, um ein solches Recht auch zur Anwendung zu bringen.

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Denn politische Arbeit in Parteien und Institutionen braucht Zeit und sie braucht einen selbstbewussten Umgang mit den männlich geprägten Strukturen. Häufig fehlt es Frauen an beidem. Die schlechtere Bezahlung von weiblicher Erwerbsarbeit und die geschlechtliche Arbeitsteilung, die Frauen neben der Erwerbsarbeit noch immer den Großteil der unbezahlten Haus- und Sorgetätigkeiten zuweist, führen dazu, dass es überwiegend Frauen an eigenen ökonomischen und zeitlichen Ressourcen mangelt. Die damit zusammenhängenden sexistischen Stereotype und Vorurteile, mit denen Mädchen schon von früh auf konfrontiert werden, mindern häufig das Selbstvertrauen, sich in männlichen Strukturen gegen alle Widerstände zu behaupten. Die faktische Möglichkeit, sich in Parteien und Institutionen politisch einzubringen, ist damit deutlich eingeschränkt. Ein paritätisches Wahlrecht ist ein Mittel unter anderen, Frauen darin zu stärken, in den Parlamenten für ihre Rechte einzustehen, eine neue und solidarischere Politik zu verfolgen und dabei auch

Der vollständige Text von Cornelia Möhring ist in „100 Jahre Frauenwahlrecht – Ziel erreicht! ... und wie weiter?“ zu lesen. Erschienen im Juni 2017, Verlag U. Helmer, 18,– Euro

die Strukturen der Parteien und Institutionen selbst zu verändern.

s gilt, die parlamentarische Arena wieder stärker als wichtiges Feld der Auseinandersetzung verständlich zu machen, wobei der Zugang über das aktive und das passive Wahlrecht ermöglicht wird, das aber nicht darin aufgeht. Es ist nicht eine für sich alleinstehende Wahl, sondern es ist ein Prozess, um die Strukturen selbst zu verändern – sozial wie politisch.

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Cornelia Möhring ist die frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

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Auf den Schultern von Riesinnen

THEMA: BANDEN BILDEN

Ohne Vorkämpferinnen in der Vergangenheit wären wir Frauen von heute nicht dort, wo wir sind. Doch wo finden sich ihre Geschichten, ihre Verdienste, ihre Spuren?

Foto: https://upload.wikimedia.org

Marie Olympe de Gouges forderte als eine der ersten Frauen gleiche Rechte für alle Menschen.

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ich zu erinnern ist gar nicht so einfach. Wann wurde ich eingeschult? Wie war der erste Kuss? Wie das erste Mal – oder wie war das noch mal mit den Jakobinern und den Girondisten in der Französischen Revolution? Die Schriftstellerin Christa Wolf schreibt zum Thema Gedächtnis in ihrem autobiografischen Werk „Kindheitserinnerungen“ Folgendes: „Gedächtnis. […]: ‚Bewahren des früher Erfahrenen und die Fähigkeit dazu.‘ Kein Organ also, sondern eine Tätigkeit und die Voraussetzung, sie auszuüben […]. Ein ungeübtes Gedächtnis geht verloren, ist nicht mehr vorhanden, löst sich in nichts auf, eine alarmierende Vorstellung.“ Dass das Erinnern also nicht wie ein Organ funktioniert, das alles, was geschieht, einfach aufsaugt, sehen wir vor allem dann, wenn wir unser kollektives Gedächtnis befragen. Hier wird schnell erkennbar, dass die Geschichte, die wir erinnern, viele blinde Flecken aufweist. Offensichtlich haben die Geschichtsschreiber sich nicht richtig erinnert oder sie wollten es nicht.

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Bleiben wir beim Beispiel der Französischen Revolution – Überwindung der Monarchie und Geburtsstunde der Menschen- und Bürgerrechte. Wir erinnern uns an Robespierre, Danton, Ludwig XVI. – vielleicht noch an Marie Antoinette. Aber welche Geschichtsbücher erzählen uns von Claire Lacombe oder Olympe de Gouges? Beide stehen exemplarisch für eine Reihe von Frauen, die in den Wirren der Französischen Revolution nicht nur eine zentrale Rolle gespielt haben, sondern die – anders als die Männer – gleiche Rechte für alle Menschen einforderten. So war es Claire Lacombe, die den sogenannten „Brotmarsch nach Versailles“ anführte, bei dem sich mehrere Tausend Arbeiterinnen, Bäuerinnen und bürgerliche Frauen zum Schloss des Königs aufmachten, um ihn zur Rückkehr nach Paris zu zwingen. Ihre Forderungen: ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln und – dieser Punkt wird oft nicht erinnert – Unterzeichnung der Menschen- und Bürgerrechte und der Dekrete zur Abschaffung der Vormachtstellung des Adels. Der Druck der Frauen und die Ankündigung, noch weitere Zehntausende Aufständische folgen zu lassen, bewegten Ludwig XVI. dazu, ihren Forderungen nachzugeben. So wichtig dieser Marsch für den Verlauf der Französischen Revolution war,

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n vielen anderen Ländern Europas und den USA kämpften Frauen lange Jahre für ihr Recht auf Mitbestimmung. Wer den Film „Suffragette“ kürzlich im Kino sah, konnte mitansehen, wie viel Kraft und Mut Frauen aufbrachten, um für ihre Rechte einzutreten – auch mit militanten Mitteln. Der Druck wurde so groß, dass ein

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Alexandra Kollantei war in der Führungsriege der Russischen Revolution 1917 eine einsame Ausnahme.

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m Grunde erging es den Frauen der Russischen Revolution 130 Jahre später ähnlich. In den Jahren vor der Russischen Revolution machten sie einen nicht unerheblichen Teil in den Führungsriegen und den Bataillonen der Bolschewiki aus. Und es waren die Textilarbeiterinnen in Petrograd, die am Internationalen Frauentag 1917 zu einem der wichtigsten Streiks der Ge-

Foto: http://www.carmagnole-liberte.fr

schichte aufriefen. Die Gesetze, die die Bolschewiki nach der Revolution auf den Weg brachten, waren die fortschrittlichsten der ganzen Welt. Dazu gehörte die Einführung des Frauenwahlrechts, die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, die Entkriminalisierung der Homosexualität oder die Förderung kostenloser Kindergärten und öffentlicher Wäschereien. Je autoritärer die Bolschewiki wurden, desto seltener übernahmen Frauen unter ihnen Führungspositionen. Von den vielen Frauen der Revolution werden nur wenige in der Geschichte erinnert. Alexandra Kollontai ist die einsame Ausnahme.

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so wenig erinnern wir uns an die Namen ihrer Protagonistinnen. Ein ähnliches Schicksal erfuhr auch jene Frau, die erkannte, dass die Menschen- und Bürgerrechte im Grunde nur die Rechte der Männer und Bürger meinten. Olympe de Gouges’ „Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin“ war die eigentliche Menschenrechtserklärung, die für alle Rechte galt. Leider durften die Frauen an dieser Entscheidung nicht teilhaben – die Nationalversammlung war eine reine Männerveranstaltung, das Frauenwahlrecht gab es noch nicht. De Gouges wurde auf dem Schafott hingerichtet.

Claire Lacombe organisierte den „Brotmarsch nach Versailles“ und endete auf dem Schaffot.

Land nach dem anderen das Frauenwahlrecht einführte. Die sexuelle Revolution der 1960er und 1970er Jahre und die Verbindung von sozialen und Freiheitskämpfen wären ohne die Frauen in der Studierenden- und den neuen sozialen Bewegungen nicht denkbar gewesen. Es ist den Frauen dieser Zeit zu verdanken, dass der Feminismus es in die Studienzirkel der Studentinnen und später in die Wissenschaften schaffte. Sie warfen die alte Geschichte über den Haufen und füllten die weißen Flecken mit den Erinnerungen an all die Frauen, ohne die unsere Geschichte so nicht möglich gewesen wäre. Es ist die Aufgabe der heutigen Generation von Frauen (und Männern), diese Geschichte weiterzutragen, weiterzugraben und sie mitzunehmen in die aktuellen Kämpfe. Wir stehen eben nicht nur auf den Schultern von Riesen – wir stehen auch auf den Schultern von Riesinnen. Kerstin Wolter Wissenschaftliche Mitarbeiterin

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Alle Fotos: Julia Nowak

THEMA: BANDEN BILDEN

Politikfrauen – Frauenpolitik

Verabredet zum frauenpolitischen Sommergespräch: Kirsten Tackmann (l.) und Cornelia Möhring. Beide stehen sie für Frauenpolitik in der Linksfraktion.

Kirsten Tackmann und Cornelia Möhring waren frauenpolitische Sprecherinnen der Fraktion DIE LINKE. Die eine Ost, die andere West, beide ein Jahrgang. Was hat sie in die Politik gebracht, was haben sie gewollt, was hat sie geprägt und warum sagen sie: „Ich mach’s noch mal“? Können Sie sich noch an die erste Begegnung erinnern?

Cornelia Möhring: Ja, über das Telefon. Ich stand in meinem kleinen Zimmer zu Hause, das Telefon klingelte, Kirsten Tackmann war dran und fragte, ob ich mir vorstellen könnte, Frauenpolitik zu machen.

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Kirsten Tackmann: Ich hatte von jemandem den Tipp gekriegt, sprich mal mit Cornelia. Ich wollte 2009 diese Doppelbelastung Agrarpolitik und Frauenpolitik nicht länger machen, das war zwar inhaltlich total spannend, aber organisatorisch nur schwierig hinzubekommen. Also habe ich angerufen. Es gab sofort einen Draht, auch viele Nachfragen, aber ich hatte das Gefühl, dass es passen könnte. Ich habe dann noch zu ihr

gesagt, wenn sie sich das vorstellen könnte, kriegt sie einen Kasten Sekt.

Möhring: Gut, dass du mich erinnerst. Den habe ich bis heute noch nicht bekommen (lacht). Hat es eine Rolle gespielt, dass Sie als Ostfrau jetzt gern den frauenpolitischen Staffelstab an eine Westfrau weitergeben wollten?

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13 Tackmann: Wenn man feministische Politik machen will, ist es schon gut, mit seiner eigenen Biografie im Westen verankert zu sein. Ich glaube, dass man als Ostfrau eine andere Frauenpolitik macht. In Nuancen, nicht im Ziel. Stimmt das? Ist eine westsozialisierte Herkunft da besser geeignet?

Möhring: Ich würde es gar nicht als besser geeignet bezeichnen. Aber Kirsten hat recht, dass die Westsozialisation andere Erfahrungen mitbringt. Ich bin viel stärker aktionsorientiert geprägt. Als ich 13, 14 Jahre alt war, gab es die vielen Aktionen zum sogenannten Abtreibungsparagrafen 218 im Westen. Ich denke auch, in Fragen der sexuellen Selbstbestimmung hat die 68er Bewegung die Frauenbewegung stärker geprägt. Das alles merkt man bis heute noch.

Ist denn mit feministischer Politik inzwischen ein Blumentopf zu gewinnen?

Möhring: Ich habe nie darüber nachgedacht, ob es irgendwie schwierig wird. Ich bin in die Partei DIE LINKE ja erst 2007 eingetreten und war von Anfang an

frauenpolitisch aktiv. Bis ich für den Bundestag kandidiert habe, war ich beispielsweise in der feministischen Bundesarbeitsgemeinschaft LISA. Und ich brenne immer noch für Frauenpolitik. Die manchmal bitteren Erfahrungen, dass es eben nicht allen so geht, habe ich erst hinterher gesammelt. Bei uns in der Fraktion ist mein Eindruck, dass mittlerweile in vielen Bereichen und von vielen Abgeordneten die besonderen Belange von Frauen mitgedacht werden. Das sehen wir auch an den vielen Anfragen und Anträgen zum Thema.

Tackmann: Ich fand immer, dass mit Frauenpolitik eine ganze Menge zu erreichen ist. Es gibt Teile in der Gesellschaft, die darauf warten, dass sie eine spürbare Vertretung auf parlamentarischer Ebene haben. Eine Vertretung, die Fraueninteressen nicht nur vor sich her trägt, sondern sie ernst nimmt und gemeinsam mit Frauen außerhalb etwas bewegen kann. Da finde ich schon, dass DIE LINKE da ein anderes Angebot ist als beispielsweise Bündnis 90/ DIE GRÜNEN. Es ist nur innerhalb der Partei nicht wirklich tief verankert. Was schade ist, denn für DIE LINKE liegt da eine wirklich große Chance, sich mit Partnerinnen zu verbünden.

Cornelia Möhring übernahm 2009 mit ihrem Einzug in den Bundestag den frauenpolitischen Bereich.

Kirsten Tackmann war 2005 die erste frauenpolitische Sprecherin in der Fraktion DIE LINKE.

Möhring: Das ist der Punkt. Ein Querschnittsbereich ist manchmal auch die beste Möglichkeit, das Thema unsichtbar zu machen. Aber das Tolle am frauenpolitischen Bereich ist am Ende genau diese Verknüpfung von fachpolitischer Arbeit im Parlament mit einer ganz starken Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Kräften. Was wollen Frauen für ihren Alltag, für ihr Leben?

Tackmann: Sehr viele Frauen sind ehrenamtlich an wirklichen Brennpunkten der Gesellschaft engagiert. Aber sie werden oft nicht gesehen. Als ich mit Frauen, die in den Frauenhäusern arbeiten, geredet und vor Ort auch gesehen habe, wie prekär ihre Situation ist, unter welchen Bedingungen sie versuchen, die sozialen Konflikte der vor Gewalt geflohenen Frauen zu lösen, hat mich das tief berührt. Als wir dann nach 30 Jahren Frauenbewegung das erste Mal eine Anhörung im Bundestag hinbekommen haben, war das wie ein Aufatmen. Dass sie endlich mal wahrgenommen und ernst genommen wurden. Wir Linken haben dann für die bundesweite Finanzierung gestritten.

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THEMA: BANDEN BILDEN Im Ost-West-Dialog – zwei Abgeordnete einer Fraktion.

Möhring: Frauen haben keine Lust mehr, ständig erzählt zu bekommen, wie schlecht es ihnen geht. Sie saugen es wie ein Schwamm auf, wenn wir über Perspektiven reden und gemeinsame Wege entwickeln. Ich erlebe das so oft in Veranstaltungen, dass Frauen sagen, wir wollen jetzt endlich, dass sich etwas ändert. Es gibt so einen Hauch einer Aufbruchsstimmung. Und Frauen sagen auch, wir wollen Verantwortung gar nicht allein an Politik abgeben, wir wollen selbst machen. Da mittendrin zu sein, finde ich ziemlich klasse. Aber natürlich wollen Frauen ein Leben ohne Not, wollen an Gesellschaft teilhaben können, das Beste für ihre Kinder und auch Anerkennung für ihr Tun.

Ist, wer Frauenpolitik macht, auch Feministin? Und was ist das heute?

Möhring: Der Begriff war schon immer sehr verschieden besetzt. Ich habe mich früher auch nicht als Feministin begriffen. Ich wurde aktiv, als es um die sexuelle Selbstbestimmung ging. Ich fand es zwar unerhört, dass Männer welcher Art auch immer bestimmen wollten, ob eine Frau ein Kind austrägt oder nicht – aber erst seitdem ich mich im Studium theoretisch mit dem Marxismus-Feminismus auseinandergesetzt habe, bezeichne ich mich als marxistische Feministin. Es gibt viele unterschiedliche Feminismen. Auch im Westen ist der Begriff immer noch negativ besetzt.

Tackmann: Ich habe nach wie vor mit der Begrifflichkeit Schwierigkeiten. Weil diejenigen, die sich laut als Feministinnen definieren, oft ausgrenzend sind. Sie vertreten sozusagen die wahre Lehre und beachten dabei aber

Kirsten Tackmann ° Geboren im September 1960, verheiratet, zwei Kinder, zu Hause im Land Brandenburg ° Berufsausbildung zur Chemielaborantin mit Abitur ° Veterinärmedizinstudium, Humboldt-Universität zu Berlin

° Promotion, Doktor der Veterinärmedizin, 1993 ° Seit September 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags, Fraktion DIE LINKE

die Breite der gesellschaftlichen Debatte nicht, die zur Befreiung von Frauen aus den vielen Abhängigkeitsund Ausbeutungsverhältnissen führte. Vielleicht ist das auch so ein bisschen diese Ost-West-Nummer. Klar waren die Frauen in der DDR nicht vollkommen gleichgestellt. Das wäre wirklich romantisierend. Aber sie haben sich viele Dinge selbstverständlich genommen, die heute überhaupt nicht mehr selbstverständlich sind. Ich bin Bündnispolitikerin. Ich mag beispielsweise nicht so über Prostituierte reden wie es in einigen feministischen Zusammenhängen getan wird. Solange jemand selbstbestimmt entscheidet, ist das in Ordnung für mich. Ich habe nicht über die Sexualität von Prostituierten zu befinden, möchte auch mit ihnen auf Augenhöhe agieren und ihnen die Freiheit lassen, sich zu entscheiden. Was nicht geht, ist die

° Von 2005 bis 2009 agrarpolitische und frauenpolitische Sprecherin ° Für die Bundestagswahl 2017 ist Kirsten Tackmann auf der Landesliste DIE LINKE. Brandenburg Spitzenkandidatin


13 Zwangsprostitution. Aber das ist ein ganz anderes Thema.

„Banden bilden“, das ist das Thema in diesem Magazin. Zusammen etwas auf die Beine stellen. Gibt es das auch fraktionsübergreifend im Bundestag?

Möhring: Banden eher noch nicht, aber Zusammenarbeit. Das Bündnis Berliner Erklärung zur Quote wurde von Frauen aus jeder Fraktion auf den Weg gebracht. Das war ein Erfolg, auch wenn nur ein Minigesetz dabei rausgekommen ist. Das erste Mal hatten sich tatsächlich Abgeordnete aus jeder Fraktion zusammengetan. In dieser Wahlperiode war es die Durchsetzung des „Nein heißt Nein“ im Sexualstrafrecht. Besonders stolz bin ich auf unseren bundesweiten Aktionsplan gegen Sexismus und Gewalt. Wir haben den Antrag 2016 eingebracht und waren selbst überrascht von der positiven Resonanz in allen Fraktionen. Auch aus der Zivilgesellschaft gab und gibt es große Zustimmung. Das ist schon ein Schritt zum Bandenbilden.

Tackmann: In meiner Zeit als frauenpolitische Sprecherin haben wir eine sehr interessante Debatte losgetreten. Es ging damals um die neue Periode der Agrarförderung. Wir wollten eine geschlechtergerechte Agrarförderung. Denn die Agrarpolitik ist völlig männerdominiert, abgesehen von einigen Ökobäuerinnen und Genossenschaften, in denen nicht selten Frauen das Sagen haben. Daraus resultiert aber, dass die gesamte Förderung auf männliche Bedürfnisse ausgerichtet ist. Frauen haben kaum bis gar keinen Zugang dazu. Diese Debatte losgetreten zu haben, fand ich sehr spannend. Das hatte auch das gute Verhältnis zu den LandFrauen zur Folge. Sie treten deutlich politisierter auf, stellen eigene Ansprüche und haben ziemlich interessante Themen.

Sie beide sagen, ich mach’s noch mal, trete zur Bundestagswahl wieder an. Warum?

Tackmann: Es sind noch so viele Fragen offen. Wir haben viele Türen öffnen können, durch die dringend gegangen werden müsste. Ich befürchte aber, sie gehen wieder zu, wenn man nicht dranbleibt. Agrarpolitik ist das spannendste Thema überhaupt. Denn was ist eigentlich noch wichtiger als die Frage: Wer produziert die Lebensmittel? Zu welchen Preisen? Zu welchen Konditionen? Wer hat Zugang dazu? Ein urlinkes Thema. Und da sage ich, solange sich nicht wirklich viele danach drängen, diesen Weg weiterzugehen, muss ich es halt selbst machen. Ich hatte auch das Gefühl, die Leute, die unsere Verbündeten sind, ansonsten im Stich zu lassen, wenn ich die nächsten vier Jahre nicht weiter daran arbeite.

Möhring: Ich muss ganz ehrlich sagen, die ersten vier Jahre habe ich echt gebraucht, um mich zurechtzufinden. Es war ja ein ziemlicher Schubs ins kalte Wasser. Mittlerweile bin ich angekommen. Ich weiß, was zu tun ist, ich bin in der Lage Prioritäten zu setzen. Es gibt eine Menge für uns zu tun. Unser Antrag für einen bundesweiten Aktionsplan gegen Sexismus und Gewalt ist schon so etwas wie ein Arbeitsplan. Darin geht es genauso um Abwehrkämpfe, für unsere sexuelle und gesundheitliche Selbstbestimmung, aber auch um sexistische Strukturen in der Arbeitswelt wie Lohnungleichheit und die niedrige Bewertung von Arbeit in der Pflege oder anderen frauentypischen Bereichen. Außerdem müssen wir davon ausgehen, dass eine weitere Kraft in den Bundestag kommt. Eine, die den Frauenrechten gegenüber mehr als rückwärtsgewandt ist. Ein linker Feminismus ist dann wichtiger denn je und die Herausforderung will ich annehmen. Das Gespräch führte Gisela Zimmer

Cornelia Möhring

° Geboren im Januar 1960, verheiratet, ein Sohn, zu Hause in Schleswig-Holstein ° Berufsausbildung zur Industriekauffrau ° Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg ° Diplom als Sozialwirtin und Diplom für Sozialökonomie, Schwerpunkte feministische Forschung und Frauenarbeit ° 2009 und 2013 zog Cornelia Möhring jeweils über den Spitzenplatz der Landesliste Schleswig-Holstein für DIE LINKE in den Bundestag ein ° In beiden Legislaturperioden war sie frauenpolitische Sprecherin ° Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag und Vizevorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ° Mitglied von UN Women

° Bei der Bundestagswahl 2017 ist sie erneut Spitzenkandidatin für ihr Bundesland


Fotos: Julia Nowak

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Wenn Frauen in Rente gehen wollen

Dann rückt ein gutes Leben manchmal in weite Ferne. Deshalb: Statt Altersarmut Renten rauf n Frankreich nennt man die Zeit nach der Berufs- und Familienphase „das dritte Alter“. Die Weichen für ein gutes Leben im Ruhestand werden lange zuvor gestellt. Vor allem für Frauen gibt es Entscheidungen und Wendepunkte, die sich später nachteilig auswirken können.

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Die neoliberale Doktrin „Privat ist besser als Staat“ bringt Stress und birgt

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Risiken. Die meisten Menschen fühlen sich überfordert, wenn sie zwischen den verwirrenden Angeboten für Riesterverträge oder Kapitalanlagen für die Altersvorsorge wählen sollen. Viele Menschen können sich aber ohnehin eine private Zusatzrente gar nicht leisten. Umso wichtiger ist eine sichere, eine verlässliche gesetzliche Rente.

artina war nach dem Studium drei Jahre lang angestellt. Dann kamen die Kinder. Ihr Partner machte Karriere. Seine Rentenanwartschaft ist gut. Hinzu kommen eine Betriebsrente und eine private Versicherung. Gut versorgt, könnte man meinen. Aber gilt das auch für Martina? Die abgeschlossenen privaten und betrieblichen Rentenversicherungen schreiben fest, dass im

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Falle von Manfreds Tod noch fünf Jahre Rentenleistungen an Martina weitergezahlt werden würden. Danach wäre Schluss. Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente gibt es bei privaten Versicherungen – anders als in der gesetzlichen Rentenversicherung – nur gegen Extrakohle. In der üblichen, vertragsabschlussorientierten Versicherungsberatung steht eine gleichwertige Absicherung beider Partner nicht im Fokus. Geschlechtergerechtigkeit ist hier ein Fremdwort. Im Scheidungsfall wäre Martina – wie viele andere Frauen auch und trotz des gesetzlichen Versorgungsausgleichs – von Armut bedroht.

ückblickend weiß Martina, dass der Verzicht auf eine eigenständige Erwerbstätigkeit ein Fehler war. Denn das deutsche Rentensystem ist überwiegend auf Erwerbsarbeit ausgerichtet. Das bedeutet, dass derzeit nur eine gut bezahlte Arbeit über viele Jahre hinweg zu einer guten Rente führt. Der sogenannte Gender Pension Gap entsteht, weil Frauen weniger Beitragszeiten haben und weniger verdienen. Die Regelaltersrente betrug 2015 bei Frauen 634 und bei Männern1.056 Euro. Innerhalb des aktuellen Rentensystems ist daher der beste Schutz gegen Altersarmut von Frauen, ihre wirklich gleichberechtigte Teilhabe an der Erwerbsarbeit und die damit zusammenhängende Entlastung von der unbezahlten Hausarbeit. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung muss neu verhandelt werden. Alle Menschen, Frauen ebenso wie Männer, sollten in die Lage versetzt werden, sich an den verschiedenen Tätigkeiten wie Erwerbsarbeit, Familien- und Sorgearbeit, gesellschaftlich-politisches Engagement, eigene Entwicklung zu beteiligen. Ein gerechtes Rentensystem muss Ausgleiche schaffen für niedrige Gehälter und geleistete Sorgearbeit.

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Warum Frauen bei der Rente auf der Strecke bleiben!

° In nur wenigen Ländern Europas ist der Lohnabstand zwischen Frauen und Männern so groß wie in Deutschland ° Das Rentensystem ist auf Erwerbsarbeit ausgerichtet ° Frauen sind daran ungleich beteiligt (Minijobs, Teilzeit, Niedriglohn), das hat massive Folgen für die Rente ° 45 Prozent der Frauen arbeiten in Teilzeit ° 30 Prozent der Frauen arbeiten im Niedriglohnsektor ° Der Frauenanteil in der Pflege beträgt 80 Prozent, im Gesundheitsbereich 70 Prozent. Beides Berufe, die niedrig entlohnt werden und wenig Prestige besitzen ° Laut Statistischem Bundesamt leisteten Frauen im Jahr 2003 rund 96 Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit (Haus- und Familienarbeit) ° Die durchschnittliche Altersrente der Frauen West beträgt 490 Euro, das entspricht der Hälfte der Altersrente der Männer ° Frauen Ost beziehen durchschnittlich 705 Euro Altersrente, das sind 300 Euro weniger als bei den Männern ° 2/3 der Beziehenden der Grundsicherung im Alter sind Frauen

Aber bis dahin gilt: Prekäre Beschäftigung und Hungerlöhne bringen keine guten Renten.

Auch für Isabell nicht. Sie baute als KfzMeisterin ihr eigenes mittelständisches Handwerksunternehmen auf, die Autowerkstatt lief gut. Entscheidungen zu ihrer Altersversorgung traf sie souverän. Sagt sie. Wie von der Handwerkskammer empfohlen, zahlte sie so wenig wie möglich in die Gesetzliche Rentenversicherung ein. Nach 18 Jahren Handwerkerpflichtversicherung meldete sie sich ab. Stattdessen baute sie über ihre GmbH eine betriebliche Versorgung auf. Ein Rat des Steuerberaters, um Steuern zu sparen.

Damals konnte sie sich nicht vorstellen, dass die Selbstständigkeit irgendwann aufhören könnte. Heute ist die Werkstatt verkauft, sie arbeitet als Angestellte in einem Blumenladen. Die Altersversorgung von einst musste beitragsfrei gestellt werden. Dabei fielen

beträchtliche Gebühren an und das angesparte Guthaben verringerte sich durch Abzüge. Unterm Strich ein herbes Verlustgeschäft.

amit das Leben im „dritten Alter“ wirklich in Würde und weitgehend sorgenfrei genossen werden kann, muss es auf sicheren Fundamenten ruhen – auf öffentlicher Daseinsvorsorge und Solidarität. Eine gesetzliche Rentenversicherung, in die alle einzahlen, ist dafür eine gute Basis. Aber gerade für Frauen muss sie mit anderen Maßnahmen zusammengehen.

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Regina Stosch ist wissenschaftliche Referentin in der Fraktion DIE LINKE

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THEMA: BANDEN BILDEN

Altersarmut ist weiblich Ein Kommentar von Matthias W. Birkwald m Jahr 2015 galten jeder siebte Mann und jede fünfte Frau ab 65 Jahren nach der offiziellen EU-Statistik als arm. In absoluten Zahlen: 1,1 Millionen Männer und 1,6 Millionen Frauen. Diese 2,7 Millionen Menschen eint, dass sie von weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens leben müssen, das für Alleinlebende mit 1.033 Euro im Monat angegeben wird.

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1.000 Euro im Monat für Miete, Kleidung, Medikamente, Essen. Und sonst? Für Kultur und Geselligkeit wird’s dann oft sehr eng.

Die Ursachen für die Altersarmut von Frauen sind vielfältig: Ein vorsintflutliches Steuerrecht, mittelalterliche Rollenklischees, sie werden in prekäre Jobs gedrängt, sie

bekommen schlechtere Löhne als Männer, sie bleiben für die Kinder oder für die Pflege zu Hause und all das wird in der Rente bestraft.

Ja, es gibt die sogenannte Mütterrente, und ja, es gibt Rente für die private Pflege von Angehörigen, aber ansonsten ist das deutsche Rentensystem gnadenlos: Wer nur Teilzeit arbeiten kann oder wer wenig verdient, ist später einmal entweder vom Mann abhängig oder von der Witwenrente. Was aber, wenn frau geschieden oder alleinstehend ist?

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ann trifft es Frauen besonders hart, weil die bis 1992 gültige „Rente nach Mindestentgeltpunkten“ abgeschafft wurde. Sie konnte den Absturz für Geringverdienende in die Altersarmut oft verhindern.

Dann trifft es Frauen besonders hart, weil wir trotz vieler Versprechen der SPD immer noch keine echte solidarische Mindestrente in Deutschland haben, die ihren Namen auch verdient! Für diese Frauen geht DIE LINKE mit folgenden Forderungen in den Wahlkampf: Wir wollen, dass für jedes Jahr Kindererziehung, egal ob in Ost oder West, egal ob vor oder nach 1992, 93 Euro Rente pro Monat gutgeschrieben werden!

Wir wollen, dass Zeiten niedriger Löhne in der Rente wieder aufgewertet werden.

nd wir wollen eine echte solidarische Mindestrente, die sichert, dass niemand im Alter von weniger als 1.050 Euro netto leben muss!

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Matthias W. Birkwald ist rentenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE

Foto: Gettyimages ©shironosov

Etwa zwei Drittel aller Beziehenden der Grundsicherung sind Frauen.

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Alleinerziehend ist auch Familie

Der Bundesverband alleinerziehende Mütter und Väter feiert in diesem Sommer sein 50-jähriges Jubiläum. Er hat viel bewegt, ist eine politische Stimme geworden und kämpft für die Gleichstellung dieser Familienform.

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war, dass Kinder mit dem biologischen Vater auch dann verwandt sind, wenn die Mutter nicht mit ihm verheiratet sein sollte. Dieser Punkt wurde tatsächlich geändert. Seit der Reform vom 1. Juli 1970 waren beziehnungsweise sind Kinder mit ihrem Vater verwandt, unabhängig davon, ob die Eltern verheiratet sind oder nicht.

eute hat der VAMV seinen Sitz in Berlin und er vertritt die Interessen der Alleinerziehenden in ganz Deutschland. Es existieren 14 Landesverbände und 100 Ortsverbände und Kontaktstellen. Neben der politischen Interessenvertretung verstehen wir uns vor allem als Service für Alleinerziehende. Hilfe zur Selbsthilfe ist wich-

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Foto: iStock photo ©South_agency

egründet wurde der Verband alleinerziehende Mütter und Väter (VAMV) im Jahr 1967 als Verband lediger Mütter. Und zwar von der Lehrerin und ledigen Mutter Luise Schöffel in Herrenberg, BadenWürttemberg. Sie wollte für die unverheirateten Mütter Einfluss nehmen, als das „Unehelichenrecht“ geändert werden sollte. Ein Ziel damals

Alleinerziehen hat immer noch ein weibliches Gesicht. 90 Prozent sind Mütter, 10 Prozent Väter.

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THEMA: BANDEN BILDEN

Zahlen und Fakten

° Alleinerziehende sind hauptver° ° ° ° ° ° °

Foto: Frank Schwarz

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antwortlich für Einkommen, Erziehung, Betreuung und Haushalt 2,3 Millionen Kinder unter 18 Jahren leben in Einelternfamilien Alleinerziehen ist weiblich: 90 Prozent Mütter, 10 Prozent Väter Im Schnitt sind Alleinerziehende 42 Jahre alt, nur 4 Prozent sind unter 25 Jahren 75 Prozent erhalten keinen oder weniger als den ihnen zustehenden Kindesunterhalt Alleinerziehende haben keinen Selbstbehalt 50 Prozent der Kinder im HartzIV-Bezug wächst bei Alleinerziehenden auf Armutsrisikoquote liegt bei 42,3 Prozent Kinderzuschlag erreicht Alleinerziehende kaum; Ursache: Anrechnung von Unterhalt und Unterhaltsvorschuss Wer sein Kind allein erzieht, trägt die Hauptlast im Haushalt, für das Einkommen und für die Kinderbetreuung.

Quelle: Verband alleinerziehender Mütter und Väter, Bundesverband e. V.

tig. Wir bereiten Informationen, Gesetze, Verordnungen für den Alltag Alleinerziehender auf und leisten Gruppenarbeit vor Ort. Das ist wesentlich, denn dort finden Alleinerziehende Gleichgesinnte, Menschen mit ähnlichen Erfahrungen, sodass sie sich untereinander austauschen und stützen können.

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n den vergangenen fünf Jahrzehnten hat der VAMV viel für Alleinerziehende erreicht. Und doch wird immer noch mit anderen Maßstäben auf diese Form von Familie geschaut. Zwanzig Prozent aller Familien in Deutschland sind Einelternfamilien. Der Anteil steigt sogar. Insgesamt leben derzeit 2,3 Millionen Kinder unter 18 Jah-

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13 ren in Einelternfamilien. Alleinerziehende sind zwar im Vergleich zu vor 50 Jahren gesellschaftlich anerkannt und die rechtliche Situation hat sich verbessert, aber die Familien-, Steuer- und Sozialpolitik hinkt immer noch hinterher und Alleinerziehende sind einem skandalös hohen Armutsrisiko ausgesetzt.

Als ich im Jahr 1976 geschieden wurde, gab es noch das Schuldprinzip. Es war wichtig, als der sogenannte nichtschuldige Teil aus der Scheidung hervorzugehen, weil davon einerseits die Unterhaltszahlung abhing und zum anderen, wer das Sorgerecht zugesprochen bekam.

ür mich war es damals nach der Scheidung und mit zwei kleinen Kindern unmöglich, wieder erwerbstätig zu werden. In ganz Westdeutschland war die Infrastruktur frühkindlicher Betreuung kaum bis überhaupt nicht vorhanden. Unterstützung habe ich dafür im Verband alleinerziehender Mütter und Väter gefunden. Bis heute gehöre ich ihm an, seit mittlerweile 40 Jahren, immer ehrenamtlich, auch ein Ehrenamt der Bundesvorsitz, den ich zu Jahresbeginn übernommen habe.

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Geändert hat sich vieles, aber manches ist leider auch geblieben. Zum Beispiel ist Alleinerziehen immer noch weiblich. Neunzig Prozent sind Mütter, nur 10 Prozent sind Väter. War es in den 1970er Jahren noch üblich, dass fast ausschließlich die Mütter das alleinige Sorgerecht bekamen, wurde 1998 das geteilte gemeinsame Sorgerecht nach einer Trennung zum Regelfall. Dieser Regelfall ändert nichts daran, dass vorrangig die Frauen für die Kinder zuständig sind und sie nicht selten in finanzielle Bedrängnis geraten. Einer-

seits weil sie nicht in Vollzeit arbeiten können, andererseits weil Väter ihren Unterhaltsverpflichtungen nicht nachkommen. Dabei lassen alleinerziehende Frauen nichts unversucht, um für sich und ihre Kinder zu sorgen. Ihre Bildungsvoraussetzungen sind vergleichbar mit denen von Müttern in Paarbeziehungen: 93 Prozent der Alleinerziehenden haben einen Schulabschluss, 70 Prozent einen Berufsabschluss. Auch die Erwerbstätigenquote liegt bei 70 Prozent, darüber hinaus arbeiten Alleinerziehende häufiger in Vollzeit (45 Prozent) als Mütter in Paarverbindungen (30 Prozent). Und trotzdem liegt das Armutsrisiko bei über 42 Prozent. Unsere Erfahrung: Alleinerziehende und ihre Kinder sind nicht überproportional arm, weil sie allein erziehen, sondern weil sie erstens Frauen und zweitens Mütter sind.

arum ist unsere Geburtstagsliste mit Forderungen zum 50. Jubiläum auch lang. Wir wollen die Gleichstellung aller Familienformen, etwa im Steuerrecht. Auf dem Arbeitsmarkt dürfen Kinder kein Hinderungsgrund für das Einstellen der Mütter sein, es braucht eine Ganztagsbetreuung in den Kitas und Schulen und eine Sicherung des kindlichen Existenzminimums. Aufgaben, die von der Politik gelöst werden müssen – und zwar nicht erst zum nächsten Jubiläum.

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Erika Biehn ist seit Februar 2017 Vorsitzende des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter Bundesverband e. V.

Netzwerk gegen Kinderarmut

° Gegründet am 1. Dezember 2016 von der Fraktion DIE LINKE

° Der Bundesverband alleinerziehender Mütter und Väter zählt zu den Gründungsmitgliedern

° Solveig Schuster bei der Netzwerkgründung: „Damit wird endlich eine gesellschaftliche Debatte über Armut von Kindern in Deutschland angestoßen. Wir haben eine sehr hohe Betroffenheit bei Alleinerziehenden und erhoffen uns jetzt endlich Lösungen.“

° Im Mai 2017 legte das Netzwerk eine Zwischenbilanz und Alternativen vor

° Armutsforscher Christoph Butterwegge: „Eine gehaltvolle Studie, die sich hervorragend als Grundlage für öffentliche Debatten eignet.“

Mehr unter www.netzwerk-gegen-kinderarmut.de

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Lebensspuren auf dem Spinnboden THEMA: BANDEN BILDEN

Seit über 40 Jahren sammelt das Lesbenarchiv in Berlin Nachlässe von Frauen, die ihr Lesbischsein offen lebten und politisch und kulturell Spuren hinterlassen haben. Wer den Spinnboden besucht, wird erstaunliche Entdeckungen machen. ie Geschäftsführerin des Spinnboden e. V. ist Sabine Balke. Wen soll sie herausfischen aus dem großen Arsenal der Nachlässe, Briefe, Tagebücher und anderer Fundstücke? Die Auswahl fällt ihr sichtlich schwer, aber eine besondere Frau sei die Schauspielerin und Schriftstellerin Anna Elisabet Weirauch (1887–1970) gewesen. Sie schrieb „Der Skorpion“, eine Trilogie. Der erste Band erschien im Jahr 1919, die beiden anderen folgten 1921 und 1931.

Das Lesbenarchiv besitzt den „Skorpion“ in der Erstausgabe. Darauf ist Sabine Balke stolz. Eine Rarität. Zum Nachlass der Schauspielerin Anna Elisabet Weirauch gehört auch ein Fotoalbum. Eine Fundgrube: Ausgeschnitten aus Illustrierten der damaligen Zeit und ins Album eingeklebt sind darin ihre Theaterrollen und die Kritiken der Aufführungen versammelt.

Fotos: Archiv Spinnboden

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„Der Skorpion“ war in der deutschsprachigen Literatur einer der ersten Romane, in dem lesbische Liebe offen und positiv dargestellt wird. Der Roman beschreibt sowohl die Diskriminierung lesbischer Frauen als auch die schwuler Männer. Das war neu zu jener Zeit. Rezensionen erschienen in den Zeitschriften Die Freundin und Die liebenden Frauen, zwei Frauen- und Lesbenzeitschriften der 1920er Jahre. Veröffentlicht wurde der Roman auch in den USA. Zwischen 1932 und 1975 erschienen mehrere Übersetzungen.

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eute kennt fast niemand mehr Anna Elisabet Weirauch. Geboren 1887 in Rumänien, besuchte sie in Deutschland eine Schule für höhere Töchter, bekam früh Gesangs- und Schauspielunterricht. Max Reinhardt verpflichtete sie 1906 mit gerade mal 19 Jahren für das Deutsche Theater. Im Jahr 1918 begann sie zu schreiben, im Laufe ihres Lebens verfasste sie über 60 Romane. Seit Mitte der 1920er Jahren bis zu ihrem Tod 1970 in Berlin lebte Anna Schauspielerin und Schriftstellerin Anna Elisabet Weirauch. Sie veröffentlichte Elisabet Weirauch mit ihrer Freundin als eine der ersten Autorinnen ein Trilogie Helena Geisenhainer zusammen.

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über die Liebe zwischen Frauen.

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13 „Ohne die Weirauch“, so Sabine Balke, „hätte es die lesbische, deutschsprachige Literatur erst viel später gegeben.“ Die Romantrilogie „Der Skorpion“ gilt als der Lesbenroman der Weimarer Republik, wird häufig in wissenschaftlichen Arbeiten zur Lesben- und Frauenforschung zitiert. Die Lebensgeschichte der Weirauch sei allerdings auch eine gebrochene Biografie. Während der NSZeit trat sie der Reichsschrifttumskammer bei, um weiter schreiben und veröffentlichen zu können. „Der Skorpion“ kam trotzdem auf den Index der Nazis und wurde verboten.

ür die Feministin, Frauenrechtlerin, Widerstandskämpferin und Politikerin Hilde Radusch (19031994) war „Der Skorpion“ eine Offenbarung. Sie erkannte sich darin wieder, lebte selbst offen lesbisch. Mit 18 Jahren zog sie aus einem bürgerlich-konservativen Elternhaus in Weimar nach Berlin, arbeitete als Telefonistin bei der Post, schrieb Artikel für die Frauenwacht, die Zeitung des Roten Frauenund Mädchenbundes. Sie tritt in die KPD ein, wird Betriebsrätin bei der Post – und lernt dort ihre erste Geliebte kennen. Die Postverwaltung entlässt sie, mit 26 Jahren wird sie Stadtverordnete der Berliner KPD.

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Im April 1933 wird Hilde Radusch verhaftet. Zuvor kann sie noch die Beweise für die illegale Postleitung vernichten. Ein Netzwerk, das sie mit aufgebaut hatte. Nach fünf Monaten wird sie entlassen. Es folgt ständiger Wohnungswechsel und die Überwachung durch die Gestapo. Im Jahr 1939 lernt sie ihre zweite Freundin, Else Klopsch, kennen. Mit ihr wird sie bis zu deren Tod 1960 zusammenleben. Die Kriegsjahre überlebt Hilde Radusch unter anderem, weil ihre Lebensgefährtin ein Restaurant eröffnet. Vor das zwangsverordnete Schild „Für Juden verboten“ stellten die beiden Frauen kurzerhand die Speise-

karte ihres Lokals. Eine todesmutige Aktion unter den Nazis. Im Sommer 1943 taucht das lesbische Paar in Prieros unter, einem Ort nicht weit von Berlin. Das Kriegsende erleben beide halb verhungert, in den letzten Monaten besaßen sie keine Lebensmittelmarken mehr.

ilde Radusch beteiligt sich sofort am Wiederaufbau. Sie arbeitet im Schöneberger Bezirksamt, tritt 1946 aus der KPD aus. Die damalige Parteileitung schließt sie gleichzeitig aus: wegen ihrer Frauenbeziehung! In den 1970er Jahren gehört Radusch zu den Gründungsfrauen der L 74 – einer Westberliner Gruppe älterer lesbischer Frauen, sowie des Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrums. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1994 schreibt sie Gedichte und Prosa. „Hilde Radusch“, so Sabine Balke, „steht für ein unangepasstes Lesbenleben.“ Sie sei eine Wegbereiterin der lesbisch-schwulen Emanzipationsbewegungen im deutschsprachigen Raum

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Die Politikerin und frühe Feministin Hilde Radusch beim Sommerausflug.

gewesen. Sie hätte genauso gelebt und gehandelt, wie sie es in einem ihrer Gedichte sagt: „mit dem Mut zum Entschluss“. Ulrike Hempel

WAS IST DER SPINNBODEN? ° Lesbenarchiv und Bibliothek e. V., gegründet 1973 in Berlin

° Gesammelt wird alles von und über Lesben: Fundamentales und Rares zur

Freundinnenkultur der Zwanzigerjahre, Dokumente des Berliner Lesbischen Aktionszentrums (LAZ), kontroverse Standpunkte feministischer Theoriebildung, private Sammlungen, Erinnerungsstücke aller Art, wissenschaftliche Abschlussarbeiten

° In der internationalen Präsenzbibliothek und Dokumentensammlung finden sich etwa 14 500 Medien. Dabei über 1 500 Zeitschriftentitel, Plakate, Bildund Tonträger zur Lesbengeschichte und –bewegung. Das Archiv hat eine umfangreiche Datenbank. Der Katalog ist seit dem Jahr 2008 online

° Der Spinnboden ist ein Ort der Begegnung für lesbische Frauen. Organisiert

werden regelmäßig Diskussionsveranstaltungen, Workshops, Kurse, Ausstellungsführungen und Filmvorführungen Mehr unter www.spinnboden.de

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Frauen wollen selbst entscheiden

Foto: Gettyimages © stevanovicigor

THEMA: BANDEN BILDEN

Sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung sind Menschenrechte. Und doch versuchen in vielen Ländern selbsternannte Lebensschützer und konservative Regierungen, die Rechte der Frauen einzuschränken oder sie ihnen ganz zu nehmen.

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13 Deutschland

n Deutschland ist in Vergessenheit geraten, dass Abtreibungen rechtswidrig sind!“ So beginnt eine von der Zeitschrift ideaSpektrum, Publikation des evangelikalen Dachverbands Deutsche Evangelische Allianz, lancierte Petition an den Bundestag. Mitte Mai dieses Jahres hatten bereits mehr als 10 000 Menschen die Petition unterzeichnet. Die „Lebensschützer“ kritisieren, dass das Wissen um die Rechtslage des Schwangerschaftsabbruchs zu wenig verbreitet sei. Das finden auch Feministinnen problematisch, kommen allerdings zu entgegengesetzten Forderungen. Während radikale Abtreibungsgegner und Gegnerinnen ein „Recht auf Leben“ für Föten etablieren

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Polen

und die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch einschränken wollen, skandalisieren Feministinnen, dass Abtreibung ein im Strafgesetzbuch aufgeführtes Tötungsdelikt ist, und fordern ein Recht auf dieses medizinisch unproblematische Verfahren. In Deutschland ist Abtreibung nämlich keineswegs ein Recht, sondern eigentlich verboten und nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt – unter anderem wird der Rechtsbruch nicht strafverfolgt, wenn sich die Schwangere einer Beratung ausgesetzt und danach drei Tage gewartet hat. Diese Petition stellt nur einen Versuch der „Lebensschützer“ dar, den realen Zugang zu einem Abbruch zu erschweren.

eproduktive Rechte sind nicht Teil der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, weswegen auch Staaten mit nahezu vollständigem Abtreibungsverbot Mitglied in der EU sein können und der EU auch bei den verschiedenen drohenden Gesetzesverschärfungen die Hände gebunden sind, Gesetzesverschärfungen wie in Polen, wo im vergangenen Jahr Abtreibungsgegner und -gegnerinnen eine Initiative bis ins Parlament brachten, die jede Abtreibung außer wegen Lebensgefahr der Schwangeren unter Strafe stellen sollte. Schon das bestehende Gesetz ist sehr restriktiv. Es erlaubt Abbrüche nur, wenn Gesundheit oder Leben der werdenden Mutter in Gefahr sind, wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung entstanden ist oder wenn eine schwere Behinderung des Fötus diagnostiziert wurde. Aber nicht mal in diesen Fällen ist ein Abbruch auch tatsächlich möglich. Frauenrechtsorganisationen gehen schon jetzt von 200 000 illegalen und oft lebensgefährlichen Abtreibungen jährlich aus.

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Ein anderer war der Vorstoß des bekennenden Christen Thomas Börner, Gynäkologiechefarzt der Capio Elbe-JeetzelKlinik im niedersächsischen Dannenberg, seiner ganzen Abteilung zu untersagen, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. Dies löste große öffentliche Aufregung aus und bewegte die Klinikleitung zu der Klarstellung, dass auch ein Chefarzt eine solche Befugnis nicht hat. Es handelt sich um eine Gewissensentscheidung, die jede Ärztin und jeder einzelne Arzt für sich treffen kann und muss, dies kann nicht verordnet werden. Börner hat daraufhin seine Stelle aufgegeben.

Mehr unter www.sexuelle selbstbestimmung.de

In den an Polen grenzenden deutschen Bundesländern ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche von Frauen aus dem Ausland stark angestiegen: In Brandenburg waren es im Jahr 2005 noch 56 solcher Abtreibungen, im Jahr 2015 wurden über 700 Schwangerschaftsabbrüche an Frauen ohne deutschen Pass vorgenommen. Unter dem Motto Czarny Protest (Schwarzer Protest) mobilisierten Frauenrechtsgruppen und linke Parteien erfolgreich gegen das Gesetzesvorhaben. Doch die Gefahr ist noch nicht gebannt – die mit absoluter Mehrheit regierende PiS hat angekündigt, einen eigenen Entwurf zur Verschärfung des Gesetzes vorzulegen.

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THEMA: BANDEN BILDEN

Italien

ber auch die individuelle Gewissensentscheidung kann dazu führen, dass Ärztinnen und Ärzte, die zu einer Abtreibung bereit sind, nur noch schwer zu finden sind. Obwohl der Schwangerschaftsabbruch in Italien seit fast 40 Jahren legal ist, verweigern ihn mittlerweile sieben von zehn Medizinerinnen und Medizinern, in einigen Krankenhäusern mehr als 90 Prozent der Gynäkologinnen und Gynäkologen. Das Gesundheitsministerium schätzte die Zahl heimlicher Abtreibungen im Jahr 2014 auf rund 15 000. Das Problem scheint nicht so sehr auf den Katholizismus zurückzuführen zu sein, auch sind nicht alle italienischen Krankenhäuser fest in der Hand von „Lebensschützern“. Die Vereinigung italienischer Gynäkologinnen für die Umsetzung des Rechts auf Abtreibung (Laiga) verweist stattdessen auf einen fatalen Selbstläufer des Systems: Da es nur noch so wenige gibt, werden die nicht verweigernden Ärzte oft nur noch für Abtreibungen eingesetzt. Da dies aber nicht ihrer Vorstellung von ihrem Beruf entspricht und auch die Karriere ruinieren kann, verweigern sich mittlerweile viele. Italien wurde wegen dieser Entwicklung und ihrer problematischen Folgen für die reproduktiven Freiheiten von Frauen bereits mehrfach von der europäischen Ebene gerügt, verbessert hat sich aber nichts.

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USA

n den USA werden Schwangerschaftsabbrüche nicht über ein Gesetz, sondern über ein Gerichtsurteil ermöglicht. In dem Fall Roe v. Wade entschied der Supreme Court 1973, dass das Recht auf Privatsphäre auch das Recht auf Schwangerschaftsabbruch beinhalte. Mit der Ernennung des konservativen Richters Neil Gorsuch für den Supreme Court hat US-Präsident Donald Trump das Bestreben der USamerikanischen „Lebensschützer“ nach einer Revision dieses Urteils wahrscheinlicher werden lassen. Das Gericht ist auch für die Prüfung von bundesstaatlichen Gesetzen verantwortlich. Hier sind Abtreibungsgegner und -gegnerinnen seit Jahren eifrig damit beschäftigt, restriktive Regelungen voranzutreiben. In Oklahoma liegt beispielsweise ein Gesetzesentwurf vor, der Schwangere verpflichten soll, die Zustimmung des Erzeugers für einen Abbruch vorzulegen. 26 Staaten verlangen mittlerweile einen Ultraschall, bevor eine Abtreibung erfolgen kann. In sechs Staaten muss der Monitor zur Schwangeren gedreht sein und die Ärztin oder der Arzt muss detailliert beschreiben, was zu sehen ist. Acht Bundesstaaten schreiben vor, die Schwangere über die angeblichen langfristigen Gesundheitsgefahren von Schwangerschaftsabbrüchen zu „informieren“.

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Eine der ersten Amtshandlungen Trumps war die Wiedereinsetzung der Global Gag Rule. Mit diesem Dekret werden den Nichtregierungsorganisationen, die Schwangerschaftsabbrüche oder auch nur Informationen darüber anbieten, die finanziellen Mittel der US-Regierung gestrichen. Mitte Mai 2017 wurde die Regelung noch ausgeweitet. Sie gilt nun auch für Organisationen, die sich in der Aids-Hilfe, gegen Malaria und für die Gesundheit von Müttern und Kindern engagieren. Nach Angaben des Außenministeriums betrifft dies Zusagen in Höhe von 8,8 Milliarden US-Dollar. Diese Maßnahme könnte vielen Frauen und Kindern im Globalen Süden das Leben kosten. Sie sind durch die häufig strikten Abtreibungsverbote ohnehin gefährdet. Beinahe alle Toten aufgrund unsicherer Abtreibungen sterben im Globalen Süden, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent. Das Guttmacher-Institut schätzt ihre Zahl auf zwischen 22 500 und 44 000 im Jahr. Dieses menschliche Drama lässt sich nur verringern, wenn das Bewusstsein dafür steigt, dass Abtreibungsverbote und Zugangsbeschränkungen Menschenrechtsverletzungen sind.

Kirsten Achtelik

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In El Salvador wird eines der weltweit schlimmsten Abtreibungsgesetze praktiziert. Frauen können aufgrund einer angeblichen oder wirklichen Abtreibung mit bis zu 30 Jahren Gefängnis bestraft werden. Guadalupe Vásquez (28 Jahre) war eine von 17 Frauen, die nach einer Fehlgeburt als Kindsmörderin zu einer 30-jährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Im Jahr 2015 stimmte das Parlament ihrer Begnadigung zu. Harald Petzold sprach während eines Besuchs in El Salvador mit ihr.

Foto: privat

El Salvador

13 Harald Petzold besuchte Guadalupe Vázquez (in der Mitte mit ihrem Sohn) und weitere Frauen der „17 plus“-Frauengefangenengruppe in El Salvador.

Was war passiert, dass Sie verurteilt wurden?

Das war im Jahr 2007, ich war gerade 18 Jahre alt und schwanger. Auch während der Schwangerschaft musste ich hart als Zimmermädchen arbeiten. Die Wehen setzten plötzlich ein. Niemand war da, der mir helfen konnte. Ich erlitt eine Fehlgeburt, kann mich nur noch daran erinnern, dass das Kind kam, ich auch einen Schrei hörte, ganz kurz. Danach wurde ich ohnmächtig. Später wurde ich in ein Krankenhaus gefahren und dort verhaftet. Sie behaupteten, ich hätte das Kind getötet. Aber das stimmt nicht. Ich wäre gar nicht fähig dazu gewesen. Was haben Sie im Gefängnis erlebt?

Das Schlimmste im Gefängnis war der von den anderen Mitgefangenen ausgeübte Druck. Sie behandeln dich wie das Letzte. Wir galten als Kindsmörderinnen, was Schlimmeres gibt es in der sozialen Hierarchie des Frauengefängnisses nicht. Das ging die ganzen sieben Jahre so, bis zu meiner Freilassung im Jahr 2015. Jeden Tag, 24 Stunden lang. Diese Anfeindungen musste man sich teilweise von richtigen Mörderinnen gefallen lassen. Besuch im Gefängnis gab es nicht, wir waren ganz auf uns allein gestellt. Von den anderen verurteilten Frauen hatten einige ja auch noch Kinder zu Hause. Die durften sie nicht mehr sehen, seitdem sie im Gefängnis waren. Das ist so ein weiterer Schmerz, der dir zugefügt wird. Was müsste sich ändern?

zwei Vorschläge vor. Der eine sieht vor, Frauen wie mich sogar für 50 Jahre ins Gefängnis zu stecken. Der andere Vorschlag will wenigstens Ausnahmen bei diesem fürchterlichen Gesetz zulassen. So eine Ausnahmeregelung hätte uns damals sehr helfen können. Wichtig wäre darum, dass die bisherigen Fälle bei diesem Vorschlag rückwirkend mit berücksichtigt werden. Ansonsten bleiben die anderen bislang verurteilten Frauen leider in Haft. Harald Petzold ist queerpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE

Ich bin ja nicht die Einzige. Es gibt weitere Fälle. Alle diese Frauen sind unschuldig im Gefängnis, so wie ich es auch war. Das darf man doch nicht hinnehmen. Der Präsident sollte sich persönlich für uns einsetzen. Zurzeit liegen dem Parlament

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Care – die Sorge für uns und andere gehört ins Zentrum THEMA: BANDEN BILDEN

it dieser Konferenz wollten wir einen Raum schaffen, in dem die vielen Menschen zusammenkommen können, die sich mit den Missständen und Problemen im Sorgebereich politisch und alltagspraktisch auseinandersetzen.

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Foto: Care Revolution Freiburg

Mit dieser Ausrichtung fand eine Aktionskonferenz im Mai 2017 in Freiburg statt. Über 33 Initiativen und Organisationen debattierten über bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit. Ein Bericht von zwei Care-Revolution-Aktiven.

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13 Nach einer Einführung von Gabriele Winker – sie ist Sozialwissenschaftlerin und Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der Technischen Universität Hamburg-Harburg – diskutierten die 120 Teilnehmenden in sechs Workshops über Probleme und Handlungsperspektiven. Die Themen waren so breit gefächert wie es der Alltag ist: Selbstsorge, Leben mit Kindern, Krankenhäuser, Pflege und Assistenz, soziale Arbeit sowie die Politisierung von Care. Die Teilnehmenden spiegelten das gesamte Spektrum der CareBewegung wider: pflegende Angehörige, Vertreterinnen und Vertreter von Klinikpersonalräten, Aktive aus feministischen und linken Gruppen, kirchlich Engagierte, Studierende und Berufstätige. Der Austausch fand in einer offenen Atmosphäre mit vielen interessanten inhaltlichen Inputs statt.

Bei dem zentralen Thema ging es darum, wie die Rahmenbedingungen für bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit grundlegend verbessert und demokratisiert werden können. Einigkeit bestand darin, dass zum Beispiel für eine humane Pflege oder eine gute Kita-Betreuung deutlich mehr Ressourcen, Zeit und eine unterstützende Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden müssen. Die Voraussetzungen dafür sind derzeit nicht gegeben und somit leiden immer mehr Sorgearbeitende unter Zeitstress und Existenznot. Gleichzeitig sind immer mehr Menschen für dieses grundlegende Problem sensibilisiert und es gibt häufiger Arbeitskämpfe, in denen die Arbeitsbedingungen von Care-Beschäftigten mit den Interessen von Kindern und Eltern, Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen verbunden werden. Auf der Konferenz waren deshalb auch Tarifverträge über eine gesicherte Mindestbesetzung auf Pflegestationen ein diskutiertes Thema. Care Revolution Freiburg unterstützt ein Bündnis für mehr Personal in den Krankenhäusern. Und zwar aus der Sicht potenzieller Patientinnen und Patienten. Der Slogan lautet: „Mehr von uns/Euch ist gut für alle.“

och was bleibt am Ende solcher Aktionen und Auseinandersetzungen? Immer wieder zeigt sich, dass die Kooperation der an den Bündnissen beteiligten Gruppen nicht weitergeführt wird. Das ist für alle Beteiligten frustrierend. Darum regte die Aktionskonferenz die Gründung eines Freiburger Care-Rates an. Ein solcher Care-Rat könnte den öffentlichen Diskurs über Care-Fragen verstetigen, punktuell und exemplarisch soziales Unrecht in der Kommune skandalisieren, Ursachen dieser Ungerechtigkeiten offenlegen, konkrete Forderungen zusammen mit anderen politischen Initiativen entwickeln und somit eine Kooperation verstetigen, die bislang eher sporadisch stattfindet. Die Sitzungen des Care-Rates sollten allen Interessierten offenstehen. Nach Vorstellungen der Konferenzteilnehmerinnen und

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-teilnehmer sollten Expertinnen und Experten im Care-Rat über ihren Alltag, ihre Arbeitsbedingungen und die Auswirkungen auf andere Personengruppen berichten. Je nach Thema könnten das Erzieherinnen und Erzieher, Eltern, Pflegekräfte, Patientinnen und Patienten und pflegende Angehörige sein, aber auch Beschäftigte im Sozialbereich, feministische Aktivistinnen oder Personalrätinnen und Personalräte.

ir glauben, dass ein solcher Care-Rat den punktuellen Kontakt aller im Sorgebereich engagierten Menschen auf Dauer halten und damit Debatten über das weitere gemeinsame Vorgehen vertiefen kann. Nicht nur in Freiburg, sondern auch anderenorts.

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Gabriele Winker und Matthias Neumann sind aktiv bei Care Revolution Freiburg

Was ist das Netzwerk Care Revolution?

Das Netzwerk Care Revolution ist ein Zusammenschluss von über 80 Gruppen und Personen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die in verschiedenen Feldern sozialer Reproduktion – Hausarbeit, Gesundheit, Pflege, Assistenz, Erziehung, Bildung, Wohnen und Sexarbeit – aktiv sind. Gemeinsam ist ihnen der Kampf gegen Lücken in der öffentlichen Daseinsvorsorge, die zu Überforderung und Zeitmangel führen. Langfristig werden neue Modelle von Sorge-Beziehungen und eine Care-Ökonomie angestrebt, die nicht Profitmaximierung, sondern die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum stellt und die Sorgearbeiten und CareRessourcen nicht nach rassistischen, geschlechtlichen oder klassenbezogenen Strukturierungen verteilt.

Mehr unter www.care-revolution.org

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GEWALT GEGEN FRAUEN

Wenn aus Liebe Angst wird

„Und er wird es wieder tun“ ist ein Buch über Gewalt zwischen Paaren und Expaaren. Darin erzählt Simone Schmollack von Übergriffen hinter den Türen und von der Scham, darüber zu reden.

as Thema ist schrecklich, das Buch dazu aber sensibel, facettenreich recherchiert, und es vermittelt Kontakte, Adressen, Hilfsangebote – alles bundesweit. Sodass am Ende bleibt: Ja jeder Schlag, jede Beschimpfung, jede Bedrohung findet zwar hinter den privaten Türen statt, dort jedoch muss es nicht bleiben. Es ist schon viel über häusliche Gewalt gesprochen und geschrieben worden. Das Thema scheint so alt zu sein, wie Frauen und Männer miteinander – und in diesen Fällen gegeneinander – leben. Was Simone Schmollack mit ihren etwas mehr als 200 Seiten „Und er wird es wieder tun“ schafft, ist den Frauen, auch einigen Männern, eine Stimme zu geben. Ihre Geschichten zu erzählen. Wie hat es angefangen mit den Schlägen, den Vorwürfen, den Bestrafungen? Wie und warum haben sie es ausgehalten? Dann immer wieder diese Suche nach der Schuld bei sich

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Simone Schmollack „Und er wird es wieder tun – Gewalt in der Partnerschaft“ Mai 2017 Verlag Westend, 18,– Euro

Frauen sterben, weil sie Frauen sind. Auch in Deutschland.

selbst, das Vertuschen nach außen und das verzweifelte Bemühen, wenigstens die Kinder zu schützen. Simone Schmollack vertiefte sich in die abrufbaren Zahlen, Statistiken, Erfahrungen und Beobachtungen von Polizistinnen und Polizisten, Kriminalistinnen, Ärztinnen, Psychologinnen und Betreuerinnen und Beraterinnen. Dabei aber hat sie es nicht belassen. Denn hinter jedem Vorfall steckt ein Mensch, eine Frau, eine Familie, ein Kind. Und keine Gewalt bleibt ohne Folgen. Die reichen von „Prellungen und blauen Flecken bis hin zu Verstauchungen, Knochenbrüchen, offenen Wunden und Kopf-/Gesichtsverletzungen. Ein Drittel der verletzten Frauen hat Hilfe in Anspruch genommen“. Anders gesagt, die beiden anderen Drittel schweigen. Aus Furcht, aus Scham, aus der Hoffnung heraus, es passiert nie wieder. Ein Trugschluss, fast immer. Das Buch erzählt eindringlich davon. Gisela Zimmer

Tagung zu Frauenmorden

Wann: 11. November 2017 Wo: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

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Eingeladen sind alle Interessierten sowie Experten aus Fachbereichen wie Medizin, Justiz, Journalismus, Erziehung. Mehr unter https://keinemehr.wordpress.com


Meine Zeit, deine Zeit, unsere Zeit

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Eine Umverteilungsfrage als Machtfrage gestellt. Von Katja Kipping

iele im Abendland gehen davon aus, dass jeder Mensch nur ein diesseitiges Leben hat. Grund genug, sich die Frage zu stellen: Wie gestalte ich meine Lebenszeit? Wofür gebe ich meine Lebenszeit aus und wie lange, wie oft gebe ich sie für etwas Bestimmtes aus?

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Foto: Stock photo ©wildpixel

Damit sind zwei grundlegende Dimensionen der Zeitfrage erfasst. Die auf Emanzipation zielenden zeitpolitischen Fragen lauten: Wer bestimmt über die Zeitverwendung von Menschen in ihren zwei Dimension? Können Menschen unter Berücksichtigung eigener Bedürfnisse und der Bedürftigkeiten anderer über die Art

und den Umfang ihrer Lebenszeitverwendung selbst bestimmen, oder können sie es nicht? Wer und was hindert sie daran?

Wir leben in einer Gesellschaft, die die Zeitverwendung der Menschen vom Standpunkt der Profitabilität und des Kosten-Nutzen-Kalküls bewertet. Was ein angeblich notwendiger Zeitaufwand

in der Wirtschaft ist, wird in einer kapitalistischen Gesellschaft dominant von der Frage her beantwortet: Was dient der Kapitalakkumulation und der Sicherung der ökonomischen Herrschaft einer Minderheit? Dass dabei die eigentlich notwendige Befriedigung menschlicher Bedürfnisse allzu oft unter die Räder kommt, wissen wir alle – die Zeit für Zuwendung zu anderen, die Zeit für die Entwicklung und Pflege des eigenen Körpers, der eigenen Seele, des eigenen Geistes, die Zeit, um das Gemeinwesen zusammen mit anderen zu gestalten. Das alles quetscht sich irgendwie zwischen abgeforderter Zeitverwendung, um eine gesellschaftliche Produktions- und Konsumtionsmaschine aufrechtzuerhalten – die viel Schädliches als Notwendiges deklariert. Dass dabei auch die notwendige Regenerationszeit von Natur missachtet wird, wissen alle, die von den ökologischen Folgen unserer Produktion und Konsumtion Kenntnis haben. Wir verbrennen und vernutzen jahrtausendelang Gewordenes in zwei bis drei Jahrhunderten. Unsere Produktion und Konsumtion plündert die Natur aus, zerstört sie. Und wir fragen uns, ob wir den ökologischen Imperativ von Karl Marx, die Erde „den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen“ nicht schon längst aus dem Sinn verloren haben.

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Be care S

Foto: Frank Schwarz

THEMA: ZEITPOLITIK

Die Fraktion DIE LINKE hatte im Herbst 2016 zu einem Fachgespräch über „Zeitwünsche und Zeiterfordernisse im Lebensverlauf“ eingeladen. Dabei auch Prof. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrum.

as wir brauchen ist die Besinnung darauf und eine radikal-demokratische Bewegung dafür, jedem Menschen die Verantwortung für seine Lebenszeit zurückzugeben. Es geht also um eine Umverteilung der Macht über Zeit, was eine Umverteilung zugunsten selbstbestimmter Zeitverfügung in ihren beiden Dimensionen beinhaltet: Es geht darum, jedem Menschen eine Autonomie über seine Lebenszeit zu ermöglichen – eine Autonomie, die in Freiheit um die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer kreist. Stichworte des Anfangens damit sind: demokratische Verfügung über Produktions-, Lern- und Lebensmittel und -orte, radikale kollektive Arbeitszeitverkürzung, individuelle Zeitsouveränität, grundlegende materielle Absicherung der Existenz und Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilnahme und Teilhabe jedes Menschen – ohne Wenn und Aber. Auch die Verteilungsungerechtigkeit hinsichtlich der Zeitverfügung und -verwendung zwischen den Ge-

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schlechtern gehört abgeschafft. Frauen leisten doppelt so viel unbezahlte Arbeit in Erziehung und Pflege als Männer. Bei Paaren mit Kindern ist das Missverhältnis noch größer. Hier ist ebenfalls die Umverteilungsfrage zu stellen. Es gilt, eine kurze Vollzeit in Erwerbsarbeit für alle und mehr gemeinsame Familienzeit zu ermöglichen. Und es muss natürlich ein Recht auf Feierabend, ein Recht auf Feiertage, auf Auszeiten geben.

Das sind alles wichtige Schritte zum Recht auf eine selbstbestimmte Verfügung über Lebenszeit – meine, deine, unsere. Katja Kipping ist sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

eit der Industrialisierung gilt Sorgearbeit – immer schon zur typischen Frauenaufgabe gemacht – als unproduktiv und wertlos. Zwar ist heute das geschlechtshierarchisch und arbeitsteilig organisierte wohlfahrtsstaatliche Sorgeregime ins Wanken geraten, aber es ist kein neues an seine Stelle getreten. Zeitnot gilt als der größte Alltagsstressfaktor, Sorge für andere und Selbstsorge werden prekär, Erschöpfung und Überlastung nehmen zu.

Angesichts dieser gravierenden Engpässe und Bedrängnisse ist es umso erstaunlicher, dass an einer Normierung des Lebenslaufs nach dem alten Dreiphasenschema festgehalten wird. Dieses Schema wurde in der industriellen Gesellschaft für den typisch männlichen, für den kontinuierlichen und vollzeitigen Erwerbsverlauf mit der „sorgenden“ Frau im Hintergrund, konstruiert. Heute müssen stattdessen Erwerbsarbeit und Erwerbsverläufe im Rahmen eines neuen Care-Regimes neu mit Fürsorglichkeit in Beziehung gesetzt werden, und zwar unabhängig von traditionellen Geschlechterbildern. Wird die gesellschaftliche Bedeutung von Care endlich in ihrer Wertigkeit anerkannt und nicht mehr nur an Frauen delegiert, bedeutet dies, dass weder das Ernährer- noch das Zuverdiener- und auch nicht das Vollzeit-Zweiverdienermodell zu-

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ful!

13 Für sich und andere zu sorgen, hält die Gesellschaft zusammen. Oder warum wir „Atmende Lebensläufe“ brauchen. Ein Plädoyer von Karin Jurczyk.

kunftsfähige Leitbildfunktion haben können.

Vielmehr muss Zeit für Care gesellschaftlich neu organisiert werden. Dabei geht es darum, allen Beteiligten gleiche Verwirklichungs- und Teilhabechancen zu geben und zu ermöglichen, dass sie als Antwort auf die „Wechselfälle des Lebens“ zum richtigen Zeitpunkt im Lebenslauf über Zeit verfügen können. Es braucht einen Welfare Mix mit einer gemeinsamen Verantwortung von Staat, Markt, Familie und Zivilgesellschaft für gute Care-Strukturen. Diese Dimensionen von Zeitwohlstand bilden das Geländer für eine Neukonstruktion von geschlechtergerechten „atmenden Lebensläufen“.

ein Plädoyer: Abgelöst von den bisherigen Leitbildern der Normalbiografie soll eine neue Norm und Normalität entstehen, in der beide Geschlechter ihren Erwerbsverlauf gemäß individuellem Care-Bedarf unterbrechen oder ihre Arbeitszeit für einen bestimmten Zeitraum reduzieren können. Sowohl Frauen als auch Männer sollen in ihrem Erwerbsverlauf Zeitanteile für familiale und gesellschaftliche Sorgeaufgaben, Weiterbildung und Selbstsorge aus einem garantierten Zeitbudget entnehmen und dies mit einer prinzipiell eigenständigen Existenzsicherung verknüpfen können. Dem besonderen Anliegen, Care-Arbeit im Lebenslauf abzusichern, wird da-

durch entsprochen, dass es als festen Kern im Gesamtbudget zeitlich gebundene Anteile für Care geben soll sowie nichtgebundene Anteile für andere Tätigkeiten. „Atmende Lebensläufe“ Tätigkeit für sich (z.B. Muße) => Eigenfinanz. (Grundeinkommen) Tätigkeit zugunsten Unternehmen (z.B. Aus-/Fortbildung) => Entgelt

Tätigkeit zugunsten Gesellschaft (z.B. Kinder-/Altenpflege) => Lohnersatz, öffentl. Mittel

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3-Ringe-Modell zum Entgeltersatz für Carezeit-Budgets

Eine solche Zweckbindung hat mehrere Vorteile: Sie erhöht die gesellschaftliche Akzeptanz, sie öffnet Lebens- und Teilhabechancen für unterschiedliche Gruppen und sie beugt durch die Verallgemeinerung der Norm „atmender Lebensläufe“ einer einseitigen Nutzung durch Frauen vor.

m ein konsistentes Gesamtkonzept selbstbestimmter Arbeitszeitgestaltung im Lebensverlauf zu entwickeln, bedarf es mehrerer Klärungen. Zum Beispiel: Wie soll der Umfang des Gesamtbudgets aussehen? Fünf bis acht Jahre? Welche Finanzierungsmodalitäten sind möglich? Wie funktioniert die soziale Absicherung der Zeitbudgets? Welche Anreize für eine geschlechtergerechte Aufteilung von Sorgezeit für Väter und männliche Sorgepersonen gibt es? Und anderes mehr.

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Care-Zeiten im Rahmen eines Gesamtkonzepts dann in Anspruch nehmen zu können, wenn sie gebraucht werden, hat große Vorteile gegenüber Einzelregelungen für so unterschiedliche Zwecke, wie sie momentan für Elternzeit, Pflege oder Weiterbildung bestehen. Die Zeit ist reif für Modelle atmender Lebensläufe statt eines starrenDreiphasenmodells mit weiblicher „Abweichung“. Gute und gerechte Care-Strukturen sind die Grundlage eines guten Lebens.

Karin Jurczyk leitet die Abteilung Familie und Familienpolitik beim Deutschen Jugendinstitut München und ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik

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FRAUEN. LEBEN. LINKS!

Impressum

Herausgeberin: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon: 030 / 22 75 11 70 Fax: 030 / 22 75 61 28 fraktion@linksfraktion.de

Leitung: Cornelia Möhring

V. i. S. d. P: Heike Hänsel, MdB Jan Korte, MdB

Satz und Gestaltung: Zitrusblau GmbH, Berlin, www.zitrusblau.de

Redaktionsschluss: 20. 6. 2017

Druck: MediaService GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

Redaktion: Gisela Zimmer, Alexandra Wischnewski Titelfoto: Andreas Saalbach

Kontakt: lotta@linksfraktion.de Dieses Material darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.

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