Leseprobe ZWF | Linde Verlag

Page 1

Wirtschaftsstrafrecht

„Bestellte Prüfer“ als Tatsubjekte iSd § 163b StGB?

Criminal Compliance mit System meistern

Betrug durch Unterlassen

Die Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung

Beginn des Strafverfahrens und behördeninterne Informationsquellen

Rechtsprechungsbericht des VfGH für das Jahr 2022

Europastrafrecht

Richtlinienvorschlag zur Bekämpfung von Korruption

Finanzstrafrecht

Ministerialentwürfe zum AbgÄG 2023 und CESOP-Umsetzungsgesetz

Die Finanzpolizei als Kriminalpolizei?

Blick über die Grenze

Nemo tenetur im deutschen Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren

Aus Sicht des Amts für Betrugsbekämpfung

Kontenregisterabfrage und Bankauskünfte

Praxisinformationen

Rechtsprechungsübersicht

Literaturrundschau

Rainer Brandl | Severin Glaser | Robert Kert | Roman Leitner Norbert Schrottmeyer | Mario Schmieder | Norbert Wess 9. Jahrgang / Mai 2023 / Nr. 3

Internationale Unternehmerfamilien

Rechts- und Steuerfragen bei Wegund Zuzug der Gesellschafter

z Internationale Gesellschaften von Familienunternehmen

– Rechtliche Herausforderungen bei Generalversammlungen, Beschlüssen und Notariatsakten – Ausschüttungen ins Ausland – Stiftungen mit ausländischen Begünstigten – Rechts- und Gerichtsstandortswahl im internationalen Kontext

z Vermögensnachfolge im internationalen Kontext: Erb- & steuerrechtliche Aspekte

z Wegzug aus und Zuzug nach Österreich

– Praxisthemen der Wegzugsbesteuerung und Ansässigkeitswechsel

– Steuerliche Aspekte eines Zuzugs nach Österreich (Beteiligungen, Kapitalvermögen, Immobilien)

WP/StB Dr. Christian Wilplinger Deloitte RA Dr. Maximilian Weiler JWO/Deloitte Legal
Webinar
lindecampus.at 14.6.2023 9:30–12:00 Webinar

Inhaltsverzeichnis

Wirtschaftsstrafrecht

„Bestellte Prüfer“ als Tatsubjekte iSd § 163b StGB?

Gerhard Altenberger / Wolfgang Brandstetter.........................................................................

Criminal Compliance mit System meistern

Elias Schönborn / Robert Keimelmayr...........................................................................................

Eine Miszelle zum Betrug durch

IMPRESSUM

Zeitschrift für Wirtschafts- und Finanzstrafrecht

Herausgeber:

StB Dr. Rainer Brandl; Univ.-Prof. Dr. Severin Glaser; Univ.-Prof. Dr. Robert Kert; WP/StB Hon.-Prof. Dr. Roman Leitner; RA Mag. Mario Schmieder; WP/StB Mag. Norbert Schrottmeyer; RA Dr. Norbert Wess.

Medieninhaber und

Medienunternehmen:

Linde Verlag Ges.m.b.H., A-1210 Wien, Scheydgasse 24.

Telefon: 01/24 630 Serie. Telefax: 01/24 630-23.

E-Mail: office@lindeverlag.at.

Internet: http://www.lindeverlag.at. DVR 0002356; Rechtsform der Gesellschaft: Ges.m.b.H.; Sitz: Wien.

Firmenbuchnummer: 102235x.

Firmenbuchgericht: Handelsgericht Wien. ARA-Lizenz-Nr. 3991; ATU 14910701. Gesellschafter: Anna Jentzsch (35 %) und Jentzsch Holding GmbH (65 %).

Geschäftsführung: Mag. Klaus Kornherr, Benjamin Jentzsch.

Erscheinungsweise und Bezugspreise:

Periodisches Medienwerk: ZWF –Zeitschrift für Wirtschafts- und Finanzstrafrecht.

Grundlegende Richtung: Fachinformationen zum Wirtschafts- und Finanzstrafrecht. Erscheint sechsmal jährlich.

Jahresabonnement 2023 (6 Hefte) zum Preis von EUR 262,70 (Print) bzw. EUR 301,40 (Print & Digital) – jeweils inkl. MwSt., exkl. Versandspesen.

Einzelheft 2023: EUR 58,70 (inkl. MwSt., exkl. Versandspesen).

Abbestellungen sind nur zum Ende eines Jahrgangs möglich und müssen bis spätestens 30. November schriftlich erfolgen. Unterbleibt die Abbestellung, so läuft das Abonnement automatisch ein Jahr und zu den jeweils gültigen Konditionen weiter. Preisänderungen und Irrtum vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher Bewilligung des Verlags gestattet. Es wird darauf verwiesen, dass alle Angaben in dieser Fachzeitschrift trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr erfolgen und eine Haftung des Verlages, der Redaktion oder der Autoren ausgeschlossen ist.

Urheberrechtshinweis: Für Publikationen in den Fachzeitschriften des Linde Verlags gelten die AGB für Autorinnen und Autoren (abrufbar unter https://www.lindeverlag.at/ agb) sowie die Datenschutzerklärung (abrufbar unter https://www.lindeverlag.at/ datenschutz).

Anzeigenverkauf und -beratung:

Gabriele Hladik, Tel.: 01/24 630-719

E-Mail: gabriele.hladik@lindeverlag.at Sonja Grobauer, Tel.: 0664/78733376

E-Mail: sonja.grobauer@lindeverlag.at

ISSN: 2409-5265

Hersteller:

Druckerei Hans Jentzsch & Co. GmbH, 1210 Wien, Scheydgasse 31

E-Mail: office@jentzsch.at Mehrfach umweltzertifiziert (www.jentzsch.at)

Telefon: 01/278 42 16-0

105 ZWF 3/2023 Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
106
111
Unterlassen Siegmar Lengauer............................................................................................................... 115 Die Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung Oliver M. Loksa................................................................................................................ 120 20 Jahre VÖStV – Realität und
der Strafverteidigung Thomas Pillichshammer.......................................................................................................... 125
Problem in neuem
und behördeninterne Informationsquellen Daniel Gilhofer..................................................................................................................................... 128 Rechtsprechungsbericht des VfGH für das Jahr 2022 Christoph Herbst............................................................................................................... 132 Aus der aktuellen Rechtsprechung Mario Schmieder / Norbert Wess................................................................................................... 136 Literaturrundschau Mario Schmieder / Norbert Wess................................................................................................. 137 Europastrafrecht Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Bekämpfung von Korruption Severin Glaser / Robert Kert................................................................................................... 138 Finanzstrafrecht Die Ministerialentwürfe zum AbgÄG 2023
2023 Elisabeth Köck................................................................................................................. 140 Die Finanzpolizei als Kriminalpolizei? Wilfried Lehner................................................................................................................ 143 Blick über die Grenze Nemo tenetur im Lichte des deutschen Besteuerungs- und Steuerstrafverfahrens Melina Strunk........................................................................................................................................ 146 Aus Sicht des Amts für Betrugsbekämpfung Kontenregisterabfrage und Bankauskünfte Martina Elisabeth Eber / Rainer Kuscher...................................................................................... 153 Aus der aktuellen Rechtsprechung Rainer Brandl / Roman Leitner.................................................................................................. 158 Literaturrundschau Rainer Brandl / Roman Leitner.................................................................................................. 159
Vision
Altes
Gewand: Über den Beginn des Strafverfahrens
und CESOP-Umsetzungsgesetz

„Bestellte Prüfer“ als Tatsubjekte iSd § 163b StGB?

Zur Frage des Täterkreises im „Prüferdelikt“

Gerhard Altenberger / Wolfgang

Die für die Praxis wichtige Frage, welche natürliche Person wegen „unvertretbarer Berichte von Prüfern bestimmter Verbände“ nach § 163b StGB strafbar sein kann, ist nach wie vor umstritten. Einerseits wird die Ansicht vertreten, dass bei der Beauftragung von juristischen Personen als Prüfer keine natürliche Person strafrechtlich belangt werden könne und mangels einer solchen Strafbarkeit auch die daran anknüpfende Verbandsverantwortlichkeit des beauftragten Unternehmens ins Leere laufen würde.1 Anderseits hat das BMJ erst kürzlich in einem Erlass die Gegenposition vertreten und gemeint, dass bei der Bestellung einer Prüfungsgesellschaft als Prüfer das Tatsubjekt des § 163b StGB jene natürliche Person sei, die die entsprechende Berufsberechtigung iSd § 77 Abs 9 WTBG 2017 besitzt und den Bestätigungsvermerk unterschreibt.2

Jüngst haben Hartl und Bachmann unter Bezugnahme auf diesen Erlass, der naturgemäß der Auslegung durch die Gerichte nicht vorgreifen kann und darf, hier die Meinung vertreten, dass infolge nach wie vor offener Fragen eine gesetzliche Klarstellung „erforderlich und überfällig“ sei.3 Wie in diesem Beitrag gezeigt wird, lässt sich jedoch unter Zugrundelegung aller anerkannten Interpretationsmethoden auch bei bestehender Rechtslage ein Ergebnis erzielen, das theoretisch wie praktisch zu überzeugen vermag.

1.Zur Entstehung des § 163b StGB

Die Frage der möglichen Verwirklichung des Delikts der Bilanzfälschung durch bestellte Wirtschaftsprüfer als Abschlussprüfer (gemäß WTBG 1999) war vor der Neuregelung des Prüferdelikts durch Strafbestimmungen in Materiengesetzen, wie insbesondere § 122 GmbHG und § 255 AktG, geregelt. Demnach war auch dann, wenn der bestellte Abschlussprüfer eine Gesellschaft war, der verantwortliche und unterfertigende Abschlussprüfer als „Beauftragter“ mögliches Tatsubjekt und grundsätzlich strafbar.

Nach jahrelanger Diskussion und mehreren Reformansätzen sollte mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 2015 (BGBl I 2015/112) in den §§163a bis 163d StGB, insbesondere zwecks „Zusammenfassung“ und „Vereinheitlichung“ aller Tatbestände im StGB, mit Geltung für alle Verbände eine Trennung der Tathandlungen zwischen den Personen, die den Jahres- oder Konzernabschluss erstellen bzw mit Informati-

1 So Karollus/Wolkerstorfer, § 163b StGB: Das neue Bilanzstrafrecht läuft bei Prüfungsgesellschaften ins Leere! wbl 2016, 132: „Aufgrund eines Versehens des Gesetzgebers (besteht) eine empfindliche Strafbarkeitslücke, die sich mit den Mitteln der Auslegung nicht beseitigen lässt.“ Und weiter: „Das Vorliegen eines ,Anschauungsirrtums‘ des Gesetzgebers ist geradezu mit den Händen zu greifen.“ Siehe inhaltlich gleichlautend Bachmann/ Machan in Preuschl/Wess (Hrsg), Praxiskommentar Wirtschaftsstrafrecht (2018) § 163b StGB Rz 9: „[…] erfasst § 163b StGB aufgrund seiner Einbettung in das StGB nur natürliche Personen“

2 Erlass des BMJ vom 4. 11. 2022 zur Auslegung des §163b StGB („Unvertretbare Berichte von Prüfern bestimmter Verbände“) in Bezug auf Prüfungsgesellschaften, GZ 2022-0.669.158, eJABl 2022/23.

3 Hartl/Bachmann, Erlass des BMJ zur Auslegung des §163b StGB, ZWF 2023, 14 mwN.

onsdarstellungen beauftragt sind (§ 163a StGB) und jenen, die diese prüfen (§ 163b StGB), erreicht werden. Dieses Vorhaben und die Einführung der (neuen) konkretisierenden Tatbestandselemente „Wesentlichkeit“, „Unvertretbarkeit“ und „erheblicher Schaden“, die zwar nach wie vor als (weitgehend) unbestimmte Gesetzesbegriffe gesehen werden, aber ein positiver Schritt in die Zielrichtung „Beschränkung auf das wirklich Strafwürdige“ sind, wurden auch von der Praxis des prüfenden Berufsstandes (vorab) als „abwartend positiv“ gewürdigt.4

Als unmittelbarer Täter bzw Tatsubjekt iSd §163b StGB erfüllt den Tatbestand gemäß §163a StGB, „wer in Bezug auf einen der in §163c StGB genannten Verbände als Abschlussprüfer (§278 UGB), Gründungsprüfer (§25 AktG, §11 PSG), Sonderprüfer (§130 AktG, §31 PSG, §52 VAG 2016), Verschmelzungsprüfer (§220b AktG), Spaltungsprüfer (§5 SpaltG), Revisor (GenRevG, §2 GenVG), Stiftungsprüfer (§31 PSG), Mitglied der Prüfungskommission (§40 ORF-Gesetz) in bestimmten Darstellungsmedien in unvertretbarer Weise wesentliche Informationen (§ 163a [1]) falsch oder unvollständig darstellt oder verschweigt […] wenn dies geeignet ist, einen erheblichen Schaden […] herbeizuführen […]“

Die Eigenschaft als Tatsubjekt iSd § 163b StGB liegt demnach immer dann vor, wenn eine Prüfung nach Materiengesetzen vorgenommen wird, wie insbesondere eine Abschlussprüfung nach §§ 268 ff UGB bzw eine Verschmelzungs-

4 Kerschbaumer/Maronitsch, Das neue Bilanzstrafrecht aus Prüfersicht, in Zeder (Hrsg) Das neue Bilanzstrafrecht nach dem Strafrechtsänderungsgesetz 2015, SWKSpezial (2015) 24.

Wirtschaftsstrafrecht „Bestellte Prüfer“ als Tatsubjekte iSd § 163b StGB? 106 3/2023 ZWF
Wirtschaftsstrafrecht „Bestellte Prüfer“ als Tatsubjekte iSd 163b StGB?
DDr. Gerhard Altenberger ist Wirtschaftsprüfer und Sachverständiger in Wien. o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Brandstetter lehrt am Institut für Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsstrafrecht der WU Wien.

prüfung nach § 220b AktG oder eine Sonderprüfung nach § 130 AktG. Nicht relevant ist der Umstand, ob die Prüfung verpflichtend vorgeschrieben ist oder der Prüfer vom zu prüfenden Verband freiwillig bestellt bzw beauftragt worden ist. Demnach sind auch Abschlussprüfer vom möglichen Täterkreis erfasst, die freiwillig (zB) mit der Prüfung einer kleinen (iSd § 221 Abs 1 UGB) nicht aufsichtsratspflichtigen GmbH beauftragt worden sind.

2.Zur Anwendbarkeit des § 163b StGB auf bestellte Prüfungsgesellschaften

In der Literatur5 wurde aus der zivilrechtlichen Beauftragung einer Prüfungsgesellschaft mit der Abschlussprüfung geschlossen, dass es demnach „im Rechtssinn (an) einer unmittelbaren Bestellung natürlicher Personen – als Prüfer – fehle und sohin nur die Prüfungsgesellschaft unmittelbarer Adressat der Prüferpflichten“ sei. Dies habe zur Folge, dass nur die Prüfungsgesellschaft als juristische Person gemäß § 274 UGB6 der Abschlussprüfer ist und den Bestätigungsvermerk erteilt, den Prüfungsbericht (§ 273 UGB) erstellt oder die Redepflicht (§ 273 Abs 2 und 3 UGB) ausübt, obwohl die Unions- bzw UGB-konforme Unterfertigung verpflichtend durch den verantwortlichen Wirtschaftsprüfer persönlich mit seinem bürgerlichen Namen zu erfolgen hat.

Gibt man aber der ausgeübten Funktion bzw Tätigkeit des verantwortlichen Wirtschaftsprüfers bei Durchführung der (Abschluss-)Prüfung – auch als angestellter Mitarbeiter, Organ bzw Entscheidungsträger der beauftragten Prüfungsgesellschaft – den Vorrang und nicht der zivilrechtlichen Ausgestaltung des Prüfungsvertrags, stellt sohin „Funktion vor Form“ im Sinne eines „materiellen Prüferbegriffs“, 7 so ergibt sich die – insbesondere von Karollus und Wolkerstorfer aufgeworfene –Frage der möglichen Strafbarkeitslücke bei beauftragten Prüfungsgesellschaften iVm § 163b StGB nicht. Denn dann ist der jeweilige Prüfer auch Tatsubjekt. Dafür spricht auch die Geschichte des Tatbestands.

Zum bisherigen Täterbegriff Beauftragter iVm § 255 AktG bzw § 122 GmbHG versus Prüfer in § 163b StGB hält Zeder8 zu Recht fest:

5 Siehe mit weiteren Literaturverweisen Ruhmannseder, Das neue Bilanzstrafrecht im Überblick, in Altenberger/ Hartig (Hrsg), Bilanzfälschung (2017) 431 (447).

6 § 274 UGB wurde durch das Rechnungslegungs-Änderungsgesetz 2014 (RÄG 2014, BGBl I 2015/22) in Umsetzung des Art 28 der Abschlussprüfung-Richtlinie idF Richtlinie 2014/56/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 4. 2014 zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, ABl L 158 vom 27. 5. 2014, S 196, neu geregelt.

7 Siehe dazu Karollus/Wolkerstorfer, wbl 2016, 132 (134), die einen „materiellen Prüferbegriff“ im Sinne von Prüfer ist, „wer immer am Prüfungsgeschehen mitwirkt“, allerdings dogmatisch nach der vom Gesetzgeber verwendeten Terminologie ablehnen.

8 Zeder, Bilanzstrafrecht: die neuen Bestimmungen (§§163a–163d StGB), in Leitner/Brandl (Hrsg), Finanzstrafrecht 2016 (2017) 1 (15).

„Nach dem alten Recht hat niemand in Zweifel gezogen, dass ein Abschlussprüfer – unter dem Begriff des ‚Beauftragten‘ – auch dann erfasst wird, wenn er nicht ad personam, sondern im Rahmen einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft tätig wird. Zum neuen Recht ist nun aber vertreten worden, dass dies anders sei: Karollus/Wolkerstorfer9 behaupten, dass in dem Fall, dass eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zum Abschlussprüfer bestellt wurde, niemand – auch nicht die Wirtschaftsprüfer, die die Prüfung tatsächlich durchführen – als Täter nach § 163b StGB in Betracht kommen können.“

Einer solchen Auslegung stehen unter Zugrundelegung logisch-systematischer und teleologischer Interpretation die Bestimmungen des §274 Abs7 UGB iVm § 57 WTBG 2017 zur Unterfertigung des Bestätigungsvermerks durch den „verantwortlichen Abschlussprüfer“ und des §77 Abs7 WTBG 2017 zum „für die Prüfung verantwortlichen Berufsberechtigten“ auch im Fall der Beauftragung einer Prüfungsgesellschaft mit der Abschlussprüfung gemäß UGB entgegen.

Dazu kommen beachtliche Argumente aus praktischer Sicht: Die Argumentation dahingehend, dass für den Praxisfall, wenn mit der Prüfung eine Prüfungsgesellschaft beauftragt ist, der Täterbegriff des § 163b StGB nicht auch die für diese handelnden natürlichen Personen erfasse, führt (auch) ins Treffen, dass eine Verweisungs- bzw Erstreckungsnorm (vergleichbar §161 StGB) fehle. Folglich wäre der Begriff des Prüfers in § 163b StGB ausschließlich im zivilrechtlichen Sinn der Vertragsgestaltung zu verstehen, was zur Conclusio führen würde: „Wer nicht als natürliche Person einen Prüfungsvertrag abschließt, kann iSd § 163b StGB nicht unmittelbarer Täter sein.“ Es wäre sohin § 163b StGB wegen einer „höchst unbefriedigenden Strafbarkeitslücke“10 nur auf natürliche Personen, die Prüfungsverträge abschließen, anwendbar, aber nicht, wenn eine juristische Person als laut WTBG 2017 anerkannte Prüfungsgesellschaft den Prüfungsvertrag abgeschlossen hat.

Im Schrifttum11 wird auch die Ansicht vertreten, dass „[a]ls Prüfer im Sinne von § 163b […] zwar nur natürliche Personen in Frage [kommen], eine verbandsstrafrechtliche Verantwortlichkeit der Prüfungsgesellschaft für die für sie tätig werdenden Prüfer (seien es Entscheidungsträger oder Mitarbeiter im Sinne von § 2 VbVG) nach § 3 VbVG […] aber auch möglich“ sei. Dem wird an anderer Stelle12 entgegengehalten, dass „natürliche Personen, die für die Prüfungsgesellschaft arbeiten, nie tatbestandsmäßig iSd § 163b StGB [handeln], weil sie die Tatsubjekteigenschaft nicht erfüllen. Weil sie somit auch

9 Karollus/Wolkerstorfer, wbl 2016, 132 (132).

10 Karollus/Wolkerstorfer, wbl 2016, 132 (135).

11 Wess/Bachmann, Das „neue“ Bilanzstrafrecht, CFOaktuell 2016, 61 (63).

12 Glaser in Soyer (Hrsg), Handbuch Unternehmensstrafrecht (2020) Rz 17.39.

107 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht „Bestellte
Prüfer“ als Tatsubjekte iSd § 163b StGB?

als Entscheidungsträger oder Mitarbeiter nicht tatbestandsmäßig handeln, lösen sie auch keine Verbandsverantwortlichkeit der Prüfungsgesellschaft nach § 163b StGB aus.“13

Ähnlich argumentiert Rohregger, 14 nach dem bei Bestellung einer Prüfungsgesellschaft „als Prüfer ausschließlich die Prüfungsgesellschaft selbst […] als Prüfer [gilt], und nicht etwa die natürliche Person, die für die Gesellschaft faktisch die Prüfung vornimmt“. Möglich bleibt nach Rohregger allerdings „eine Verantwortlichkeit [Anm: der beauftragten Prüfungsgesellschaft] nach dem VbVG“. Hinsichtlich der für die Prüfungsgesellschaft tätigen natürlichen Person, die selbst nicht zum Prüfer bestellt ist, liege laut Rohregger eine „vom Gesetzgeber wohl nicht beabsichtigte Strafbarkeitslücke vor, [und] [d]iese kann nicht mittels Analogie geschlossen werden, weil eine solche zu Lasten des Täters gehen würde“. 15

Die Prüfungspraxis ist wohl im Sinne des funktionalen bzw faktischen Verständnisses zu sehen, wonach als Prüfer jene natürliche Person zu verstehen ist, die in Übereinstimmung mit Art 28 Abs 4 der Abschlussprüfungs-Richtlinie nach § 274 Abs 7 UGB iVm § 77 Abs 9 WTBG 2017 tatsächlich funktional tätig wird und den Bestätigungsvermerk unionsrechtskonform unterfertigt bzw Tathandlungen setzt.

Dieses aus der Sicht der Praxis naheliegende Ergebnis lässt sich auch rechtstheoretisch bei systematischer und teleologischer Interpretation gut untermauern.16. Der Begriff des Prüfers iSd § 163b StGB ist auch weit genug gefasst, um einer Auslegung zugänglich zu sein.17

Um den möglichen unmittelbaren Täter nach § 163b StGB zu erfassen, ist auf seine Berufsbefugnis bzw den Berechtigungsumfang Wirtschaftsprüfer in § 3 WTBG 2017 (früher: §5 WTBG 1999) abzustellen. Es kann gemäß

13 Allerdings wird ergänzt, es sei „an die Möglichkeit einer Beteiligung an einer im geprüften Unternehmen begangen [en] Bilanzfälschung nach § 163a Abs 1 StGB zu denken“ (Glaser in Soyer, HB Unternehmensstrafrecht, Rz17.39).

14 Rohregger in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 163b Rz 7 mwN.

15 Rohregger in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 163b Rz 7 mVa ua Karollus , Bilanzstrafrecht neu – Analyse aus der Sicht des Gesellschafts- und Bilanzrechts, in Leitner/ Brandl (Hrsg), Finanzstrafrecht 2016 (2017) 27 (64 f).

16 Der Erlass des BMJ vom 4. 11. 2022, GZ 20220.669.158, 6, bezieht sich (auch) auf die „teleologische Interpretation des § 163b StGB“ und darauf, dass auch „andere gesellschaftsrechtliche Normen den Begriff des Abschlussprüfers dergestalt verwenden, dass er auch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften erfasst“ (Anm: am Beispiel § 30g Abs 4a GmbHG und § 24c Abs 6 GenG, wo „der Abschlussprüfer den Sitzungen des Prüfungsausschusses beizuziehen ist und dies, bei Bestellung einer Prüfungsgesellschaft zum Abschlussprüfer, nicht etwa der Geschäftsführer der Prüf ungsgesellschaft als deren Vertreter ist, sondern wird der für die Prüfung verantwortliche (unterzeichnende Wirtschaftsprüfer an der Sitzung teilzunehmen haben“).

17 Siehe dazu Tipold in Gruber/Harrer, GmbHG2 (2018) Anh § 122 StGB: §§ 163a–163d Rz 93: „Da der Wortlaut somit recht weit ist, steht einer anderen Auslegung das Analogieverbot nicht entgegen.“

§§65ff WTBG 2017 diese Berechtigung als Wirtschaftsprüfer in einem Anerkennungsverfahren auch auf Wirtschaftsprüfungsgesellschaften übertragen werden. Für den Fall, dass Gesellschaften den Wirtschaftstreuhandberuf ausüben, haben sie gemäß § 77 Abs 9 WTBG „für jeden von ihnen übernommenen Auftrag mindestens eine natürliche Person, welche die für die Erledigung entsprechende Berufsberechtigung besitzt, zu bestimmen. Der Name des für die Erledigung bestimmten Berufsberechtigten ist dem Auftraggeber schriftlich zu bestätigen.“ Gemäß §57 WTBG 2017 müssen „förmliche Bestätigungsvermerke, die durch eine Gesellschaft erteilt werden, […] die firmenmäßige Zeichnung durch Unterschrift […] des zur Vertretung nach außen im Firmenbuch eingetragenen (nach WTBG) […] Berechtigten […] enthalten“. Und: „Der gem § 77 (9) für die Prüfung verantwortliche Berufsberechtigte hat den Bestätigungsvermerk jedenfalls zu unterschreiben“.

Die Voraussetzung des WTBG 2017 zur Berufsausübung durch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft korrespondiert mit der Bestimmung des § 274 Abs 7 UGB, wo es heißt: „Der Bestätigungsvermerk ist vom Abschlussprüfer unter Angabe des Datums und des Ortes der Niederlassung zu unterzeichnen. Wird eine Abschlussprüfung von einer Prüfungsgesellschaft durchgeführt, so ist der Bestätigungsvermerk zumindest vom verantwortlichen Abschlussprüfer zu unterzeichnen. Sind mehr als ein Abschlussprüfer gleichzeitig beauftragt worden, so ist der Bestätigungsvermerk von allen Verantwortlichen gleichzeitig zu unterzeichnen, welche die Abschlussprüfung durchgeführt haben.“18

Durch diese in Umsetzung der Richtlinie 2014/56 erfolgte Regelung im UGB, wonach bei Bestellung bzw Tätigwerden einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft verpflichtend ein verantwortlicher Wirtschaftsprüfer persönlich zu nennen ist, der mit Beisetzung seines (bürgerlichen) Namens auch den Bestätigungsvermerk zu unterzeichnen hat, wird verdeutlicht, dass die Funktion bzw Tätigkeit der natürlichen Person im Fokus der Verantwortung steht und nicht die zivilrechtliche Vertragsbeziehung zwischen dem zu prüfenden Verband und der beauftragten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Auch wenn das Verhalten der für diese tätigen Personen zivilrechtlich der Gesellschaft zugerechnet wird, bedeutet dies nicht, „dass die strafrechtliche Haftung nicht den trifft, der Prüfungshandlungen vornimmt und daher ‚Prüfer‘ ist 19

Art 28 Abs 4 der – im Sinne der persönlichen Zurechnung – bezughabenden Richtlinie 2014/ 56/EU vom 16. 4. 2014 lautet: „Der Bestätigungs-

18 Siehe dazu Tipold in Gruber/Harrer, GmbHG2, Anh §122 StGB: §§ 163a–163d Rz 93: „Mag auch die Prüfungsgesellschaft Vertragspartner und daher von den Pflichten des UGB betroffen sein, so muss immer eine natürliche Person diese Tätigkeiten auch vornehmen.“

19 Tipold in Gruber/Harrer, GmbHG2, Anh § 122: StGB §§163a–163d Rz 93.

Wirtschaftsstrafrecht „Bestellte
108 3/2023 ZWF
Prüfer“ als Tatsubjekte iSd § 163b StGB?

vermerk ist vom Abschlussprüfer unter Angabe des Datums zu unterzeichnen. Wird eine Abschlussprüfung von einer Prüfungsgesellschaft durchgeführt, so wird der Bestätigungsvermerk zumindest von dem Abschlussprüfer oder den Abschlussprüfern, der bzw die die Abschlussprüfung für die Prüfungsgesellschaft durchgeführt hat bzw haben, unterzeichnet.“

Man ist im vorliegenden Fall aber genau genommen nicht auf die methodischen Grundsätze richtlinienkonformer Interpretation20 angewiesen, die entsprechenden einfachgesetzlichen innerstaatlichen Regelungen lassen bereits einen klaren Schluss zu: Das AbschlussprüferAufsichtsgesetz (APAG, BGBl I 2016/83) definiert in § 2 Z 2 als Abschlussprüfer alle berufsberechtigten Wirtschaftsprüfer und eingetragenen Revisoren, die über eine „aufrechte Bescheinigung gem. § 35 oder § 36 verfügen“ und in Z 3 als Prüfungsgesellschaften alle „Unternehmen, die über eine aufrechte Bescheinigung gem. § 35 oder § 36 verfügen“ 21

3.Exkurs

Der Verweis auf die unionsrechtskonforme Regelung im UGB bzw WTBG 2017 ist für die konkrete Fragestellung im internationalen Vergleich von besonderem Interesse. Trotz anderslautender Bestrebungen der US-amerikanischen Aufsichtsbehörde für Wirtschaftsprüfungsgesellschaften (Public Company Accounting Oversight Board – PCAOB) dahingehend, dass der namhaft gemachte prüfungsverantwortliche Prüfer persönlich den Prüfungsbericht unterschreiben soll, werden nach wie vor (laut aktuellen Veröffentlichungen) die „Reports of Independent Registered Public Accounting Firms“ von börsenotierten US-amerikanischen Gesellschaften, zB The Procter & Gamble Company, ALPHABET INC., 3M Company, nicht von natürlichen Personen als verantwortliche Prüfer unterzeichnet, sondern mit dem Wortlaut der Firma der Prüfungsgesellschaft als elektronische Signatur, zB /s/ PricewaterhouseCoopers LLP, /s/ Ernst & Young LLP, /s/ Deloitte & Touche LLP.

Die Tätigkeit als (Abschluss-)Prüfer kann jedoch zwangsläufig nur von natürlichen Personen mit entsprechender Berufsbefugnis tatsächlich ausgeübt werden, was nichts daran ändert, dass ihr (Fehl-)Verhalten zivilrechtlich der bestellten Prüfungsgesellschaft zugerechnet wird.

So gesehen ist klar, dass zwar formal im Sinne der zivilrechtlichen Vereinbarung im Prüfungsvertrag die Prüfungsgesellschaft den Prüfungsbericht durch ihre Mitarbeiter bzw Entscheidungsträger erstellt, der Prüfungsbericht

20 Dazu jüngst Bydlinski, Nochmals zu den Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfindung, ÖJZ 2023, 4 mwN.

21 Zur Verantwortung des jeweiligen Auftragsverantwortlichen für den an eine Prüfungsgesellschaft erteilten Prüfungsauftrag siehe auch die International Standards of Auditing (ISAS), insbesondere ISA 220.8 ff und ISA 700.40 iVm dem Fachgutach ten des Fachsenats der KSW, KFS/PG 1 (3.2.1.) iVm ISA 210.

bzw der Bestätigungsvermerk hingegen unionsrechts- bzw UGB-konform vom verantwortlichen Wirtschaftsprüfer als natürliche Person unterfertigt werden muss. Auch die Redepflicht kann faktisch nur von tatsächlich tätigen natürlichen Personen in deren Funktion als befugte bzw berechtigte, für die beauftragte Gesellschaft tätige Wirtschaftsprüfer ausgeübt werden. Einen anderen Schluss ließe wohl nur die US-amerikanische Praxis der hinsichtlich der handelnden Personen anonymisierten elektronischen Unterfertigung durch Andruck des Firmenwortlauts der Prüfungsgesellschaft als „signature“ (/s/) zu, die jedoch für das österreichische Recht gottlob irrelevant ist.

4.Ergebnis

Das Prüferdelikt § 163b StGB ist auf bestellte Prüfungsgesellschaften und auf die für diese tätigen prüfungsverantwortlichen Personen unmittelbar anwendbar.

Der Begriff des Prüfers in § 163b StGB ist im Sinne des „verantwortlichen Abschlussprüfers“ nach § 274 Abs 7 UGB zu verstehen.22 Nur damit sind der vom Gesetzgeber beabsichtigte praktische Anwendungsbereich und der Schutzzweck der Norm in der Prüfungspraxis (wie bisher) gegeben. Eine andere Auslegung würde unterstellen, der Gesetzgeber des Strafrechtsänderungsgesetzes 2015 hätte durch Weglassen einer Verweisungsnorm die Prüfungsgesellschaften, die in der Praxis überwiegend als Prüfer zivilrechtlich durch Prüfungsvertrag bestellt werden, als Gruppe möglicher Tatsubjekte (quasi) ausklammern wollen. Er hätte sohin das Prüferdelikt des §163b StGB nur auf (vergleichsweise wenige) natürliche Personen als persönlich bestellte Abschlussprüfer bezogen und demnach nur diese als strafwürdig vermeint.

Dies wäre ein (quasi) Persilschein für die Prüfungstätigkeit der Prüfungsgesellschaften und damit wohl (auch) eine verfassungsrechtlich bedenkliche Ungleichbehandlung iSd Art 7 B-VG. Das hier erzielte Auslegungsergebnis ist daher auch durch die Grundsätze verfassungskonformer Interpretation geboten.

Es wäre, folgte man der von Karollus/Wolkerstorfer vertretenen Auffassung, statt der seit Jahren diskutierten Konkretisierung der unbestimmten Gesetzesbegriffe und der Einbeziehung der Abschlussprüfer rechtsformunabhängig als Beauftragte im Sinne der bisherigen Strafbestimmungen in den Materiengesetzen durch die Neuregelung ausschließlich für die als Prüfer

22 Schmieder/Singer, Anmerkungen zum Ministerialentwurf des StRÄG 2015 aus Verteidigersicht, ZWF 2015, 107, stellen in diesem Zusammenhang treffend fest: „Präzisierungsbedürftig ist das Tatsubjekt des § 163b StGB: Abschlussprüfer etc ist nicht immer eine natürliche Person, sondern kann auch eine Prüfungsgesellschaft sein. Im Einklang mit den unternehmensrechtlichen Vorgaben könnte hier auf den verantwortlichen ‚Abschlussprüfer‘ (§ 274 Abs 7 Satz 2 UGB idF BGBl I 2015/ 22) als Täter abgestellt werden.“

109 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht „Bestellte Prüfer“
Tatsubjekte
StGB?
als
iSd § 163b

bestellten natürlichen Personen zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Verschlechterung durch eine höhere Strafdrohung und damit zu einer Verlängerung der möglichen Verjährung vorsätzlicher Schutzgesetzverletzungen23 nach §1489 ABGB gekommen. Der Gesetzgeber hätte dann – so gesehen – einen (quasi) BlancoAusschluss von Prüfungsgesellschaften und damit der verantwortlichen, unionsrechtskonform mit ihrem Namen unterzeichnenden Abschlussprüfer und damit der Verbände (nach dem VbVG) als mögliche unmittelbare Täter nach §163b StGB normiert. Das wollte er – nach allen vorliegenden historischen Unterlagen – mit Sicherheit nicht, und die von ihm getroffene Regelung ist bei richtiger Auslegung auch nicht so zu verstehen.24

Zu diesem Schluss kommt man bei gebotener systematisch-teleologischer und verfassungs- sowie unionsrechtskonformer Auslegung. Dafür sprechen zudem praktische und berufsrechtliche Gesichtspunkte, weil auch bei Beauftragung bzw Bestellung einer Prüfungsgesellschaft als (Abschluss-)Prüfer, UGB-, WTBG- und EU-Verordnungs-konform immer eine natürliche Person als verantwortlich tätig zu bezeichnen ist, die auch sämtliche möglichen Tathandlungen iSd §163b StGB setzt bzw persönlich unterfertigt. Wenn der (iSd § 247Abs 7 UGB)25 verantwortliche für die bestellte Prüfungsgesellschaft tätige Wirtschaftsprüfer nicht vertretungsbefugt ist und aus diesem Grund (auch) ein vertretungsbefugtes Organ der Prüfungsgesellschaft als Zweitunterzeichner (oder wegen des Vieraugenprinzips) (mit-)unterfertigt, ist davon auszugehen,26 dass die strafrechtliche Haftung gemäß § 163b StGB beide Unterzeichner trifft. Beim Zweitunterzeichner, der nicht (auch) verantwortlicher (Zweit-)Prüfer ist, und beim (nicht unterzeich-

23 Siehe OGH 22. 1. 2019, 1 Ob 51/12z iVm der (mit 1. 1. 2016 außer Kraft getretenen) Strafbestimmung des §255 AktG.

24 Instruktiv dazu Wess/Bachmann, CFOaktuell 2016, 61 (61 ff mwN).

25 Prachner/Szaurer in Straube/Ratka/Rauter, UGB II/RLG3, § 274 Rz 95.

26 In Anlehnung an die Auslegung bzw Judikatur zu § 122 GmbH bzw § 255 AktG.

nenden) Prüfungsleiter stellt sich die Frage der Beteiligung an der Straftat des § 163b StGB nach den allgemeinen Regeln des § 12 StGB.

Versteht man den Begriff des Prüfers faktisch bzw funktional, gilt demnach: „Prüfer ist, wer prüft, wer Prüfungshandlungen vornimmt“, und den trifft auch die strafrechtliche Haftung.27 Stellt man in diesem Sinne nicht auf einen normativen, auf den Bestellungsakt zum Prüfer abzielenden, sondern auf einen materiellen Täterbegriff28 und das faktische Tätigwerden natürlicher Personen ab, sind bestellte Prüfungsgesellschaften und die für sie handelnden prüfungsverantwortlichen Personen unmittelbar mögliche Tatsubjekte iSd §163b StGB.

Freilich ist Kritikern zu konzedieren, dass eine klare gesetzliche Regelung der Täterqualifikation nach dem Muster des § 161 StGB von Vorteil gewesen wäre,29 weil dann die hier aufgezeigten Auslegungsfragen nicht entstanden wären. Diese lassen sich jedoch letztlich im Wege der Auslegung befriedigend lösen. Quod erat demonstrandum.

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Auslegung des BMJ in seinem aktuellen Erlass vom 4. 11. 2022, nach der „bei der Bestellung einer Prüfungsgesellschaft als Prüfer das Tatsubjekt des § 163b StGB die natürliche Person, die iSd § 77 Abs 9 WTBG 2017 die für die Erledigung entsprechende Berufsberechtigung besitzt und gem § 274 Abs 7 UGB den Bestätigungsvermerk unterschreibt, ist“ und sich „andere Personen gegebenenfalls an der Straftat beteiligen können“, auch unter Berücksichtigung aller Auslegungsgesichtspunkte zu überzeugen vermag.

27 Tipold in Gruber/Harrer, GmbHG2, Anh § 122: StGB §§163a–163d Rz 93.

28 Tipold in Gruber/Harrer, GmbHG2, Anh § 122: StGB §§163a–163d Rz 94.

29 In diesem Sinne Kert in Artmann/Karollus, AktG III6, §163 StGB Rz 5 mwN.

Wirtschaftsstrafrecht „Bestellte
110 3/2023 ZWF
Prüfer“ als Tatsubjekte iSd § 163b StGB?
▶ Auf den Punkt gebracht

Criminal Compliance mit System meistern

In Zeiten omnipräsenter Berichterstattung über strafrechtliche Ermittlungen im Bereich der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung steigt auch das Interesse an der Schaffung effektiver interner Regeln zur Vermeidung von Non-Compliance und deren vielfältigen negativen Auswirkungen. Zuletzt haben daher insbesondere Formen der strafrechtlichen Compliance – auch als Criminal Compliance bezeichnet – Eingang in die Praxis gefunden. Auch hier gilt: Nur mit einem auf das konkrete Unternehmen zugeschnittenen Compliance-Management-System (CMS) kann effektiv strafrechtlichen Verstößen vorgebeugt werden.

1.Criminal Compliance und deren Ziele

Criminal Compliance beschäftigt sich vorwiegend mit der Verhinderung von Strafrechtsverstößen.1 Die Relevanz ergibt sich für nationale Unternehmen spätestens seit Inkrafttreten des VbVG im Jahr 2006, das eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Verbänden begründen kann. Unternehmen sind üblicherweise bestrebt, einen möglichst weiten Bogen um sämtliche strafrechtlich relevanten Vorgänge und die damit einhergehenden Risiken und Nachteile zu machen. Dementsprechend zielen auch die Instrumente der Criminal Compliance auf die Schaffung einer zusätzlichen „Schutzschicht“ für Unternehmen ab, um strafrechtlich relevantes Verhalten im eigenen Unternehmen so weit wie möglich zu vermeiden und Verdachtsmomenten bestmöglich nachzugehen.2

Die Vorteile von Criminal Compliance liegen auf der Hand: Im globalen Vergleich erleiden Unternehmen, die schriftliche ComplianceRichtlinien geschaffen haben, im Schnitt um etwa 40 % weniger finanzielle Schäden durch wirtschaftskriminelle Handlungen als Unternehmen, die keine vergleichbaren Maßnahmen gesetzt haben.3 Durch passende und effektive Compliance-Maßnahmen kann das Risiko wesentlich reduziert werden, dass Führungskräfte, Mitarbeiter, Compliance-Beauftragte und das Unternehmen selbst strafrechtlich belangt werden. Darüber hinaus können auch Geschäftspartner auf eine sichere Kooperation und Geschäftsabwicklung vertrauen, was für das jeweilige Unternehmen selbstredend auch einen Wettbewerbsvorteil mit sich bringt.4 Bei Verbandsstrafverfahren können Compliance-Maßnahmen zusätzlich die Wahrscheinlichkeit auf ein Absehen oder Zurücktreten von der Verfol-

1 Vgl Soyer/Pollak in Kert/Kodek (Hrsg), Das große Handbuch Wirtschaftsstrafrecht2 (2022) Rz 28.6.

2 Vgl Soyer/Pollak in Kert/Kodek, HB Wirtschaftsstrafrecht2, Rz 28.8.

3 Association of Certified Fraud Examiners, Occupational Fraud 2022 – A Report to the Nations (2022) 34 ff, abrufbar unter https://acfepublic.s3.us-west-2.amazon aws.com/2022+Report+to+th e+Nations.pdf (Zugriff am 18. 4. 2023).

4 Vgl Darakhchan/Freiler-Waldburger in Sartor (Hrsg), Praxisleitfaden Compliance2 (2019) 31.

gung, eine Gewährung einer Diversion oder auf eine Reduktion einer Geldbuße positiv beeinflussen.5

Compliance-Beauftragte sind aber oftmals (juristische) Generalisten. Viele ComplianceAbteilungen empfinden im Hinblick auf das Strafrecht bis dato eine gewisse Rechtsunsicherheit, da die Fülle der relevanten Normen verstreut und auslegungsbedürftig ist, sodass eine ins Detail gehende strafrechtliche Präventivarbeit oftmals fehlt oder nur in Grundzügen vorhanden ist. Das Strafrecht ist jedoch nun mal die schärfste Waffe des Rechts,6 sodass die Vernachlässigung dieses Rechtsgebiets bei der Compliance-Arbeit eklatante Folgen haben kann. Was können Unternehmen also tun, um ihre strafrechtlichen Compliance-Bestrebungen auszubauen oder zu perfektionieren?

2.Ein am Strafrecht orientiertes Compliance-Management-System

Die Gesamtheit all jener Compliance-Regularien, -Maßnahmen, -Prozesse und -Verhaltensgrundsätze, deren sich ein Unternehmen zur Einhaltung der (insbesondere auch strafrechtlichen) Rechtstreue und -konformität bedient, wird als CMS bezeichnet.7 Wie konkret ein solches CMS im Einzelfall ausgestaltet ist und welche Maßnahmen und Instrumente tatsächlich sinnvoll sind, hängt primär von der geografischen Lage, der Art und Größe sowie der Organisationsform des jeweiligen Unternehmens ab.8

In der Praxis haben sich einige wesentliche Elemente als Richtschnur für ein funktionierendes – auch am Strafrecht orientiertes – CMS herausgebildet.9 Vorbild waren hierbei oftmals Ideen und Anleihen aus in anderen Rechtsordnungen entwickelten Regelungen und Standards, wie zB der britische Bribery Act 2010, der U.S. Foreign Corrupt Practices Act oder der von

5 Vgl Wess in Ruhmannseder/Wess (Hrsg), Handbuch Corporate Compliance (2022) Rz 4.75 ff, 4.86.

6 Vgl BVerfGE 39, 1 (45).

7 Vgl Soyer/Pollak in Kert/Kodek, HB Wirtschaftsstrafrecht2, Rz 28.9.

8 Vgl Veit, Compliance und interne Ermittlungen (2021) Rz 179.

9 Vgl Morawetz/Sartor/Schwab in Sartor (Hrsg), Praxisleitfaden Compliance2 (2019) 10.

111 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Criminal Compliance mit System meistern
Wirtschaftsstrafrecht
Dr. Elias Schönborn ist Rechtsanwalt bei der DORDA Rechtsanwälte GmbH in Wien. Mag. Robert Keimelmayr, LL.B. ist Rechtsanwaltsanwärter bei der DORDA Rechtsanwälte GmbH in Wien.

der International Organisation for Standardization herausgegebene Standard ISO 37001.10 Spanien ist zuletzt noch einen Schritt weitergegangen: Durch die spanische Normungsorganisation Asociación Española de Normalización wurde die Norm UNE 19601 geschaffen, die konkrete Anforderungen an die Einführung von strafrechtlichen CMS beinhaltet, wobei der Schwerpunkt auf der Verringerung strafrechtlicher Risiken in Unternehmen liegt. Die geschaffene Norm steht im Einklang mit den bereits bestehenden internationalen Normen und ist zudem an das spanische Strafgesetzbuch angepasst, sodass sie im Rahmen nationaler Strafgerichtsverfahren mitzuberücksichtigen ist. In Österreich hat zuletzt vor allem die Einführung des VbVG und die darin geregelte potenzielle strafrechtliche Haftung von Unternehmen durch Verbandsgeldbußen einen indirekten Anreiz für die Einführung von CMS mit Fokus auf Criminal Compliance geschaffen.11

Im Wesentlichen beinhalten alle CMS drei übergeordnete Bauelemente bestehend aus Prävention, Kognition und Reaktion.12 Auch wenn bei Unternehmen das Hauptaugenmerk üblicherweise auf die Prävention und somit auf die Verhinderung von Rechtsverstößen und strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf jede objektiv ex ante notwendige und zulässige Art gerichtet ist,13 sind die anderen Bauelemente ebenfalls essenziell für das friktionsfreie und effektive Funktionieren eines CMS. Im Folgenden werden daher kurz die wesentlichen Punkte dargestellt, die für den Aufbau oder die Adaptierung eines (auch) am Strafrecht orientierten CMS wesentlich sind.

3.Prävention

Das grundsätzlich wichtigste Bauelement der Prävention kann in mehrere Bereiche aufgegliedert werden, jeder davon mit anders ausgerichteten Maximen:

3.1.Compliance-Risikoanalyse

Um ein Grundverständnis für alle weiteren Compliance-Maßnahmen zu schaffen, sollten im Rahmen der Risikoanalyse zunächst die für das Unternehmen virulenten Risiken identifiziert werden.14 Diese bestimmen sich anhand von unterschiedlichen unternehmensbezoge-

10 Vgl Ruhmannseder in Ruhmannseder/Wess (Hrsg), Handbuch Corporate Compliance (2022) Rz 1.27 ff, 1.31, 1.38 f; Veit, Compliance, Rz 182 ff.

11 Vgl Wess in Ruhmannseder/Wess, HB Corporate Compliance, Rz 4.75 ff, 4.86.

12 Vgl Kahlenberg/Schäfer/Schieffer in Busch et al, Antikorruptions-Compliance (2020) 823; Krakow/Larcher/Petsche/Zareie in Petsche/Mair (Hrsg), Handbuch Compliance 3 (2019) S 239; die Einteilung ist jedoch teilweise fließend bzw betreffen manche Maßnahmen mehrere Bereiche.

13 Vgl Soyer/Pollak in Kert/Kodek, HB Wirtschaftsstrafrecht2, Rz 28.7.

14 Vgl Koukol, Compliance und Strafrecht (2016) 26; Ruhmannseder in Ruhmannseder/Wess , HB Corporate Compliance, Rz 1.121.

nen Faktoren,15 insbesondere des Vertriebsmodells, der Kundenstruktur, der Merkmale der konkreten Unternehmenstätigkeit sowie der allenfalls bereits in der Vergangenheit begangenen Normverstöße. Zur Risikoidentifizierung bieten sich vor allem Workshops, Interviews mit einzelnen Mitarbeitern oder Fragebögen an, wobei alle Unternehmensebenen eingebunden werden sollten. Die Risikoanalyse soll im Ergebnis einen umfassenden Überblick über potenzielle Risikobereiche im Unternehmen bieten. Damit diese Compliance-Grundlage aktuell bleibt und insbesondere zwischenzeitliche interne und externe Entwicklungen widerspiegelt, empfiehlt es sich, alle ein bis zwei Jahre eine Aktualisierung der Risikoanalyse durchzuführen. Unternehmen haben hierbei zahlreiche strafrechtliche Risiken zu berücksichtigen, die weit über eine – vielfach bereits umgesetzte –Antikorruptionspolitik hinausgehen.16 Im Wirtschaftsbereich besonders relevant sind zB Risiken im Zusammenhang mit Veruntreuung (§133 StGB), Betrug (§ 146 StGB), Untreue (§153 StGB), Geschenkannahme durch Machthaber (§ 153a StGB), Gläubigerschutzdelikte (§§156 bis 163 StGB), Bilanzdelikte (§§ 163a und 163b StGB), Geldwäscherei (§ 165 StGB) und wettbewerbsbeschränkenden Absprachen bei Vergabeverfahren (§ 168b StGB).17 Für bestimmte Unternehmen und im öffentlichen Sektor sind überdies insbesondere die Korruptionsdelikte (§§ 304 bis 309 StGB) sowie das Verbot des Missbrauchs der Amtsgewalt (§ 302 StGB) relevant. Je nach Branche können sich weitere Risiken ergeben: So passiert es etwa nicht selten, dass Unternehmen, die spezifische Sicherheitsvorgaben aufgrund der von ihnen verkauften Produkte zu beachten haben, auch nach dem VbVG für fahrlässige Körperverletzungen (§ 88 StGB), die durch Pflichtverletzungen verursacht werden, strafrechtlich belangt werden.

Praxistipp

Typische Risikoindikatoren für Vermögensund Korruptionsdelikte nach dem StGB, die bei der strafrechtlichen Risikoanalyse jedenfalls zu erörtern sind, sind zB Interessenkonflikte aller Art, Scheinverträge und Scheinrechnungen, hohe Provisionszahlungen, geheime Nebenabreden zu schriftlichen Verträgen, Verträge ohne vernünftige wirtschaftliche Grundlage, eine Inadäquanz der Leistungsverhältnisse, Kick-back-Zahlungen,

15 Vgl Kahlenberg/Schäfer/Schieffer in Busch et al, Antikorruptions-Compliance, 824.

16 Eine umfassende Darstellung strafrechtlicher Compliance-Risiken des StGB sowie zahlreicher nebengesetzlicher Bestimmungen findet sich zB bei Schönborn/ Morwitzer, Praxishandbuch Criminal Compliance, das voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte 2023 erscheinen wird.

17 Vgl auch Bauer-Raschhofer/Schröder in Ruhmannseder/ Wess (Hrsg), Handbuch Corporate Compliance (2022) Rz 10.1 ff; Glaser in Ruhmannseder/Wess (Hrsg), Handbuch Corporate Compliance (2022) Rz 11.1 ff.

Wirtschaftsstrafrecht Criminal Compliance mit System meistern 112 3/2023 ZWF

problematische Formen von Geschenken, Vermögensverschiebungen trotz (drohender) Zahlungsunfähigkeit, unwirksame Kontrollmechanismen oder fehlende Unabhängigkeit von Aufsichtsorganen.18

3.2.Erstellung von Compliance-Leitfäden

Aufbauend auf den Ergebnissen der strafrechtlichen Risikoanalyse lässt sich ein auf das Unternehmen abgestimmtes Regelwerk (in der Praxis finden sich unterschiedliche Bezeichnungen dafür, zB Leitfaden, Compliance Manual, Verhaltenskodex, Code of Conduct usw) für Mitarbeiter erstellen, das insbesondere (auch) strafrechtliche Risiken widerspiegelt und diesbezüglichem Fehlverhalten vorbeugen soll.19

Die so erarbeiteten Verhaltensrichtlinien sollten in einfacher, leicht verständlicher Sprache und so kurz wie möglich abgefasst werden, damit diese problemlos in den Arbeitsalltag der Mitarbeiter miteinbezogen werden können.20 Je nach Unternehmenstätigkeit können spezifische Verhaltensrichtlinien, zB für die Vermeidung von Interessenkonflikten und Vermögensdelikten, für Antikorruption, den richtigen Umgang mit Amtsträgern und Lobbying sowie für Regelungen zu Geschenken, Einladungen und sonstigen Zuwendungen, erstellt werden.

3.3.Unternehmenskommunikation

Ein weitere unumgängliche Voraussetzung für das Funktionieren jedes CMS ist die Schaffung einer unternehmensinternen Compliance-Kultur.21 Maxime hierbei ist, dass sich im gesamten Unternehmen ein einheitliches Compliance Mindset bildet und dieses auch verinnerlicht wird. Primär sind hierbei die Unternehmensführung bzw die Führungskräfte in die Pflicht zu nehmen, um die Einhaltung der ComplianceRichtlinien auch gegenüber dem Rest der Mitarbeiter zu bestärken und zu bekräftigen („tone from the top“).22

Neben diesem „tone from the top“ ist auch ein Augenmerk auf den „tone from the middle“ zu legen. So soll auch von der mittleren Führungsebene aktiv die Bedeutung von strafrechtlicher Compliance vermittelt werden. Hintergedanke ist, dass Führungskräfte der mittleren Ebene oftmals in unmittelbarem und tagtäglichem Austausch mit den untergeordneten Mitarbeiterebenen stehen und dadurch intensiver auf die Befolgung der Compliance-Leitfäden hinwirken können.23

18 Vgl auch Dann in Busch et al, Antikorruptions-Compliance (2020) 870 ff mwN.

19 Vgl Kahlenberg/Schäfer/Schieffer in Busch et al, Antikorruptions-Compliance, 826.

20 Vgl Veit, Compliance, Rz 201.

21 Vgl Veit, Compliance, Rz 186.

22 Vgl Koukol, Compliance, 26; Freiler-Waldburger/Pilecky/ Sartor in Sartor (Hrsg), Praxisleitfaden Compliance2 (2019) 41.

23 Vgl Freiler-Waldburger/Pilecky/Sartor in Sartor, Praxisleitfaden Compliance 2 , 89 f; Ruhmannseder in Ruhmannseder/Wess, HB Corporate Compliance, Rz 1.160.

3.4.Mitarbeiterschulungen

Die allgemeine Unternehmenskommunikation von oben reicht im Regelfall aber nicht aus, um bei Mitarbeitern ein ausreichendes Verständnis der Richtlinien und Compliance-Verhaltensregeln zu schaffen. Daher empfiehlt es sich, der Belegschaft laufend und in möglichst anschaulicher sowie praxisnaher Form den Inhalt der Compliance-Regeln näherzubringen und zu erklären.24

Hier können – abhängig von der Unternehmensgröße und je nach Adressatenkreis – unterschiedliche zielgruppenorientierte Schulungen für Führungskräfte, Abteilungsleiter, Vertrieb usw abgehalten werden. Im strafrechtlichen Kontext ist überdies hervorzuheben, dass es sinnvoll sein kann, Mitarbeiter auch zum richtigen Verhalten bei Hausdurchsuchungen zu schulen, was insbesondere für Unternehmensorgane, IT-Mitarbeiter, den Empfangsbereich und die Rechts- bzw Compliance-Abteilung essenziell ist.

4.Kognition

4.1.Hinweisgebersystem (Whistleblowing)

Ob die geschaffenen Compliance-Maßnahmen schlussendlich auch die gewünschte Wirkung erzielen, zeigt sich regelmäßig erst nach einer gewissen Zeit. Aus empirischer Sicht ist es zumeist die Belegschaft, die von konkreten Verstößen oder Lücken in den Compliance-Richtlinien zuerst Kenntnis erlangt.25 Insofern ist dafür Sorge zu tragen, dass Hinweisgeber (Whistleblower) bei der Erstattung von Hinweisen geschützt und die vorgebrachten Hinweise auch tatsächlich überprüft werden sowie die aufgeworfenen Probleme wiederum bei der Überarbeitung der Compliance-Richtlinien Berücksichtigung finden. Erwähnenswert ist hierbei auch die Whistleblower-Richtlinie,26 durch die für Unternehmen mit mindestens 50 Mitarbeitern Mindeststandards im Zusammenhang mit Whistleblowing geschaffen wurden.

Mitarbeiter sollten neben einer drohenden Verwaltungsstrafe nach dem HinweisgeberInnenschutzgesetz (HSchG) wegen unrichtigen Meldungen auch über die strafrechtlichen Konsequenzen vorsätzlicher Falschmeldungen informiert werden. So bestehen in diesem Zusammenhang zB Risiken wegen einer Strafbarkeit aufgrund des Tatbestands der Verleumdung

24 Vgl Kahlenberg/Schäfer/Schieffer in Busch et al, Antikorruptions-Compliance, 831; Veit , Compliance, Rz222 ff.

25 Vgl auch ErwGr 1 der Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. 10. 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, ABl L 305 vom 26. 11. 2019, S 17; Nuster/Ruhmannseder in Ruhmannseder/Wess (Hrsg), Handbuch Corporate Compliance (2022) Rz 7.1 ff.

26 In Österreich umgesetzt durch das HinweisgeberInnenschutzgesetz (HSchG), BGBl I 2023/6; vgl Ruhmannseder und Nuster/Ruhmannseder in Ruhmannseder/Wess, HB Corporate Compliance, Rz 1.181 bzw Rz7.12 ff.

113 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Criminal Compliance mit System meistern

(§297 StGB), der Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung (§ 298 StGB), der üblen Nachrede (§ 111 StGB) oder der Kreditschädigung (§ 152 StGB). Außerdem droht zB eine zivilrechtliche Haftung wegen Ehrenbeleidigung (§ 1330 ABGB).

4.2.Interne Ermittlungen und Audits

Ein weiteres wesentliches Element der Kognition ist das aktive Ausforschen möglicher Rechtsverstöße. Hier ist zwischen internen Untersuchungen und Audits zu unterscheiden.27

Interne Untersuchungen werden in der Regel nur aufgrund konkreter Hinweise und Meldungen von Verstößen vorgenommen. Entweder prüft das Unternehmen den Vorfall selbst oder es lässt sich dabei von Experten unterstützen; insbesondere bei strafrechtlichen Vorwürfen ist es sinnvoll, auch einen Strafrechtsspezialisten beizuziehen. Audits hingegen stellen regelmäßige oder anlassbezogene Überprüfungen dar, bei denen nicht nur die Einhaltung des CMS, sondern auch dessen spezifische Ausgestaltung kontrolliert wird.28 Die Auditierung kann dabei sowohl durch unternehmensinterne als auch durch externe Beauftragte durchgeführt werden.29

Praxistipps

Mögliche Warnhinweise bei einer internen Untersuchung, die auf rechtswidriges Verhalten hinweisen können (aber keinesfalls müssen!), sind neben den bereits bei der Risikoanalyse dargestellten Risikoindikatoren zB die Vernichtung und Verschleierung bzw die Fälschung von Beweismitteln durch Mitarbeiter, Rückdatierungen, fehlende Rechnungen, Belege oder Verträge für Vermögensverschiebungen, Zahlungen nahe bzw knapp unter bestimmten Schwellenwerten, die eine Kontrollpflicht (etwa ein Vier-Augen-Prinzip) auslösen, falsche Buchungen von Geschäftsvorgängen, problematische Nebenbeschäftigungen von Mitarbeitern, unwirksame Kontrollmechanismen usw.

Bei der Aufklärung möglicher Rechtsverstöße – etwa im Zuge einer internen Untersuchung – muss auch das Untersuchungsteam strafrechtliche Grenzen berücksichtigen. Darunter fallen ua die folgenden Straftatbestände: Verletzung des Briefgeheimnisses (§ 118 StGB), widerrechtlicher Zugang auf ein Computersystem (§ 118a StGB), Verletzung des Telekommunikationsgeheimnisses (§ 119 StGB), missbräuchliches Abfangen von Daten (§ 119a StGB), Missbrauch von Tonaufnahme- oder Abhörgeräten (§ 120 StGB) usw. Selbstverständlich darf auch in keiner Weise unzulässi-

27 Vgl auch Ruhmannseder in Ruhmannseder/Wess, HB Corporate Compliance, Rz 1.173 ff.

28 Vgl Kahlenberg/Schäfer/Schieffer in Busch et al, Antikorruptions-Compliance, 836.

29 Vgl Kahlenberg/Schäfer/Schieffer in Busch et al, Antikorruptions-Compliance, 836; Pasewaldt/Raiser in Busch et al, Antikorruptions-Compliance (2020) 908.

ger Druck auf Beschuldigte oder Zeugen ausgeübt werden. Daher ist auch hier die Strafbarkeit von Nötigung (§ 105 StGB) und Amtsanmaßung (§ 314 StGB) im Hinterkopf zu behalten. Nach Abschluss einer internen Untersuchung oder eines Audits wird regelmäßig ein Untersuchungsbericht zum ermittelten Sachverhalt erstellt. Auf der Grundlage des Untersuchungsberichts sollte ein dem Untersuchungsteam beigezogener Jurist eine rechtsgutachterliche Stellungnahme erstellen, die auf Basis des Untersuchungsberichts die wichtigsten rechtlichen Konsequenzen und Handlungspflichten beinhaltet. Daraus kann sich für ein von einem Mitarbeiter geschädigtes Unternehmen zB die Empfehlung ergeben, eine Schadensgutmachung im Zuge einer tätigen Reue (§ 167 StGB) anzustreben oder eine Sachverhaltsdarstellung bei der Staatsanwaltschaft einzubringen.

4.3.Monitoring und Reporting

Um schließlich auch in Erfahrung zu bringen, ob und allenfalls bis zu welchem Grad sich die Mitarbeiter an die geschaffenen ComplianceRegelungen und -Maßnahmen halten, bedarf es eines regelmäßigen Monitorings.30 Dieses kann sich insbesondere auf die Effektivität der Mitarbeiterschulungen, auf die Effizienz im Umgang mit aufgetretenen Compliance-Verstößen oder auf die Aktualität der Compliance-Vorgaben beziehen.

Üblicherweise werden beim Monitoring stets spezifische Indikatoren (auch Key Performance Indicators genannt) herangezogen, zB die Anzahl der erhaltenen Meldungen oder der durchgeführten Untersuchungen und Audits, die verhängten Sanktionen oder die durchgeführten Trainingsmaßnahmen.31 Mittels der im Monitoring erlangten Ergebnisse lassen sich sodann Schlüsse auf die Effektivität des vorhandenen CMS und auf mögliche Verbesserungspotenziale („lessons learned“) ziehen.

5.Reaktion

Um die Befolgung der Compliance-Regelungen auch faktisch sicherzustellen, bedarf es für den Fall eines Fehlverhaltens konkreter Konsequenzen und Sanktionen.32 In der Praxis bieten sich als mögliche Reaktion auf Verstöße gegen geltendes Recht oder interne Compliance-Normen neben bloßen Nachschulungen mitunter auch arbeitsrechtliche Maßnahmen wie Verwarnung, Versetzung, Kündigung oder Entlassung an.33

Im Fall strafrechtlich relevanter Verstöße wird oftmals die Entlassung die adäquate Reaktionsform sein. Zusätzlich sollten zivilrechtliche

30 Vgl Soyer/Pollak in Kert/Kodek, HB Wirtschaftsstrafrecht2, Rz 28.16.

31 Vgl Kahlenberg/Schäfer/Schieffer in Busch et al, Antikorruptions-Compliance, 837.

32 Vgl Koukol, Compliance, 28.

33 Vgl Ruhmannseder in Ruhmannseder/Wess, HB Corporate Compliance, Rz 1.184; Veit, Compliance, Rz 235.

Wirtschaftsstrafrecht Criminal Compliance mit System meistern 114 3/2023 ZWF

Ansprüche geltend gemacht werden. Eine Aufforderung zur zivilrechtlichen Schadensgutmachung kann zB mit einem Hinweis auf den Strafaufhebungsgrund der tätigen Reue (§ 167 StGB) kombiniert werden, sofern die Strafverfolgungsbehörden (noch) keine Kenntnis vom Sachverhalt haben.

Das Ziel der Reduktion strafrechtlicher Risiken kann nur dann bestmöglich erreicht werden, wenn das jeweilige CMS über oberflächliche und allgemein gehaltene Zielvorgaben hinausgeht sowie die konkreten strafrechtlichen Risiken des jeweiligen Unternehmens und neue Entwicklungen berücksich-

tigt. Hierfür ist eine detaillierte Risikoanalyse genauso notwendig wie eine tiefgehende strafrechtliche Analyse. Darauf aufbauend ist es empfehlenswert, das gesamte CMS auch einmal durch die strafrechtliche Brille zu sehen und alle entsprechenden notwendigen Bausteine einzurichten bzw zu aktualisieren sowie im Bedarfsfall in professioneller Weise interne Untersuchungen durchzuführen. Nur durch das laufende Nachjustieren und Anpassen des CMS, sei es aufgrund von bekannt gewordenen Compliance-Verstößen oder zB anlassunabhängigen Kontrollen, kann ein möglichst breiter und strafbarkeitsunterbindender Nutzen erzielt werden.34

Eine Miszelle zum Betrug durch Unterlassen

Die Täuschung durch Unterlassen ist ein Aspekt der Betrugsstrafbarkeit, der zumeist hinter den Begriff des schlüssigen Gesamtverhaltens zurücktritt und nur selten vom kritischen Blick der vermögensstrafrechtlichen Auseinandersetzung erfasst wird. Bereits Rittler stellte jedoch fest, dass der Betrug durch Unterlassen überhaupt zu den interessantesten Fragen des Strafrechts gehört.1 Er postulierte, dass die Konstruktion des Betrugs durch Schweigen als Begehung durch Unterlassung eigentlich verfehlt sei, weil die konkludente Irreführung das Unrecht begründe.2 Dieser Beitrag möchte diesen Themenbereich noch einmal betrachten. Als Orientierungspunkt dient dazu eine konkrete Fallfrage, die nicht ganz zu den üblicherweise besprochenen Konstellationen passt: Liegt ein „Betrug durch Schweigen“ vor, wenn eine Person im Rahmen von Gesprächen über die Übernahme von Ausfallshaftungen nicht offenlegt, dass gegen sie wegen des Verdachts eines Vermögensdelikts ermittelt wurde und das Verfahren diversionell erledigt wurde? Fraglich ist hier, ob tatsächlich ein aktives Verhalten mit konkludentem Erklärungswert vorliegt. Von besonderem Interesse ist dabei der Unterschied zwischen dem Nichtaufklären einer vorhandenen Fehlvorstellung und dem Verzicht auf die Offenlegung von Umständen, die für das Gegenüber potenziell relevant sein könnten.

1.Die Tatsache eines diversionell erledigten Ermittlungsverfahrens

§146 StGB ist ein mehraktiges Erfolgsdelikt und auch ein sogenanntes Selbstschädigungsdelikt:

Eine getäuschte Person setzt selbst ein vermögenswirksames Verhalten, das schließlich zu einem Vermögensschaden führt.3 Der Täter muss also zunächst einen Irrtum (ungeschriebener Zwischenerfolg) bei einer anderen Person herbeiführen, der diese dann zu einer Vermögensverfügung veranlasst. Das unrechtsbegründende Verhalten ist damit die Täuschungshandlung, die in der Folge irrtums-, verfügungs- und

1 Rittler, Betrug verübt durch Schweigen, RZ 1937, 476.

2 Rittler, RZ 1937, 476.

3 McAllister in Preuschl/Wess (Hrsg), Wirtschaftsstrafrecht (2018) § 146 Rz 4.

schadenskausal werden kann. Tatbestandlich setzt das Delikt des Betrugs dabei eine Täuschung über Tatsachen voraus. Tatsachen sind Umstände, die einem Beweis zugänglich sind.4 Zumindest ein Tatsachenkern bzw das Tatsachensubstrat eines behaupteten Umstands muss also objektivierbar sein.

In den meisten Fällen wird es sich um vergangene oder gegenwärtige Gegebenheiten handeln, während über Zukünftiges aufgrund der Unsicherheit möglicher Entwicklungen eigentlich nicht getäuscht werden kann. Hinsichtlich

4 Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, §146 Rz 44 ff; Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 31 ff; Birklbauer in Birklbauer et al, PraxisKomm StGB, § 146 8 f; McAllister in Preuschl/Wess, Wirtschaftsstrafrecht, § 146 Rz 24 ff.

Univ.-Ass. Mag. Dr. Siegmar Lengauer, PMM ist stellvertretender Leiter der Abteilung Grundlagen und Wirtschaftsstrafrecht des Instituts für Strafrechtswissenschaften der Johannes Kepler Universität Linz.

115 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Eine Miszelle zum Betrug durch Unterlassen
Wirtschaftsstrafrecht Eine Miszelle zum Betrug durch Unterlassen
34 Vgl Veit, Compliance, Rz 239 ff.
Auf den Punkt gebracht

einer prognostischen Aussage können aber die Methodik, die Prognosebasis oder auch der angelegte Qualitätsstandard Gegenstand einer Täuschung sein.5 Zu unterscheiden sind äußere und innere Tatsachen: Äußere Tatsachen sind rechtlich oder faktisch feststellbare Gegebenheiten, wie zB auch zurückliegende Ermittlungen zu einer strafrechtsrelevanten Verdachtslage und der Umstand, dass das Verfahren eingestellt oder diversionell erledigt wurde. Innere Tatsachen betreffen Kenntnisse und Fähigkeiten, aber auch psychologische Sachverhalte, also konkrete Vorstellungen und Handlungsabsichten, die Bereitschaft etwas zu tun oder handlungsleitende Motive.6 Ausschlaggebend ist, inwiefern diese als Umstände rational feststellbar sind. Emotionen und Vorahnungen sind keine inneren Tatsachen, da sie keiner Objektivierung zugänglich sind. Auch Werturteile, die nicht auf einem Tatsachenkern beruhen, sind als Meinungen bloß subjektive Ansicht und nicht Tatsachenbehauptung.7 Bei den Umständen, dass in der Vergangenheit zB ein Verfahren wegen des Verdachts der betrügerischen Krida gemäß §156 StGB oder der Begünstigung eines Gläubigers gemäß §158 StGB geführt und dieses Verfahren diversionell erledigt wurde, handelt es sich um eine rechtlich objektivierbare Gegebenheit und damit um äußere Tatsachen. Darüber kann also gemäß §146 StGB getäuscht werden. Zu fragen ist aber, ob und wie eine Täuschung erfolgt ist.

2.Das Täuschungsverhalten

Die Täuschung selbst wird allgemein als die Erklärung unrichtiger Tatsachen definiert.8 Als Täuschung kommt also ein menschliches Verhalten in Betracht, das grundsätzlich dazu geeignet ist, bei einem anderen eine falsche Vorstellung von der Wirklichkeit zu verursachen oder einen bereits bestehenden Irrtum aufrechtzuerhalten. Tatobjekt ist deshalb aber nicht die Willensbildungs- und Dispositionsfreiheit des Getäuschten.9 Der früher oft verwendete Begriff der „Vorspiegelung“ ist in diesem Zusammen

5 McAllister in Preuschl/Wess, Wirtschaftsstrafrecht, §146 Rz 25; Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 32; Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer , SbgK StGB, § 146 Rz 313; Leukauf/Steininger/ Flora , StGB 4 (2016) § 146 Rz 11 f; Birklbauer in Birklbauer et al, PraxisKomm StGB, § 146 Rz 8.

6 McAllister in Preuschl/Wess, Wirtschaftsstrafrecht, §146 Rz 26; Leukauf/Steininger/Flora , StGB4 , § 146 Rz11; Birklbauer in Birklbauer et al, PraxisKomm StGB, § 146 Rz 9; Fabrizy/Michel-Kwapinski/Oshidari, StGB14 (2022) § 146 Rz 4.

7 Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, §146 Rz 55 f; Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 36 f.

8 Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 17; Kert in Triffterer/Rosba ud/Hinterhofer , SbgK StGB, § 146 Rz 38; McAllister in Preuschl/Wess, Wirtschaftsstrafrecht, § 146 Rz 22; mit Bezug zur „Einwirkung auf das intellektuelle Vorstellungsbild“ Leukauf/ Steininger/Flora, StGB4, § 146 Rz 6.

9 McAllister in Preuschl/Wess, Wirtschaftsstrafrecht, §146 Rz 7.

eher missverständlich.10 Die Täuschung muss weder besonders ausgeklügelt noch überzeugend sein.11

Geschützt ist nach heute herrschender Auffassung ausschließlich das fremde Vermögen im Sinne eines wirtschaftlichen Vermögensbegriffs, also die Gesamtheit einer Person zustehenden wirtschaftlich verwertbaren und rechnerisch feststellbaren Werte.12 Unrechtsbegründend ist daher die verfügungsauslösende Wirkung der Täuschung, aber nicht eine spezifisch ausgeprägte, manipulative oder listige Einflussnahme. Derart vermögensbezogen betrachtet kann eine Täuschung auf verschiedenste Weise durch aktives Tun in Form einer ausdrücklichen, mündlichen oder schriftlichen Erklärung, durch konkludentes Verhalten oder auch durch ein Unterlassen erfolgen.13 Eine zentrale Frage liegt also darin, an welches Verhalten die Überprüfung im konkreten Einzelfall anknüpfen kann.

Innerhalb von Geschäftsbeziehungen kann es zu komplexen Interaktionen kommen, die sich aus einer Vielzahl teils offensichtlicher und teils subtiler Einzelakte zusammensetzen. Welches konkrete Verhalten dann als Täuschung zu beurteilen ist, ist nicht immer einfach zu klären. Es überrascht daher nicht, dass sich hinsichtlich der Beurteilung des Täuschungsverhaltens der Grundsatz ausgebildet hat, dass prinzipiell auf das Gesamtverhalten des Täters abzustellen ist.14 Bei ausdrücklichen oder schriftlichen Erklärungen kann noch verhältnismäßig einfach aus dem Erklärungswert geschlossen werden, dass etwas behauptet wurde, das nicht der Wirklichkeit entspricht. Bei schlüssigem Verhalten kommt es hingegen auf die konkreten Umstände und die Auslegung nach der Verkehrsauffassung an. Da es sich dabei um einen „weichen“ Maßstab handelt, kann sich im Einzelfall ein breites Spektrum an Interpretationsmöglichkeit ergeben.15 Dieser Ambiguität be-

10 Leukauf/Steininger/Flora, StGB4, § 146 Rz 15 mVa OGH 8. 9. 1977, 12 Os 76/77, ÖJZ-LSK 1977/347; 13.12. 1977, 11 Os 176/77, ÖJZ-LSK 1978/121: „Vorspiegeln falscher Tatsachen“; Vgl auch OGH 2. 10. 1975, 11Os 49/75, EvBl 1976/173, 330.

11 Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, §146 Rz 62.

12 OGH 28. 11. 2002, 15 Os 86/02, EvBl 2003/32; 27. 6. 1986, 9 Os 89/86, JBI 1986, 801; 25. 8. 2011, 11 Os 68/11a, EvBl 2011/160; 27. 5. 2014, 15 Os 41/14i; Birklbauer in Birklbauer et al, PraxisKomm StGB, § 146 Rz3; Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, §146 Rz 4, 61ff, 89; Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, § 146 Rz 175 ff; Birklbauer/Hilf/Tipold, Strafrecht Besonderer Teil I5 (2020) §§ 146 ff Rz24; siehe auch Leukauf/Steininger/Flora, StGB4, § 146 Rz 39 f.

13 Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 19.

14 Siehe dazu Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, § 146 Rz 68; Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 15; Birklbauer/Hilf/Tipold, BT I5, §§ 146 ff Rz 10; Leukauf/Steininger/Flora, StGB4, § 146 Rz 18, Fuchs/Reindl-Krauskopf, Strafrecht Besonderer Teil I7 (2020) 208, 214 ff; Kienapfel/Schmoller, Studienbuch Strafrecht Besonderer Teil II2 (2017) Rz 52.

15 Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, §146 Rz 69 ff.

Wirtschaftsstrafrecht Eine Miszelle zum Betrug durch Unterlassen 116 3/2023 ZWF

gegnet die Kommentarliteratur verstärkt mit der Aufzählung möglichst vieler Handlugen (Benützen eines Taxis, Bestellen von Speisen, Tanken bei Selbstbedienungstankstellen etc), die als Beispiele für schlüssiges Verhalten gelten sollen.16 Wie der konkludente Erklärungswert auf Basis der Verkehrsauffassung in diesen Fällen begründet wurde, wird aber nicht erklärt, womit ein frakturierter Eindruck eher noch verstärkt wird.17

Vor diesem Hintergrund ist beim Betrug die Frage zu beantworten, ob das Delikt auch durch bloßes Schweigen begangen werden kann, wenn keine Erklärung abgegeben wird, wo dies eigentlich notwendig wäre. Kein Betrug durch Schweigen liegt eindeutig dann vor, wenn eine Frage oder Aufforderung unvollständig beantwortet wird: Wer eine unvollständige Erklärung abgibt, verschweigt gewisse Umstände, erklärt aber gerade dadurch aktiv die Unwahrheit.18 In anderen Situationen, die hier diskutiert werden können, wird zumeist ein schlüssiges Verhalten vorliegen, das für die Fehlvorstellung kausal wird.19 Das Nichtaufklären des verursachten Irrtums ist dann ein Teil des Gesamtverhaltens. Im Einklang mit den Ausführungen von Rittler besteht breiter Konsens darüber, dass im Kontext des Gesamtverhaltens das Verschweigen einzelner Umstände zumeist hinter das schlüssige Verhalten mit entsprechendem Erklärungswert zurücktritt: Hat der Täter zuvor selbst eine positive Tätigkeit entfaltet, die den Irrtum herbeizuführen droht, so besteht das Unrecht nicht darin, dass er sich nicht selbst korrigiert. Das Negativum lässt lediglich das in der positiven Handlung gelegene Irrtumspotenzial uneingeschränkt sich auswirken.20 Anknüpfungspunkt für die Strafbarkeit ist dann nach der Lehre vom Primat des Tuns die unrechtsbegründende Aktivität und nicht das Unterlassen.

Die Feststellung, dass „nicht jedes Schweigen“ ein Unterlassen bedeutet, lässt aber offen, dass es einzelne Fälle gibt, in denen Untätigkeit als Täuschungsverhalten gelten kann. Eine Begehung durch Unterlassen kommt vor allem bei Nichtaufklären eines Irrtums in Betracht, wenn die Fehlvorstellung unabhängig von sonstiger Interaktion zwischen den betreffenden Personen entstanden ist. Dabei ist zu bedenken, dass gemäß §2 StGB tatbestandlich eine den Täter

16 Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 21; Leukauf/Steininger/Flora, StGB4, § 146 Rz 17.

17 Kritisch dazu schon Rittler, RZ 1937, 476 (477): Die meisten Autoren beschränken sich darauf, Beispiele der konkludenten Irreführung aufzuzählen und formulieren keine allgemeinen Sätze zum Betrug durch schlüssiges Verhalten.

18 Rittler, RZ 1937, 476.

19 Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, §146 Rz 113; zustimmend McAllister in Preuschl/Wess, Wirtschaftsstrafrecht, § 146 Rz 32; siehe auch RIS-Justiz RS0120597; Birklbauer in Birklbauer et al, PraxisKomm StGB, § 146 Rz 12.

20 Rittler, RZ 1937, 476; siehe auch Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 22; Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, § 146 Rz 112.

im besonderen treffende Erfolgsabwendungspflicht vorausgesetzt ist. Im Zusammenhang mit § 146 StGB wird zumeist an eine vertraglich begründete Aufklärungspflicht zu denken sein.21 Allerdings bedeutet Aufklärung etwas anderes als Offenlegung: Aufgeklärt kann über einen Umstand werden, der bereits unklar ist. Die zusätzliche Information bereinigt dann eine vorhandene kognitive Dissonanz. Wird die Information zurückgehalten, verbleibt ein unklarer Zustand. Die Offenlegung betrifft hingegen Informationen, die zwar relevant sein könnten, möglicherweise aber noch nicht einmal unklar sind, weil noch nicht darüber nachgedacht wird. Dabei handelt es sich nicht bloß um semantische Wortspielerei. Auch rechtlich betrachtet macht dies in vielerlei Hinsicht einen entscheidenden Unterschied: So kann zB ein strafbares Verhalten durch den Täter in Form einer Selbstanzeige offengelegt („offenbart“) werden, bevor staatliche Behörden überhaupt zur Aufklärung eines Verdachts ermitteln.

Hinsichtlich des Betrugs können sich dort Abgrenzungsfälle ergeben, wo ein Täter eine Fehlvorstellung nicht abwendet (das ist nicht gleichbedeutend mit der Aufklärung eines bereits bestehenden Irrtums), obwohl er selbst entsprechende Information mitteilen könnte und rechtlich auch zur Offenlegung verpflichtet wäre. Könnte ein solcher Fall vorliegen, wenn in Vertragsverhandlungen über Ausfallshaftungen nicht offengelegt wird, dass gegen die durch die Ausfallshaftung begünstigte Person ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines Vermögensdelikts diversionell eingestellt wurde?

2.1.Verschweigen im Rahmen von Vertragsverhandlungen

Im Rahmen von Vertragsverhandlungen sind unterschiedliche Szenarien vorstellbar: Am einfachsten fällt die Beurteilung dann, wenn im Zuge eines Gesprächs oder Schriftverkehrs unwahre Umstände behauptet werden. Wo es zu keiner derartigen verbalen oder schriftlichen Erklärung kommt, ist zunächst an das schlüssige Gesamtverhalten der verhandelnden Partei zu denken. So können Angebotslegung oder Annahmeerklärung für sich verkehrsüblichen Erklärungswert haben:22 Wer einen Vertrag abschließt, erklärt konkludent, den wesentlichen Vertragsinhalt in seinen Willen aufzunehmen und dass er nicht bloß willens ist, sondern auch über die entsprechenden Fähigkeit verfügt, seine vertraglichen Pflichten zu erfüllen.23 Dies ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass im Zu-

21 Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, §146 Rz 115 ff; Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz , WK StGB2, § 146 Rz 24.

22 Siehe exemplarisch dazu Lengauer/Schmollmüller, Die strafrechtliche Relevanz von Unternehmensabsprachen in Ausschreibungsverfahren, bbl 2018, 1 (4).

23 Eingehend dazu Rittler, RZ 1937, 476 (478 f); Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer , SbgK StGB, § 146 Rz70 ff.

117 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Eine Miszelle zum Betrug durch Unterlassen

sammenleben auf die Erfüllung vertraut werden kann und dieses Vertrauen auch durch die Rechtsordnung abgesichert wird: Ein Verkäufer vermittelt also durch den Verkauf, dass er verfügungsberechtigt ist. Ein Handwerker erklärt durch Auftragsannahme, dass er fähig ist, das Werk ordnungsgemäß auszuführen.

Schwieriger fällt allerdings die Beantwortung der Frage, wie es um Umstände oder Eigenschaften des möglichen Vertragspartners steht, die nicht den essentialia negotii zuzuordnen sind. So kann wohl angezweifelt werden, dass die Vereinbarung über eine Stellvertretung in Vermögensangelegenheiten nicht nur den Willen und die Fähigkeit entsprechende Vertretungshandlungen zu setzen umfasst, sondern auch den verkehrsüblichen Erklärungswert hat, dass der Vertreter (zumindest einschlägig) unbescholten ist. Nicht umsonst wird in derartigen Fällen oftmals eine Strafregisterbescheinigung als Nachweis eingefordert. Eine ähnliche Frage stellt sich auch hinsichtlich eines Vertrags über Ausfallshaftungen: Ist durch den Abschluss schlüssig miterklärt, dass die durch die Ausfallshaftung begünstigte Partei bisher redlich und sorgfältig gewirtschaftet hat und gegen sie auch nie einschlägig ermittelt wurde?

Für das Gegenüber wäre das sicherlich eine relevante und möglicherweise sogar entscheidende Information. Die Annahme, dass sich dies aus dem Geschäftsabschluss konkludent erschließt, scheint dessen verkehrsüblichen Erklärungswert jedoch mit Blick auf den wesentlichen Vertragsinhalt zu überspannen. Es kann durchaus Fälle geben, in denen es vor dem Abschluss auch zu keinen anderen Erklärungen oder schlüssigen Handlungen kommt, die in diese Richtung eine Fehlvorstellung erzeugen können. Dann ist nicht auf das Gesamtverhalten abzustellen, sondern zu prüfen, ob ein Unterlassen der Mitteilung von Information als Täuschungsverhalten in Betracht kommt. Tatbestandlich stellt sich das Problem, ob es sich um eine Täuschung handelt, wenn entsprechende Informationen nicht offengelegt werden, und inwiefern eine Rechtspflicht zur Offenlegung bestehen könnte.

2.2.Subsumtion unter den Tatbestand

Die erste Frage lässt sich noch recht eindeutig beantworten: Ja, es handelt sich um eine Täuschung durch Unterlassen. Damit ist aber eben nur zum Ausdruck gebracht, dass ein Verschweigen eines möglicherweise relevanten Umstands ein Verhalten ist, das grundsätzlich geeignet wäre, bei einem anderen Menschen zu einer Fehlvorstellung zu führen. Es handelt sich aber um keine Feststellung, dass es auch zu einem themengleichen Irrtum gekommen ist: Worüber das Gegenüber nicht nachdenkt, darüber kann es sich auch in keinem Irrtum befinden. Wer also zB nicht auf den Gedanken kommt, dass sein Geschäftspartner Beschuldigter in einem Strafver-

fahren gewesen sein könnte, der unterliegt weder in die eine noch in die andere Richtung einer abweichenden Vorstellung. Indem der Umstand, auf den die Täuschung sich bezieht, überhaupt nicht präsent ist (ignorantia factii),24 glaubt das Gegenüber auch nicht, dass „alles in Ordnung“ ist.25 Kommt es zu keiner Fehlvorstellung, sind die getätigte Verfügung und der möglicherweise eingetretene Vermögensschaden nicht irrtumskausal. Der Tatbestand wäre dann nicht erfüllt. Bei entsprechend subjektiver Indikation könnte Versuch geprüft werden.

Darüber hinaus ist auch nicht gesagt, dass den Schweigenden eine Pflicht trifft, solche Umstände offenzulegen, die für das Gegenüber von Relevanz sein könnten. Eine Garantenstellung kommt in Betracht, wenn eine gesetzliche Offenlegungs- oder Wahrheitspflicht existiert oder aber ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Opfer und Täter besteht, auf das sich die Pflicht zur Offenlegung vermögensrelevanter Umstände stützen kann.26 Adressaten gesetzlicher Offenlegungspflichten sind vor allem Leistungsempfänger (etwa Krankengeldempfänger, Arbeitslosengeld- oder Notstandshilfebezieher).27 Zwischen Privatpersonen kann sich eine dahingehende Garantenstellung vor allem aus freiwilliger Pflichtenübernahme ergeben. Um zu klären, ob ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, ist nach überwiegender Auffassung auf Grund, Dauer und Intensität der vertraglichen Beziehung abzustellen:28 Ist Vertragsgegenstand die fachkundige Beratung in Vermögensangelegenheiten, Rechts- oder Steuerfragen, besteht eine umfassende Pflicht zur Vermeidung vermögensrelevanter Irrtümer. Ähnliches gilt unter Gesellschaftern oder im Rahmen einer Genossenschaft und nach der Bestellung zum Geschäftsführungsorgan eines Unternehmens.29 Hingegen soll auf Basis eines üblichen Arbeitsvertrags keine spezielle Informations- oder Aufklärungspflicht begründet werden können.30 Ebenso wenig genügen Treu und

24 Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, §146 Rz 139; darauf verweisend Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 46.

25 Zur Frage des bloßen Mitbewusstseins Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer , SbgK StGB, § 146 Rz 140; Birklbauer in Birklbauer et al , PraxisKomm StGB, §246 Rz17; Leukauf/Steininger/Flora , StGB 4 , § 146 Rz26; McAllister in Preuschl/Wess, Wirtschaftsstrafrecht, §146 Rz34; Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/ Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 44.

26 Vgl Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, § 146 Rz 115 ff, 139.

27 OGH 9. 5. 1985, 13 Os 36/85, JBl 1985, 755; 25. 4. 1978, 11 Os 18/78, EvBl 1978/176; Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 25; Kert in Triffterer/ Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, § 146 Rz 116.

28 Vgl Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, §146 Rz 26; Kert in Triffterer/Rosba ud/Hinterhofer, SbgK StGB, § 146 Rz 118.

29 Kirchbacher/Sadoghi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 146 Rz 26; Kert in Triffterer/Rosba ud/Hinterhofer , SbgK StGB, § 146 Rz 119.

30 Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, §146 Rz 118.

Wirtschaftsstrafrecht Eine Miszelle zum Betrug durch Unterlassen 118 3/2023 ZWF

Glauben nach überwiegender Auffassung als Grundlage für die Annahme einer betrugsspezifischen Garantenpflicht.31

Insofern spricht zunächst einiges dafür, dass auch im vorvertraglichen Bereich noch keine besonderen Pflichten zu Offenlegung oder Aufklärung bestehen. Explizit wird das vor Eingehung eines Arbeitsverhältnisses vertreten: So soll im Normalfall keine Pflicht bestehen, Vorstrafen von sich aus offenzulegen. Vorstrafen, die bereits getilgt sind oder der beschränkten Auskunft nach § 6 TilgG unterliegen, dürfen hingegen stets – also auch dann, wenn danach gefragt wird – verschwiegen werden.32 Dies gilt dann ad minus auch für die diversionelle Erledigung eines Strafverfahrens, die noch nicht einmal zur Eintragung einer Vorstrafe führt.33

Fraglich ist aber, ob dies auch nach Aufnahme eines rechtsgeschäftlichen Kontakts, der speziell auf den Abschluss eines Vertrags über Vermögensangelegenheiten gerichtet ist, angenommen werden kann. Hier könnte mit Hinweis auf culpa in contrahendo eine vorvertragliche Informationspflicht argumentiert werden, die dem spezifischen Verhältnis zwischen den potenziellen Vertragsparteien entspricht. Zivilrechtlich werden dahingehend aber nur Aufklärungspflichten bejaht, die der Etablierung einer ökonomischen Rechtsgeschäftsordnung dienen. Dadurch soll ein rücksichtsloses Verhalten zwischen den Rechtsgeschäftsparteien schon vor dem Vertragsschluss hintangehalten werden.34 Ausschlaggebend ist daher, dass eine vorvertragliche Aufklärungspflicht nur dann besteht, wenn beim Gegenüber bereits ein Willensmangel in Form eines Irrtums vorliegt. Die Nichtaufklärung wäre dann rücksichtslos. Ein bloßes Informationsdefizit genügt hingegen noch nicht.35 Folglich kann im vorvertraglichen Bereich auch keine umfassende Offenlegungspflicht hinsichtlich aller Informationen, die für die Willensbildung des Vertragspartners potenziell von Belang sind, begründet werden. Die vorvertrag-

31 Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, §146 Rz 124 mV auf Kienapfel/Schmoller, StudB BT II2, Rz 91; Nowakowski, Das österreichische Strafrecht in seinen Grundzügen (1955) 184.

32 Kert in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer, SbgK StGB, §146 Rz 118 mVa Dannecker in Graf/Wittig/Jäger (Hrsg), Wirtschafts- und Steuerstrafrecht2 (2017) § 263 Rz 49; Kern in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 6 TilgG Rz 33; etwas anderes kann gelten, wenn berufsspezifische Rechtsnormen etwas anderes vorschreiben: Wer etwa den Polizeidienst antreten will, wird schon im Zuge der Onlinebewerbung aufgefordert, Vorstrafen offenzulegen.

33 Eine diversionelle Erledigung kann schließlich auch nur behördenintern eingesehen werden; Hinterhofer/ Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens (2017) Rz 7.927.

34 Reich-Rohrwig, Aufklärungspflichten vor Vertragsabschluss (2015) 27, 59; Welser/Zöchling-Jud, Bürgerliches Recht II14 (2015) Rz 69.

35 Reich-Rohrwig, Aufklärungspflichten, 37 ff.

liche Informationspflicht ist schließlich nicht darauf gerichtet, im Geschäftskontakt für eine potenzielle Vertragspartei überhaupt eine möglichst vorteilhafte Inforationsbasis zu gewährleisten. Es geht vielmehr darum, dem Ausnutzen einseitiger Willensmängel vorzubeugen.

▶ Auf den Punkt gebracht

Das Verschweigen eines zurückliegenden Ermittlungsverfahrens und einer Diversion bedeutet ein Unterlassen der Offenlegung von Tatsachen und kommt als tatbestandliches Täuschungsverhalten in Betracht. Woran der potenzielle Vertragspartner aber überhaupt nicht denkt, darüber macht er sich auch keine fehlerhafte Vorstellung. Im üblichen Geschäftsverkehr ist auch niemand dazu verpflichtet, von sich aus darauf hinzuweisen, dass gegen ihn in der Vergangenheit ein Verfahren geführt wurde. Selbst wenn diese Information den Vertragsabschluss mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst hätte, kann eine derart umfassende Offenlegungspflicht im Normalfall nicht begründet werden. Dies gilt auch im Fall, dass der Geschäftskontakt spezifisch auf den Abschluss eines Vertrags über Vermögensangelegenheiten gerichtet ist. In diesem Kontext bestehen zwar vorvertragliche Aufklärungspflichten. Diese verpflichten aber eben nur zur Aufklärung einer bereits entstandenen Fehlvorstellung und nicht zur Offenlegung sämtlicher Informationen, die möglicherweise relevant sein könnten. Das bedeutet nicht, dass die Konstruktion eines „Betrugs durch Schweigen“ als Begehung durch Unterlassen überhaupt verfehlt sei. Im hier behandelten Kontext gibt es aber eigentlich kein Szenario, in dem alle Tatbestandsmerkmale erfüllt sind: Wenn zur Offenlegung aufgefordert wird oder das Gegenüber nachfragt und daraufhin eine unvollständige Erklärung abgeben wird, dann ist das Verschweigen von Umständen Teil einer aktiven unrichtigen Erklärung. Hingegen entsteht in Fällen, in denen es zu keinem Tun mit Erklärungswert kommt, zumeist auch keine Fehlvorstellung, darüber hinaus besteht auch keine Offenlegungsverpflichtung. Es könnte dann immerhin an Versuchsstrafbarkeit zu denken sein. Diese würde allerdings voraussetzen, dass der Täter irrtümlich eine umfassende und ihn treffende Offenlegungspflicht annimmt. Er müsste an sein eigenes Verhalten also einen strengeren Maßstab anlegen, als es die Rechtsordnung tut.

119 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Eine Miszelle zum Betrug durch Unterlassen

Die Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung

Nur ein Appell an die Staatsanwaltschaften oder ein subjektives Recht?

In diesem Beitrag wird der Frage zur Möglichkeit der Geltendmachung von Verstößen gegen die Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung gemäß § 3 Abs 1 und 2 Satz 2 StPO mittels Einspruchs wegen Rechtsverletzung gemäß § 106 Abs 1 Z 2 StPO nachgegangen. Dabei wird insbesondere die dazu ergangene Rechtsprechung des OLG Wien beleuchtet und eine Entgegnung geliefert.

1.Grundlegendes

H in Wien tätig sowie Präsident der Austrian White Collar Crime Association – Vereinigung für Wirtschaftsstrafrecht (in Gründung).

Aus der unstrittig zentralen Rolle der materiellen Wahrheitserforschungspflicht würde man schließen, dass insbesondere Beschuldigte ein Recht darauf haben, ein Vorgehen der Ermittlungsbehörde gerichtlich überprüfen zu lassen, das nicht mit dieser Verpflichtung in Einklang zu stehen scheint. Ein Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß § 106 StPO schiene hierfür das passende Mittel.

Eine Reihe von Entscheidungen der Oberlandesgerichte erteilt einer solchen Annahme jedoch eine Absage. In ständiger Rechtsprechung vertreten Oberlandesgerichte, insbesondere das OLG Wien, dass § 3 StPO zwar eine fundamentale Rolle für Strafverfahren zukomme. Ein subjektives Recht entspringe aus der Bestimmung aber nicht. Verschärft wird die Problematik im Zusammenhang mit dieser Rechtsprechung dadurch, dass es sich zumeist um unveröffentlichte Entscheidungen handelt. In der letzten veröffentlichen Entscheidung vertrat das OLG Wien noch die gegenteilige Ansicht.

Nach Ansicht des Autors bietet § 106 Abs 1 Z2 StPO die Grundlage dafür, Verstöße gegen die Verpflichtung zur materiellen Wahrheitsforschung zu ahnden und einer gerichtlichen Überprüfung zuzuführen. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieser Beitrag „nur“ die Sanktionierung von Verstößen gegen ebenjene Verpflichtung abhandelt. Diese ist nach Ansicht des Autors in §3 Abs 1 und auch in Abs2 Satz 2 StPO normiert. Nicht Gegenstand des Beitrags ist hingegen, ob gegen die Befangenheit eines Ermittlungsorgans (§ 3 Abs 2 Satz1 StPO) ein Einspruch wegen Rechtsverletzung zusteht, weil diese Frage insbesondere im Licht des § 47 StPO einer spezifischen Systematik unterliegt – wobei nach Ansicht des Autors auch diesbezüglich das Ergebnis ident sein müsste.

2.Chronologie der bisherigen Rechtsprechung

2.1.Ursprüngliche Verneinung der Möglichkeit der Beeinspruchung eines „§ 3 StPO“-Verstoßes

Den Anfang machte eine Entscheidung des OLG Graz aus dem Jahr 2010. Darin vertrat das

OLG Graz im Zusammenhang mit einer geltend gemachten Befangenheit der im Verfahren leitenden Staatsanwältin zusammengefasst die Ansicht, dass „dem Gesetz kein im Wege des Einspruchs wegen Rechtsverletzung geltend zu machendes Recht auf Enthaltung eines befangenen Organs der Staatsanwaltschaft (oder der Kriminalpolizei) zu entnehmen [sei]. […] Dies steht auch im Einklang mit der Systematik des Einspruchsverfahrens nach §§ 106 ff StPO, ein Einspruch wegen Rechtsverletzung steht nicht zu, wenn das Gesetz – wie in § 47 Abs 3 – ein eigenes Prozedere zur Effektuierung einer Vorschrift vorsieht.“1

Ausdrücklich Bezug genommen wurde hierbei auf § 3 Abs 2 StPO, wobei inhaltlich ein Fall von Satz 1 vorlag. Nicht differenziert wurde überdies zwischen § 106 Abs 1 Z 1 und 2 StPO.

2.2.Abkehr von der Rechtsprechung

Im Jahr 2012 hatte sich das OLG Wien2 mit einer geltend gemachten Behinderung der Tätigkeit eines Sachverständigen im Rahmen der Erstellung eines objektiven Gutachtens durch die Staatsanwaltschaft zu befassen. Mit dem beeinspruchten Vorgehen hätte „die Staatsanwaltschaft Wien gegen das gesetzliche Objektivitätsgebot gemäß § 3 Abs 2 StPO verstoßen“. Geltend gemacht wurde inhaltlich somit wiederum ein Verstoß gegen § 3 Abs 2 StPO, erneut ohne Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Fallkonstellationen. Selbiges galt auch für § 106 StPO; es erfolgte keine Unterscheidung zwischen Abs 1 Z 1 und 2 leg cit.

Begründend differenzierte das OLG Wien zwischen den in § 49 StPO demonstrativ beschriebenen konkreten Beschuldigtenrechten und den Bestimmungen über die Grundsätze des Verfahrens, wie dies auch – so viel vorab – den späteren widersprechenden Entscheidungen zu entnehmen ist. In ausdrücklicher Abkehr der Rechtsansicht des OLG Graz hielt das OLG Wien jedoch fest: „Schon aus dem – verfassungsmäßig durch Artikel 6 Abs 1 MRK vorgegebenen – einfachgesetzlich in § 3 StPO geregelten Grundsatz der Objektivität lässt sich ein solches subjektives

Wirtschaftsstrafrecht Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung 120 3/2023 ZWF
Wirtschaftsstrafrecht
Mag. Oliver M. Loksa ist Rechtsanwalt und als Counsel für die Hausmaninger Kletter Rechtsanwälte-Gesellschaft m. b. 1 OLG Graz 11. 2. 2010, 10 Bs 24/10w = RG0000063. 2 OLG Wien 16. 5. 2012, 22 Bs 176/12m = RW0000730, RW0000729 [Der Autor war am Verfahren beteiligt].

Recht des Beschuldigten ableiten. […] Der Beschuldigte hat nämlich auch ein subjektives Recht auf Einhaltung aller Bestimmungen der StPO, die für eine objektive und vollständige Aufklärung des Falls […]. […] Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Beschwerdeführer […] im Recht, das trotz Entscheidungsmöglichkeit des Leiters der jeweiligen Behörde im Dienstaufsichtsweg im Falle der Befangenheit eines ihm unterstehenden Organs, bei Verletzung des Objektivitätsgebots Einspruch wegen Rechtsverletzung nach § 106 StPO erhoben werden kann.“3

Dem Sachverhalt ist zu entnehmen, dass wiederum ein Verstoß gegen das Objektivitätsgebot des § 3 Abs 2 StPO geltend gemacht wurde, erneut ohne Differenzierung in Satz 1 und 2 leg cit. Welcher Fall des § 106 Abs 1 StPO Anwendung fand, wurde ebenfalls nicht ausdrücklich thematisiert.

Wie darüber hinaus der Entscheidung des OLG Wien vom 9. 5. 2016, 18 Bs 34/16f (siehe Punkt 2.3.), entnommen werden kann, bekräftigte das Gericht diese Rechtsansicht in den nachfolgenden (unveröffentlichten) Entscheidungen 18 Bs 156/12w und 23 Bs 265/15m. Überwiegend übernahm die Literatur diese Begründung entweder ausdrücklich zustimmend oder aber jedenfalls kritiklos.4

2.3.Erneute Abkehr von der Rechtsansicht des OLG Wien

In weiterer Folge ging das OLG Wien in einer Reihe von Entscheidungen von seiner eigenen Rechtsprechung ab und vertritt nunmehr in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, dass aus § 3 StPO, unabhängig von der konkreten Fallkonstellation und der anwendbaren Bestimmung, kein subjektives Recht entspringe und demnach eine Verletzung dieser Bestimmung nicht mit einem Einspruch wegen Rechtsverletzung geahndet werden könne.

Die (unveröffentlichte) Entscheidung des OLG Wien vom 9. 5. 2016, 18 Bs 34/16f,5 betraf dabei wiederum die Frage, ob § 3 Abs 2 StPO Beschuldigten ein konkretes subjektives Recht dahingehend verleiht, dass kein parteiliches oder voreingenommenes Organ der Kriminalpolizei

3 Hervorhebungen hier und in der Folge durch den Autor.

4 McAllister/Wess in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/Wess (Hrsg), Linzer Kommentar zur StPO (2020) § 3 Rz 39, die die Erhebung eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung ausdrücklich ergänzend zur Anzeige beim Leiter der Dienstbehörde zulassen; Bertel in Bertel/Venier, StPO (2012) § 106 Rz 2 f; Öner/Walcher, Zum Einspruch nach §106 StPO, ÖJZ 2014, 999; Schroll/Kier in Kert/Kodek (Hrsg), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht2 (2022) Kap 23 Rz 23.10; Flora in Bertel/Venier, StPO2 (2022) § 106 Rz 7; anderer Ansicht auch nach Fassung des Beschlusses des OLG Wien Brandstetter/Singer in Birklbauer/Haumer/ Nimmervoll/Wess (Hrsg), Linzer Kommentar zur Strafprozessordnung (2020) § 106 Rz 6; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichisch en Strafverfahrens (2017) Rz1.054; Pilnacek/Stricker in Fuchs/Ratz, WK StPO, §106 Rz 14.

5 Erwähnt in Brandstetter/Singer in Birklbauer/Haumer/ Nimmervoll/Wess, LiK StPO, § 106 Rz 6.

an den Ermittlungen beteiligt ist. In ausdrücklicher Abkehr der Rechtsansicht des 22. Senats verneinte der 18. Senat des OLG Wien die Möglichkeit der Erhebung eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung.

Begründend führte es aus, dass die §§ 1 bis 17 StPO die „Programmatik der StPO“ enthalten würden. Diese seien von „zentraler Bedeutung“ für Strafverfahren und würden die „Grundsätze“ des Strafverfahrens bilden, nämlich ein einfachgesetzliches System von Leitprinzipien, das zur Auslegung unbestimmter Gesetzesbegriffe sowie zur Lückenfüllung heranzuziehen ist und Grundrechtsschutz gewährleistet. Grundsätze seien jedoch nur „Optimierungsgebote“ und hätten „programmatischen Charakter“. Sie würden gebieten, dass ihnen „in einem möglichst hohem Maß entsprochen wird; wenn ein Grundsatz proklamiert oder angewendet wird, müssen jedoch immer Einschränkungen und Ausnahmen beachtet werden, soweit nicht sein Wesensgehalt betroffen ist“. Bei solchen Grundsätzen sei jeweils im Einzelfall zu prüfen, ob sie einzelnen Personen subjektive Rechte einräumen würden. Dem Wortlaut des §106 Abs 1 StPO sei zu entnehmen, dass Einspruch wegen Rechtsverletzung nur dann zustehe, wenn eine Verletzung eines subjektiven Rechts behauptet wird.

Aus der Formulierung des § 3 Abs 2 StPO schloss das OLG Wien, dass diese Bestimmung kein subjektives Recht verleihe. Im Gegensatz zu anderen Bestimmungen finde sich in ihr nämlich nicht explizit die Diktion, dass eine Verfahrenspartei ein „Recht“, einen „Anspruch“ etc habe. Vielmehr werde lediglich ein an die ermittelnden Organe gerichteter Appell formuliert. Die allgemeinen Verfahrensgrundsätze der §§ 1 bis 17 StPO würden dann zur Erhebung eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung berechtigen, wenn sie im Rahmen der StPO weiter ausgestaltet werden würden. Hierzu verwies das OLG Wien auf das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nach § 9 Abs 2 StPO auf, das in § 177 Abs 1 StPO als Verpflichtung für die mit Haftsachen befassten Behörden formuliert wird, zudem auf den Grundsatz nemo tenetur nach § 7 Abs 2 StPO, der in den §§ 49 Z 4 und 164 Abs 1 StPO präzisiert wird.6

Zwar, so das OLG Wien weiter, erfahre § 3 Abs 2 StPO in § 47 StPO eine nähere Ausgestaltung. Das Gesetz sehe jedoch vor, dass über die Ablehnung eines Staatsanwalts oder eines Organs der Kriminalpolizei der jeweilige Behördenleiter im Dienstaufsichtsweg entscheide. Es wäre problematisch, wenn exakt dieselbe Frage, deren Entscheidung dem Behördenleiter obliegt, mittels Einspruchs wegen Rechtsverletzung parallel auch an das Gericht herangetragen

6 So ähnlich in weiterer Folge auch OLG Linz 10. 4. 2019, 9 Bs 69/19i, im Zusammenhang mit der Verletzung des aus §§ 12 Abs 1 Satz2 und 169 Abs 1a StPO entfließenden subjektiven Rechts auf nichtöffentliche Führung des Ermittlungsverfahrens.

121 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung

werden könne. Eine Befangenheit könne demnach (nur) dann mittels eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung geltend gemacht werden, wenn sie sich in Verstößen gegen in der StPO konkret ausgestaltete Rechte (Rechtsbelehrung, Akteneinsicht, Beziehung einer Vertrauensperson etc) oder gegen Zwangsausübungsvorschriften manifestieren würde.

Der 19. Senat des OLG Wien folgte in einer kurz danach ergangenen (unveröffentlichten) Entscheidung7 dem 18. Senat.8 Er präzisierte bzw verfeinerte die Rechtsansichten insofern, als er als Beispiel Bestimmungen anführte, aus denen sich anhand der vom Gesetzgeber gewählten Diktionen ein subjektives Recht ableiten ließe: §§ 6 Abs1 und 2, 7 Abs 1, 9 Abs 1, 49, 55 Abs 1 und 126 Abs 5 StPO. Eine solche Terminologie („hat das Recht“, „ist berechtigt“, „hat Anspruch auf“) fehle § 3 Abs 2 StPO. Hervorzuheben ist an dieser Entscheidung, dass der ihr zugrunde liegende Anlassfall nicht unmittelbar eine Befangenheit eines Ermittlungsorgans betraf, sondern die Zurückstellung von vorgelegten Privatgutachten.

Anschließend erfolgten weitere (unveröffentlichte) Entscheidungen sowohl des 18. Senats, die das Vorliegen eines subjektiven Rechts bei Verstößen generell gegen § 3 StPO offenbar verneinten,9 als auch der 22. Senats.10 Soweit bekannt kann bezüglich der Begründung auf das bereits Dargelegte verwiesen werden.

Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass sich bis dato kein Oberlandes- oder gar Höchstgericht explizit einem Einspruch wegen Rechtsverletzung wegen Verstoßes gegen § 3 Abs 1 StPO gewidmet hat. Aufgrund dessen aber, dass pauschal zu § 3 StPO Entscheidungen vorliegen, wie soeben aufgezeigt, ist davon auszugehen, dass des Ergebnis nicht anders ausfallen würde.

3.Entgegnung

Vorweg ist der Autor der Ansicht, dass besagte Rechtsprechung der Oberlandesgerichte einer Korrektur bedarf.

3.1.Unterscheidung

zwischen materieller Wahrheitserforschung und Objektivitätsgebot

An dieser Stelle wird wiederholt darauf hingewiesen, dass sich dieser Beitrag nur mit der

7 OLG Wien 19. 7. 2017, 19 Bs 345/16y.

8 Schon davor hatte das OLG Linz in seiner Entscheidung vom 2. 12. 2016, 7 Bs 133/16g = RL0000211, das Vorliegen eines subjektiven Rechts auf Enthaltung eines befangenen Organs der Staatsanwaltschaft (oder der Kriminalpolizei) von der Tätigkeit im Ermittlungsverfahren und auf Ablehn ung eines solchen Organs durch einen Verfahrensbeteiligten verneint. Das OLG Linz hatte dabei aber keine Ausführungen getroffen, die über den hier nicht relevanten Fall der Befangenheit eines Organs hinausgehen.

9 OLG Wien 18 Bs 344/19y, 18 Bs 345/19w.

10 OLG Wien 16. 4. 2020, 22 Bs 28/20h, und die darin angeführten Entscheidungen 22 Bs 123/16y, 22 Bs 332/18m, 22 Bs 333/18h.

Frage beschäftigt, ob die in § 3 Abs 1 und 2 Satz2 StPO normierten Gebote zulassen, dass ein Verstoß gegen sie mit einem Einspruch wegen Rechtsverletzung gerügt werden kann.

Zwar wird nach Erfahrung des Autors § 3 Abs 2 StPO zumeist pauschal als Normierung des Objektivitätsgebots erachtet und auch als solches bezeichnet, wie dies auch den referenzierten Entscheidungen zu entnehmen ist.11 Dabei hat Schmoller nach Ansicht des Autors bereits 2016 überzeugend aufgezeigt, dass § 3 Abs2 Satz 2 StPO der materiellen Wahrheitserforschung zuzurechnen ist und daher passender in Abs 1 leg cit aufgenommen hätte werden müssen.12

Auch der OGH vertritt im Übrigen diese Ansicht. In seinem Urteil vom 17. 2. 2011, 11 Os 161/ 10a, qualifiziert der OGH im Zusammenhang mit der Abweisung eines Beweisantrags die beiden Bestimmungen (§ 3 Abs 1 und 2 Satz 2 StPO) eindeutig als zum Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung gehörig: „Auch mit Blick auf den in § 3 Abs 1, Abs 2 zweiter Satz StPO normierten prinzipiellen Verfahrensgrundsatz der materiellen Wahrheitsforschung, demzufolge das Gericht mit diesem Ziel alle Tatsachen, die für die Beurteilung der Tat von Bedeutung sind, aufzuklären und die zur Belastung und zur Verteidigung des Beschuldigten dienenden Umstände mit gleicher Sorgfalt zu ermitteln hat […].“13

Dies ist nach Ansicht des Autors völlig zutreffend. Gemein haben §3 Abs 1 und 2 Satz 2 StPO nämlich, dass sie die Ermittlungsbehörden verpflichten, die Sachverhaltsermittlungen in einer bestimmten Art vorzunehmen. § 3 Abs 2 Satz 1 StPO geht darüber hinaus und verpflichtet die Ermittlungsbehörden (und das Gericht) grundsätzlich zu einer bestimmten Amtsführung sowie zur Vermeidung eines bestimmten Anscheins. Das ist mehr als Sachverhaltsermittlung. Organe der Ermittlungsbehörden können selbstverständlich auch abseits ihrer konkreten Ermittlungstätigkeiten (anscheins)befangen sein, indem zB familiäre Beziehungen bestehen. Für die Frage der Befangenheit sind auch unterschiedliche, weil ergänzende Rechtsfolgen normiert, weil gegen das Vorliegen einer (Anscheins-)Befangenheit, wozu nach § 47 Abs 1 Z 3 StPO auch die Parteilichkeit und Voreingenommenheit zählt,14 (auch) die Dienstaufsichtsbeschwerde offensteht (§ 47 Abs 3 StPO).15

11 Siehe hierzu auch ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 27, die §3 StPO pauschal unter den Grundsatz der Objektivität subsumiert.

12 Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 3 Rz 3; siehe auch McAllister/Wess in McAllister/Wess in Birklbauer/ Haumer/Nimmervoll/Wess , LiK StPO, § 3 Rz 1 mit Verweis auf Schmoller ; anderer Ansicht Nimmervoll, Das Strafverfahren2 (2017) Kap VI Rz 104, der Abs 2 Satz 2 leg cit ausdrücklich als Teilaspekt des Grundsatzes der Objektivität bezeichnet.

13 OGH 17. 2. 2011, 11 Os 161/10a (11 Os 15/11g, 11 Os 16/11d, 11 Os 17/11a).

14 Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 3 Rz 17.

15 So ausdrücklich McAllister/Wess in Birklbauer/Haumer/ Nimmervoll/Wess, LiK StPO, § 3 Rz 39.

Wirtschaftsstrafrecht Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung 122 3/2023 ZWF

3.2.Beeinspruchung mittels § 106 Abs 1 Z2 StPO

Die in den Punkten 2.1. und 2.3. aufgezeigte Rechtsansicht der Oberlandesgerichte steht nach Ansicht des Autors weder mit dem Wortlaut noch mit dem Telos des § 106 (konkret: Abs1 Z2) StPO in Einklang.

3.2.1.Zum Wortlaut des § 106 Abs 1 Z 2 StPO Schon der eindeutige Wortlaut dieser Bestimmung legt nahe, dass die verletzte StPO-Bestimmung nicht konkret als Verfahrensrecht ausgestaltet werden muss. Demzufolge „steht [ein Einspruch wegen Rechtsverletzung] jeder Person zu, die behauptet, im Ermittlungsverfahren durch Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt zu sein, weil

1.ihr die Ausübung eines Rechtes nach diesem Gesetz verweigert oder

2.eine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme unter Verletzung von Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt wurde.“

Lediglich § 106 Abs 1 Z 1 StPO nimmt explizit Bezug auf ein „Recht nach diesem Gesetz“. Das Paradebeispiel ist das Recht auf Akteneinsicht gemäß § 51 StPO. Bestimmten Personen steht ein solches Recht ausdrücklich zu. Wird dieses, dh ein konkretes Recht, „verweigert“, kann ein Einspruch wegen Rechtsverletzung erhoben werden. Die Notwendigkeit der expliziten Normierung von Rechten bzw Ansprüchen (§ 9 StPO) kann somit nur, wenn überhaupt, dann zum Tragen kommen, wenn die Ausübung eines Rechts verhindert wird.

§ 106 Abs 1 Z 2 StPO sieht jedoch ausdrücklich die Möglichkeit der Erhebung eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung auch vor, „weil eine [Ermittlungsmaßnahme] unter Verletzung von Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt wurde“. Weder ist somit das Vorliegen einer Zwangsmaßnahme notwendig noch jenes eines konkreten und als solches bezeichneten Beschuldigtenrechts. Vielmehr genügt einzig und allein eine Verletzung von Bestimmungen der StPO bei der Anordnung oder Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme –nicht mehr und nicht weniger.

Wie ebenfalls direkt dem Wortlaut zu entnehmen ist, entspringt das subjektive Recht, das zur Ergreifung eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung berechtigt, unmittelbar aus der Verletzung der StPO: Einer Person steht ein Einspruch wegen Rechtsverletzung nämlich zu „weil eine [Ermittlungsmaßnahme] unter Verletzung von Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt wurde“. Dass somit eine Ermittlungsmaßnahme StPO-widrig angeordnet oder durchgeführt wurde, ist selbst die Begründung dafür, dass ein Einspruch wegen Rechtsverletzung erhoben werden kann.

In diesem Sinne argumentiert auch Ratz, wonach Gegenstand von § 106 Abs 1 Z 2 StPO die Durchführung einer von der Staatsanwalt-

schaft als Anordnung getroffenen Entscheidung ist, während (nur) Z 1 leg cit eine unmittelbar rechtsverletzende Entscheidung der Staatsanwaltschaft betrifft.16 Dies steht im Kern im Einklang mit jenen Stimmen der Literatur, gemäß denen § 106 StPO nicht nur auf ausdrücklich als „Rechte“ titulierte Bestimmungen der StPO Anwendung findet, sondern auch auf Vorschriften, deren Sinn und Zweck zeigt, dass der Betroffene an der Einhaltung eben dieser Vorschrift ein berechtigtes Interesse hat.17 Zwar lässt diese Ansicht insbesondere offen, wann ein solches „berechtigtes Interesse“ vorliegt, was auch Ratz kritisch anmerkt.18 Jedenfalls daran, dass die Ermittlungsbehörden ihrer Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung nachkommen, wird man Beschuldigten jedoch jedenfalls ein berechtigtes Interesse zugestehen müssen.

Die Oberlandesgerichte scheinen in den genannten Entscheidungen dem widersprechend umgekehrt vorzugehen und zuerst determinieren zu wollen, was ein subjektives Recht darstellt und erst danach, ob dieses verletzt wurde. Dieses Vorgehen scheint jedoch § 106 Abs 1 Z 2 StPO zu ignorieren – und das Wort „weil“ wäre seines Sinns beraubt. Dem Gesetzgeber ist jedoch keine sinnlose Vorgehensweise zu unterstellen.19

Im Übrigen ist schon dem Wortlaut des § 3 StPO zu entnehmen, dass das darin Normierte nicht nur einen Appell an die Staatsanwaltschaften darstellt. Sowohl § 3 Abs 1 als auch 2 Satz 1 und 2 bestimmen, wie sich die angeführten Organe zu verhalten „haben“. Hätte der Gesetzgeber lediglich an die Organe appellieren wollen, so ist ihm zuzugestehen, dass er ua Worte wie „sollen“ verwendet hätte. Offenkundig ist mit den gewählten Bestimmungen eine Verpflichtung vorgesehen.20 Eine „zahnlose“ Ausgestaltung dieser fundamentalen Verpflichtung mangels Beeinspruchungsmöglichkeit wäre nach Ansicht des Autors mit dem Telos des §106 StPO unvereinbar.

3.2.2.Zum Telos des § 106 StPO

Den Materialien zum Gesetzesentwurf ist zu entnehmen, dass mittels des § 106 StPO „ein einheitliches Rechtsschutzsystem“ innerhalb der StPO geschaffen werden sollte.21 Einheitlich kann ein Rechtsschutzsystem aber logischerweise nur dann sein, wenn Betroffene nicht auf

16 Ratz, Verfahrensführung und Rechtsschutz nach der StPO (2023) Rz 322; siehe auch Ratz, Aktuelle Rechtsprobleme des Ermittlungsverfahrens, ÖJZ 2021, 772 (775), wonach ein Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß § 106 Abs 1 Z 2 StPO auch bloß mit dem Ziel gerichtlicher Feststellung erhoben werden kann, wenn eine Anordnung „unter Verletzung von Bestimmungen dieses Gesetzes“ ergeht, auch wenn abgesonderter Einspruch nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO ausscheidet.

17 Pilnacek/Stricker in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 106 Rz 11 mwN; siehe auch Nimmervoll, Strafverfahren2, Kap III. Rz 942.

18 Ratz, Verfahrensführung, Rz 319.

19 VfGH 15. 6. 1993, B 1392/90.

20 So auch Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren, Rz 2.24, 2.43.

123 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung

Rechtsmittel bzw -behelfe außerhalb der StPO angewiesen sind, sondern sich der Rechtsschutz aus der StPO selbst ergibt. Dementsprechend hat der Gesetzgeber gemäß den ErlRV die Ergreifung eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung nur in zwei Fällen relativiert. Dieser soll nicht zustehen,

 wenn zugleich Beschwerde ergriffen werden kann.22 Jedoch ist die Beschwerdemöglichkeit ohnehin in § 87 StPO vorgesehen, sodass das einheitliche Rechtsschutzsystem der StPO gewahrt bleibt – und

 bei einer geltend gemachten Verfahrensverzögerung nur ausnahmsweise zustehen; ansonsten soll eine Dienstaufsichtsbeschwerde erhoben werden.23

Eine Verfahrensverzögerung ist somit der einzige Fall, den der Gesetzgeber in den ErlRV im Zusammenhang mit § 106 StPO ausdrücklich erwähnt, der mittels eines außerhalb der StPO vorgesehenen Rechtsbehelfs gerügt werden soll. Davon, dass Derartiges für alle allgemeinen Verfahrensgrundsätze vorgesehen werden soll, insbesondere für die Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung gemäß § 3 StPO, ist keine Rede. Im Gegenteil:

 Auf Seite 2 der ErlRV ist ausdrücklich vorgesehen, dass Gerichte im Ermittlungsverfahren die Berechtigung von Grundrechtseingriffen kontrollieren sollen.24 Jedenfalls unstrittig ist, dass die Objektivität des Gerichts in Art 6 Abs 1 EMRK abgesichert ist.25 Kroschl zufolge zählt überhaupt die Pflicht, belastenden und entlastenden Umständen sowie Beweisergebnissen mit gleicher Sorgfalt nachzugehen, zu einer aus Art 6 Abs 1 EMRK entspringenden Verpflichtung, wenn auch dieser sie unter § 3 Abs 2 StPO subsumiert.26 Dies entspricht im Übrigen auch der vom OLG Wien in seiner Entscheidung vom 9. 5. 2016, 18 Bs 34/16f, geäußerten Ansicht, wonach die §§ 1 bis 17 StPO Grundrechtsschutz bezwecken.

 Seite 10 der ErlRV 25 BlgNR 22. GP ist mit „Allgemeines und Grundsätze des Verfahrens“ betitelt. Teil dessen sind eben auch Rechte der Beteiligten des Verfahrens.

 Erst auf Seite 12 sind die konkreten Beschuldigtenrechte aufgezählt. Dass die Verletzung dieser zur Erhebung eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung berechtigt, ist unstrittig.

Aus den ErlRV ist somit eher etwas für den Standpunkt zu gewinnen, dass aus § 3 Abs 1 und 2 Satz 2 StPO ein subjektives Recht entspringt,

21 ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 142; Brandstetter/Singer in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/Wess , LiK StPO, §106 Rz1.

22 ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 143.

23 ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 142.

24 ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 2.

25 Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 3 Rz 17; ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 27.

26 Kroschl in Schmölzer/Mühlbacher, StPO (2021) § 3 Rz 4.

als für die gegenteilige Ansicht – ganz unabhängig davon, dass das Vorgehen mittels einer Dienstaufsichtsbeschwerde ausdrücklich nur für den Fall der Befangenheit angeordnet ist (§ 47 Abs 3 StPO), nicht aber für den Fall der Verletzung gegen die materielle Wahrheitserforschungspflicht.

Zudem stünde eine gegenteilige Rechtsansicht im Widerspruch dazu, mittels des § 106 StPO, „wirksamen Rechtsschutz im Ermittlungsverfahren“27 zu schaffen. Über eine Dienstaufsichtsbeschwerde gemäß § 37 StAG entscheidet bekanntlich kein unabhängiges Gericht. Betroffenen käme daher nicht die Möglichkeit zu, die Verletzung der Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung gerichtlich überprüfen zu lassen. Wenig überraschend erachtet der EGMR Dienstaufsichtsbeschwerden nicht als effektive Rechtsbehelfe iSd Art 13 EMRK.28

Darüber hinaus ist der Maßstab ein weitaus höherer, wenn eine Amtsführung Anlass für aufsichtsbehördliche Maßnahmen bietet. Ein Gericht kann entgegen der Rechtsansicht der Staatsanwaltschaft eine subjektive Rechtsverletzung feststellen bzw Abhilfe gegen die Rechtsverletzung schaffen, ohne dass aufsichtsbehördliche Maßnahmen ergriffen werden (müssen). Ansonsten würde jede von der Staatsanwaltschaft begangene Rechtsverletzung aufsichtsbehördlicher Maßnahmen nach sich ziehen (müssen), was bekanntlich nicht der Fall ist.

3.2.3.Keine weitere Ausgestaltung

Nun könnte man – dem Argument des OLG Wien29 folgend – argumentieren, dass ohnehin insbesondere das Beweisantragsrecht gemäß §55 StPO zur Verfügung steht, um eine nicht sorgsame Sachverhaltsaufklärung bzw -ermittlung zu korrigieren.30 Sollte dem Beweisantrag nicht gefolgt werden, könnte man in einem zweiten Schritt unstrittig einen Einspruch wegen Rechtsverletzung erheben.

Eine solche Ansicht würde jedoch folgende wesentliche Aspekte ignorieren: Erstens ist es, wie bereits aufgezeigt, aufgrund des eindeutigen Wortlauts und des Telos des § 106 Abs 1 Z 2 StPO unerheblich, ob quasi zur Bekämpfung einer Verletzung der Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung (auch) ein Beweisantragsrecht samt Einspruchsmöglichkeit zur Verfügung steht. Zweitens erlaubt § 106 StPO unstrittig auch nur die Feststellung einer Rechtsverletzung.31 An einer solchen separaten Feststellung können Beschuldigte aus diversen

27 Bertel in Bertel/Venier, StPO, § 106 Rz 2.

28 EGMR (GK) 8. 6. 2006, Sürmeli gg Deutschland, Bsw 75529/01, Rn 109, NJW 2006, 2389 (2392); 6. 10. 2005, Luken-da gg Slowenien, Bsw 23032/02, Rn 61–64; Meyer-Ladewig/Renger in Meyer-Ladewig/Nettesheim/ von Raumer, EMRK5 (2023) Art 13 Rz 13, 21.

29 OLG Wien 9. 5. 2016, 18 Bs 34/16f.

30 McAllister/Wess in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/ Wess, LiK StPO, § 3 Rz 34.

31 ZB Pilnacek/Stricker in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 106 Rz24.

Wirtschaftsstrafrecht Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung 124 3/2023 ZWF

Gründen ein Interesse haben. Würde man ihnen die Einspruchsmöglichkeit mit Verweis auf insbesondere ein Beweisantragsrecht nehmen, wäre die Rechtsschutzmöglichkeit einer seiner wesentlichen Komponenten beraubt. Schlussendlich sind Ermittlungsbehörden von sich aus zur Erforschung der Wahrheit und Aufklärung aller Tatsachen verpflichtet. Dementsprechend kann die Frage, ob die Ermittlungsbehörden dieser Verpflichtung (nicht) nachgekommen sind, nicht davon abhängen, ob sich ein Beschuldigter aktiv am Strafverfahren beteiligt (ob mittels Beweisanträgen, Aussagen etc).

nommene und vertretene Standpunkt angesichts des klaren Wortlauts des § 106 Abs 1 Z2 StPO nicht haltbar. Auch symbolisch ist der Eindruck, der durch sie erweckt wird, weit entfernt von ideal. Denn, die Frage sei gestattet: Wie ernst können Aussagen zur angeblich fundamentalen Bedeutung des § 3 StPO genommen werden, wenn diese Bestimmung zugleich zu einem unüberprüfbaren Appell abgewertet wird?

Aus all den dargelegten Gründen ist nicht nachvollziehbar, wieso § 106 Abs 1 Z 2 StPO keine gerichtliche Überprüfung von Verstößen gegen die Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung ermöglichen soll. Es bleibt daher zu hoffen, dass die Oberlandesgerichte bei nächstbester Gelegenheit wieder von ihrer aktuellen Rechtsprechung abgehen oder Höchstgerichte demnächst die Gelegenheit zur Klarstellung erhalten. Nicht nur und insbesondere rechtlich ist der einge-

Schlussendlich sei kritisch angemerkt, dass keine der oberlandesgerichtlichen Entscheidungen, die die Bekämpfung der Verletzungen der Verpflichtung zur materiellen Wahrheitserforschung verneinen, veröffentlicht wurde. Wenngleich aufgrund des RIS die Bekanntheit von und die Suche nach höchstgerichtlichen Entscheidungen geradezu vorbildlich ist und viel zur Rechtsfortbildung beiträgt, wäre es gerade im Hinblick auf Letzteres wünschenswert (gewesen), wenn von ursprünglich geltender Rechtsprechung32 abgehende Entscheidungen der Oberlandesgerichte auch veröffentlicht werden (würden) bzw worden wären.

20 Jahre VÖStV – Realität und Vision der Strafverteidigung

Bericht zum Österreichischen StrafverteidigerInnentag 2023

Am 21. und 22. 4. 2023 veranstaltete die Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen (VÖStV) in Wien den Österreichischen StrafverteidigerInnentag 2023. Unter dem Leitspruch „20 Jahre VÖStV – Realität und Vision der Strafverteidigung“ kamen zahlreiche Rechtsanwält:innen, aber auch Vertreter:innen der Justiz, der Wissenschaft und der Medien zu Wort, um sich – nebst einem Rückblick auf die Entwicklung der Strafverteidigung in Österreich insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten – vorrangig aktuellen (Streit-)Fragen aus der täglichen Praxis zu widmen und auch einen Ausblick in die Zukunft der Strafverteidigung anzustellen.

1.Begrüßung und Eröffnungsvorträge

Schon in der Begrüßung hielt der Präsident der VÖStV, Dr. Manfred Ainedter, fest, dass straf(verfahrens)rechtliche Themen mit immer größer werdender Häufigkeit die mediale Berichterstattung und den öffentlichen Diskurs in Österreich prägen, weshalb auch (schon) dem Tagungsort zum 20-jährigen Jubiläum der VÖStV im Festsaal des Justizpalastes Wien eine besondere symbolische Bedeutung zukomme. Bereits in der Einleitung brachte Ainedter jene Themen zur Sprache, die sämtliche Diskussionen des StrafverteidigerInnentags 2023 prägen sollten,

nämlich insbesondere die Forderung nach einer (Neu-)Regelung der Sicherstellung von Mobiltelefonen und eines echten Kostenersatzes im Strafverfahren bei Einstellung bzw Freispruch. Schon die Eröffnungsworte enthielten dergestalt die Forderung an den Gesetzgeber, diese Beschuldigtenrechte alsbald – noch in der laufenden Legislaturperiode – umzusetzen.

Im Anschluss an die Eröffnung richtete Justizministerin Dr. Alma Zadić, LL.M. per Videobotschaft ihre Begrüßung an das Tagungspublikum, in der sie vor allem die Funktion der Strafverteidiger:innen als Grundpfeiler der Rechtsordnung be-

125 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht 20 Jahre Vereinigung österreichischer StrafverteidigerInnen
Wirtschaftsstrafrecht
▶ Auf den Punkt gebracht 32 RIS-Justiz RS0103384. Dr. Thomas Pillichshammer ist Rechtsanwaltsanwärter bei wkk law Rechtsanwälte in Wien.

tonte, der gewährleiste, dass Strafverfahren nicht nur fair geführt, sondern auch als fair wahrgenommen werden.

Auch die nachfolgenden Worte von Bundesministerin für EU und Verfassung Mag. Karoline Edtstadler unterstrichen die Funktion der Strafverteidigung als Grundpfeiler des Rechtsstaats. Sie betonte gleichzeitig aber auch die Notwendigkeit eines raschen Ausbaus von Beschuldigtenrechten, zumal die StPO in manchen Punkten nicht (mehr) auf die heutigen Umständen ausgelegt sei. Für die Sicherstellung von Mobiltelefonen sei dementsprechend eine richterliche Bewilligung notwendig, außerdem das umgehende Aushändigen einer Kopie der dergestalt sichergestellten Daten an den Beschuldigten – worin nach Edtstadler auch keine Einschränkung der Strafverfolgung gelegen sei. Zur Wahrung der Unschuldsvermutung sei ferner ein Zitierverbot aus Ermittlungsakten nach deutschem Vorbild erforderlich. Bezugnehmend auf eine (über)lange Dauer von Strafverfahren sei nach Edtstadler zudem die bestehende Regelung einer Verjährungshemmung im Zuge bestimmter Ermittlungsmaßnahmen kritisch zu hinterfragen. Schließlich betonte auch Edtstadler die Notwendigkeit eines angemessenen Kostenersatzes des Beschuldigten bei Einstellung oder Freispruch.

Im Anschluss folgte der Festvortrag von Univ.-Prof. Dr. Richard Soyer mit dem Titel „Realität versus Vision der Strafverteidigung in Österreich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ Soyer begann seinen Vortrag mit einem Schlaglicht auf die Entwicklung der Kultur der Strafverteidigung in Österreich unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte der VÖStV und dem Einfluss der Vereinigung auf diese Kultur. Den Bogen zur Gegenwart spannend kritisierte er einen seit zirka 2010 andauernden „rechtspolitischen Stillstand“ bzw teilweise sogar Rückschritte im Bereich der Strafgesetzgebung. Die Stimme der Strafverteidigung werde nicht mehr wie in den Jahrzehnten davor gehört, insbesondere die letzten fünf Jahre seien als „Kriminalpolitik im Schatten von Parteipolitik“ zu beschreiben. In solchen Zeiten sei die Strafverteidigung aber umso mehr gefordert. Als seine Visionen für die Zukunft der Strafverteidigung nannte Soyer ua wirksame Maßnahmen gegen überlange Verfahrensdauern und einen moderneren Maßnahmenvollzug.

Im Hinblick auf eine Strukturreform des Hauptverfahrens sprach sich Soyer für eine Stärkung der adversatorischen Komponenten dergestalt aus, dass nicht etwa der/die Richter:in die Befragungen von Angeklagten bzw Zeug:innen dominiert, sondern diese Rolle vorrangig Staatsanwaltschaft und Verteidigung zukommen sollte. Bezogen auf das Rechtsmittelverfahren verortete Soyer die Notwendigkeit des Abbaus formaler Hürden bei der Nichtigkeitsbeschwerde und

einen Ausbau des Anwendungsbereichs von §281 Abs 1 Z 5a StPO.

Mit einer Erinnerung an die Verantwortung der Strafverteidiger:innen in Bezug auf den Rechtsstaat entließ Soyer das Publikum in die anschließende Podiumsdiskussion zwischen Rechtsanwalt Dr. Roland Kier, Hofrätin Mag. Claudia Moravec-Loidolt (Landesgericht für Strafsachen Wien), Un iv.-Prof. Dr. Verena Murschetz, LL.M. (Universität Innsbruck) und Manfred Seeh (DiePresse). Unter der Moderation von Rechtsanwalt Dr. Rudolf Mayer streiften die Diskussionsbeiträge die Frage einer „Zwei-Klassen-Verteidigung“, dies ausgehend von den Fragen nach der Effektivität des österreichischen Verfahrenshilfesystems und eines etwaigen Reformbedarfs des Rechtsmittelverfahrens, ebenso wie Fragen in Bezug auf die (auch von Soyer verortete) Anlassgesetzgebung im (insbesondere materiellen) Strafrecht. Im Besonderen war die Diskussion aber geprägt von der Frage nach einem Zitierverbot aus Ermittlungsakten nach deutschem Vorbild zumindest bis zum Zeitpunkt einer rechtswirksamen Anklage, was von den Vertretern der Praxis klar befürwortet wurde. Ein identes Ergebnis lieferte die erste Diskussionsrunde auch in Bezug auf die Frage der Notwendigkeit der Neuregelung der Rechtsgrundlagen zur Sicherstellung von Mobiltelefonen. In diesem Zusammenhang wurde von Strafverteidigungspraxis, Justiz und Wissenschaft einstimmig die Notwendigkeit (zumindest) eines Richtervorbehalts vertreten.

2.Panels zu Honorar, Maßnahmenvollzug und Wirtschaftsstrafrecht Der zweite Tag der Veranstaltung begann mit einem Panel zum Generalthema „Honorar im Strafverfahren“ mit Mag. Andrea Concin (Vizepräsidentin der VÖStV), Dr. Wolfgang Peschorn (Finanzprokuratur) und Rechtsanwalt Dr. Bernd Wiesinger. In ihrem Eröffnungsvortrag widmete sich Concin ebenso fundiert wie kurzweilig Historie und Telos des § 393a StPO und beleuchtete – auch unter Darstellung der faktischen Untauglichkeit der Amtshaftung als Alternative eines echten Kostenersatzes – die Mängel der geltenden Rechtslage zum Kostenersatz im Strafverfahren. Thematisch direkt anknüpfend an die abschließende Forderung Concins nach einem vollen Kostenersatz nach den Allgemeinen Honorar-Kriterien (AHK) untersuchte Wiesinger die Kernfragen und Rechtsgrundlagen von Honorarfragen im Strafrecht im Allgemeinen bis hin zum (Spezial-)Thema Verteidigerhonorar und Geldwäscherei. Auch Peschorn verortete in seinem Vortrag Reformbedarf im Hinblick auf §393a StPO (und mit diesem systematisch im Zusammenhang stehenden Bestimmungen), erachtete seinerseits die aktuelle Diskussion aber von „clamorosen Fällen“ gesteuert und betonte die grundsätzliche Möglichkeit der Geltend-

Wirtschaftsstrafrecht 20 Jahre Vereinigung österreichischer StrafverteidigerInnen 126 3/2023 ZWF

machung von Amtshaftungsansprüchen. Insbesondere ebendiesem Thema widmete sich die an das erste Panel anschließende Diskussion unter der Moderation von Ainedter, wobei vonseiten der Praxis ein unlösbarer Widerspruch zwischen dem Erfolgsprinzip einerseits und der im Rahmen der Amtshaftung zu beachtenden Rettungspflicht andererseits festgestellt wurde, der einer Anwendbarkeit des AHG faktisch entgegensteht.

Das zweite Panel widmete sich dem Thema „Maßnahmen- und Strafvollzug“. Univ.-Prof. Dr. Peter Hofmann, Generalanwalt Mag. Friedrich Alexander König (BMJ) und Rechtsanwalt Mag. Philipp Wolm beleuchteten die zentralen Änderungen resultierend aus dem mit 1. 3. 2023 in Kraft getretenen Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022; darunter die Möglichkeit, dass unter bestimmten Voraussetzungen vom Vollzug einer strafrechtlichen Unterbringung vorläufig abgesehen werden kann, sowie (damit verbunden) sowohl die Stärkung der Rolle von Privatgutachten als auch die Angleichung der Verfahrensführung betreffend Verfahren zur Einweisung nach § 21 Abs 1 bzw 2 StGB. Das Panel zog schließlich auch eine erste Bilanz zur neuen Rechtslage, die durchwegs positiv ausfiel. So sei das Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 nicht nur ein „Türschild“, sondern gehe dieses deutlich über eine bloße Anpassung der Terminologie („Forensisch-therapeutisches Zentrum“) der bisherigen Rechtslage hinaus. Das letzte Panel, zusammengesetzt aus Rechtsanwalt Mag. Oliver Loksa, Rechtsanwalt Mag. Johann Pauer, OStA MMag. Dr. Marcus Schmitt und Richter Dipl.-HLFL-Ing. MMMMag. Michael Tolstiuk, BA, LL.M., MBA, LL.M. (WU), firmierte unter dem Titel „Wirtschaftsstrafrecht – Neue Geschäftsfelder für Verteidiger*innen“. Die Vorgenannten widmeten sich in praxisnahen Beiträgen vorwiegend den Herausforderungen großer Wirtschaftsstrafverfahren. Ausgehend vom Umstand zusehends größer werdender Datenmengen wurde mitunter festgestellt, dass rechtliche Aspekte immer mehr in den Hintergrund treten, zumal die Bewältigung der mittlerweile üblichen Datenmengen für sich bereits eine enorme Herausforderung – für alle an einem Strafverfahren Beteiligten – darstellt. Während sich die Staatsanwaltschaft zuweilen vor dem Problem sieht,

welche Daten überhaupt „vor Ort“ sichergestellt werden sollen, besteht seitens der Verteidigung die Schwierigkeit, sichergestellte Datensätze ebenfalls vollumfänglich – aber ohne Unterstützung von IT-Expert:innen – „durcharbeiten“ zu müssen, um entlastende Momente darstellen zu können. Von wesentlicher Bedeutung (nicht zuletzt im Lichte des Objektivitätsgebots) sei dementsprechend, dass auch die Ermittlungsbehörden im Rahmen der Auswertung großer Datensätze aktiv nach entlastenden Umständen suchen. Aufseiten des Gerichts besteht wiederum die Schwierigkeit, sich in verhältnismäßig (zu) kurzer Zeit in Akten mit enormem Umfang einlesen zu müssen, ohne diese zuvor „wachsen“ gesehen zu haben, weshalb Tolstiuk auch die Wichtigkeit einer fundierten Gegenäußerung zur Anklageschrift in derartigen Verfahren betonte. Über die Diskussion der Frage nach der zukünftigen Rolle von künstlicher Intelligenz im Strafverfahren und die Erörterung verschiedener Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Laienbeteiligung in großen Wirtschaftsstrafverfahren fand schließlich unter der Moderation von Rechtsanwältin Dr. Barbara-Cecil Prasthofer-Wagner eine spannende Diskussion mit der einhelligen Konstatierung ihr Ende, dass die StPO für Großverfahren (mehrfach als Beispiele genannt wurden die Causen BUWOG und CASAG) nicht ausgelegt sei.

3.Beschlussfassung

Der Österreichische StrafverteidigerInnentag 2023 endete mit der Beschlussfassung folgender Forderungen:

 Voller Verteidigungskostenersatz nach den AHK bei Verfahrenseinstellung oder Freispruch.

 Verbesserter Rechtsschutz bei Sicherstellung und Auswertung eines Handys und anderer mobiler Endgeräte (zumindest Einführung eines Richtervorbehalts).

 Abschaffung der Stampiglien-Erledigung bei Grundrechtseingriffen; stattdessen eine Begründungspflicht.

 Aufwertung der Persönlichkeitsrechte von Beschuldigten gegenüber Medien; insbesondere eine grundrechtsorientierte Modernisierung der medienrechtlichen Strafbestimmung in § 23 MedienG.

127 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht 20 Jahre Vereinigung österreichischer StrafverteidigerInnen

Altes Problem in neuem Gewand: Über den Beginn des Strafverfahrens und behördeninterne Informationsquellen

Zugleich Anmerkungen zu OGH (verst Sen) 23. 3. 2022, 12 Os 92/21b

Nach divergierenden höchstgerichtlichen Entscheidungen klärte der OGH nun in verstärkter Senatsbesetzung, welche Informationsquellen für Strafverfolgungsbehörden behördenintern sind. Diese Frage ist nicht nur für den Beginn des Strafverfahrens von Bedeutung, sondern hat auch Auswirkungen auf Parteienrechte und Rechtsschutz.

1.Sachverhalt und Verfahrensgang

Die Staatsanwaltschaft Innsbruck hatte zu klären, ob bei einer eingelangten Sachverhaltsdarstellung ein Anfangsverdacht vorlag. Zu diesem Zweck verfügte sie die Einholung zweier Akten des Landesgerichts Innsbruck, von denen einer physisch übermittelt und der andere aus der Verfahrensautomation Justiz (VJ) ausgedruckt wurde. Die Staatsanwaltschaft sah nach Einsichtnahme in die Akten von der Verfolgung einer Straftat ab und stellte das Ermittlungsverfahren gemäß § 190 Z 2 StPO ein, weil vorsätzliches Handeln nicht erweislich wäre und verständigte hiervon den Opfervertreter. Nach der Übermittlung einer Einstellungsbegründung wurde ein Fortführungsantrag gestellt, den die Staatsanwaltschaft mit einer Stellungnahme an das Landesgericht Innsbruck weiterleitete. Dieses wies den Fortführungsantrag als unzulässig zurück, weil die Staatsanwaltschaft hinsichtlich der eingelangten Sachverhaltsdarstellung nicht ermittelt, sondern bloße Erkundigungen angestellt habe, ob ein Anfangsverdacht vorliege. Die Einholung gerichtlicher Akten sei als bloße Nutzung behördeninterner Informationsquellen iSd § 91 Abs 2 letzter Satz StPO zu qualifizieren, weswegen ein Ermittlungsverfahren noch gar nicht begonnen hätte. Die Generalprokuratur erhob eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes, weil der Beschluss des Landesgerichts Innsbruck in der in seiner Begründung vertretenen und zur Antragszurückweisung führenden Rechtsansicht § 91 Abs 2 StPO verletze.

2.Die Entscheidung des OGH

Der OGH stellt fest, dass das Landesgericht Innsbruck hinsichtlich der Übermittlung des Gerichtsakts im Original das Gesetz unrichtig angewendet hat. Die Anforderung bzw Übermittlung eines Akts ist als Ermittlung zu qualifizieren, wodurch ein Ermittlungsverfahren beginnt. Demgegenüber stellt die Einsichtnahme in die VJ eine Nutzung behördeninterner Informationsquellen dar, die noch kein Ermittlungsverfahren in Gang setzt.

In seinem Urteil geht der OGH zunächst auf die rechtlichen Grundlagen zum Beginn des

Strafverfahrens ein: „Gemäß § 1 Abs 2 erster Satz StPO beginnt das Strafverfahren, sobald Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts ermitteln. Ein Anfangsverdacht (§ 1 Abs 3 StPO) liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte angenommen werden kann, dass eine Straftat begangen, demnach ein Verhalten gesetzt worden ist, das Gegenstand eines Ausspruchs gemäß §260 Abs1 Z2 StPO sein kann, das also tatbestandsmäßig, rechtswidrig und (von § 21 Abs 1 StGB abgesehen) schuldhaft ist und auch den zusätzlichen Voraussetzungen (wie insbesondere dem Fehlen von Strafausschließungsgründen) genügt.“

Sodann stellt er die drei Konstellationen, die bei Eingang einer Strafanzeige eintreten können, samt den Handlungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsorgane gegenüber: „Liegen keine Anhaltspunkte vor, die annehmen lassen, dass eine Straftat begangen wurde, sieht das Gesetz Ermittlungen im Sinn des § 91 Abs 2 erster und zweiter Satz StPO […] überhaupt nicht vor. In einem solchen Fall hat die Staatsanwaltschaft vielmehr –mangels Anfangsverdachts – von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen und den Anzeiger hievon mit dem Hinweis in Kenntnis zu setzen, dass ein Antrag auf Fortführung gemäß §195 StPO nicht zusteht (§ 35c StAG). Bestehen auf Basis einer Anzeige insofern jedoch Zweifel, ermöglicht § 91 Abs 2 letzter Satz StPO zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, die Nutzung von allgemein zugänglichen oder behördeninternen Informationsquellen und Erkundigungen. Sobald aber Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts (§ 1 Abs 3 StPO) ermitteln, beginnt das Strafverfahren.“

Im Anschluss greift der OGH das der erstinstanzlichen Entscheidung zugrunde liegende Rechtsproblem auf und stellt klar, wie der Begriff „behördeninterne Informationsquellen“ in §91 Abs 2 letzter Satz StPO zu verstehen ist. Ausgehend von einer historisch-teleologischen Interpretation kommt der verstärkte Senat zum Ergebnis, „(nur) jene Informationsquellen als behördeninterne im Sinn dieser Bestimmung anzusehen, welche die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft durch bloße Einsichtnahme ohne Inanspruchnahme Dritter nutzen kann und

Wirtschaftsstrafrecht Behördeninterne Informationsquellen 128 3/2023 ZWF
Behördeninterne Informationsquellen
Daniel Gilhofer, LL.M. (WU) MSc (WU) ist Universitätsassistent am Institut für Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsstrafrecht der Wirtschaftsuniversität Wien.

darf“. Auch eine Interpretation des Wortlauts spricht nach Ansicht des OGH für diese Ansicht, weil der semantisch engere Wortlaut „behördeninterne Informationsquellen“ anstelle einer allgemeineren Formulierung wie etwa „Informationsquellen einer Behörde“ vom Gesetzgeber gewählt wurde.

3.Anmerkungen

3.1.Vom Neubeginn des Ermittlungsverfahrens Wann und wie ein Strafverfahren zu beginnen hat, wurde in der Geschichte der StPO bereits mehrmals überdacht. Für das alte Vorverfahren wurde ein formalistischer Zugang gewählt. Um eine strafprozessuale Voruntersuchung einleiten zu können, musste diese der Staatsanwalt beim Untersuchungsrichter beantragen (§ 92 Abs 2 StPO aF1). Da die gerichtliche Voruntersuchung nicht in allen Fällen verpflichtend war, wurde vielfach darauf verzichtet und wurden stattdessen nur sicherheitsbehördliche Vorerhebungen durchgeführt, für die jedoch kein adäquater Rechtsschutz bestand.2

Der Gesetzgeber sah sich dazu veranlasst, die Zweiteilung des Verfahrens in eine „formfreie Aufklärungsphase“ und ein „förmliches Verfahren“ aufzugeben und stattdessen ein einheitliches Ermittlungsverfahren nach strafprozessualen Grundsätzen einzuführen.3 Der Beginn des Ermittlungsverfahrens war nicht mehr von einer formellen Einleitung abhängig, sondern Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahmen zur Aufklärung einer Straftat setzten es bereits in Gang (§ 1 Abs 2 StPO aF4). Die erleichterte Erlangung der Beschuldigtenstellung hatte auf der einen Seite den Vorteil, dass diesem frühzeitig Parteistellung und Verfahrensrechte zukamen, bargen auf der anderen Seite jedoch das Risiko, den von den Ermittlungshandlungen Betroffenen durch haltlose Anzeigen zu stigmatisieren und zu diskreditieren.5

Um Menschen davor zu schützen, nicht ohne Anlass zum Objekt eines Strafverfahrens zu werden, begann der OGH,6 zwischen dem Zur-Kenntnis-Gelangen des Verdachts einer Straftat durch eine Anzeige und dem Ermitteln zu unterscheiden. Der Gesetzgeber schärfte daraufhin nach und führte den Begriff des Anfangsverdachts ein, durch den die Abgrenzung des Beschuldigten von Personen, die ohne hinreichendes Substrat angezeigt werden, verdeutlicht werden sollte.7

1 § 91 StPO; BGBl 1975/631 idF BGBl 1993/526.

2 ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 1; Fuchs, Beginn des Strafverfahrens und Beschuldigtenstellung, in Nordmeyer/ Lewisch (Hrsg), Liber Amoricum Eckart Ratz (2018) 31 (32).

3 ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 25.

4 § 1 StPO; BGBl 1975/631 idF BGBl 2004/19.

5 Fuchs in Nordmeyer/Lewisch, Liber Amoricum Ratz, 31 (32); Markel in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 1 Rz 25.

6 Erstmalig OGH 11. 6. 2012, 1 Präs 2690-2113/12i, RISJustiz RS0127791; kritisch Venier, Wann beginnt das Ermittlungsverfahren? RZ 2014, 219 (219 ff).

7 ErlRV 181 BlgNR 25. GP, 1.

3.2.Wie intern ist behördenintern? Mit der Einführung des Anfangsverdachts wurde nicht nur der Beginn des Ermittlungsverfahrens präzisiert, sondern auch der Handlungsspielraum der Strafverfolgungsorgane im Fall eines unklaren Anfangsverdachts festgelegt. Zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, können ausschließlich allgemein zugängliche oder behördeninterne Informationsquellen genutzt oder Erkundigungen durchgeführt werden (§ 91 Abs 2 letzter Satz StPO). Dadurch wird kein Ermittlungsverfahren in Gang gesetzt, weil es sich bei den genannten Maßnahmen expressis verbis gerade nicht um Ermittlungen iSd § 91 Abs 2 Satz 1 StPO, sondern nur um „Vorfeldermittlungen minderer Intensität“8 handelt. Auslegungsschwierigkeiten bereitete in weiterer Folge nur der Begriff „behördeninterne Informationsquellen“. Während der Gesetzgeber in den Materialien davon Informationsquellen umfasst sah, hinsichtlich derer die konkret ermittelnde Behörde datenschutzrechtlicher Verantwortlicher ist, lehnte die Rechtsprechung eine derartige Begriffsauslegung aus mehreren Gründen ab.9 Zum einen führe die Anknüpfung an das Datenschutzrecht zu unsachlichen Ergebnissen, weil so etwa das Strafregister, das von der Landespolizeidirektion Wien geführt wird, nur für Kriminalpolizisten dieser Behörde, nicht aber für jene aus anderen Bundesländern als behördeninterne Informationsquelle gelte.10 Zum anderen werde die Begriffsauslegung anhand des Datenschutzrechts auch nicht konsequent durchgehalten, weil bei der VJ strikt auf den Verantwortlichenbegriff des Datenschutzrechts abgestellt werde, dies jedoch beim Strafregister nicht der Fall sei. Denn für Staatsanwaltschaften stelle das Strafregister –auch wenn es nicht von ihr geführt wird – aus Zweckmäßigkeitsgründen eine behördeninterne Informationsquelle dar.11

Unterschiedlicher Auffassung war der OGH bei der Frage, wie „behördenintern“ sonst ausgelegt werden müsste. Der 14. Senat legte dem Begriff ein technologieneutrales Verständnis zugrunde und ließ es nicht darauf ankommen, ob die Information elektronisch abgefragt oder anderweitig Auskunft verlangt wurde. Solange irgendeine Behörde Datenverarbeitungen vorgenommen habe, seien die Informationsquellen

8 Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 91 Rz 10.

9 ErlRV 181 BlgNR 25. GP, 3. In den Materialien wird noch der alte Begriff des datenschutzrechtlichen Auftraggebers verwendet. Dieser wurde mittlerweile durch den Begriff des datenschutzrechtlichen Verantwortlichen ersetzt; siehe ErlRV 1664 BlgNR 25. GP, 29.

10 OGH 25. 6. 2016, 14 Os 21/19y, EvBl 2019, 779 = ZWF 2019, 189 = JBl 2019, 732 (Messner) = JSt-Slg 2019, 458 (Birklbauer) = Ratz, ÖJZ 2020, 353 = Ratz, ÖJZ 2020, 865 = Ratz, ÖJZ 2020, 1071 = Sadoghi, ÖJZ 2021, 363 = Ratz, ÖJZ 2022, 58 = Ratz, ÖJZ 2022, 978.

11 OGH 10. 7. 2019, 15 Os 20/19h, JSt-Slg 2019, 562 (Birklbauer ) = RZ 2019, 225 (Fabrizy ) = ZWF 2019, 236 = Sadoghi, ÖJZ 2021, 363 = SSt 2019/52; siehe auch BMJ, Einführungserlass zum Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014, BMJ-S578.028/0021-IV 3/2014, 7.

129 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Behördeninterne Informationsquellen

behördenintern.12 Die Senate 15 und 12 kamen zum Ergebnis, dass nur jene Informationsquellen als behördenintern anzusehen sind, die die Behörde durch bloße Einsichtnahme ohne Inanspruchnahme Dritter nutzen kann und darf.13 Diese Ansicht wurde auch in der verstärkten Senatsentscheidung geteilt. Damit können Strafverfolgungsbehörden im Rahmen von Vorfeldermittlungen Datenbanken wie die VJ oder das Strafregister konsultieren. Fordern sie hingegen Akten an, ermitteln sie.

Eine einschränkende Interpretation von behördeninternen Informationsquellen verdient mE vor dem Hintergrund anderer Rechtsinstrumente Zustimmung. Wollen Strafverfolgungsorgane von anderen Behörden Informationen einholen, machen sie Amtshilfe iSd § 76 Abs 1 StPO geltend.14 Da Erhebungen, die keine Ermittlungen darstellen, abschließend15 in § 91 Abs 2 letzter Satz StPO geregelt sind und Amtshilfe hiervon nicht erfasst ist, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass Amtshilfeersuchen als Ermittlungen einzuordnen sind, die ein Ermittlungsverfahren in Gang setzen.16 Spannend bleibt, ob die Rechtsprechung auch dann die Einholung von Informationen als Ermittlungen klassifiziert, wenn diese nicht an anderer Stelle angefordert werden müssen, sondern sie sich aus einem anderen Ermittlungsverfahren ergeben, das von derselben Staatsanwaltschaft geführt wird.

3.3.Vor Beginn des Ermittlungsverfahrens ist vor Beginn des Rechtsschutzes?

Ob die Strafverfolgungsbehörden im Vorfeld oder im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens tätig werden, wirkt sich prozessual in vielerlei Hinsicht aus. Wie das vorliegende Urteil des OGH aufzeigt, kann etwa ein Fortführungsantrag des Opfers nur gestellt werden, wenn das Ermittlungsverfahren zuvor eingestellt wurde. Wird demgegenüber von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abgesehen, steht ein Antrag auf Fortführung nicht zu (§ 35c StAG). Dies ist konsequent, weil zum einen nichts fortgesetzt werden kann, was noch nicht einmal begonnen

12 OGH 25. 6. 2016, 14 Os 21/19y, EvBl 2019, 779 = ZWF 2019, 189 = JBl 2019, 732 (Messner) = JSt-Slg 2019, 458 (Birklbauer) = Ratz, ÖJZ 2020, 353 = Ratz, ÖJZ 2020, 865 = Ratz, ÖJZ 2020, 1071 = Sadoghi, ÖJZ 2021, 363 = Ratz, ÖJZ 2022, 58 = Ratz, ÖJZ 2022, 978.

13 OGH 10. 7. 2019, 15 Os 20/19h, JSt-Slg 2019, 562 (Birklbauer) = RZ 2019, 225 (Fabrizy) = ZWF 2019, 236 = Sadoghi, ÖJZ 2021, 363 = SSt 2019/52; 10. 9. 2020, 12 Os 23/20d, EvBl 2020,1033 = Sadoghi , ÖJZ 2021, 363 = Divjak, JBl 2021, 339 = SSt 2020/34.

14 Lendl in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 76 Rz 3; Wiederin in Korinek/Holoubek, B-VG, Art 22 Rz 41.

15 Aus dem Wortlaut „bloße Nutzung“ folgernd Vogl in Fuchs/Ratz , WK StPO, § 91 Rz 10. In diesem Sinne auch OGH 10. 9. 2020, 12 Os 23/20d, EvBl 2020,1033 = Sadoghi, ÖJZ 2021, 363 = Divjak, JBl 2021, 339 = SSt 2020/34.

16 Instruktiv zu möglichen Rechtsgrundlagen bei Amtshilfeersuchen von Strafverfolgungsbehörden Divjak , Nutzung behördeninterner Informationsquellen und Amtshilfe, JBl 2021, 339 (339 f).

hat, und zum anderen das Absehen von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens keine Sperrwirkung entfaltet.17

Auch für Parteienrechte muss streng zwischen diesen beiden Verfahrensstadien unterschieden werden. Die in § 49 StPO vorgesehenen Beschuldigtenrechte beziehen sich zwar auch auf den Verdächtigen. Als Verdächtiger gilt man aber erst dann, wenn gegen einen aufgrund eines Anfangsverdachts ermittelt wird, weswegen angezeigten Personen, die von Vorfelderhebungen betroffen sind, diese Rechte gerade nicht zukommen. Auch eine analoge Anwendung der Beschuldigtenrechte scheidet aus, hat der Gesetzgeber diese doch in § 48 Abs 2 StPO auf einen taxativ aufgezählten Personenkreis erstreckt, zu dem Angezeigte nicht dazugehören.18

Da dem Angezeigten keine Parteienrechte eingeräumt werden, stellt sich die Frage, ob sich dieser gegen Erhebungen vor Beginn eines Ermittlungsverfahrens zur Wehr setzen kann. Die herrschende Ansicht19 attestiert eine Rechtsschutzlücke und begründet diese damit, dass Vorerhebungen außerhalb des Anwendungsbereichs der StPO erfolgen. Dies verdient eine genauere Betrachtung: Grundsätzlich steht gegen staatsanwaltschaftliches Handeln Einspruch wegen Rechtsverletzung (§ 106 StPO) zur Verfügung. Dass dem Angezeigten nicht dieselbe prozessuale Stellung wie einem Verdächtigen oder Beschuldigten zukommt, ist für diesen Rechtsbehelf unproblematisch, weil er sich ausdrücklich an jede Person richtet, die behauptet, in einem subjektiven Recht verletzt worden zu sein. Ebenso hindert nicht an der Geltendmachung des Einspruchs, dass dem Angezeigten nicht die subjektiven Rechte des Beschuldigten zukommen, weil subjektive Rechte auch Grundrechte sein können, die über die einfachgesetzliche Regelung des § 5 Abs 1 StPO in die Bestimmung des § 106 Abs 1 StPO einfließen.20 Problematisch ist allerdings, dass die Rechtsverletzung im Ermittlungsverfahren zu gesche-

17 Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 194 Rz 1/4; Sadoghi, Anfangsverdachtsermittlung, ÖJZ 2021, 363 (365).

18 Fuchs in Nordmeyer/Lewisch, Liber Amoricum Ratz, 31 (41 f).

19 OGH 10. 9. 2020, 12 Os 23/20d, EvBl 2020,1033 = Sadoghi, ÖJZ 2021, 363 = Divjak, JBl 2021, 339 = SSt 2020/ 34; Birklbauer, Anmerkung zu OGH 14 Os 21/19y, JSt 2019, 458 (460) spricht von einem „gewisse[n] ‚Sündenfall‘, in dem ein Verfahren zum ‚Nicht-Strafverfahren‘ erklärt wurde“ ; Reindl-Krauskopf , Das reformierte strafprozessuale Ermittlungsverfahren, ÖJZ 2020, 593 (597); als „rechtsfreien Raum“ bezeichnend Tipold , Neuerungen durch die Stra fprozessnovelle 2014, JSt 2014, 97 (103).

20 OGH 13. 10. 2020, 11 Os 56/20z, ZWF 2020, 305 = EvBl 2020, 1110 = JSt-Slg 2021, 170 ( Divjak ) = Ratz , ÖJZ 2021, 772 = Glaser/Neumayr/Winkler, ZöR 2021, 1423 = Ratz, ÖJZ 2022, 58 = Ratz, ÖJZ 2022, 271 = Ratz, ÖJZ 2022, 565 = SSt 2020/38; ebenso Ratz, Vom Übergang in ein Ermittlungs- und Hauptverfahren, ÖJZ 2020, 353 (355 FN 17); siehe auch Divjak, Anmerkungen zu 14 Os 35/21k, ÖJZ 2021, 798 (799).

Wirtschaftsstrafrecht Behördeninterne Informationsquellen 130 3/2023 ZWF

hen hat. Zwar ist nach Ansicht der Rechtsprechung21 die Wortfolge „im Ermittlungsverfahren“ nicht als Ausdruck einer strikten zeitlichen Begrenzung auf diesen Verfahrensabschnitt zu verstehen, sondern als allgemeine Unterscheidung zwischen den Verfahrensstadien, auf die sich die nach der StPO zu treffende Entscheidung bezieht. Damit wird allerdings nur klargestellt, dass auch Rechtsverletzungen Gegenstand des Einspruchs sein können, die nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens erfolgt sind. Rechtsverletzungen im Vorfeld des Ermittlungsverfahrens können sich nicht auf diesen Verfahrensabschnitt beziehen, weil dieser noch nicht begonnen hat.

Angedacht werden könnte nun, ob die Einspruchsmöglichkeit nach § 106 StPO dem Betroffenen für Rechtsverletzungen vor Beginn des Ermittlungsverfahrens analog zusteht. Hierfür bedarf es einer planwidrigen Lücke im Gesetz.22 Mangels alternativer Rechtsschutzmöglichkeiten ist eine Lücke in diesem (Vor-)Verfahrensstadium schnell gefunden.23 Probleme bereitet allerdings die Frage, ob diese Lücke vom Rechtsetzer so gewollt war. Der Gesetzgeber äußerte sich in den Materialien hierzu nicht explizit, jedoch lassen sich durchaus Anhaltspunkte finden, die für eine analoge Anwendung von § 106 StPO sprechen: So war die Neufassung des strafprozessualen Vorverfahrens durch das Strafprozessreformgesetz24 ua vom Gedanken getragen, Rechtsschutzlücken möglichst zu vermeiden. Dieser Wille des historischen Gesetzgebers kann ihm wohl auch durch die durch das Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014 (StPRÄG 2014)25 vorgenommene Novellierung des Beginns des Ermittlungsverfahrens nicht vollkommen abge-

21 OGH 12. 12. 2018, 15 Os 113/18h, RIS-Justiz RS0132414 = EvBl 2019, 468 = JSt-Slg 2019, 271 ( Birklbauer ) = AnwBl 2019, 600 = Ratz , ÖJZ 2020, 353 = Ratz , ÖJZ 2020, 1071 = Sadoghi, ÖJZ 2021, 363 = SSt 2018/84 = Ratz, ÖJZ 2022, 978.

22 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 (2011) 473 f.

23 Beim Absehen von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens stehen als Substitute zum Antrag auf Fortführung die Dienstaufsichtsbeschwerde oder der Gang zur Volksanwaltschaft zur Verfügung; ErlRV 181 BlgNR 25. GP, 22.

24 Vgl ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 1, 25.

25 ErlRV 181 BlgNR 25. GP, 3, so auch Ratz in Fuchs/Ratz, WK StPO, Vor §§ 280–296a Rz 8/4.

sprochen werden, zumal die Rechtsposition des von Ermittlungen Betroffenen gestärkt werden sollte.

Zudem werden die Verfahrensstadien vor und nach Beginn des Ermittlungsverfahrens im Gesetz nicht immer klar getrennt. Dies zeigt sich zB am Grundsatz der Amtswegigkeit, der seit dem StPRÄG 2014 dazu „verpflichtet, jeden […] zur Kenntnis gelangten Anfangsverdacht einer Straftat […] in einem Ermittlungsverfahren von Amts wegen aufzuklären“ (§ 2 Abs 1 StPO). Der Wortlaut legt in diesem Fall nahe, dass dieser Verfahrensgrundsatz erst ab Beginn des Ermittlungsverfahrens Anwendung findet. Da die StPO jedoch an mehreren Stellen amtswegiges Tätigwerden der Strafverfolgungsorgane im Vorfeld eines Ermittlungsverfahrens verlangt, muss das Offizialprinzip auch für dieses Verfahrensstadium gelten.26

Die Entscheidung des verstärkten Senats des OGH erhellt, wie der Begriff „behördeninterne Informationsquellen“ in § 91 Abs 2 letzter Satz StPO zu verstehen ist. Hierunter fallen nur jene Informationsquellen, die die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft durch bloße Einsichtnahme ohne Inanspruchnahme Dritter nutzen kann und darf. Diese Klarstellung ist von erheblicher Bedeutung, können Strafverfolgungsorgane doch behördliche Informationsquellen zur Klärung eines Anfangsverdachts nutzen, ohne dass hierdurch ein Ermittlungsverfahren beginnt. Werden durch Erhebungen im Vorfeld eines Ermittlungsverfahrens Grundrechte des Betroffenen verletzt, könnte analog Einspruch wegen Rechtsverletzung zustehen.

26 Dies zeigt sich zB bei den Berichtspflichten der Kriminalpolizei gemäß § 100 Abs 3a StPO, bei den Vorfeldermittlungen gemäß § 91 Abs 2 letzter Satz StPO sowie bei der Möglichkeit der Staatsanwaltschaft, von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gemäß § 35c StAG abzusehen; siehe Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 2 Rz 9/1.

131 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Behördeninterne Informationsquellen
▶ Auf den Punkt gebracht

Rechtsprechungsbericht des VfGH für das Jahr 2022

Christoph Herbst

Dieser Beitrag gibt einen Überblick zur Rechtsprechung des VfGH aus dem Jahr 2022 zum gerichtlichen Strafrecht und Strafprozessrecht.

1.Ablehnungsbeschlüsse

§§ 104, 156 Abs 1 Z 2, 165 StPO; Art 6 EMRK

VfGH 28. 2. 2022, G 216-217/2021

Im Antrag wurde zunächst die Verfassungswidrigkeit der Wortfolge „und die kontradiktorische Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten nach den Bestimmungen des § 165 durchzuführen“ in §104 StPO wegen Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit in Art 6 Abs 1 EMRK und Art90 Abs 1 B-VG behauptet. Die Aussage eines im Ermittlungsverfahren (§§ 91 ff StPO) kontradiktorisch einvernommenen Zeugen erfolge nicht öffentlich und diese würde auch nicht durch Verlesung des Protokolls seiner Einvernahme im Hauptverfahren (§§ 210 ff StPO) zu einer öffentlichen Aussage.

Der VfGH entgegnet dem: Aus Art 90 Abs 1 B-VG und Art 6 Abs 1 EMRK folgt keineswegs, dass es generell unzulässig wäre, in einer öffentlichen Hauptverhandlung (§§ 12 Abs 1, 228 Abs1 StPO) Protokolle von Aussagen zu verwerten, etwa durch Verlesung (vgl § 252 Abs 1 StPO), die im vorangegangenen, nicht öffentlichen Ermittlungsverfahren (§ 12 Abs 1 StPO) abgegeben wurden (vgl Kühne in Pabel/ Schmahl, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention (2009) Art 6 Rz 346; Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 12 Rz 44; EGMR 24. 11. 1986, Unterpertinger gg Österreich, Bsw 9120/80, Rn 31 f), zumal das Gericht im Strafverfahren bei der Urteilsfällung ohnehin nur auf das Rücksicht zu nehmen hat, was in der Hauptverhandlung vorgekommen ist (§§ 12 Abs 2, 258 Abs 1 StPO) und Aktenstücke nur insoweit als Beweismittel dienen können, als sie bei der Hauptverhandlung vorgelesen oder vom Vorsitzenden vorgetragen (§ 252 Abs 2a StPO) worden sind (§ 258 Abs 1 StPO). Allgemein gilt nach der Rechtsprechung des EGMR, dass die Verwendung von im Vorverfahren erlangten Aussagen als Beweise mit Art 6 Abs 1 und 3 lit d EMRK vereinbar ist, sofern die Verteidigungsrechte gewährleistet sind, insbesondere das Recht, den Zeugen angemessen und geeignet zu befragen (zB EGMR

20.11. 1989, Kostovski gg Niederlande, Bsw

11.454/85; 18. 12. 2014, Scholer gg Deutschland, Bsw 14.212/10; vgl auch EGMR 15. 12. 2011

[GK], AI-Khawaja und Tahery gg USA, Bsw

26.766/05 und 22.228/06; 10. 1. 2012, Vulakh ua gg Russland, Bsw 33.468/03; 10. 5. 2012, Aigner gg Österreich, Bsw 28.328/03; vgl auch Bürger, Unmittelbarkeitsgrundsatz und kontradiktorische Beweisaufnahme, ZStW 2016, 518).

Die Antragsteller brachten zudem vor, § 165 StPO sei verfassungswidrig, weil lediglich die Staatsanwaltschaft berechtigt sei, bei Gericht die kontradiktorische Vernehmung von Beschuldigten und Zeugen zu beantragen und dem Beschuldigten in Bezug auf die Anordnung der kontradiktorischen Vernehmung weder ein Recht auf vorherige Anhörung noch ein Rechtsmittel zukomme.

Nach Auffassung des VfGH ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Anordnung der kontradiktorischen Vernehmung als prozessleitende Verfügung nicht selbständig anfechtbar ist (vgl etwa VfSlg 9425/1982; 10.944/ 1986; vgl auch VfSlg 11.680/1988); weder aus Art6 EMRK noch aus einer anderen Bestimmung der EMRK — mit Ausnahme des Art 2 des 7. ZP zur EMRK im Fall strafgerichtlicher Verurteilungen – lässt sich die Notwendigkeit der Einrichtung eines Instanzenzugs gegen gerichtliche Entscheidungen ableiten (Grabenwarter/Pabel, EMRK7 [2021] § 24 Rz 191; Breuer in Karpenstein/Mayer [Hrsg], EMRK2 [2015] Art 13 Rz28). Dazu kommt, dass der Beschuldigte nach § 49 Abs 1 Z 6 StPO im Ermittlungsverfahren das Recht hat, bei der Staatsanwaltschaft die Aufnahme von Beweisen gemäß § 55 StPO zu beantragen. Es steht ihm daher auch frei, bei dieser die kontradiktorische Vernehmung von Zeugen nach § 165 StPO zu beantragen. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass nur die Staatsanwaltschaft berechtigt ist, bei Gericht die kontradiktorische Vernehmung von Beschuldigten und Zeugen zu beantragen, zumal sie zwar grundsätzlich das Ermittlungsverfahren leitet (§§ 20 Abs 1, 101 Abs 1 StPO), in bestimmten Fällen aber das Gericht die Beweisaufnahme durchzuführen hat (vgl §104 StPO).

Letztlich behaupteten die Antragsteller die Verfassungswidrigkeit des § 156 Abs 1 Z 2 StPO, weil danach das Fragerecht nach Art 6 Abs 3 EMRK beeinträchtigt und es verunmöglicht werde, einen kontradiktorisch einvernommenen Zeugen, der von seinem Aussagebefreiungsrecht nach § 156 Abs 1 Z 2 StPO Gebrauch gemacht habe, aufgrund von neuen Beweisergebnissen neuerlich zu befragen.

Dazu führte der VfGH aus: Das Rechtsinstitut der kontradiktorischen Vernehmung gemäß §165 StPO gewährleistet, insbesondere mit Blick auf Art 6 Abs 1 und 3 lit d EMRK, die Verteidigungs- und Fragerechte des Beschuldigten im Strafverfahren (ErlRV 924 BlgNR 18. GP, 32; Kirchbacher/Keglevic in Fuchs/Ratz, WK StPO, §165 Rz 2 ff; Urbanek in Birklbauer et al (Hrsg),

Wirtschaftsstrafrecht Rechtsprechungsbericht des VfGH 132 3/2023 ZWF
Wirtschaftsstrafrecht
Dr. Christoph Herbst ist Mitglied des Verfassungsgerichtshofs und Rechtsanwalt in Wien.

Linzer Kommentar zur StPO [2020] § 165 Rz 3). Richtig ist nun zwar, dass besonders schutzbedürftige Opfer (§ 66a StPO) gemäß § 156 Abs 1 Z2 StPO von der Pflicht zur Aussage befreit sind, wenn die Parteien Gelegenheit hatten, sich an einer vorausgegangenen kontradiktorischen Vernehmung zu beteiligen (§§ 165, 247 StPO). Für den Fall aber, dass nach einer solchen kontradiktorischen Vernehmung Umstände hervortreten, die den – im Schutz des Zeugen gelegenen – Entfall der Zeugnispflicht gegen das Verteidigungsinteresse an ergänzender Befragung (Art 6 Abs 3 lit d EMRK) zurücktreten lassen, ist die ausnahmsweise ergänzende Vernehmung eines – an sich gemäß § 156 Abs 1 Z 2 StPO von der Aussage befreiten – Zeugen zulässig (vgl zB OGH 23. 4. 2014, 15 Os 31/14v; 16. 9. 2021, 12 Os 86/21w).

§§ 14, 165 Abs 2, 258 Abs 2 StPO; Art 6 EMRK

VfGH 13. 6. 2022, G 3/2022

Der Antragsteller behauptete zunächst die Verfassungswidrigkeit des § 165 Abs 2 Satz 1 StPO wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Waffengleichheit gemäß Art 6 Abs 3 EMRK und das Sachlichkeitsgebot gemäß Art 7 B-VG, weil die Bestimmung das Gericht einseitig an den Antrag einer Prozesspartei (Staatsanwaltschaft) binde, ohne diesen ablehnen zu können.

Nach Auffassung des VfGH liegt diesem Bedenken eine verfehlte Rechtsauffassung zugrunde: Wie in § 165 Abs 2 StPO schon der Wortlaut („auf Antrag der Staatsanwaltschaft“) und der Verweis auf § 104 StPO zu erkennen geben, hat das Gericht einem Antrag gemäß § 165 Abs 2 StPO nur zu entsprechen, wenn die materiellen Voraussetzungen für die Durchführung einer kontradiktorischen Vernehmung vorliegen

(§ 104 Abs 1 letzter Satz StPO [„Das Gericht hat den Antrag mit Beschluss abzuweisen wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für solche Beweisaufnahmen nicht vorliegen.“]; vgl Pilnacek/Stricker in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 104 Rz 21 f, 30).

Der Antragsteller behauptete zudem die Verfassungswidrigkeit der Wortfolge „nach freier Überzeugung“ in § 14 StPO und des Wortes „freien“ in § 258 Abs 2 StPO, weil damit eine schrankenlose richterliche Entscheidungsbefugnis ermöglicht werde. Dies sei „unvereinbar mit dem Recht auf ein faires Verfahren und mit der Unschuldsvermutung ebenso wie mit dem Sachlichkeitsgebot und dem Willkürverbot, vor allem aber mit dem Zweifelsgrundsatz des in dubio pro reo“

Der VfGH entgegnete dem, dass das Gericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung keineswegs frei ist, Beweise ohne sachlichen Grund nicht zu erheben oder Beweise entgegen allgemeinen Erfahrungssätzen nicht objektiv nachvollziehbar zu würdigen. Das Gericht ist vielmehr im Hauptverfahren (§§ 210 ff StPO) zur amtswegigen Wahrheitsforschung verpflichtet (§§ 3, 232 Abs 2 StPO) und seine Entscheidung hat im Hinblick auf dessen Überzeugungsbil-

dung nachvollziehbar und plausibel zu sein (vgl zB Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 14 Rz 8 mwN; siehe zu ähnlichem Vorbringen bereits

VfGH 11. 6. 2019, G 87/2019; 12. 6. 2020, G 162/ 2020; 21. 9. 2020, G 314/2020; 10. 3. 2021, G 392/ 2020). Mit „frei“ meint das Gesetz in Bezug auf die Beweiswürdigung lediglich, dass diese –grundsätzlich – von rechtlichen Schranken frei ist, also keine Bindung an feste Beweisregeln besteht (Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 14 Rz 8).

§ 35c StAG; Art 6, 13 EMRK

VfGH 13. 6. 2022, G 117/2022

Die antragstellende Gesellschaft behauptet im Wesentlichen, dass § 35c StAG, BGBl 1986/146 idF BGBl I 2014/71, gegen Art 6 und 13 EMRK verstoße. Art 6 EMRK erfasst aber in Bezug auf Strafverfahren nur diejenigen Personen, gegen die eine strafrechtliche Anklage erhoben wurde; darunter fallen zB nicht Anzeigeerstatter (vgl Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren (2005) Art 6 EMRK, Art 14 IPBPR Rz28 mwN). Zudem erfolgt bei der Prüfung durch die Staatsanwaltschaft, ob ein Anfangsverdacht iSd § 1 Abs3 StPO iVm § 35c StAG vorliegt, gerade keine Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage gemäß Art6 EMRK (vgl Grabenwarter/Pabel, EMRK7, §24 Rz 27). Damit kommt aber auch eine Verletzung des Art 13 EMRK nicht in Betracht (vgl MeyerLadewig/Renger in Meyer-Ladewig/Nettesheim/ von Raumer [Hrsg], EMRK4 (2017) Art 13 Rz7f; Grabenwarter/Pabel, EMRK7, § 24 Rz 194).

§ 353 Z 2 StPO; Art 6 EMRK VfGH 13. 6. 2022, G 184/2022 Abgesehen davon, dass Art 6 EMRK auf Verfahren betreffend einen Antrag auf Wiederaufnahme eines früheren, rechtskräftig beendeten Verfahrens grundsätzlich nicht anwendbar ist (vgl EGMR 16. 5. 1995, Oberschlick gg Österreich, Bsw 19255/92; vgl auch EGMR 11. 7. 2017 [GK], Moreira Ferreira gg Portugal, Bsw 19867/ 12, Rn 64 ff; Grabenwarter/Pabel, EMRK7, § 24 Rz 27), erachtet der Antragsteller die angefochtene Vorschrift des § 353 Z 2 StPO im Wesentlichen deshalb als bedenklich, weil sie im Anlassverfahren von einem ordentlichen Gericht in bestimmter Weise verstanden wird. Dies kann jedoch nicht mit Antrag nach Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG geltend gemacht werden (VfSlg 20.271/2018, 20.279/2018).

§§ 111 f StPO; Art 90 Abs 2 B-VG; Art 6, 8 EMRK VfGH 18. 6. 2022, G 158/2021

Der Gesetzgeber hat seinen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum nicht überschritten, wenn das Recht auf Widerspruch samt dadurch ausgelöstem Sichtungsverfahren (§ 112 StPO) auf jene Fälle beschränkt wird, in denen sich die sichergestellten Unterlagen und Datenträger beim Berufsgeheimnisträger selbst bzw in dessen Ge-

133 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Rechtsprechungsbericht des VfGH

wahrsame befinden (vgl OGH 11. 10. 2017, 13 Os 94/17y). Im Rahmen einer Durchschnittsbetrachtung kann nämlich davon ausgegangen werden, dass bei einer Sicherstellung bei einem Berufsgeheimnisträger – im Unterschied zu einer Sicherstellung andernorts – die Wahrscheinlichkeit besonders hoch ist, dass Unterlagen konfisziert werden, die das vertrauliche Verhältnis zwischen Beschuldigtem und Berufsgeheimnisträger betreffen.

Der VfGH vermag auch keinen Widerspruch der angefochtenen Vorschriften zu Art 6 und 8 EMRK sowie Art 90 Abs 2 B-VG zu erkennen: Die Kommunikation zwischen dem Beschuldigten und seinem Rechtsanwalt (oder einem anderen Berufsgeheimnisträger) ist bereits auf einfachgesetzlicher Ebene umfassend geschützt. Insbesondere ist es unzulässig, das Recht der in § 157 Abs 1 Z 2 StPO angeführten Personen, die Zeugenaussage zu verweigern, zu umgehen, etwa durch Sicherstellung von Unterlagen (§§ 144 Abs 2 und 3, 157 Abs 2 StPO). Wird gegen dieses Gebot verstoßen, stehen jedem davon Betroffenen die Rechtsbehelfe des Einspruchs wegen Rechtsverletzung gemäß §106 Abs 1 Z 2 StPO samt dem Antrag, ihm die Unterlagen wieder zurückzugegeben (§ 107 Abs4 StPO), und des Antrags auf gerichtliche Entscheidung über die Aufhebung oder Fortsetzung der Sicherstellung (§ 111 Abs 4 StPO) offen. Dieser Schutz ist im Lichte von Art 6 und 8 EMRK sowie Art 90 Abs 2 B-VG ausreichend. Diese Verfassungsbestimmungen verlangen keinen zusätzlichen Rechtsbehelf nach Art des Widerspruchs, wie er in § 112 StPO geregelt ist.

§ 83 Abs 3 Z 2 StGB; Art 7 Abs 1 B-VG; Art 2 StGG

VfGH 18. 6. 2022, G 51/2022

Im Antrag wird die Verfassungswidrigkeit des §83 Abs 3 Z 2 StGB behauptet. Es liegt aber im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, bestimmte Berufsgruppen – auch durch strafrechtliche Vorschriften – besonders zu schützen, etwa dann, wenn die davon erfassten Personen Aufgaben im öffentlichen Interesse verrichten. Derartige Differenzierungen sind daher im Lichte des Gleichheitsgrundsatzes (Art 7 Abs 1 B-VG, Art 2 StGG) unbedenklich, auch wenn Personen, die einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher untergebracht wurden, vergleichsweise häufig auf Personen treffen, die in einem gesetzlich geregelten Gesundheitsberuf tätig sind und daher von § 83 Abs 3 Z2 StGB besonders geschützt werden. (Vgl auch § 21 Abs 1 StGB, wonach das Gericht eine Einweisung des Betroffenen in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher – bei Erfüllung aller übrigen Voraussetzungen – nur dann zu verfügen hat, wenn nach der Person des Betroffenen, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde.)

SMG; Suchtgiftverordnung; Suchtgift-Grenzmengenverordnung; Art 7 Abs 1 B-VG; Art 2 StGG; Art5 Art 1 PersFrSchG; Art 5, 8 EMRK

VfGH 1. 7. 2022, G 323/2021, V 252-253/2021

Der Antragsteller behauptet die Verfassungswidrigkeit näher bezeichneter Bestimmungen des SMG sowie die Gesetzwidrigkeit näher bezeichneter Bestimmungen der Suchtgiftverordnung und der Suchtgift-Grenzmengenverordnung: Das aus den angefochtenen Vorschriften folgende Cannabisverbot verletze das Recht auf Privat- und Familienleben gemäß Art 8 EMRK, den Gleichheitsgrundsatz gemäß Art 2 StGG und Art 7 Abs 1 B-VG, das Recht auf persönliche Freiheit gemäß Art 5 EMRK und Art 1 Abs 2 PersFrSchG sowie das Recht auf freie Selbstbestimmung.

Nach Auffassung des VfGH liegt es im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, den Konsum von Suchtmitteln, die von völker- und unionsrechtlichen Rechtsakten erfasst werden (vgl insbesondere Art 36 Einzige Suchtgiftkonvention 1961, Art 5 Übereinkommen von 1971 über psychotrope Stoffe, Art 3 Abs2 Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtgiften und psychotropen Stoffen sowie Art 71 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. 6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen), strenger zu regeln als den Konsum anderer Suchtmittel; der Gesetzgeber ist auch nicht gehalten, alle potenziell gleich schädlichen Drogen gleichermaßen zu verbieten oder zuzulassen.

§§ 260 Abs 1 Z 3, 353 Z 2, 433 Z 2, 435 Abs 2 StPO; Art 7 Abs 1 B-VG; Art 2 StGG; PersFrSchG; Art 5, 6 EMRK

VfGH 14. 12. 2022, G 224/2022

Im Antrag wird die Verfassungswidrigkeit von §§ 260 Abs 1 Z 3, 353 Z 2, 433 Abs 2 und 435 Abs2 StPO wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art 2 StGG; Art 7 Abs 1 B-VG), die Rechte auf ein faires Verfahren (Art 6 EMRK) sowie auf persönliche Freiheit (Art 5 EMRK und PersFrSchG) behauptet.

Nach Auffassung des VfGH lässt das Vorbringen des Antrags die behaupteten Verfassungswidrigkeiten als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass der Antragsteller keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat: Abgesehen davon, dass Art 6 EMRK auf Verfahren betreffend einen Antrag auf Wiederaufnahme eines rechtskräftig beendeten Verfahrens grundsätzlich nicht anwendbar ist (vgl VfGH 13. 6. 2022, G184/2022 mHa EGMR 16. 5. 1995, Oberschlick gg Österreich, Bsw 19255/92; 11. 7. 2017 [GK], Moreira Ferreira gg Portugal, Bsw 19867/12, Rn64 ff; Grabenwarter/Pabel, EMRK7, § 24 Rz27), bestehen auch sonst keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, dass hinsichtlich der Prognoseent-

Wirtschaftsstrafrecht Rechtsprechungsbericht des VfGH 134 3/2023 ZWF

scheidung bei den mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahmen keine Wiederaufnahme stattfindet, zumal diese Maßnahmen nur so lange zu vollziehen sind, wie es ihr Zweck erfordert (§ 25 Abs 1 StGB), und die bedingte Entlassung aus einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme zu verfügen ist, wenn die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, nicht mehr besteht (§ 47 Abs2 StGB).

2.Inhaltliche Entscheidungen (Erkenntnisse)

§ 393a Abs 2 StPO; Art 7 Abs 1 B-VG; Art 2 StGG

VfGH 22. 9. 2022, G 90/2022

Das Gesetz sieht einen Beitrag zu den Kosten der Verteidigung grundsätzlich nur im Fall eines Freispruchs (§ 259 StPO) vor (§ 393a Abs 1 StPO). Eine Ausnahme besteht für den Fall eines Schuldspruchs (§ 260 StPO) insoweit, als ein Angeklagter in einem Strafverfahren, in dem die Vertretung durch einen Verteidiger in der Hauptverhandlung zwingend vorgeschrieben war (§ 61 Abs 1 Z 4 und 5 StPO), lediglich einer in die Zuständigkeit der Bezirksgerichte fallenden strafbaren Handlung für schuldig erkannt wurde (§ 393a Abs 2 StPO).

Aus den Mat (ErlRV 924 BlgNR 18. GP, 41) und dem systematischen Zusammenhang des §393a Abs 2 StPO mit den Vorschriften über die notwendige Verteidigung (§ 61 Abs 1 Z 4 und 5 StPO) ergibt sich, dass der Gesetzgeber dem Verurteilten in derartigen Fällen (Schuldspruch) dann einen Beitrag zu den Kosten der Verteidigung gewähren wollte, wenn er zunächst kraft Gesetzes zur Bestellung eines Verteidigers gezwungen worden war, dessen Kosten er auch in der Regel zu tragen hat (vgl § 61 Abs 3 StPO), obwohl sich letztlich herausgestellt hat, dass es einer solchen notwendigen Verteidigung gar nicht bedurft hätte.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der weitgehenden Gleichförmigkeit des Strafverfahrens vor dem Bezirksgericht (§§ 487 bis 480 StPO) und vor dem Einzelrichter des Landesgerichts (§§ 484 bis 490 StPO) ist es dann aber ein unerklärlicher Wertungswiderspruch, einen Beitrag zu den Kosten der Verteidigung nur dann zu gewähren, wenn der Angeklagte lediglich einer in die Zuständigkeit der Bezirksgerichte fallenden strafbaren Handlung für schuldig erkannt wurde, für die niemals notwendige Verteidigung herrscht, nicht aber auch dann, wenn ein solcher Schuldspruch wegen einer strafbaren Handlung gefällt wird, für die zwar nicht das Bezirksgericht, sondern der Einzelrichter des Landesgerichts zuständig ist, für die aber ebenfalls keine notwendige Verteidigung besteht. Dies verstößt somit gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgrundsatz (Art 7 Abs 1 B-VG; Art 2 StGG; vgl VfSlg 10.365/1985, 12.566/1990; VfGH 3. 3. 2022, G324/2021), weswegen § 393a Abs 2 StPO aufzuheben ist.

§ 173 Abs 6 StPO; Art 1 Abs 3 iVm Art 2 Abs 2 Z 2 PersFrSchG

VfGH 1. 12. 2022, G 53/2022

Gemäß Art 2 Abs 1 PersFrSchG darf einem Menschen die persönliche Freiheit nur in bestimmten Fällen (Haftgründe) entzogen werden. Art 2 Abs1 Z 2 PersFrSchG sieht als einen solchen Haftgrund die Untersuchungshaft vor. Das Gesetz darf dementsprechend die Untersuchungshaft vorsehen, wenn jemand einer bestimmten, mit gerichtlicher oder finanzbehördlicher Strafe bedrohten Handlung verdächtig ist, wenn dies iSd Art 1 Abs 3 PersFrSchG notwendig ist, und zwar (Art 2 Abs 1 Z 2 lit a PersFrSchG) zum Zweck der Beendigung des Angriffs oder zur sofortigen Feststellung des Sachverhalts, sofern der Verdacht im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Tat oder dadurch entsteht, dass der Verdächtige einen bestimmten Gegenstand innehat, (lit b leg cit) um ihn daran zu hindern, sich dem Verfahren zu entziehen oder Beweismittel zu beeinträchtigen, oder (lit c leg cit) um ihn bei einer mit beträchtlicher Strafe bedrohten Handlung an der Begehung einer gleichartigen Handlung oder an der Ausführung zu hindern. Damit verlangt das PersFrSchG für die Verhängung der Untersuchungshaft nach unbestrittener Auffassung im Einzelfall die Feststellung, dass einer der genannten Haftgründe vorliegt (Reindl, Untersuchungshaft und Menschenrechtskonvention [1997] 164f; Venier, Ausgewählte grundrechtliche Aspekte der Untersuchungshaft, StPdG 1998, 79 [89]; Venier, Das Recht der Untersuchungshaft [1999] 33).

Nach dem System der Untersuchungshaft (§§ 173 ff StPO) darf diese – neben weiteren Voraussetzungen – grundsätzlich nur verhängt werden, wenn einer der in § 173 Abs 2 StPO genannten Haftgründe vorliegt (§ 173 Abs 1 StPO). Von diesem Grundsatz weicht die angefochtene Bestimmung des § 173 Abs 6 StPO insoweit ab, als für den Fall, dass es sich um ein Verbrechen (§ 17 StGB) handelt, bei dem nach dem Gesetz auf eine mindestens zehnjährige Freiheitsstrafe zu erkennen ist, die Untersuchungshaft verhängt werden muss, es sei denn, dass aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, das Vorliegen aller in § 173 Abs 2 StPO genannten Haftgründe sei auszuschließen.

Die Lehre erachtet diese, als „bedingt obligatorische Untersuchungshaft“ bezeichnete Regelung seit Längerem überwiegend deswegen für verfassungswidrig, weil damit dem Gebot des (positiven) Nachweises des Vorliegens aller Voraussetzungen für die Untersuchungshaft des PersFrSchG im jeweiligen Einzelfall nicht Rechnung getragen werde (vgl bereits Laurer, Der verfassungsrechtliche Schutz der persönlichen Freiheit nach dem Bundesverfassungsgesetz vom 29. November 1983, in Walter [Hrsg], Verfassungsänderungen 1988 [1989] 27 [48]; weiters etwa Venier, StPdG 1998, 79 [92]; siehe auch Kopetzki in Korinek/Holoubek [Hrsg], Bundesverfassungsrecht [2002] Art 2 PersFrSchG Rz 23 bzw Art 4, 5 PersFrSchG Rz 29).

135 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Rechtsprechungsbericht des VfGH

Das PersFrSchG bindet den Entzug der persönlichen Freiheit als einen der gravierendsten Eingriffe in Grundrechte des Einzelnen (Pöschl, Wieviel Prävention verträgt Art 5 EMRK, in Bernat [Hrsg], FS Kopetzki [2019] 499 [501]) an detaillierte Haftgründe und die Notwendigkeit eines auf einen spezifischen Haftgrund gestützten Freiheitsentzugs im Einzelfall. Diesen Anforderungen an die gesetzliche Regelung der Untersuchungshaft trägt die angefochtene Bestimmung des § 173 Abs 6 StPO nicht adäquat Rechnung. Denn sie eröffnet, ohne dass dies vom Regelungsgegenstand bedingt wäre, eine Unklarheit darüber, dass diese Einzelfallprüfung, ob ein konkreter Haftgrund vorliegt, jedenfalls zu erfolgen hat, obwohl eine die konkreten verfassungsrechtlichen Vorgaben deutlich zum Ausdruck bringende Regelung möglich ist, die auch dem Umstand Rechnung tragen kann, dass die hier in Rede stehende Konstellation des Verdachts der Begehung schwerer Straftaten in die Beurteilung der Notwendigkeit der Freiheitsentziehung mit-

Aus der aktuellen Rechtsprechung

Wirtschaftsstrafrecht

Mario Schmieder / Norbert Wess

Prozessbetrug

ZWF 2023/19

§ 146 StGB

OGH 19. 10. 2022, 13 Os 33/22k (= RIS-Justiz RS0115362)

Vorsätzliche falsche Angaben einer Partei gegenüber dem Gericht sind zur Erlangung vermögensrechtlicher Leistungen auch dann als Täuschung über Tatsachen zu beurteilen, wenn das Gericht zur Überprüfung der Angaben verpflichtet ist sowie keine falschen Beweismittel und Bescheinigungsmittel aufgeboten wurden. Können doch an die Redlichkeit einer sich insoweit erklärenden Person keine geringeren Anforderungen gestellt werden als im Rechts- und Geschäftsleben zwischen Privaten.

Unschuldsvermutung; Sanktionsrüge

ZWF 2023/20

§§ 8, 281 Abs 1 Z 11 Fall 3 StPO; Art 6 Abs 2 EMRK

OGH 28. 2. 2023, 14 Os 13/23b (= RIS-Justiz RS0132357)

Die Unschuldsvermutung ist verletzt, wenn das Gericht bei der Strafbemessung auf die Begehung einer Straftat als tatsächlichen Anknüpfungspunkt abstellt, die nicht Gegenstand des im angefochtenen Urteil gefällten oder eines sonstigen rechtskräftigen Schuldspruchs ist.

Vorrang gerichtlichen Strafrechts vor Verwaltungsstrafrecht

ZWF 2023/21

§ 22 Abs 1 VStG; § 146 StGB; § 4 Abs 1 Wiener Parkometergesetz 2006; § 22 Abs 2 FinStrG

einzubeziehen ist. Nach den Vorgaben des Art 2 Abs 1 Z 2 PersFrSchG muss aber auch eine solche Berücksichtigung der Schwere der Straftat, deren Begehung der mit Untersuchungshaft Bedrohte verdächtigt wird, im Zuge einer Einzelfallprüfung erfolgen, ob ein die Untersuchungshaft rechtfertigender Haftgrund vorliegt und die Verhängung der Untersuchungshaft aus diesem Grund auch notwendig ist. Darüber darf die gesetzliche Vorschreibung der Verhängung der Untersuchungshaft nicht in Zweifel lassen, was der angefochtene §173 Abs 6 StPO mit der Festlegung einer „bedingt obligatorischen“ Untersuchungshaft aber tut.

§ 173 Abs 6 StPO verstößt daher gegen das aus Art 2 Abs 1 Z 2 iVm Art 1 Abs 3 PersFrSchG folgende Gebot, die Voraussetzungen der Verhängung einer Untersuchungshaft gesetzlich entsprechend genau vorzuschreiben (vgl VfSlg 19.675/ 2012 und 20.408/2020; sowie allgemein zum strengen Determinierungsgebot des PersFrSchG Berka, Verfassungsrecht [2021] Rz 1361).

OGH 18. 1. 2023, 15 Os 111/22w

§ 22 Abs 1 VStG normiert – unbeschadet einer allfällig abweichenden Regelung im Materiengesetz – den Vorrang gerichtlichen Strafrechts vor Verwaltungsstrafrecht. Eine Tat ist demnach nur dann als Verwaltungsübertretung strafbar, wenn sie nicht gleichzeitig auch den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung erfüllt. Ist das dem Angeklagten zur Last gelegte Verhalten sowohl unter § 146 StGB als auch unter § 4 Abs 1 Wiener Parkometergesetz 2006 subsumierbar, darf aufgrund des tateinheitlichen Zusammentreffens der gerichtlich strafbaren Handlung mit der Verwaltungsübertretung die Tat nur wegen des gerichtlichen Tatbestands verfolgt werden. Für eine analoge Anwendung des § 22 Abs 2 FinStrG besteht mangels planwidriger Regelungslücke kein Raum.

Bindung; Feststellungswirkung; Verbandsverfahren; Parteistellung

ZWF 2023/22

§§ 15 Abs 1, 22, 24 VbVG

OGH 23. 11. 2022, 11 Os 136/21s (= RIS-Justiz RS0133674)

Die Feststellungswirkung eines Schuldspruchs einer natürlichen Person erstreckt sich dann auf einen Verband, wenn dieser im Verfahren gegen die natürliche Person Parteistellung gemäß § 15 Abs 1 Satz 2 VbVG und somit die Möglichkeit hatte, zu den Vorwürfen, für die er verantwortlich erklärt werden könnte, Stellung zu nehmen

Wirtschaftsstrafrecht Aus der aktuellen Rechtsprechung 136 3/2023 ZWF

und das Urteil über seinen Entscheidungsträger oder Mitarbeiter – im Umfang des betreffenden Schuldspruchs – auf gleiche Weise wie dieser zu bekämpfen und der Schuldspruch sowohl gegenüber dem Verband als auch gegenüber allen weiteren Anfechtungsberechtigten in Rechtskraft erwachsen ist.

Eigentumsvorbehalt; Veruntreuung

ZWF 2023/23

§ 133 StGB

OGH 27. 9. 2022, 14 Os 24/22v (= RIS-Justiz RS0093991 [T1])

Der Eigentumsvorbehalt an der mit Wissen und Willen des Verkäufers zum Weiterverkauf be-

Literaturrundschau

Mario Schmieder / Norbert Wess

Gegenseitige Anerkennung; strafrechtliche Zusammenarbeit; grenzüberschreitende Ermittlungen

EU-JZG; Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen

Tomasits, Anordnung und Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung in Österreich (2022)

Die Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen basiert auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und stellt einen zentralen Baustein im Rahmen der strafrechtlichen Zusammenarbeit in der EU dar. Sie regelt die grenzüberschreitende Vornahme von Ermittlungsmaßnahmen zum Zweck der Beweismittelgewinnung in den Mitgliedstaaten der EU. In Österreich wurden die Richtlinienvorgaben im EU-JZG umgesetzt. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der Anordnung und Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung in Österreich sowie mit den damit einhergehenden Rechtsfragen und Problemstellungen.

Mobiltelefon; Sicherstellung; Berufsgeheimnisschutz; Umgehung; Recht auf Widerspruch; Versiegelung

§§ 109–112, 144 Abs 2, 157 Abs 1 Z 2 und Abs 2 StPO

Ghazanfari, Sicherstellung von Mobiltelefonen und Berufsgeheimnisschutz, in Lewisch (Hrsg), Jahrbuch Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit 2022 (2022) 51

Smartphones sind mittlerweile fester Bestandteil des Lebens sowie des persönlichen und beruflichen Alltags. Werfen die Strafverfolgungsbehörden einen Blick in ein Endgerät – sei es im Zuge einer offenen oder verdeckten Maßnahme – offenbart dieses nicht mehr ausschließlich (die vergangene) Mensch-zu-Mensch-Kommunikation –

stimmten Ware erstreckt sich nur dann auch auf deren Erlös, wenn ein über die schlichte Eigentumsvorbehaltsklausel hinausgehender Vertrag vorliegt, der auch den Erlös eindeutig als anvertraut erkennen lässt. Dies ist etwa bei einer eindeutigen Kommissionsabrede oder kommissionsähnlichen Abrede der Fall, derzufolge die Waren für Rechnung des Verkäufers weiterveräußert oder unter Verknüpfung des Zahlungsziels mit dem unbestimmten Zeitpunkt des geplanten Weiterverkaufs übernommen werden. Dann ist nicht nur das ursprüngliche Gut anvertraut, sondern auch das Äquivalent, das dafür erlangt wird, womit auch dieses zum tauglichen Tatobjekt des § 133 StGB wird.

Kommunikation im sozialen Sinn –, sondern spiegelt vielmehr die Persönlichkeit der Nutzerin wider. In der Regel verwendet sie hierfür neben ihrem „Diensthandy“ auch das private Smartphone. Wird im Zuge eines Ermittlungsverfahrens ihr (privates) Mobiltelefon sichergestellt und befinden sich auf diesem – zumindest teilweise –vertrauliche Inhalte, so stellt sich die Frage, inwiefern diese Informationen zunächst eingesehen werden und in einem weiteren Schritt verwendet bzw verwertet werden dürfen.

Persönlichkeitsschutz; Öffentlichkeit; Liveticker; Litigation-PR; behördliche Medienarbeit; Haftung; Informationsfreiheitsgesetz

Art 90 B-VG; Art 6, 8 EMRK; § 213 FinStrG; § 9 Abs1 RAO; § 35b StAG; §§ 301, 310 StGB; §§ 8, 12 Abs 1, 54, 229 Abs 1, 230 Abs 2, 233 StPO Wess, Grenzen der Öffentlichkeit des Strafverfahrens: Aktuelles zu Persönlichkeitsschutz im Strafverfahren, Leaks, PR-Litigation, behördlicher Medienarbeit und Haftungsfragen, in Lewisch (Hrsg), Jahrbuch Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit 2022 (2022) 177

Die mediale Öffentlichkeit in Strafverfahren, insbesondere in Wirtschaftsstrafverfahren, spielt eine wichtige sowie – so der unwiderlegliche Eindruck – immer größere und bedeutsamere Rolle, und zwar nicht unbedingt und primär im Hauptverfahren, sondern vor allem und insbesondere während des Ermittlungsverfahrens. Durch die stete Zunahme der Bedeutung von sozialen Medien und der daraus resultierenden Flut an Informationen, die der Öffentlichkeit gleichsam

„rund um die Uhr“ zur Verfügung gestellt werden, werden auch die Inhalte des Strafprozesses der Öffentlichkeit in einem weitaus größeren Ausmaß zur Kenntnis gebracht als noch vor geraumer Zeit. Damit gehen selbstverständlich

137 ZWF 3/2023 Wirtschaftsstrafrecht Literaturrundschau
Literaturrundschau
Wirtschaftsstrafrecht

massive Probleme einher – insbesondere im Zusammenhang mit dem Persönlichkeitsschutz der Betroffenen des Verfahrens, aber auch der schleichenden Unterwanderung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung. In diesem Beitrag wird daher auf die Grenzen der Einbindung der Öffentlichkeit in Strafverfahren und auf die Problemstellungen, die sich im Zeitalter der wachsenden Digitalisierung der Medien sowohl für die Gesetzgebung als auch für die Praxis ergeben, näher eingegangen. Daneben werden auch artverwandte Themenbereiche angesprochen, die in jüngerer Zeit durch all diese Entwicklungen (wie zB die Litigation-PR) entstanden sind. Sicherstellung; Widerspruch; Sichtungsverfahren

§ 112a StPO

Ifsits, Zum strafprozessualen Schutz klassifizierter Informationen nach § 112a StPO, ÖJZ 2023, 220 Die 2018 durch die Durchsuchungsmaßnahmen im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) ausgelöste Diskussion um die Zulässigkeit der Sicherstellung im öffentlichen Bereich und den damit verbundenen Zugriff auf sensible Unterlagen führte schließlich ua zur Implementierung des § 112a StPO (BGBl I 2021/148). Angelehnt an § 112 StPO sieht die Bestimmung ein System zum Schutz bestimmter klassifizierter Informationen vor. Der Gesetzgeber reagierte damit nicht zuletzt auf die Befürchtung des Vertrauensverlusts ausländischer Nachrichtendienste. Der vorliegende Beitrag bietet einen Überblick über die mit § 112a StPO in Kraft getretenen strafprozessualen Neuerungen.

Information; Dokumentation; Nichtschuld; Täuschung

§§ 147, 153, 156, 162, 223, 293 StGB; § 39 FinStrG; § 11 UStG

Rebisant, Der Schein (be)trügt – Die Scheinrechnung im Strafrecht, GRAU 2023, 31

Scheinrechnungen können – strafrechtlich betrachtet – Abgaben verkürzen, Forderungen oder eine Vermögensverringerung vortäuschen, eine Vermögensverringerung ohne Gegenleistung decken oder verschleiern, eine Verbindlichkeit vorschützen oder als Beweismittel in einem Verfahren dienen. Dadurch können unterschiedliche strafbare Handlungen und Finanzvergehen begründet sein.

Zahlungsinstrumente; unbare und unkörperliche Zahlungsmittel; unbare Zahlungsmittelrichtlinie

§ 74 Abs 1 Z 10 StGB

Kattavenos-Lukan, Das unkörperliche unbare Zahlungsmittel gem § 74 Abs 1 Z 10 StGB, ÖJA 2023, 107 Mit BGBl I 2021/201 hat der nationale Gesetzgeber in Umsetzung der Richtlinie zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln die Legaldefinition des unbaren Zahlungsmittels in § 74 Abs 1 Z 10 StGB geändert. Diese umfasst neben körperlichen unbaren Zahlungsmitteln nun auch unkörperliche unbare Zahlungsmittel. Es stellt sich die Frage, was ein unkörperliches unbares Zahlungsmittel konkret ist und wie sich dieses in das System des StGB einbetten lässt.

Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Bekämpfung von Korruption

Severin Glaser / Robert Kert

Am 3. 5. 2023 präsentierte die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Bekämpfung von Korruption.1 Die Richtlinie soll nicht nur das Übereinkommen aus dem Jahr 1997 über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der EU beteiligt sind,2 sondern auch den Rahmenbeschluss 2003/568/JHA zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor3 ersetzen und damit ein Gesamtpaket zur Bekämpfung der Korruption bilden.

Die Kommission begründet den Vorschlag damit, dass diese existierenden Instrumente nicht mehr

Univ.-Prof. Dr. Severin

Glaser ist Professor für Finanz- und Wirtschaftsstrafrecht am Institut für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie der Universität Innsbruck.

1 Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on combating corruption, replacing Council Framework Decision 2003/568/JHA and the Convention on the fight against corruption involving officials of the European Communities or officials of Member States of the European Union and amending Directive (EU) 2017/1371 of the European Parliament and of the Council, COM(2023)234 final.

2 ABl C 195 vom 25. 6. 1997, S 2.

3 ABl L 192 vom 31. 7. 2003, S 54.

umfassend genug seien und ein Bedarf nach Weiterentwicklung der bestehenden Vorschriften zur Bekämpfung der Korruption bestehe. Zudem seien Lücken bei der Durchsetzung der Vorschriften auf nationaler Ebene und Hindernisse bei der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zutage getreten. Der Richtlinienvorschlag enthält daher auch nicht nur Vorschriften zur Harmonisierung des materiellen Korruptionsstrafrechts, sondern auch zur Korruptionsprävention, zur Einrichtung besonderer

Europastrafrecht Richtlinienvorschlag zur Bekämpfung von Korruption 138 3/2023 ZWF
Europastrafrecht

Stellen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption sowie zur Zusammenarbeit zwischen den mitgliedstaatlichen Behörden, der Kommission und Einrichtungen der EU.

Diesem Ansatz folgend ist der erste Teil des Entwurfs auch der Korruptionsprävention gewidmet. So sollen die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, ein Höchstmaß an Transparenz sowie eine Rechenschaftspflicht in der öffentlichen Verwaltung und bei öffentlichen Entscheidungen zu gewährleisten, um Korruption zu verhindern. Sie sollen sicherstellen, dass ein offener Zugang zu Informationen von öffentlichem Interesse, wirksame Regeln für die Offenlegung und Handhabung von Interessenkonflikten im öffentlichen Sektor und Regeln über die Offenlegung von Vermögenswerten von Amtsträgern eingeführt werden. Darüber hinaus sollen spezialisierte Stellen geschaffen werden, die für die Korruptionsprävention und -bekämpfung zuständig sind. Die für die Korruptionsbekämpfung zuständigen Stellen sollen mit ausreichend Ressourcen ausgestattet werden.

Im Hinblick auf die Harmonisierung der Straftaten ist es Ziel des Vorschlags, alle Straftaten nach dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption4 aus dem Jahr 2003 auch in den EU-Rechtsvorschriften zu regeln. Der Vorschlag sieht eine Reihe von Definitionen teils bereits bekannter, teils aber auch neuer Tatbestände im Unionsrecht vor. Die Mitgliedstaaten sollen folgende Straftaten unter Strafe stellen: Bestechung im öffentlichen Dienst, Bestechung im privaten Bereich, Behinderung der Justiz, Einflussnahme im Hinblick auf die Erlangung eines ungebührlichen Vorteils, Amtsmissbrauch, Behinderung der Justiz und die illegale Bereicherung im Zusammenhang mit Korruptionsdelikten.

Neben der Angleichung der Straftatbestände wird eine Verschärfung der strafrechtlichen Sanktionen angestrebt. Der Vorschlag sieht Mindesthöchststrafen zwischen vier und sechs Jahren vor. Neben den Freiheitsstrafen werden auch weitere Maßnahmen vorgeschlagen, die nicht

zwingend strafrechtlicher Natur sein müssen, wie etwa die Entlassung oder Suspendierung öffentlich Bediensteter, den Ausschluss von öffentlichen Ämtern, von der Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit oder vom Zugang zu öffentlichen Mitteln. Für juristische Personen werden Mindestgeldstrafen von zumindest fünf Prozent des weltweiten Umsatzes der juristischen Person (mitsamt damit verbundener Unternehmen), der Ausschluss von öffentlichen Förderungen, der Entzug von Genehmigungen oder auch die Unterstellung der juristischen Person unter richterliche Aufsicht vorgeschlagen.

Im Hinblick auf die Gewährleistung einer wirksamen Strafverfolgung sollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Immunitäten von Beamten, gegen die Strafverfahren wegen Korruption geführt werden, im Rahmen eines objektiven, unparteiischen, wirksamen und transparenten Verfahrens möglichst rasch aufgehoben werden können. Ähnlich wie in der PIFRichtlinie5 schlägt die Kommission auch hier Mindestverjährungsfristen zwischen acht und 15 Jahren vor, um zu vermeiden, dass Korruptionsdelikte vor der Beendigung des Strafverfahrens verjähren. Die Strafverfolgungsbehörden sollen darüber hinaus für die Verfolgung von Korruptionsfällen alle Ermittlungsmaßnahmen anwenden können, die ihnen für die Verfolgung von organisierter Kriminalität und schweren Straftaten zur Verfügung stehen. Schließlich sollen die mitgliedstaatlichen Behörden, Europol, Eurojust, die Europäische Staatsanwaltschaft, OLAF und die Europäische Kommission bei der Bekämpfung von Korruption zusammenarbeiten. Vorgeschlagen werden zudem auch mehrere Änderungen der PIF-Richtlinie, um diese – etwa bei den Mindeststrafdrohungen, Milderungs- und Erschwerungsgründen oder Verjährungsfristen – an die neue Richtlinie anzupassen. Die Kommission hat damit den Startschuss für das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gesetzt. Nun sind der Rat und das Europäische Parlament am Zug.

139 ZWF 3/2023 Europastrafrecht Richtlinienvorschlag zur Bekämpfung von Korruption
Univ.-Prof. Dr. Robert Kert ist Vorstand des Instituts für Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsstrafrecht der Wirtschaftsuniversität Wien. 4 BGBl III 2006/47. 5 ABl L 198 vom 28. 7. 2017, S 29.

Die Ministerialentwürfe zum AbgÄG 2023 und CESOP-Umsetzungsgesetz 2023

Der Ministerialentwurf zum Abgabenänderungsgesetz 2023 (AbgÄG 2023) enthält für das Finanzstrafrecht durchaus interessante Neuerungen, etwa die Anhebung der Grenzen für die Gerichtszuständigkeit oder die Anpassung der Verjährungsfristen für besonders schwerwiegende Finanzvergehen an die Verjährungsfristen vergleichbarer Straftaten aus dem Kernstrafrecht. Der Ministerialentwurf zum Bundesgesetz über die Meldung von Zahlungsdaten durch Zahlungsdienstleister 2023 (CESOP-Umsetzungsgesetz 2023) beinhaltet eine neue Finanzordnungswidrigkeit.1

1.Überblick

Seit 21. 4. 2023 sind die Ministerialentwürfe zum AbgÄG 2023 und zum CESOP-Umsetzungsgesetz 2023 einer parlamentarischen Begutachtung zugeführt. Beide Entwürfe enthalten Änderungsvorschläge, die das FinStrG betreffen. In diesem Beitrag werden die Änderungsvorschläge – das Finanzstrafrecht betreffend –vorgestellt bzw beleuchtet.

2.AbgÄG 2023

2.1.Ersetzen des Begriffs des „Schwachsinns“

Der Ministerialentwurf zum AbgÄG 2023 sieht vor, das Wort „Schwachsinn“ in § 7 Abs 1 FinStrG durch die Wortfolge „einer geistigen Behinderung“ zu ersetzen. In den Erläuterungen wird ausgeführt, dass der in der medizinischen Fachsprache als veraltet geltende Begriff „Schwachsinn“ – wie in § 11 StGB – durch die synonyme Umschreibung „geistige Behinderung“ ersetzt werden soll. Weiters heißt es in den Erläuterungen: „Die geistige Behinderung wird als typische Erscheinung einer geistig-seelischen Störung, aber auch deshalb besonders genannt, weil ihr das Prozesshafte fehlt, das nach einer in der Medizin verbreiteten Auffassung für den Krankheitsbegriff wesentlich ist.“2

ME ist der Austausch des Begriffs „Schwachsinn“ überfällig, zumal dieser nicht nur stigmatisierend und diffamierend wirkt, sondern – mit Blick auf die etablierten Klassifikationssysteme der modernen Psychiatrie und Psychologie ICD-11 und DSM-5 – auch unzeitgemäß ist. Im Kernstrafrecht hat der Gesetzgeber dies schon im Jahr 2009 erkannt und im Rahmen des 2.Gewaltschutzgesetzes3 in § 11 StGB (und in §§ 91 Abs 1 und 205 StGB) das Wort „Schwachsinn“ beseitigt und durch „geistige Behinderung“ ersetzt.4 Es ist zu begrüßen, dass nun-

1 Die folgenden Ausführungen geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autorin wieder.

2 ErlME 264/ME 27. GP, 43, mit Verweis auf Höpfel in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 11 Rz 5, 5a.

3 BGBl I 2009/40.

4 Zu den Neuerungen durch das 2. Gewaltschutzgesetz vgl auch Tipold, Vom „Schwachsinn“? JSt 2009, 118.

mehr auch im FinStrG eine diesbezügliche Modernisierung in der Begrifflichkeit vorgenommen wird. Inhaltliche Änderungen sind mit der Ersetzung des Begriffs ersichtlich nicht beabsichtigt.

2.2.Verlängerung der Verjährungsfrist für besonders schwere Delikte

Nach dem Ministerialentwurf sollen gemäß § 31 Abs 2 FinStrG die Verjährungsfristen für den Abgabenbetrug (§ 39 FinStrG) mit einem 500.000 € übersteigenden strafbestimmenden Wertbetrag und für grenzüberschreitenden Umsatzsteuerbetrug (§ 40 FinStrG) zehn Jahre betragen. In den Erläuterungen wird ausgeführt, dass die bisherigen Fristen (fünf Jahre) im Hinblick auf schweren Betrug nach § 147 Abs 3 StGB unangemessen kurz sind.5 Auch ein Blick über die Grenze zeigt, dass eine Verlängerung der Verjährungsfrist für besonders schwere (Finanzstraf-)Delikte dringend erforderlich ist. Für besonders schwere Steuerhinterziehung normiert § 376 Abs 1 dAO eine Verjährungsfrist von 15 Jahren. Auch in der Schweiz verjährt der Steuerbetrug (erst) 15 Jahre, nachdem der Täter die letzte strafbare Tätigkeit ausgeführt hat.6

2.3.Anhebung der Gerichtszuständigkeitsgrenzen

Der Ministerialentwurf sieht eine Anhebung der Grenzen für die Gerichtszuständigkeit vor: Das Gericht wird gemäß § 53 Abs 1 FinStrG idF des Ministerialentwurfs dann zuständig, wenn der strafbestimmende Wertbetrag (oder die Summe der maßgebenden Wertbeträge) vorsätzlich begangener Finanzvergehen 150.000 € übersteigt. Für Zolldelikte wird das Gericht zuständig, wenn der Betrag 75.000 € übersteigt.7 Die bisherigen Grenzbeträge liegen bei 100.000 € und 50.000 € (für Zolldelikte).

5 ErlME 264/ME 27. GP, 43. Vgl schon (ausführlich) Köck, Fortlaufhemmung und Verjährungsfristen – ein Vorschlag de lege ferenda, ZSS 2022, 94; Köck , Wertungswidersprüche im Finanzstrafrecht, ZWF 2021, 69.

6 Vgl Köck, ZSS 2022, 94; Köck, ZWF 2021, 69.

7 § 53 Abs 2 FinStrG.

Finanzstrafrecht AbgÄG 2023 und CESOP-Umsetzungsgesetz 2023 140 3/2023 ZWF
Dr. Elisabeth Köck ist Fachexpertin im Bereich Steuerfahndung im Amt für Betrugsbekämpfung (ABB).

Eine Anpassung der Wertgrenzen für die Gerichtszuständigkeit wurde in der Literatur in letzter Zeit vermehrt gefordert.8

Die letzte Anpassung der für die Gerichtszuständigkeit relevanten Wertbeträge geht auf die FinStrG-Novelle 20109 zurück. Eine Anhebung der Zuständigkeitsgrenzen auf 150.000 € (bzw 75.000 € für Zolldelikte) ist schon aus Gründen der Inflationsanpassung und der Verfahrenseffizienz in Richtung Verwaltungsgerichtsbarkeit sinnvoll.10

Auch den Erläuterungen ist (zutreffend) zu entnehmen, dass durch die nunmehrige Anhebung der für die gerichtliche Zuständigkeit maßgeblichen Wertbeträge diesmal der Geldwertentwicklung Rechnung getragen werden soll.11 Auch einem weiteren Umstand soll Rechnung getragen werden – dazu heißt es in den Erläuterungen wörtlich: „Darüber hinaus ergibt sich seit 1. 1. 2021 – unbeschadet der Übergangsbestimmung in § 265 Abs. 2d (BGBl. I Nr. 99/2020) – in Folge der bundesweiten sachlichen Zuständigkeit des Amtes für Betrugsbekämpfung als Finanzstrafbehörde und des Zollamtes Österreich als Finanzstrafbehörde auf Grund der Finanz-Organisationsreform die Zuständigkeit des Gerichts zur Ahndung von Finanzvergehen gegebenenfalls aus der Zusammenrechnung sämtlicher strafbestimmender Wertbeträge aller vorsätzlicher Finanzvergehen, die bundesweit begangen worden sind.“12

2.4.Verfolgungshindernis für Lockspitzel § 100 FinStrG soll um ein Verfolgungshindernis in Bezug auf Lockspitzel ergänzt werden: „Von der Verfolgung einer Person wegen des Finanzvergehens, zu deren Begehung sie entgegen dieser Bestimmung verleitet wurde, hat die Finanzstrafbehörde abzusehen.“13 Diese Änderung ist Folge der Rechtsprechung des EGMR. Die bestehende Ausgestaltung (als Strafmilderungsgrund) ist mit der Judikatur des EGMR unvereinbar – wie auch in der Literatur mehrfach aufgezeigt wurde.14 Im Fall Furcht gegen Deutschland15 sprach der EGMR im Jahr 2014 aus, dass in Fällen einer gegen Art 6 Abs 1 EMRK verstoßenden polizeilichen Tatprovokation das öffentliche Interesse an der Bekämpfung schwerer Straftaten

8 ZB Brandl/Starl, Vermehrte Gerichtszuständigkeit in Finanzstrafsachen durch die Finanzorganisationsreform, SWK 17/2021, 962; Achatz/Kirchmayr, Ist das Finanzstrafverfahren noch zeitgemäß? taxlex 2021, 393.

9 BGBl I 2010/104.

10 Köck, Ist das Finanzstrafverfahren noch zeitgemäß? Eine Antwort aus der Anwenderebene zu Achatz/Kirchmayr, taxlex 2021/84, taxlex 2022, 77 (79).

11 ErlME 264/ME 27. GP, 43.

12 ErlME 264/ME 27. GP, 43.

13 Ergänzung zu § 100 FinStrG idF des Ministerialentwurfs.

14 Köck, Inkonsistenzen im Finanzstrafverfahren – Die unzulässige Tatprovokation (Lockspitzel), ZWF 2021, 238; ebenso Gilhofer, Das Ermittlungsverfahren im Finanzstrafverfahren, in Holoubek/Lang (Hrsg), Grundfragen des Verwaltungs- und Finanzstrafverfahrens (2022) 255 (269).

15 EGMR 23. 10. 2014, Furcht gegen Deutschland, Bsw 54648/09.

nicht die Verwendung von Beweisen rechtfertigen könne, die durch polizeiliche Verleitung erlangt wurden. Einen Strafmilderungsgrund erachtete der EGMR nicht als ausreichende Wiedergutmachung für die Konventionsverletzung. Im Gefolge dieser Judikatur hat der nationale Strafgesetzgeber im Jahr 201616 die StPO novelliert, sodass (seit 1. 1. 2016) in § 133 Abs 5 StPO ein Verfolgungshindernis besteht, das die Staatsanwaltschaft zum Absehen von der Verfolgung des Beschuldigten verpflichtet, falls dieser unzulässig verleitet wurde.17 Nunmehr wird – erfreulicherweise – auch im FinStrG eine diesbezüglich gleichlautende, der StPO nachgebildete Regelung normiert. Schließlich ist die Judikatur des EGMR für das gerichtliche und für das verwaltungsbehördliche (Finanz-)Strafverfahren gleichermaßen von Bedeutung.18

3.Finanzstrafzusammenarbeitsgesetz

3.1.Erleichterung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit

Nach geltendem Recht lässt § 5 Finanzstrafzusammenarbeitsgesetz (FinStrZG) (zur schwedischen Initiative) ein- und ausgehende Ersuchen nur im Zusammenhang mit vorsätzlichen Finanzvergehen zu. Grob fahrlässige Finanzvergehen und Finanzordnungswidrigkeiten sind explizit ausgenommen. Bei Ermittlungen wegen des Verdachts auf grob fahrlässige Finanzvergehen oder Finanzordnungswidrigkeiten muss derzeit auf die Europäische Ermittlungsanordnung zurückgegriffen werden, was das Verfahren verkompliziert und aufwändig macht. Es ist zu begrüßen, dass mit der Anpassung des § 5 FinStrZG die zwischenstaatliche Zusammenarbeit vereinfacht und die bloße Einholung vorhandener Informationen (sehr oft bloße Wohnsitzabfragen) auch bei Verdacht auf Finanzordnungswidrigkeiten oder auf ein Fahrlässigkeitsdelikt ermöglicht wird. In den Erläuterungen wird zutreffend ausgeführt, dass gerade zu Beginn finanzstrafrechtlicher Ermittlungen die Zuordnung zu einem bestimmten Tatbestand und die Feststellung, dass es sich um ein vorsätzliches Finanzvergehen handelt, nicht immer möglich ist.19 Zusätzlich müssen künftig die Kriterien der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit erfüllt sein.

4.CESOP-Umsetzungsgesetz 2023

4.1.Unionsrechtliche und innerstaatliche Umsetzung

Das EU-Mehrwertsteuersystem (basierend auf der MwStSyst-RL aus dem Jahr 200620) ist bekanntlich betrugsanfällig. Zur Bekämpfung des

16 BGBl I 2016/26.

17 Siehe Köck, ZWF 2021, 238 (239); fast gleichlautend ErlME 264/ME 27. GP, 44.

18 Vgl Köck, ZWF 2021, 238 (240).

19 ErlME 264/ME 27. GP, 44.

20 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. 11. 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl L 347 vom 11. 12. 2006, S 1.

141 ZWF 3/2023 Finanzstrafrecht AbgÄG 2023 und CESOP-Umsetzungsgesetz 2023

EU-Mehrwertsteuerbetrugs im elektronischen Geschäftsverkehr wurde die MwStSyst-RL durch die Richtlinie (EU) 2020/28421 im Hinblick auf die Einführung bestimmter Anforderungen für Zahlungsdienstleister geändert. Mithilfe der Zahlungsinformationen soll der Umsatzsteuerbetrug besser bekämpft werden können. Die Zahlungsinformationen sollen (von den Mitgliedstaaten übermittelt) in einer europäischen Datenbank, dem Central Electronic System of Payment Information (CESOP), zentralisiert gespeichert, aggregiert und mit anderen europäischen Datenbanken abgeglichen sowie den Betrugsbekämpfungsexperten über Eurofisc für eine weitergehende Analyse zur Verfügung gestellt werden.22

In innerstaatlicher Umsetzung normiert der Ministerialentwurf die Einführung des § 18a UStG. § 18a Abs 1 UStG verpflichtet Zahlungsdienstleister,23 in Bezug auf grenzüberschreitende Zahlungen hinreichend detaillierte Aufzeichnungen über Zahlungsempfänger und Zahlungen in Bezug auf die von ihnen in jedem Kalendervierteljahr erbrachten Zahlungsdienste zu führen, aufzubewahren und zu übermitteln.24

4.2.Neue Finanzordnungswidrigkeit

Nach dem Ministerialentwurf soll gemäß § 49e FinStrG die Verletzung der in § 18a UStG geregelten Pflichten als Finanzordnungswidrigkeit25 geahndet werden: § 49a Abs 1 Z 1 FinStrG erfasst die Verletzung der Pflicht zur Führung von Aufzeichnungen. § 49a Abs 1 Z 2 FinStrG erfasst Verstöße gegen die Übermittlungspflicht (Nichtübermittlung, nicht richtige, nicht vollständige, nicht rechtzeitige Übermittlung). § 49a Abs 1 Z 3 FinStrG erfasst Verstöße gegen die Berichtigungs- und Vervollständigungspflicht. §49a Abs1 Z 4 FinStrG erfasst Verstöße gegen die Aufbewahrungspflicht.26

Als Sanktion ist bei vorsätzlichem Verhalten eine Geldstrafe von bis zu 50.000 € vorgesehen, bei grob fahrlässigem Verhalten eine Geldstrafe von bis zu 25.000 €.

Wirft man einen Blick über die Grenze nach Deutschland, so erkennt man freilich, dass § 26a Abs 2 Nr 8 bis 10 dUStG für (ähnlich ausgestaltete) Verletzungen (Ordnungswidrigkeiten) des § 22g dUStG (= besondere Pflichten für Zahlungsdienstleister) ein Bußgeld von lediglich bis zu 5.000 € vorsieht.

21 Richtlinie (EU) 2020/284 des Rates vom 18. 2. 2020 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG im Hinblick auf die Einführung bestimmter Anforderungen für Zahlungsdienstleiter, ABl L 62 vom 2. 3. 2020, S 7.

22 Vgl ausführlich Wild, Mehrwertsteuerbetrug: Die neue EU-Meldepflicht für Zahlungsdienstleister, SWI 2022, 611; ErlME 263/ME 27. GP, 1; vgl auch die (Online-)Informationen aus dem deutschen Bundeszentralamt für Steuern.

23 Als solche gelten (nach den EU-Richtlinien) Kreditinstitute, E-Geld-Institute, Postcheckämter, Zahlungsinstitute und bestimmte gewerblich ausgeübte Zahlungsdienste (Wild, SWI 2022, 611 [612]).

24 Vgl ausführlich die ErlME 263/ME 27. GP, 1 ff.

25 Eine Finanzordnungswidrigkeit ist ein Finanzvergehen minderer Schwere.

26 ErlME 263/ME 27. GP, 5.

Die Möglichkeit einer (strafaufhebend wirksamen) Selbstanzeige besteht gemäß § 49e Abs 4 FinStrG nur innerhalb eines Jahres ab Erkennen der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit.

Das Inkrafttreten ist mit 1. 1. 2024 vorgesehen.

5.Fazit und Ausblick

Abschließend ist festzuhalten, dass die Ministerialentwürfe zum AbgÄG 2023 und zum CESOPUmsetzungsgesetz 2023 durchwegs notwendige, sinnvolle und gelungene Änderungen des Finanzstrafrechts vorsehen. De lege ferenda sind weitere legistische Anpassungen zu empfehlen, zB im Bereich der Krypto-Assets (etwa, um eine Sicherstellung/Beschlagnahme derselben im verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren zu ermöglichen).27 De lege ferenda ist auch die legistische Klarstellung in § 31 Abs 4 lit b FinStrG zu fordern, dass Verfolgungshandlungen der Finanzstrafbehörde in gerichtlichen Verfahren verjährungshemmende Wirkung zukommt. Mittelfristig wird sich die Finanzverwaltung und der (Finanzstraf-)Gesetzgeber auch mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) intensiver auseinandersetzen müssen.28 Es lohnt sich, zB darüber nachzudenken, inwieweit vollautomatisierte – auf KI basierende – Entscheidungen im grundrechtssensiblen Bereich des Finanzstrafrechts möglich sind.29 Zudem sollte diskutiert werden, wie dies gegebenenfalls legistisch umgesetzt werden könnte.

▶ Auf den Punkt gebracht

Der Ministerialentwurf zum AbgÄG 2023 sieht vor, den Begriff des „Schwachsinns“ durch den Begriff der „geistigen Behinderung“ zu ersetzen. Außerdem soll die Verjährungsfrist für besonders schwere Finanzvergehen auf zehn Jahre verlängert werden. Der Ministerialentwurf normiert weiters eine Anhebung der Grenzen für die Gerichtszuständigkeit auf 150.000 € (bzw 75.000 € für Zolldelikte). Eingeführt wird ein Verfolgungshindernis bei unzulässiger Tatprovokation (Lockspitzel). Zudem soll durch eine Änderung des § 5 FinStrZG die zwischenstaatliche Zusammenarbeit erleichtert werden. Der Ministerialentwurf zum CESOP-Umsetzungsgesetz 2023 beinhaltet eine neue Finanzordnungswidrigkeit (§ 49e FinStrG).

27 Siehe dazu ausführlich Köck, Die Sicherstellung von Krypto-Assets im Finanzstrafverfahren, ZWF 2023, 84.

28 Zutreffend Hacker, Funktionsweise der modernen digitalisierten Finanzverwaltung, in Leitner/Brandl (Hrsg), Finanzstrafrecht 2021 (2022) 1 (12).

29 Zu dieser Frage siehe ausführlich Köck, Vollautomatisierte Strafentscheidungen im Finanzstrafrecht? ZWF 2022, 260. Zur Ahndung einfacher Sachverhalte zB die nicht rechtzeitige Übermittlung von Informationen durch Zahlungsdienstleister nach § 49e Abs 1 Z 2 FinStrG.

Finanzstrafrecht AbgÄG 2023 und CESOP-Umsetzungsgesetz 2023 142 3/2023 ZWF

Die Finanzpolizei als Kriminalpolizei?

Es hat sich zwar bereits seit Jahren als Institution bewährt, dass die Organe der Finanzpolizei (auch) als Organe der gerichtlichen Strafverfolgung tätig sind, die konkrete Ausgestaltung dieser Aufgabenwahrnehmung macht allerdings eine genauere Betrachtung erforderlich. In diesem Beitrag werden die Organstellung, die Aufgabenstellungen und die damit verbundenen Berechtigungen untersucht.

1.Die Sozialbetrugsbekämpfung im Wandel

Mit dem Sozialbetrugsgesetz (SozBeG)1 wurde bereits im Jahr 2004 die Rolle der Vorläuferorganisation der Finanzpolizei, die Kontrolle illegaler Ausländerbeschäftigung (KIAB), als Strafverfolgungseinheit erstmals festgelegt. Gleichzeitig wurden in Art III SozBeG die Ermittlungsbefugnisse determiniert. Nur unter bestimmten Voraussetzungen2 durften die Organe der KIAB eigenständige Ermittlungen beginnen. Bei diesen Ermittlungen verfügten die Ermittlungsorgane zwar über die Befugnisse der Kriminalpolizei – auch wenn dies noch nicht ausdrücklich im Gesetz normiert war –, die Gesamtbefugnisse waren aber, insbesondere aufgrund der eingeschränkten Anfangsermittlungsbefugnisse, noch recht weit von den umfassenden Ermittlungsbefugnissen der Kriminalpolizei entfernt. Allerdings wurde bereits damals die Befugnis zur strafrechtlichen Ermittlung gemäß der StPO um die Befugnisse des § 197 Abs 3 bis 5 FinStrG erweitert.

Mit dem Sozialbetrugsbekämpfungsgesetz (SBBG)3 wurde schließlich 2015 der kriminalstrafrechtliche Ermittlungsbereich der Finanzpolizei deutlich erweitert und eine Ermittlungspflicht bei jedwedem Anfangsverdacht festgelegt. Erstmals wurde auch unmissverständlich die Rolle als Strafverfolgungsbehörde (arg: im Dienste der Strafrechtspflege [Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG]) definiert und eine kriminalpolizeiliche Befugnis in § 6 Abs 2 SBBG ausdrücklich festgelegt: „[…] haben die in der Strafprozessordnung den Sicherheitsbehörden zukommenden Aufgaben und Befugnisse […] wahrzunehmen“. Eine wortidente Bestimmung findet sich seit dem Jahr 2022 in § 28c Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG),4 wobei diese Bestimmung mit 1. 10. 20225 in Kraft getreten ist. Die neuen Zuständigkeitsbestimmungen des § 28c Abs 5 und 6 AuslBG ermöglichen es der Finanzpolizei, auch dann als Er-

1 BGBl I 2004/152 vom 30. 12. 2004.

2 Nämlich im Rahmen von Prüfungen gemäß §§ 86 und 89 EStG, bei denen ein entsprechender Verdacht hervortritt.

3 BGBl I 2015/113 vom 13. 8. 2015.

4 BGBl I 2022/106 vom 6. 7. 2022.

5 § 34 Abs 55 AuslBG.

mittlungsbehörde tätig zu werden, wenn die Tathandlungen bereits vor dem Tag des Inkrafttretens gesetzt wurden.

Damit wird die Finanzpolizei als Organ des Amts für Betrugsbekämpfung aufgrund der besonderen Organisationsnorm des § 3 Z 2 lit h ABBG in bestimmten Delikten der StGB (§§153c bis e StGB) sowie im Nebenstrafrecht AuslBG als Strafverfolgungsbehörde tätig und nimmt dabei die Befugnisse der Kriminalpolizei unter zusätzlicher Wahrnehmung von Sonderbestimmungen des FinStrG6 wahr.

2.Kriminalpolizei versus Strafverfolgungsbehörde Der Begriff Kriminalpolizei ist in der StPO definiert als Aufgabenbereich der Sicherheitsbehörde,7 wobei sich Einrichtung und Gliederung nach den Bestimmungen des Sicherheitspolizeigesetzes (SPG) richtenn, auch wenn polizeiliche Aufklärungen im Dienste der Strafjustiz nicht zur Sicherheitspolizei iSd § 2 Abs 2 SPG zu zählen sind.8 Aufgrund der vorgenannten Regelungen ist daher klar, dass die Finanzpolizei nicht Kriminalpolizei ist, obwohl sie „im Dienste der Strafverfolgung“ und daher als Strafverfolgungsbehörde tätig wird. Sie hat allerdings „die in der Strafprozessordnung den Sicherheitsbehörden zukommenden Aufgaben und Befugnisse“ wahrzunehmen und wird damit „funktionell“ als Kriminalpolizei im Ermittlungsverfahren tätig. Dennoch hat diese Unterscheidung wesentliche Konsequenzen: So können zur Anzeige verpflichtete Behörden oder öffentliche Dienststellen aufgrund der ausdrücklichen Anordnung des § 78 StPO ihre Anzeigeverpflichtung wohl nicht durch eine Mitteilung an die Finanzpolizei erfüllen. § 6 SBBG und § 28c AuslBG verpflichten und berechtigen nämlich die Organe des Amts für Betrugsbekämpfung und sohin die Finanzpolizei zu bestimmten Ermittlungen samt Befugnissen, ändern aber wohl nicht deren Funktion zur „Kriminalpolizei“ iSd § 18 StPO im Außenverhältnis zu Dritten.

6 Zur Wirkungsweise dieser Verweise auf das FinStrG vgl Lehner, Der Nachschau- und Prüfungsauftrag gemäß §99 FinStrG, ZWF 2021, 66.

7 § 18 Abs 2 StPO.

8 Hauer/Keplinger, SPG4 (2011) 77; VwGH 21. 6. 2006, 2003/01/0596.

HR Wilfried Lehner, MLS ist Leiter der Finanzpolizei im Amt für Betrugsbekämpfung sowie Vortragender an der Bundesfinanzakademie und an mehreren Hochschulen.

143 ZWF 3/2023 Finanzstrafrecht Die Finanzpolizei als Kriminalpolizei?
Finanzstrafrecht Die Finanzpolizei als Kriminalpolizei?

Kriminalpolizei Finanzpolizei als Organ der Strafverfolgung

Strafverfolgungsbehörde Ja Ja

Befugnis zur eigenständigen Ermittlung eines Anfangsverdachts

Beauftragungsmöglichkeit durch die Staatsanwaltschaft

Ja Ja

Ja Für Delikte gemäß §§ 153c bis e StGB, § 28c AuslBG

Berichtspflichten gemäß § 100 StPO Ja Ja

Rechtsschutz Auftrag der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts

Beschwerde gemäß § 106 StPO Beschwerde gemäß § 106 StPO

Ohne Auftrag Maßnahmenbeschwerde

Art 130 Abs 1 Z 2 B-VG LVwG

Maßnahmenbeschwerde

Art 130 Abs 1 Z 2 B-VG BFG (gegebenenfalls LVwG)

Privatbeteiligtenrechte Nein Bei Delikten gemäß §§ 153c bis e StGB

Anzeigebefugnis von Behörden und Dienststellen gemäß §78 StPO

Ja (neben Staatsanwaltschaft)

Nein

Behörde im Sinne der tätigen Reue gemäß § 167 StGB Ja Ja

Ermittlungsbefugnisse gemäß § 197 Abs 3 bis 5 FinStrG

Zwar wird die Finanzpolizei aufgrund der Ermittlungspflicht bei einem Anfangsverdacht regelmäßig auch auf formlose Mitteilungen, die eine konkreten Verdachtslage zu begründen vermögen, mit dem Start einer Ermittlung reagieren.9 Der formalen Anzeigeverpflichtung für Behörden gemäß § 78 StPO wird mit einer derartigen Mitteilung in der Regel aber nicht entsprochen. Dafür spricht schon die rein sprachliche Differenzierung von „Kriminalpolizei“ einerseits und Organen, die „im Dienste der Strafrechtspflege (Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG) tätig werden und denen die in der Strafprozessordnung den Sicherheitsbehörden zukommenden Aufgaben und Befugnisse zukommen“. Hätte der Gesetzgeber alle Aufgaben übertragen wollen, hätte er wohl bestimmt, dass die Organe des Amts für Betrugsbekämpfung „als Kriminalpolizei tätig“ werden.

Auch praktische Überlegungen sprechen für eine Differenzierung von ermittlungsbefugten

Organen und Kriminalpolizei: Während ermittlungsbefugte Organe10 nur für bestimmte De-

9 Vgl § 2 Abs 1 StPO.

10 Das sind neben der Finanzpolizei gemäß § 28c AuslBG und §§ 153c bis e StGB zB auch die Organe der Zollverwaltung gemäß § 7 Abs 8 Artenhandelsgesetz (ArtHG).

Nein Ja

liktsgruppen eine Ermittlungszuständigkeit entfalten, kommt der Kriminalpolizei eine umfassende Prüfverpflichtung11 auf Bestehen eines Anfangsverdachts aller Offizialdelikte zu.

Die Anzeigeberechtigung des § 80 StPO als Jedermannsrecht12 erscheint in diesem Sinne hingegen unproblematisch, da mit der Ermittlungsplicht jedenfalls der angestrebte Zweck des Anzeigers erfüllt wird und diesem auch keine gesetzlichen Formalpflichten auferlegt werden.

Gleiches dürfte auch für die Berechtigungen des § 5 SBBG zum Datenaustausch zwischen den Kooperationsstellen13 gelten. Die dort statuierten Informationspflichten, die über die Datenbank zu erfolgen haben, dienen der Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Kooperationsstellen14 und ersetzen damit nicht die förmliche Anzeigepflicht gemäß § 78 StPO. Zwar ließe sich argumentieren, dass auch die Staatsanwaltschaft als Adressat in Abs 1 leg cit genannt ist und daher eine Mitteilung im Wege der Datenbank als

11 Schwaighofer in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 80 Rz 5.

12 Vgl Schwaighofer in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 80 Rz 2.

13 Als Kooperationsstellen gelten gemäß § 3 Abs 2 SBBG das Amt für Betrugsbekämpfung und die Abgabenbehörden, der Träger der Krankenversicherung, die Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse, die Insolvenz-Entgelt-Fonds-Service GmbH und die Sicherheitsbehörden.

14 Vgl § 5 Abs 1 SBBG.

Finanzstrafrecht Die Finanzpolizei als Kriminalpolizei? 144 3/2023 ZWF
Tabelle 1: Kriminalpolizei versus Strafverfolgungsbehörde 3.Anzeigepflicht der Behörden gemäß § 78 StPO

Mitteilung an die Staatsanwaltschaft zu werten sei. Schon deren Fehlen in der Auflistung der Kooperationsstellen macht aber deutlich, dass die Staatsanwaltschaften in dieser Kommunikation eine Sonderstellung einnehmen.

Auch die Erläuterungen zum ME zum SBBG sprechen von einem „raschen und unbürokratischen Datenaustausch zwischen den Kooperationsstellen und den Staatsanwaltschaften“ 15 Allerdings geht diese Diktion offenkundig von einem bereits bestehenden Verdachtsfall aus, da ja jedwede Eingabe in diese Datenbank einen bereits vorliegenden Verdacht (arg: haben bei Vorliegen eines Sozialbetrugsverdachts) voraussetzt und die Kommunikation in der Regel von den Ermittlungsbehörden Kriminalpolizei und Finanzpolizei mit der Staatsanwaltschaft erfolgt. Auch die Bestimmung des § 4 Abs 2 SBBG, die eine möglichst frühzeitige Meldeverpflichtung von Sozialbetrugsverdachtsfällen an die Kooperationsstellen vorsieht, kann mE nicht als Ersatz für die Anzeigepflicht gemäß § 78 StPO uminterpretiert werden, zumal auch die Erläuterungen zum ME festhalten, dass durch die Bestimmung keine neuen Zuständigkeiten (und damit wohl auch keine Anzeigeverpflichtungen ersetzt werden) und auch „keine neuen Befugnisse zur Datenübermittlung geschaffen“ werden. Vielmehr zielt die Neuregelung des SBBG darauf ab, dass die Einrichtungen „zu mehr Zusammenarbeit und Aufmerksamkeit im Hinblick auf Sozialbetrug verpflichtet“ werden.16

4.Kriminalpolizei und Rechtsschutz

Seit 201517 besteht (wieder) ein einheitliches Rechtsschutzsystem, das kriminalpolizeiliche Zwangsakte, die mit gerichtlicher oder staatsanwaltschaftlicher Anordnung vorgenommen wurden, ausschließlich der Entscheidungsbefugnis der Gerichtsbarkeit unterwirft. In diesen Fällen liegen Akte der Gerichtsbarkeit gemäß Art 90a B-VG vor, die einen Einspruch gemäß §106 StPO ermöglichen und von den Strafgerichten meritorisch zu erledigen sind.18 Allerdings wird bei offenkundigen Überschreitungen der staatsanwaltschaftlichen Anordnung durch die Behörden (Exzess) ein der Verwaltung zuzurechnendes Organhandeln anzunehmen sein.19 Kriminalpolizeiliche Zwangsakte, die ohne gerichtliche oder staatsanwaltschaftliche Anordnung vorgenommen wurden, unterliegen vollinhaltlich der Überprüfung der Verwaltungsgerichte gemäß Art 130 Abs 1 Z 2 B-VG.

Eine Differenzierung von Kriminalpolizei und sonstigen befugten Organen ist sohin grundsätzlich nicht vorzunehmen. Aufgrund der Sonderregelung des § 1 Abs 3 Z 2 BFGG zur Zuständigkeit des BFG ergeben sich jedoch besondere

15 ME 124 25. GP, 3.

16 ME 124 25. GP, 2.

17 VfGH 30. 6. 2015, G 233/2014.

18 Reindl-Krauskopf, UVS oder Strafjustiz: Wer kontrolliert die Kriminalpolizei? JBl 2011, 345 (347).

19 VfGH 20. 9. 2012, B 1233/11.

Problemstellungen. Während diese einfachgesetzliche Regelung sämtliche Maßnahmenbeschwerden der Organe des Amts für Betrugsbekämpfung – damit auch der Organe der Finanzpolizei im Zuständigkeitsbereich des § 6 SBBG –der Kognitionsbefugnis des BFG unterstellen will, regelt Art 131 Abs 3 B-VG, dass nur jene Maßnahmenbeschwerden der Zuständigkeit des BFG unterliegen sollen, soweit die genannten Angelegenheiten unmittelbar von den Abgabenoder Finanzstrafbehörden des Bundes besorgt werden. Da für Aufgaben der Strafverfolgung iSd § 3 Z 2 lit h ABBG die Finanzpolizei aber weder als Organ der Abgabenbehörde noch als Organ der Finanzstrafbehörde tätig wird, dürfte sich diese Regelung als verfassungswidrig erweisen.20

5.Kriminalpolizei und tätige Reue Völlig anders ist diese Differenzierung von Kriminalpolizei und sonstigen befugten Organen unter dem Blickwinkel der tätige Reue gemäß §167 StGB zu bewerten: Die strafaufhebende Wirkung ua auch für das betrügerische Anmelden zur Sozialversicherung oder zur Bauarbeiter-, Urlaubs- und Abfertigungskasse (BUAK) wird nämlich nur vor Kenntnis der „Behörde“ zuerkannt. Behörde im Sinne des § 167 StGB ist infolge des Verweises auf § 151 Abs 3 StGB nur eine zur Strafverfolgung berufene Behörde in dieser ihrer Eigenschaft.21 Eben diese Eigenschaft als Strafverfolgungsbehörde kommt aber der Finanzpolizei gemäß 6 Abs 2 SBBG und §28c Abs 6 AuslBG zu.

Die Kenntniserlangung der Behörde (arg: bevor die Behörde vom Verschulden des Täters erfahren hat) erfordert, dass dort Informationen vorliegen, die einen konkreten Anhaltspunkt dafür bieten, dass ein bestimmter Täter diese Straftat begangen hat. Dabei kommt es auch nicht auf die Einleitung des Verfahrens an – also nicht etwa den Beginn des Strafverfahrens gemäß § 1 Abs 2 StPO. Sogar im Fall einer noch nicht erkannten Bedeutung von tatsächlich vorliegenden Verdachtsmomenten wäre ein Erfahren vom Verschulden des Täters durch die Behörde bereits anzunehmen.22 Auch eine Selbstanzeige samt Erlag gemäß § 167 Abs 3 StGB kann hinsichtlich des Delikts des § 153d StGB bei der Finanzpolizei erfolgen. Diesfalls müsste nicht nur der Täter der Behörde sein Verschulden offenbaren, sondern auch die nicht entrichteten Sozialversicherungs- bzw BUAK-Beiträge übergeben oder zumindest dem Geschädigten die unverzügliche Empfangnahme des Schadenersatzbetrags sichern.23

Bei scheinbarer Konkurrenz eines reuefähigen Vermögensdelikts mit einem verdrängten

20 Im Detail sieh dazu Lehner, Die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte bei Maßnahmenbeschwerden gegen Amtshandlungen der Finanzpolizei, SWK 15/2021, 887.

21 Kirchbacher/Ifsits in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 167 Rz30.

22 OGH 20. 12. 1977, 9 Os 158/77.

23 Kirchbacher/Ifsits in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 167 Rz127.

145 ZWF 3/2023 Finanzstrafrecht Die Finanzpolizei als Kriminalpolizei?

Delikt, das nicht in § 167 StGB genannt ist (etwa weil es kein Vermögensdelikt ist), bewirkt rechtzeitige, freiwillige und vollständige Schadensgutmachung zwar Straflosigkeit in Bezug auf das reuefähige Vermögensdelikt, zugleich aber auch das Aufleben der Strafbarkeit wegen des bis dahin verdrängten Delikts.24 Insbesondere die Delikte des § 28c Abs 1 und 2 AuslBG, die aufgrund der Sonderbestimmung des Abs 4 leg cit zurücktreten, sofern die Tat nach anderen Bestimmungen mit gleicher oder strengerer Strafe bedroht ist, könnte – in Tateinheit mit § 153d StGB begangen – wiederaufleben.

▶ Auf den Punkt gebracht

Auch wenn die Unterscheidung von „Kriminalpolizei“ und „im Dienste der Strafrechtspflege tätigen Organen“ marginal erscheinen mag, so ergeben sich in der Analyse doch einige Differenzierungen, die für die Praxis relevant sein können. Insbesondere die Frage der Entgegennahme von Anzeigen gemäß §78 StPO, die im Detail unterschiedlichen Ermittlungsbefugnisse im Zusammenhang mit dem Verweis auf §197 FinStrG und die Privatbeteiligtenstellung machen eine Unterscheidung erforderlich.

Nemo tenetur im Lichte des deutschen Besteuerungsund Steuerstrafverfahrens

Melina Strunk

Der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare) zählt in Deutschland und Österreich zu den rechtsstaatlichen Verfahrensgrundrechten.1 Im deutschen Besteuerungsverfahren unterliegt der Steuerpflichtige jedoch Erklärungs- und Mitwirkungspflichten gegenüber den Finanzbehörden, die ohne dessen Mitwirkung nicht in der Lage sind, die steuerliche Bemessungsgrundlage zu ermitteln. Für den Steuerpflichtigen entsteht daraus folgendes Problem: Kommt er seinen abgabenrechtlichen Mitwirkungspflichten nach, macht er die Behörden auf seine Straftat aufmerksam und überführt sich entgegen dem Nemo-tenetur-Grundsatz selbst.2 Kommt er seinen Mitwirkungspflichten nicht nach, hat dies im Besteuerungsverfahren nachteilige Konsequenzen für ihn. Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob und wie die steuerlichen Erklärungs- und Mitwirkungspflichten im deutschen Recht mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz zu vereinbaren sind. Im Anschluss erfolgt ein vergleichender Einblick in die österreichische Rechtslage.

1.Verfassungs- und völkerrechtliche Stellung des Nemo-teneturGrundsatzes

Das Recht eines Beschuldigten, nicht verpflichtet zu sein, gegen sich selbst Zeugnis abzulegen, ist in Deutschland und Österreich ein anerkannter Grundsatz des rechtsstaatlichen Strafprozesses.3 Der Nemo-tenetur-Grundsatz umfasst das Recht des Beschuldigten, im Strafverfahren frei darüber zu entscheiden, ob er von seinem Schweigerecht Gebrauch macht oder sich zu einem Tatvorwurf äußert.4 Er kann Auskünfte, Aussagen und die Herausgabe von Beweismitteln verweigern, wenn diese zu seiner Überfüh-

1

2 Vgl § 40 AO.

1431, 1432.

3 BVerfG 27. 4. 2010, 2 BvL 13/07, BeckRS 2010, 50089, Rz 2; 13. 1. 1981, BvR 116/77, NJW 198, 1431, 1432.

4 BVerfG 27. 4. 2010, BvL 13/07, BeckRS 2010, 50089, Rz2.

rung beitragen.5 Offenbart der Beschuldigte strafbare Handlungen, darf seine Aussage nicht gegen seinen Willen in einem Strafverfahren gegen ihn verwertet werden.6

1.1.Völker- und Unionsrecht

Art 14 Abs 1 lit g Internationaler Pakt für staatsbürgerliche und politische Rechte (IPbpR) benennt den Grundsatz nemo tenetur ausdrücklich. Der Beschuldigte darf „nicht gezwungen werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen“. Im Unionsrecht findet er sich im Recht zur Verteidigung nach Art 48 Abs 2 GRC wieder. Daneben ist er auch Art 6 Abs 1 EMRK zu entnehmen. Dieser normiert das Recht auf ein faires Verfahren und

5 Buchholz, Der nemo-tenetur-Grundsatz (2018) 319.

6 BVerfG 13. 1. 1981, 1 BvR 116/77, NJW 1981, 431, 1431; Buchholz , nemo-tenetur-Grundsatz, 13; Heinz, Steuerrechtliche Mitwirkungspflichten und der Nemotenetur-Grundsatz (2017) 20.

Blick über die Grenze Nemo tenetur im Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren 146 3/2023 ZWF
Blick über die Grenze
24 Burgstaller, Die Scheinkonkurrenz im Strafrecht, JBl 1978, 459 (466). Melina Strunk, LL.M. ist Doktorandin am Lehrstuhl für öffentliches Recht unter Berücksichtigung europäischer und internationaler Bezüge der Universität Siegen/ Deutschland.
BVerfG 27. 4. 2010, 2 BvL 13/07, BeckRS 2010, 50089, Rz 2; 13. 1. 1981, BvR 116/77, NJW 198,

enthält Grundsätze für zivil- und strafrechtliche Verfahren. Der Beschuldigte ist hiernach kein Objekt der Entscheidungsfindung, sondern ein Subjekt, ausgestattet mit eigenen Rechten.7

Der EGMR bezeichnet das Recht, nicht zur eigenen Beschuldigung beizutragen, als Kernstück des von Art 6 Abs 1 EMRK garantierten fairen Verfahrens.8 Im deutschen und österreichischen Recht sind der IPbpR und die EMRK sowie ihre Zusatzprotokolle als völkerrechtliche Verträge im Rang einfacher Bundesgesetze9 bei der Auslegung des nationalen Rechts zu berücksichtigen.10 Insofern genießt der Nemo-teneturGrundsatz in beiden Rechtsordnungen Verfassungsrang.11

1.2.Deutsches Grundgesetz

Der Grundsatz nemo tenetur wird im deutschen Grundgesetz (GG) nicht ausdrücklich geregelt. Er wird hingegen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 GG), der Meinungsfreiheit (Art 5 Abs 1 GG), dem Recht auf Gehör (Art 103 GG), der Menschenwürde (Art 1 Abs 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG) entnommen.12

Im Jahr 1981 entschied das Bundesverfassungsgericht im „Gemeinschuldnerbeschluss“, dass Folgen einer erzwungenen Auskunft als Eingriff in die Handlungsfreiheit und Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts gemäß Art 2 Abs 1 GG zu werten seien. Auch sei der Grundsatz als selbstverständlicher Ausdruck einer rechtsstaatlichen Grundhaltung anzuerkennen, der auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhe, sodass das Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde des Beschuldigten dem allgemeinen Strafverfolgungsinteresse vorgehen.13

1.3.Deutsches Strafrecht

Der Nemo-tenetur-Grundsatz findet sich auch in den §§ 136 Abs 1 Satz 2 und 136a dStPO wieder.14 § 136 Abs 1 Satz 2 dStPO verpflichtet die Strafverfolgungsbehörden, den Beschuldigten darauf hinzuweisen, dass es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zur Beschuldigung zu äußern

7 Valerius in Graf , Beck’scher Online-Kommentar zur StPO mit RiStBV und MiStra (2017) Art 6 EMRK, Rn1f, 9.

8 EGMR 3. 5. 2002, J.B. gg Schweiz, Bsw 31827/96.

9 BVerfG 26. 3. 1987, 2 BvR 589/79, 2 BvR 740/81, 2 BvR 284/85, BVerfGE 74, 358, 370; 15. 12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1295; BGB1 II 1973, 1533, ausgegeben am 17. 12. 1973.

10 BVerfG 4. 5. 2011, 2 BvR 2365/09 ua, BVerfGE 128, 326, 366 f; 4. 5. 2011, 2 BvR 2365/09, NJW 2011, 1931.

11 BVG BGB1 1964/59.

12 Bernhard/Kretschmer in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen , StGB 5 (2017) § 142 Rz 19; Heinz , Mitwirkungspflichten, 20; Talaska, Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen im Spannungsfeld von Besteuerungs- und Strafverfahren (2006) 33; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht 14 (2018) § 7 Rz 8; Joecks in Franzen/Gast/ Joecks, Steuerstrafrecht6 (2014) § 393 Rz 8.

13 BVerfG 27. 4. 2010, BvL 13/07; 13. 1. 1981, 1 BvR 116/ 77 (Gemeinschuldnerbeschluss).

14 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht14, § 7 Rz 8.

oder nicht zur Sache auszusagen. Die in § 136 Abs 1 Satz 2 AO geregelte Belehrungspflicht wird in § 136a Abs 1 dStPO durch ein Zwangsmittelverbot ergänzt.15 Interventionen in die Willensbildung des Beschuldigten durch Zwang, Täuschung, Drohung und ähnliche Mittel durch sämtliche Staatsorgane16 sind verboten.17 Erzwungene Aussagen unterliegen einem strafprozessualen Verwertungsverbot.18 Während der Beschuldigte nicht zur Aussage gezwungen werden darf, genießt er Aussagefreiheit im rechtsstaatlichen Strafprozess. Eine Lüge bleibt sanktionslos.19

2.Mitwirkungspflichten im deutschen Besteuerungsverfahren

Anders als im Strafverfahren kommen dem Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren umfassende Erklärungs- und Mitwirkungspflichten zu. § 88 AO verpflichtet die Finanzbehörde von Amts wegen, den Sachverhalt im Besteuerungsverfahren zu ermitteln.20 Da die Besteuerung aber an Vorgänge aus dem Leben des Steuerpflichtigen knüpft, über die nur er selbst informiert ist,21 ist die Finanzbehörde bei den Sachverhaltsermittlungen auf die „kooperative Arbeitsteilung“22 mit dem Steuerpflichtigen angewiesen.23

2.1.Mitwirkungspflichten nach § 90 AO

Als Generalnorm enthält § 90 Abs 1 AO die allgemeinen Pflichten des Steuerpflichtigen, bei der Sachverhaltsermittlung aktiv und unaufgefordert mitzuwirken sowie vollständige und wahrheitsgemäße Angaben an die Finanzbehörde zu entrichten.24 Explizite Erklärungs- und Mitwirkungspflichten werden in Einzelsteuergesetzen konkretisiert. Dazu gehört etwa die Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen nach den §§ 149 Abs 1 Satz 1 und 150 AO oder die Pflicht zur Führung von Büchern und Aufzeichnungen nach den §§ 4 f dEStG iVm §§ 140 f AO.25 Die Reichweite der Erklärungspflichten erstreckt sich gemäß § 90 Abs 1 Satz 2 AO auf alle Tatsachen, die im Besteuerungsverfahren bedeutsam sind. Dazu zählen nach § 40 AO auch strafbare Handlungen, wenn diese den Tatbestand eines Steuergesetzes erfüllen.26

15 Pfeiffer, StPO5 (2004) § 136a Rz 1; Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, StPO59 (2016) § 136a Rz 1.

16 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO59, § 136a Rz 1 f; Diemer in Hannich, Karlsruher Kommentar zur StPO8 (2019) § 136 Rz 3.

17 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht14, § 7 Rz 125.

18 BVerfG 13. 1. 1981, 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431.

19 Diemer in Hannich, Karlsruher Komm StPO8, §§ 136 Rz 10, 136a Rz 1; Pfeiffer, StPO5, § 136 Rz 1; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt , StPO 59 , § 136 Rz 7; Beulke/ Swoboda, Strafprozessrecht14, § 7 Rz 125.

20 Sogenannter Untersuchungsgrundsatz.

21 Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO (2018) § 90 Rz 1.

22 Rätke in Klein, AO14 (2018) § 88 Rz 46.

23 Rätke in Klein, AO14, § 88 Rz 1.

24 Rätke in Klein, AO14, § 90 Rz 5 f.

25 Haselmann in Koenig, AO5 (2023) §§ 140 Rz 1 f, 149 Rz1f.

26 Ratschow in Klein, AO14 (2018) § 40 Rz 1.

147 ZWF 3/2023 Blick über die Grenze Nemo tenetur im Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren

2.2.Verletzung der Mitwirkungspflichten

Verletzt der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflichten, führt dies zu Unsicherheiten in der Sachverhaltsermittlung, was die Finanzverwaltung veranlasst, die Mitwirkung des Steuerpflichtigen mithilfe der in § 328 Abs 1 Satz 1 AO abschließend gelisteten Zwangsmittel zu erwirken.27 Unsicherheiten bei der Sachverhaltsermittlung können auch die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 Abs 2 Satz 1 AO zur Folge haben, was zu nachteiligen Schlüssen zulasten des Steuerpflichtigen führen kann. Lässt der Steuerpflichtige die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis und verkürzt dadurch Steuern oder erlangt einen ungerechtfertigten Steuervorteil, macht er sich auch der Steuerhinterziehung nach § 370 Abs 1 Nr 2 AO schuldig.

3.Mitwirkungspflichten im Strafverfahren

Das Straf- und das Besteuerungsverfahren stehen selbständig und gleichwertig nebeneinander. § 393 Abs 1 Satz 1 AO regelt, dass sich die Rechte und Pflichten des Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde im Besteuerungs- und Strafverfahren nach den jeweils geltenden Verfahrensvorschriften richten. Folglich erstreckt sich der Anwendungsbereich des § 90 AO auf sämtliche Besteuerungsverfahren, sodass der Steuerpflichtige auch nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens zur Mitwirkung im Besteuerungsverfahren verpflichtet ist. Im Strafverfahren ist er hingegen gemäß § 136 dStPO zu keinerlei Mitwirkung verpflichtet. Die Aufgaben der Finanzbehörden ändern sich auch bei strafrechtlichen Ermittlungen der Steuerfahndung nicht. Diese führen weiterhin Ermittlungen im Besteuerungsverfahren durch.28

Ferner modifiziert § 386 AO das Ermittlungsmonopol der Staatsanwaltschaft bei Steuerstraftaten, sodass die Finanzbehörden auch in Steuerstrafverfahren ermittelnd tätig werden. Insofern kommt es in diesen Fällen zu einer Doppelfunktion der Finanzbehörden.29 In diesem Zusammenhang vertritt der BFH die Auffassung, dass steuerrechtliche und steuerstrafrechtliche Ermittlungen, die von ein und demselben Amtsträger durchgeführt werden, zulässig sind. Schließlich seien die Befugnisse der Finanzbehörde in den jeweiligen Verfahren strikt voneinander getrennt. Ob eine strikte Trennung in der Praxis tatsächlich gemäß der Vorstellung des BFH umgesetzt werden kann, ist allerdings zu prüfen.30

4.Konformität der Mitwirkungspflichten mit nemo tenetur

Droht dem Steuerpflichtigen ein Strafverfahren, konterkarieren die Erklärungs- und Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren den Nemo-tenetur-Grundsatz. Kommt der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten ordnungsgemäß nach, deckt er von ihm begangene Straftaten auf, was dem Regelungsziel des Selbstbelastungsverbots widerspricht. Durch eine Falschaussage kann er sich zudem eines neuen Delikts schuldig machen oder wegen Schweigens Zwangsmitteln ausgesetzt werden. Erschwerend ist auch die Doppelfunktion der Finanzbehörde als Ermittlungsbehörde in steuer- und steuerstrafrechtlichen Fällen. Dies und die erzwingbare Mitwirkungspflicht können demnach als Eingriffe in die Handlungsfreiheit und als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts gemäß § 2 Abs 1 GG gewertet werden.31 Es scheint, als wäre die Auflösung des Spannungsfelds zwischen den Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren und dem Grundsatz nemo tenetur nur möglich, wenn der Steuerpflichtige in einem der Verfahren auf Rechtspositionen verzichtet.32 Insofern fragt sich, ob das Gesetz Möglichkeiten bietet, dieses Spannungsfeld aufzulösen.

4.1.Sicherstellung des Selbstbelastungsverbots mit dem Steuergeheimnis nach § 30 AO

Einen Ausweg bietet möglicherweise das Steuergeheimnis nach § 30 AO, das weitreichenden Eingriffen in die Privatsphäre des Bürgers gegenübersteht. Dieses schützt personenbezogene Daten, Geschäftsgeheimnisse und Informationen über die Verhältnisse des Steuerpflichtigen.33 Gemäß Abs 2 leg cit darf die Finanzbehörde im Besteuerungsverfahren bekannt gewordene Tatsachen und Beweismittel nicht an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben.

Indes schützt das Steuergeheimnis nicht lückenlos. Die Finanzbehörde darf die Informationen unter bestimmten Voraussetzungen offenbaren. Dies ist ua geboten, wenn ein zwingendes öffentliches Interesse an einer Datenveröffentlichung besteht. Je nach Auslegung des zwingenden öffentlichen Interesses variiert der Schutzumfang des Steuergeheimnisses. Häufig werden der Staatsanwaltschaft außersteuerliche Straftaten gerade durch Steuerakten bekannt.34

27

27. 4. 2010, 2 BVL 13/07, BeckRS 2010, 50089, Rz 2; BFH 26. 10. 2011, VII R 22/10, BeckRS 2012, 94569.

28 Talaska, Mitwirkungspflichten, 39.

29 Füllsack in Quedenfeld/Füllsack, Verteidigung in Steuerstrafsachen5 (2016) 18 Rz 59; Nossen in Wannemacher & Partner, Steuerstrafrecht6 (2013) Rz 3959; Tormöhlen, Lexikon des Steuerrechts (2018) Rz 1.4.

30 Stahlschmidt, Steuerstrafrecht (2003) 185.

Ähnlich ist es auf europäischer Ebene. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) nimmt Untersuchungsbefugnisse wahr, die der Kommission übertragen wurden und beabsichtigt die Bekämpfung von Betrug, Korruption sowie sonstigen rechtswidrigen Handlun-

31 BVerfG 13. 1. 1981, 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431.

32 Stahlschmidt, Steuerstrafrecht, 186.

33 Rüsken in Klein, AO14 (2018) § 30 Rz 1.

34 Kummer in Wabnitz/Janovski (Hrsg), Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts3 (2007) 1130 Rz 147.

Blick über die Grenze Nemo tenetur im Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren 148 3/2023 ZWF
BVerfG

gen zum Nachteil der Union. Das Amt pflegt eine enge Beziehung zur Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA),35 die sich ua im Informationsaustausch äußert.36 Auch diese Behörden sind bei der Ermittlung zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen auf Unterlagen aus Steuerverfahren angewiesen. In diesen Fällen ist die Weitergabe der Informationen zur Verfolgung außersteuerlicher Straftaten zulässig und verletzt das Steuergeheimnisses nicht.37 Mithin stellt § 30 AO die Durchsetzung des Nemo-tenetur-Grundsatzes im Besteuerungs- und Strafverfahren nicht vollständig sicher.

4.2.Sicherstellung des Selbstbelastungsverbots mit § 393 AO

4.2.1.§ 393 Abs 1 AO

§ 393 Abs 1 Satz 1 AO grenzt die Kompetenzen der Finanzbehörde im Besteuerungs- und Strafverfahren ab.38 Sämtliche Rechte und Pflichten des Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde richten sich im Besteuerungs- und Strafverfahren nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften (§ 393 Abs 1 Satz 1 AO).39 Die Norm soll das allgemeine Strafprozessrecht nicht durch das vermeintlich speziellere Steuerverfahrensrecht verdrängen.40 Vielmehr erwägt die Vorschrift die Möglichkeit eines zeitlich parallelen Ablaufs des Besteuerungs- und Strafverfahrens sowie identischen Amtsträgern der Finanzbehörde, während in den jeweiligen Verfahren unterschiedliche Rechte und Pflichten bestehen.41 Trotz Einleitung eines Steuerstrafverfahrens wird das Finanzamt also nicht daran gehindert, Ermittlungen im Besteuerungsverfahren vorzunehmen.42

§ 393 Abs 1 Satz 2 AO stellt zudem sicher, dass innerhalb des Besteuerungsverfahrens keine Zwangsmittel gegen den Steuerpflichtigen eingeleitet werden dürfen, wenn er Gefahr läuft, sich selbst aufgrund einer von ihm begangenen Steuerstraftat im Steuerstrafverfahren zu belas-

35 Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. 10. 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), ABl L 283 vom 31. 10. 2017, S 1.

36 Verordnung (EU, Euratom) 883/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 9. 2013 über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) 1073/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (Euratom) 1074/1999 des Rates, ABL L 248 vom 18. 9. 2013, S 1, ErwGr 1, 4a.

37 BVerfG 27. 4. 2010, 2 BvL 13/07, BeckRS 2010, 50089, Rz 6.

38 Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht6, § 393 Rz 3; Nossen in Wannemacher & Partner, Steuerstrafrecht6, Rz 3963.

39 Roth in Rolletschke/Kemper, Steuerstrafrecht (2019) § 393 Rz 2; Füllsack in Quedenfeld/Füllsack, Verteidigung in Steuerstrafsachen5, 18 Rz 58; Kutzner, Zwischen Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, NWB 2007, 3765.

40 Nossen in Wannemacher & Partner, Steuerstrafrecht6, Rz 3963.

41 Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht6, § 393 AO Rz 4; Roth in Rolletschke/Kemper, Steuerstrafrecht, § 393 Rz 5; Hadamitzky/Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze I (2019) § 393 Rz 1.

42 Talaska, Mitwirkungspflichten, 39.

ten. So soll der Schutz des Steuerpflichtigen gewährleistet werden, während die Mitwirkungspflichten unberührt bleiben.43 Dies entspricht auch dem Wortlaut des Art 14 Abs 1 lit g IPbpR, der den Beschuldigten ausdrücklich davor schützt, gezwungen zu werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, sowie Art 6 Abs 1 EMRK, der den Beschuldigten nicht als Objekt der Entscheidungsfindung, sondern als Subjekt mit eigenen Rechten betrachtet.

Dagegen sieht das BVerfG im sogenannten „Gemeinschuldnerbeschluss“ keine Verletzung des Nemo-tenetur-Grundsatzes durch den Einsatz von Zwangsmitteln, wenn ein zwingendes Interesse geschädigter Dritter vorliegt. In diesen Fällen sei den Interessen Dritter höheres Gewicht einzuräumen als dem Interesse des Beschuldigten an einem Schutz gegen erzwungene Selbstbezichtigung.44 Dies folgt aus dem Grundsatz, dass Art 2 Abs 1 GG, der in Deutschland als Grundlage des Nemo-tenetur-Prinzips gilt, das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht absolut, sondern nur bis zu den Grenzen der Rechte Dritter gewährleistet. Eine lückenlose Umsetzung des Grundsatzes nemo tenetur würde demnach in Fällen, in denen die Aussage des Beschuldigten notwendig ist, um einen Schaden Dritter abzuwenden, Art 2 Abs 1 GG konterkarieren. Die Befugnis des Staats zu einer solchen Güterabwägung ist jedoch nur zulässig, wenn ein Interesse geschädigter Dritter, nicht aber ein öffentliches Informationsbedürfnis besteht.45 Damit steht die Rechtsprechung des BVerfG dem europäischen Verständnis über den Nemotenetur-Grundsatz nicht entgegen, denn auch die Judikatur des EGMR sieht den Grundsatz nicht als absolutes Recht. Vielmehr ist im Rahmen der Güterabwägung auch das Ausmaß des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung unter Bedachtnahme auf die konkrete Straftat und das vom Täter verwirklichte Unrecht zu berücksichtigen.46 Demnach können gewisse Pflichten zur Auskunft durchaus rechtskonform sein.

Abgesehen von in Ausnahmefällen zulässigen Durchbrechungen des Nemo-teneturGrundsatzes kann die Zulässigkeit von Schätzungen das Zwangsmittelverbot des § 393 Abs 1 Satz 2 AO verletzen.47 Das Finanzamt ist nämlich auch dann zur Schätzung befugt, wenn der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten nicht ordnungsgemäß nachkommt, um sich im Rahmen eines Strafverfahrens nicht selbst zu be-

43 Stahlschmidt, Steuerstrafrecht, 187; Hadamitzky/Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze I, § 393 Rz 3; Tormöhlen, Lexikon des Steuerrechts, Rz 1.4.

44 BVerfG 13. 1. 1981, 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431 (1432).

45 BVerfG 13. 1. 1981, 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431 (1433).

46 EGMR 25. 2. 1993, Funke gg Frankreich, Bsw 82/1991/ 334/407; 8. 2. 1996, Murray gg Vereinigtes Königreich, Bsw 18731/91.

47 Beyer, Steuererklärung nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens? NWB 2019, 673 (674).

149 ZWF 3/2023 Blick über die
Nemo tenetur
Grenze
im Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren

lasten.48 Da Schätzungen unter Umständen nachteilige Schlüsse zulasten des Steuerpflichtigen nach sich ziehen können, entfalten sie eine ähnliche Wirkung wie die Zwangsmittel des §328 Abs 1 Satz 2 AO. Die Schätzung ist allerdings nicht im anerkanntermaßen abschließenden Zwangsmittelkatalog des § 328 Abs 1 Satz 1 AO zu finden, was gegen die Einordnung als Zwangsmittel spricht.49 Die Schätzung soll auf Basis eines Wahrscheinlichkeitsurteils die Höhe der Besteuerungsgrundlage ermitteln und dem tatsächlichen Ergebnis nach Möglichkeiten entsprechen. Auch wenn es sich dabei um eine Beweiserleichterung zugunsten der Finanzbehörde handelt, kann diese nicht nach Belieben schätzen. Das Ergebnis der Schätzung muss wirtschaftlich vernünftig und möglich sein.50 Ziel ist es gerade nicht, den Steuerpflichtigen zur Mitwirkung zu zwingen und Strafschätzungen durchzuführen. Schätzungen mit Sanktionscharakter sind gemäß § 125 AO verboten. Auch wenn die Schätzung negative Folgen für Steuerpflichtige haben kann, ist die bloße Möglichkeit einer nachteiligen Schätzung nicht ausreichend, um diese entgegen dem Wortlaut des § 328 AO als Zwangsmittel zu kategorisieren. Daher ist die Möglichkeit zur Schätzung der Besteuerungsgrundlage nicht als verbotener Zwang zur Selbstbelastung zu werten.51

4.2.2.§ 393 Abs 2 AO

§ 393 Abs 2 AO beinhaltet ein Verwertungsverbot, wonach das Steuergeheimnis auch insoweit gewährleistet werden soll, als der Steuerpflichtige zur Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten Allgemeindelikte offenbart (vgl § 40 AO). Die Angaben muss der Steuerpflichtige vor Einleitung des Strafverfahrens oder in Unkenntnis über dessen Einleitung gemacht haben.52 Joecks bezeichnet das Verwertungsverbot als „von Verfassungswegen geboten“. Denn ein Staat, der neben der Offenlegung persönlicher Verhältnisse auch die Versteuerung gesetzwidriger Einkünfte verlange, müsse auch dafür sorgen, dass die gesetzliche Mitwirkung des Steuerpflichtigen nicht zu strafrechtlichen Nachteilen führe.53 Die Grenze des Verwertungsverbots liegt bei Straftaten, deren Verfolgung von öffentlichem Interesse ist (§ 393 Abs 2 Satz 2 iVm § 30 Abs 4 Nr 5 AO).54 Zudem ist die Weiterleitung der Informationen im Fall von Einnahmen aus Bestechungsgeldern nach § 4 Abs 5 Nr 10 dEStG

48 Rätke in Klein, AO14, § 90 Rz 13.

49 Werth in Klein, AO14 (2018) § 328 Rz 1; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht6, § 393 Rz 29.

50 Beyer, NWB 2019, 673 (677).

51 BFH 9. 12. 2004, III B 83/04; Jäger in Klein, AO14 (2018) § 393 Rz 20, 21; Stahlschmidt , Steuerstrafrecht, 221; Nossen in Wannemacher & Partner, Steuerstrafrecht6, Rz 3978; Tormöhlen, Lexikon des Steuerrechts, Rz 3.

52 Kummer in Wabnitz/Janovski (Hrsg), Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts3 (2007) 1165 Rz 231.

53 Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht6, § 393

AO Rz 7 f.

54 BVerfG 27. 4. 2010, 2 BvL 13/07.

geboten. Insofern stellt die Norm keine lückenlose Einhaltung des Nemo-tenetur-Grundsatzes sicher.55

Daher prüfte das BVerfG, ob § 393 Abs 2 Satz 2 AO mit Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 GG zu vereinbaren ist und entschied, dass gesetzliche Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten den Kernbereich des Selbstbelastungsverbots auch dann nicht verletzen, wenn die Unterlagen zur Ahndung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten verwendet werden dürfen56 – einerseits, weil der Steuerpflichtige durch das Verwertungsverbot vor einer Weitergabe der Informationen an Strafverfolgungsbehörden geschützt sei und andererseits, weil eine Weitergabe der Informationen in Ausnahmefällen dem Prinzip entspreche, dass der Grundsatz nemo tenetur nicht schrankenlos gelte. Insofern folgt das BVerfG seinem Urteil im sogenannten „Gemeinschuldnerbeschluss“, mit dem es die Grenzen des Nemo-tenetur-Grundsatzes bestätigte. Das Prinzip unterscheide die darin vorgesehenen Schutzvorkehrung je nach Rolle der Auskunftsperson und der Zweckbestimmung der Auskunft.57 Auch Art 2 Abs 1 GG gebiete keinen lückenlosen Schutz gegen Selbstbezichtigungen ohne Rücksicht darauf, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigt werden.58

Darüber hinaus seien die Rechte des Gemeinschuldners nicht bereits dadurch verletzt, dass dieser uneingeschränkt zur Aussage verpflichtet sei und dazu durch die Anordnung von Beugemitteln angehalten werden könne.59 Dieser gehöre im Konkursverfahren vielmehr zu den wichtigsten Informationsträgern. Dessen unterlassene Mitwirkung gehe eher zulasten der Gläubiger als zu seinen. Den Interessen der Gläubiger sei in diesem Fall Vorrang vor jenen des Gemeinschuldners an einem Schutz gegen erzwungene Selbstbesichtigung einzuräumen.60

Auch der BGH äußerte sich zur Problematik des § 393 Abs 2 AO und bestätigt den Tenor des Gemeinschuldnerbeschlusses. Dem Steuerpflichtigen sei die Deklaration solcher Einkünfte zuzumuten, um das Steueraufkommen des Gemeinwesens sicherzustellen. Als Ausgleich im Spannungsfeld zwischen der Selbstbelastung und dem öffentlichen Interesse liegt es nahe, an die Konkretisierung der gebotenen steuerlichen Erklärungen niedrigere Anforderungen zu stellen, sodass der Steuerpflichtige die Einkünfte nur betragsmäßig, nicht aber unter genauer Bezeichnung der Einkunftsquelle zu benennen braucht.61 Da die Rechtsprechung in § 393 Abs 1 und 2 AO kein Instrument zur lückenlosen Umsetzung des Nemo-teneturGrundsatzes, sondern eines zur Güterabwä-

55 Schmitz/Wulf in MünchKomm StGB, § 370 Rz 34.

56 BVerfG 27. 10. 2010, 2 BvL 13/07.

57 BVerfG 13. 1. 1981, 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431.

58 BVerfG 13. 1. 1981, 1 BvR 116/77, NJW 1981, (1432).

59 BVerfG 13. 1. 1981, 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431.

60 BVerfG 13. 1. 1981, 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431 (1432).

61 BGH 5. 5. 2004, 5 StR 139/03.

Blick über die Grenze Nemo tenetur im Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren 150 3/2023 ZWF

gung iSd Art 2 Abs 1 GG sieht, bietet der Ansatz des BGH zur Anwendung des Verwertungsverbots des § 393 Abs 2 AO eine sinnvolle Lösung.

4.2.3.Österreichisches Recht

Wie eingangs erörtert, gehört der Grundsatz nemo tenetur auch im österreichischen Recht zu den Verfahrensgrundrechten.62 Das Recht des Beschuldigten, zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen, ist in Art 90 Abs 2 B-VG normiert und wird für das finanzbehördliche Strafverfahren in § 84 Abs 4 FinStrG eindeutig konkretisiert. Darin heißt es: „Beschuldigte und Nebenbeteiligte dürfen zur Beantwortung von an sie gestellte Fragen nicht gezwungen werden. Sie dürfen nicht durch Zwangsmittel, Drohungen, Versprechungen oder Vorspielungen zu Äußerungen genötigt oder bewogen werden. […] Beschuldigte und Nebenbeteiligte dürfen nicht durch Zwangsstrafen zur Herausgabe von Tatgegenständen und Beweismitteln verhalten werden.“ Insofern gleichen sich die österreichische und deutsche Regelung darin, dass beide den Nemo-tenetur-Grundsatz in Form eines Zwangsmittelverbots vorsehen. Zudem gilt der Grundsatz in beiden Rechtsordnungen nicht absolut und ist vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes und des Verhältnismäßigkeitsgebots beschränkbar.63

4.2.3.1.Lokalisierung von Konflikten mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz

Trotz Ähnlichkeiten in der Anwendung und Ausgestaltung der Normen werden die entscheidenden Unterschiede darin deutlich, dass das österreichische Recht keine Regelung eines Beweisverwertungsverbots und einer Belehrungspflicht iSd § 136a StPO vornimmt. Leitner zeigt hierzu in einer umfassenden Untersuchung der praxistypischen Abläufe des Besteuerung- und Steuerstrafverfahrens auf, dass sich aus der fehlenden Normierung eines Verwertungsverbots und der Verzahnung beider Verfahren durchaus Verstöße gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz ergeben können. Die Phasen, in denen sich in einem typischen Besteuerungsverfahren Konflikte zum Grundsatz nemo tenetur ergeben, teilt er in vier Zonen ein. Damit ermöglicht er die eindeutige Lokalisierung der potenziellen Verletzung des Grundsatzes.

Zone 0 erfasst den Zeitraum, in dem ein Finanzvergehen noch nicht verwirklicht ist. Hier sind zwangsbewährte Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen bis zum Zeitpunkt der Deliktsverwirklichung unbedenklich.64 Gleiches gelte für Zone 1, die zwangsbewährte Mitwirkungspflichten erfasst, die nach Deliktsverwirklichung durchgesetzt werden. Konflikte können sich hier allenfalls aus Berichtigungs- und Nacherklärungspflichten ergeben, bei denen es im

62 BVG BGB1 1964/59.

Fall der Verletzung aber an einer erheblichen Strafbewehrung fehle.65

Die wesentlichen Konflikte mit dem Nemotenetur-Grundsatz ergeben sich in den Zonen 2 und 3. Zone 2 erfasst zwangsbewährte Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen, die für das verfahrensgegenständliche Steuerjahr vor Deliktsbegehung gelten und zur Selbstbelastung im Hinblick auf Delikte in Vorperioden führen.66 Beispielhaft zu nennen sind Jahressteuern, die die Deklaration nicht erklärter Einkommensquellen erfassen und bei Erklärung durch den Steuerpflichtigen Rückschlüsse auf Hinterziehungen der Vorjahre erlauben. Eine Selbstanzeige könne hier konfliktauflösend wirken. Problematisch sei hingegen, dass österreichische Finanzbehörden gemäß den §§ 80 und 82 Abs 2 FinStrG umfangreiche Anzeigepflichten zu erfüllen haben. Das bedeutet, dass sie Finanzstraftaten an die jeweils zuständige Finanzstrafbehörde bzw bei gerichtlicher Zuständigkeit an die Staatsanwaltschaft anzeigen müssen. Dies führt dazu, dass unter Zwangsandrohung herausgegebene Beweismittel des Steuerpflichtigen nicht nur im Besteuerungsverfahren im Hinblick auf ein begangenes Finanzvergehen, sondern aufgrund der Anzeigepflichten der Finanzbehörden auch auf andere Straftaten selbstbelastend wirken.

Konflikte mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz seien außerdem insbesondere in Zone 3 zu finden.67 Diese erfasst zwangsbewährte Mitwirkungspflichten, die die Offenlegung von in der Vergangenheit begangenen Straftaten einfordern. Die Verletzung des Nemo-tenetur-Grundsatzes ergebe sich insbesondere daraus, dass der Steuerpflichtige zwar nicht verhalten sei, im Besteuerungsverfahren ein Geständnis über ein begangenes Delikt abzugeben, aber gleichwohl den abgabenrechtlichen Sachverhalt offenlegen müsse.

4.2.3.2.Parallelen und Unterschiede

Vor dem Hintergrund der einzelnen Phasen eins typischen Besteuerungsverfahrens, in denen sich Konflikte mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz ergeben, lohnt es sich, bestehende Parallelen und Unterschiede zwischen der deutschen und der österreichischen Regelung zu beleuchten.

In beiden Rechtsordnungen bestehen die steuerlichen Erklärungs- und Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren trotz Einleitung eines Strafverfahrens fort. Anders als im deutschen Recht fehlt der österreichischen Rechtsordnung jedoch die gesetzliche Anordnung eines Verwertungsverbots von im Besteuerungsverfahren generierten Informationen über Delikte des Steuerpflichtigen im außersteuerlichen Strafverfahren. Offenbart der Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren begangene De-

151 ZWF 3/2023 Blick über die Grenze Nemo tenetur im Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren
63 Leitner in Leitner/Brandl/Kert (Hrsg), Handbuch Finanzstrafrecht4 (2017) Rz 116. 64 Leitner in Leitner/Brandl/Kert, HB Finanzstrafrecht4, 46 ff. 65 Leitner in Leitner/Brandl/Kert, HB Finanzstrafrecht4, 52 ff. 66 Leitner in Leitner/Brandl/Kert, HB Finanzstrafrecht4, 55 ff. 67 Leitner in Leitner/Brandl/Kert, HB Finanzstrafrecht4, 56 ff.

likte, können ihn diese Auskünfte im außersteuerlichen Strafverfahren belasten. Die Problematik wird dadurch verschärft, dass die Finanzbehörden Anzeigepflichten zu erfüllen haben. Offenbart der Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren die Vollendung eines Delikts, wird diese Auskunft an die zuständige Finanzstrafbehörde oder an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Daraus ergeben sich signifikante Konflikte mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz, die durch ein strafrechtliches Verwertungsverbot und den Wegfall der Anzeigepflicht bei Gefahr der Selbstbelastung des Steuerpflichtigen nach Vorbild des § 393 AO ausgeräumt werden könnten.

Damit lässt sich im Ergebnis festhalten, dass die zwangsbewährten Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen im österreichischen Recht bis zum Zeitpunkt der Deliktsbegehung weitgehend unbedenklich sind. Ist ein Delikt in der Vergangenheit verwirklicht worden, ergeben sich aus der zwangsbewährten Durchsetzung der Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren Verletzungen gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz. Da der Grundsatz in Österreich als anerkanntes Verfahrensgrundrecht Verfassungsrang genießt, ist die Anpassung der bestehenden Rechtslage verfassungsrechtlich geboten.68

Informationen der Finanzverwaltung an die Staatsanwaltschaft zulässt. Dahingegen entschärft § 393 AO die Problematik und ermöglicht den zeitlich parallelen Ablauf des Steuer- und Strafverfahrens, indem beide Verfahren voneinander abgrenzt und ein Verbot des Einsatzes von Zwangsmitteln im Besteuerungsverfahren vorgesehen ist, sofern der Steuerpflichtige Gefahr läuft, sich im Strafverfahren selbst zu belasten. § 393 Abs 2 AO knüpft an den Schutzumfang des Steuergeheimnisses und normiert ein Verwertungsverbot, wonach das Steuergeheimnis auch insoweit zu gewährleisten ist, wie der Steuerpflichtige zur Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten Allgemeindelikte offenbart. Die Grenzen des Zwangsmittelsund Verwertungsverbots liegen bei Straftaten, deren Verfolgung von öffentlichem Interesse ist oder bei denen die Nichtaussage des Beschuldigten Rechte Dritter verletzt. Dies folgt daraus, dass der Nemo-tenetur-Grundsatz nicht als absolutes Recht gilt, sondern im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht Dritter beschränkbar ist.

Der Stellenwert des Nemo-tenetur-Grundsatzes ist unbestreitbar. Als Bestandteil völkerrechtlicher Verträge genießt er in Deutschland und Österreich Verfassungsrang. Seine Durchbrechung ist bedenklich, vor allem wenn die Offenbarung erzwungen wird und daran eine strafrechtliche Verwertbarkeit knüpft. Verlaufen Steuer- und Strafverfahren gleichzeitig, läuft der Steuerpflichtige Gefahr, sich aufgrund seiner Mitwirkungspflichten im Strafverfahren selbst zu belasten. Der Konflikt erschwert sich durch Kompetenzüberschneidungen der Finanzverwaltung in beiden Verfahren.

Das Steuergeheimnis nach § 30 AO löst das Spannungsfeld nicht, da es bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der Sachverhaltsaufklärung die Weitergabe von

Auf Ebene des deutschen Steuerrechts kann die eingangs gestellte Frage, ob die steuerlichen Erklärungs- und Mitwirkungspflichten mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz vereinbar sind, positiv beantwortet werden. Die fundamentale Bedeutung des Grundsatzes äußert sich insbesondere im Schutzgehalt des § 393 AO. Auf Ebene des österreichischen Steuerrechts ist die Frage nach der Konformität der Erklärungs- und Mitwirkungspflichten mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz differenzierter zu beantworten. Zwar bietet die BAO eine ausdrückliche Normierung des Grundsatzes, allerdings bedarf es zur konsequenten Durchsetzung seiner Schutzwirkung der Erweiterung einer abgabenrechtlichen Geheimhaltungspflicht, die sich in Form eines Verwertungsverbots nach dem Vorbild des § 393 Abs 1 AO äußern kann. Um ein Verbot der Verwertung von im Besteuerungsverfahren generierten Informationen zu festigen, sind auch die Anzeigepflichten der Finanzbehörden im Hinblick auf den Nemo-teneturGrundsatz kritisch zu beurteilen.

Blick über die Grenze Nemo tenetur im Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren 152 3/2023 ZWF
68 Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht6, § 393 AO Rz 7 f. ▶ Auf den Punkt gebracht

Kontenregisterabfrage und Bankauskünfte

Zwei verfahrensrechtliche Werkzeuge im Finanzstrafverfahren für die Gewinnung von Daten über Bankkonten und Bankgeschäfte

Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die verschiedensten Instrumente und Möglichkeiten zur Erlangung von Bankdaten und Informationen zu Bankgeschäften, wobei der Schwerpunkt auf den Bestimmungen des verwaltungsbehördlichen und den korrespondierenden gerichtlichen Rechtsgrundlagen des Finanzstrafverfahrens unter Berücksichtigung des Kontenregister- und Konteneinschau-Anwendungserlasses des BMF vom 15. 11. 20221 liegt. Zudem werden die abgabenrechtlichen Bestimmungen im Rahmen eines Exkurses kurz angeführt.

1.Allgemeines

Tiefgreifende Änderungen auf dem Gebiet des Bankwesens infolge des im Zuge der Steuerreform 2015/2016 beschlossenen sogenannten Bankenpakets2 haben dazu geführt, dass von Abgabenbehörden im Rahmen von Prüfungshandlungen und von Finanzstrafbehörden im Zuge von Ermittlungsverfahren zuletzt vermehrt auf Informationen von Bank- und Kreditinstituten zugegriffen wurde. Mit den Bestimmungen des Kontenregister- und Konteneinschaugesetzes (KontRegG) wurden wesentliche Grundlagen für die Bekämpfung der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung sowie der steuerlichen Transparenz geschaffen. Dabei stellt die Einsicht in das mit dem KontRegG als Rechtsgrundlage beim BMF geführte Zentrale Kontenregister eine wichtige Möglichkeit dar, personenbezogene Daten abzufragen und diese sodann gesondert im Rahmen eines Auskunftsersuchens an den Vorsitzenden/die Vorsitzende des Spruchsenats bzw in Form eines Anlassberichts an den zuständigen Staatsanwalt/die zuständige Staatsanwältin zur weiteren Veranlassung zu übermitteln.

2.Kontenregisterabfrage

Das als Datenbank geführte Zentrale Kontenregister enthält eine von den Bank- und Kreditinstituten laufend aktualisierte Übersicht von Girokonten, Bausparkonten, Kredit-, Zahlungsund Bausparkonten, Sparbüchern und Wertpapierdepots all jener Unternehmen und Privatpersonen, von denen Konto- bzw Schließfachnummern von den jeweiligen Bank- und Kreditinstituten bereitgestellt werden. Ersichtlich sind daraus lediglich die Namen der Personen bzw Unternehmen sowie welche diesen zuzuordnende Konto- bzw Schließfachnummern bei welchen Bank- oder Kreditinstituten geführt werden (sogenannte „äußere Kontodaten“).3

1 Kontenregister- und Konteneinschau-Anwendungserlass des BMF vom 15. 11. 2022, 2022-0.812.135.

2 BGBl I 2015/116.

3 Siehe § 2 Abs 1 KontRegG.

Nicht enthalten sind etwa Kontobewegungen und Kontostände, die auch als sogenannte „innere Kontodaten“ bezeichnet werden.4

2.1.Auskunft aus dem Kontenregister im verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren

Voraussetzung für die im elektronischen Wege den Finanzstrafbehörden und dem BFG zu erteilenden Auskünfte ist die Vornahme der Einsicht „für finanzstrafrechtliche Zwecke“ unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und eines strengen Vieraugenprinzips. Das bedeutet, die Durchbrechung des Bankgeheimnisses ist nur dann gerechtfertigt, wenn ein konkreter Tatverdacht gegen eine konkrete Person vorliegt.5 Da mit Inkrafttreten der Steuerreform 2015/2016 die Voraussetzung des Vorliegens eines Einleitungsbescheids für ein Finanzstrafverfahren entfallen ist, kann das Bankgeheimnis bereits im Vorerhebungsstadium eines anhängigen verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahrens durchbrochen werden, wenn der Zusammenhang (Verdacht) mit dem Finanzstrafverfahren ausreichend konkretisiert werden kann.

Anhängig ist ein verwaltungsbehördliches Finanzstrafverfahren jedenfalls mit der ersten Verfolgungshandlung iSd § 14 Abs 3 FinStrG. Die Kenntnis des durch die Durchbrechung des Bankgeheimnisses Erlangten muss für die Aufklärung eines Finanzvergehens erforderlich sein. Dabei ist insbesondere der in § 57 Abs 5 FinStrG normierte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. § 38 Abs 2 Z 12 BWG verweist auf § 4 Abs 1 Z 2 KontRegG, der das Erfordernis des Vorliegens „finanzstrafrechtlicher Zwecke“ verlangt, jedoch hinsichtlich des Verschuldensgrads auf der subjektiven Tatbestandsebene vom Vorsatzerfordernis – im Gegensatz zu § 38 Abs 2 Z 1 BWG – ex lege absieht. Ob die Ein-

4 Siehe Oreschnik in Tannert/Kotschnigg/Twardosz, FinStrG, § 99 Rz 165; Stetsko in Leitner/Brandl/Kert (Hrsg), Handbuch Finanzstrafrecht4 (2017) Rz 2825.

5 Siehe Stetsko in Leitner/Brandl/Kert, HB Finanzstrafrecht4, Rz 2827.

Mag. Martina Elisabeth Eber ist im Fachbereich des Geschäftsbereichs Finanzstrafrecht des Amts für Betrugsbekämpfung für die Bearbeitung und Vertretung komplexer, gerichtlicher Finanzstrafverfahren sowie in der operativen Leitung/Koordination von Großfällen tätig.

Mag. Rainer Kuscher ist im Fachbereich des Geschäftsbereichs Finanzstrafrecht des Amts für Betrugsbekämpfung für Aufgaben in der Abwicklung und Erledigung komplexer, gerichtlicher Finanzstrafverfahren tätig.

153 ZWF 3/2023 Aus Sicht des ABB Kontenregisterabfrage und Bankauskünfte
Aus Sicht des ABB

sichtnahme notwendig ist, ist stets anhand der Kriterien der Zweckmäßigkeit und der Angemessenheit im konkreten Einzelfall zu beurteilen. Die durch die Abfrage bewirkte Rechtsgutbeeinträchtigung muss in einem angemessenen Verhältnis zum Gewicht des Finanzvergehens, zum Grad des Verdachts und zum angestrebten Erfolg stehen.6

Damit verbunden sind auch entsprechende Dokumentationspflichten. Über sämtliche elektronische, nach dem Vieraugenprinzip vorgenommene Abfragen ist ein elektronisches Protokoll zu führen.7 Die bezugnehmenden Unterlagen sind sodann im elektronischen Fallbearbeitungssystem der Finanzverwaltung (FABE) verschlüsselt hochzuladen. Durch die exakte Einhaltung dieser Dokumentationspflichten sowohl bei Kontenregisterabfragen als auch bei Konteneinschauen wird zum einen dem Interesse der Parteien am Schutz ihrer persönlichen Daten und zum anderen dem Schutz der Bediensteten in Beschwerdefällen oder im Fall zu erstattender Stellungnahmen zu Anfragen des Rechtsschutzbeauftragten entsprochen.

An dieser Stelle sei angeführt, dass durch die Kontenregisterabfrage (und auch durch die Konteneinschau) gewonnene Ergebnisse im Einklang mit § 38 Abs 1 BWG von der Akteneinsicht ausgenommen sind, wenn jene die Akteneinsicht begehrende Person mit der abgefragten Person oder deren gesetzlichen Vertreter nicht übereinstimmt.

2.2.Auskunft aus dem Kontenregister im gerichtlichen Finanzstrafverfahren

Mit der Lockerung des Bankgeheimnisses wurden auch entsprechende Änderungen im gerichtlichen Strafverfahren notwendig, die mit dem Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016 (StPRÄG I 2016)8 zu einer neuen Rechtsgrundlage für Auskünfte aus dem Kontenregister und für Auskünfte über Bankkonten und Bankgeschäfte geführt haben. § 109 Z 3 StPO definiert die Ermittlungsmaßnahmen betreffend Auskünfte aus dem Kontenregister. § 116 StPO enthält die materiellen und formellen Voraussetzungen.

Die Auskunft aus dem Kontenregister im gerichtlichen Strafverfahren setzt gemäß § 116 Abs3 StPO eine Anordnung der Staatsanwaltschaft voraus. Im Zuge eines (erstmaligen) Berichts (Anlassbericht) an die Staatsanwaltschaft kann eine solche beantragt bzw angeregt werden. Es bedarf zwar keiner weiteren gerichtlichen Bewilligung, jedoch muss dem Antrag der beabsichtigten Auskunft eine Begründung dahingehend angefügt werden, inwieweit die unter Wahrung der Prinzipien der Verhältnismäßig-

6 Siehe Oreschnik in Tannert/Kotschnigg/Twardosz, FinStrG, § 99 Rz 167; Stetsko in Leitner/Brandl/Kert , HB Finanzstrafrecht4, Rz 2838.

7 Siehe Anwendungserlass des BMF vom BMF vom 15. 11. 2022, 2022-0.812.135, 24.

8 BGBl I 2016/26.

keit und der Angemessenheit vorzunehmende Abfrage zur Aufklärung einer vorsätzlich begangenen Straftat und der Feststellung allenfalls noch an der Straftat beteiligter Personen dient bzw erforderlich erscheint. Zum Zeitpunkt der Anordnung müssen somit schon verdachtsbegründende Anhaltspunkte vorliegen.

Weder das Gesetz noch die Mat geben Auskunft dahingehend, ab welcher Verdachtslage eine Kontenregisterabfrage zulässig sein soll. Zur Verdachtsfindung darf das Bankgeheimnis jedenfalls nicht durchbrochen werden.9 Aus Sicht des Amts für Betrugsbekämpfung wird hier in Übereinstimmung mit den Lehrmeinungen und der Judikatur des VwGH von denselben Voraussetzungen hinsichtlich der Verdachtslage (Grad des Verdachts) ausgegangen wie bei einem Ersuchen um Auskünfte über Bankkonten und Bankgeschäfte im verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren10 nach § 99 Abs 6 FinStrG, der sein gesetzliches Pendant in der Bestimmung des § 116 StPO für das gerichtliche Finanzstrafverfahren findet. Sobald die Gerichtsanhängigkeit nach § 53 FinStrG anzunehmen ist, kann nur mehr von einem solchen Grad des Verdachts (Verdachtslage) ausgegangen werden, mit dem der Weg in die Gerichtsbarkeit beschritten und ein vorsätzliches Finanzvergehen angenommen werden kann.

Über die erfolgte Abfrage sind die Dokumentationspflichten korrespondierend zum verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren einzuhalten und ist in Form eines Zwischenberichts an die Staatsanwaltschaft zu berichten. Die Zustellung der Ausfertigung der staatsanwaltschaftlichen Anordnung an den Betroffenen (Beschuldigten) kann gemäß § 116 Abs 5 StPO aus Gründen der Gefährdung des Ermittlungszwecks aufgeschoben werden.

2.3.Rechtsmittel

Eine § 116 Abs 5 StPO gleichlautende Regelung, wonach der Betroffene (Beschuldigte) nach Durchführung der Kontenregisterabfrage nach vorheriger Abstimmung mit dem zuständigen Staatsanwalt/der zuständigen Staatsanwältin in Form der Zustellung einer Ausfertigung der Anordnung von der Vornahme der Abfrage zu verständigen ist, sofern kein notwendiger Aufschub vorzunehmen ist, kennt das FinStrG nicht. Es handelt sich hier um keine nach außen gerichtete Amtshandlung.

Der Betroffene (Beschuldigte) erhält von der vorgenommenen Abfrage keine Benachrichtigung. Zur Wahrung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen sind jedoch die Dokumentationspflichten einzuhalten. Jede elektronische

9 Siehe Oreschnik in Tannert/Kotschnigg/Twardosz, FinStrG, § 99 Rz 44.

10 Siehe dazu oben Pkt 2.1. und Stetsko in Leitner/Brandl/ Kert, HB Finanzstrafrecht 4 , Rz 2827 f, sowie die einschlägigen Ausführungen bei Eber/Kuscher, Prüfungsmaßnahmen gemäß § 99 Abs 2 FinStrG im Praxisalltag, ZWF 2023, 90.

Aus Sicht des ABB Kontenregisterabfrage und Bankauskünfte 154 3/2023 ZWF

Abfrage personenbezogener Daten aus dem Kontenregister wird automatisch protokolliert und zehn Jahre aufbewahrt.

Im gerichtlichen Finanzstrafverfahren können der Beschuldigte und andere von der Auskunft betroffene Personen Einspruch wegen Rechtsverletzung gegen die Anordnung der Kontenregisterauskunft erheben. Der Einspruch ist bei der Staatsanwaltschaft einzubringen, die binnen vier Wochen darüber zu entscheiden hat, andernfalls um die Entscheidung des Gerichts angesucht werden kann. Wird dem Einspruch entsprochen, sind Unterlagen zurückzugeben und Kopien zu vernichten.

Kreditinstitute, die in der Auskunft aufscheinen, werden über die Kontenregisterauskunft nicht informiert. Ihnen steht folglich auch kein Einspruchsrecht zu.

2.4.Exkurs zu den Bestimmungen im Abgabenverfahren

Auch für eine im Zuge eines Abgabenverfahrens durchzuführende Registerabfrage gilt ein strenges Vieraugenprinzip. Für jede Registerabfrage ist nach Prüfung der schriftlich zu erstellenden Begründung ein durch Unterschrift erteilter Auftrag des zuständigen Teamleiters/der zuständigen Teamleiterin bzw dessen/deren Genehmigung erforderlich. Die Registerabfrage ist sodann durch den beauftragten Mitarbeiter/die beauftragte Mitarbeiterin durchzuführen.11

Der Abgabepflichtige/die Abgabepflichtige erhält von der Kontenregisterabfrage eine Verständigung. Besteht ein FinanzOnline-Zugang, scheint in der Databox auch dann eine Verständigung auf, wenn die elektronische Zustellung nicht aktiviert wurde.

3.Konteneinschau bzw -öffnung

Einblicke in die sogenannten „inneren Kontodaten“ gewinnt man über eine Auskunft über Bankkonten und Bankgeschäfte, welche die Herausgabe aller Unterlagen über die Identität des Kontoinhabers einer Geschäftsverbindung, seine Verfügungsberechtigung, die Einsicht in Urkunden und andere Unterlagen eines Kredit- oder Finanzinstituts über Art und Umfang einer Geschäftsverbindung und alle damit zusammenhängenden Geschäftsvorgänge für einen bestimmten vergangenen oder zukünftigen Zeitraum umfasst.

Sinn und Zweck einer Kontenöffnung können vor allem folgende Beweggründe sein:

 die Nachverfolgung, ob und in welcher Höhe die geflossenen Geldbeträge in einem Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit stehen,

 ob und in welchem Ausmaß Barbehebungen in welchen zeitlichen Zusammenhängen getätigt wurden,

 das Auffinden von Indizien für sogenannte Kick-back-Zahlungen,

 ob Rechnungen über das betriebliche Konto beglichen wurden oder

 ob Aufwendungen (Fremdleistungsaufwand für Subunternehmen) und Lohnzahlungen über das Geschäftskonto abgewickelt wurden.

Es handelt sich jedenfalls um eine spezifische Einzelfallentscheidung in Abhängigkeit von bereits vorliegenden und noch zu erforschenden Sachverhaltselementen. Ergebnis einer Kontenregisterabfrage können auch dem nicht betrieblichen Bereich zuzuordnende Konten sein. Beispielhaft seien folgende Möglichkeiten aufgezeigt:12

 privates Sparbuch des geprüften Unternehmers/der geprüften Unternehmerin;

 Zeichnungsberechtigung über das Girokonto oder Sparbuch der Ehegattin, des Ehegatten, der Kinder oder sonstiger naher Verwandter;

 Vertretungsbefugnis über ein Geschäftskonto eines anderen Unternehmens, einer anderen Person (zB als Prokurist:in, Geschäftsführer:in);

 Zeichnungsberechtigung über das Konto eines Vereins (zB als Obmann/Obfrau, Kassier:in).

Eine Konteneinschau soll in solchen beschriebenen Fällen Klarheit dahingehend bringen, ob als nichtbetrieblich bezeichnete Konten dennoch für betriebliche Zwecke verwendet werden bzw wurden.

Während sich die materiellen Voraussetzungen für eine Auskunft über Bankkonten und Bankgeschäfte, nämlich die im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stehende Erforderlichkeit zur Aufklärung einer vorsätzlich begangenen Straftat13 und allenfalls eine auf bestimmte Tatsachen gestützte Annahme zur Sicherstellung von Tatsachen, Gegenständen, Urkunden oder anderen Unterlagen über eine Geschäftsverbindung, im Wesentlichen decken, müssen im Zusammenhang mit einer Auskunft über Bankkonten und Bankgeschäfte (Kontenöffnung) unterschiedliche verfahrensrechtliche Vorgehensweisen im verwaltungsbehördlichen und gerichtlichen Finanzstrafverfahren eingehalten werden. Diese werden in der Folge dargestellt.

3.1.Konteneinschau bzw -öffnung im verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren

Die formalrechtlichen Voraussetzungen hinsichtlich einer Auskunft über Bankkonten und Bankgeschäfte werden in § 99 Abs 6 FinStrG,

155 ZWF 3/2023 Aus Sicht des ABB Kontenregisterabfrage und Bankauskünfte
11 Siehe Anwendungserlass des BMF vom BMF vom 15. 11. 2022, 2022-0.812.135, 5 f. 12 Siehe Anwendungserlass des BMF vom BMF vom 15. 11. 2022, 2022-0.812.135, 9. 13 Hinsichtlich des Grads des Verdachts wird auf die Ausführungen unter Pkt 2.2. verwiesen.

der auf § 38 Abs 2 Z 1 BWG verweist, klar geregelt. Entsprechende Ersuchen müssen von den Organen des Amts für Betrugsbekämpfung in Form eines Auskunftsersuchens unter Verwendung des entsprechenden Formulars an den zuständigen Vorsitzenden/die zuständige Vorsitzende des Spruchsenats (Richter:in des Dienststands gemäß § 66 FinStrG) gestellt werden, dem/der gemäß § 58 Abs 2 FinStrG die Durchführung der mündlichen Verhandlung und die Fällung des Erkenntnisses obliegen würde. Nach Erteilung der richterlichen Genehmigung ist die Anordnung dem Beschuldigten/der Beschuldigten und etwaigen Verfügungsberechtigten sowie dem Kredit- oder Finanzinstitut zuzustellen, wobei die Zustellung an den Beschuldigten/die Beschuldigte aus ermittlungstaktischen Gründen aufgeschoben werden kann. In einem solchen Fall ist dem Kredit- oder Finanzinstitut eine entsprechende Mitteilung zu erstatten, das sodann zur Geheimhaltung jener aufgrund der Anordnung gewonnenen Daten über Kontostände und Geldflüsse verpflichtet ist. Darüber hinaus ist auch dem beim BMF eingerichteten Rechtsschutzbeauftragten gemäß § 74b Abs 2 FinStrG über den Aufschub unter Anschluss der genehmigten Anordnung und des Auskunftsersuchens unverzüglich Bericht zu erstatten. Mit Einlangen dieser Mitteilung beginnt die einmonatige Beschwerdefrist an das BFG (§150 Abs 2 FinStrG) zu laufen. Die Beschwerdelegitimation des Beschuldigten/der Beschuldigten bleibt dadurch unberührt.

Die Mitarbeiter:innen der Kredit- oder Finanzinstitute sind verpflichtet, der richterlich genehmigten Anordnung zu entsprechen, indem die angeforderten Bankdaten und Unterlagen auf einem elektronischen Datenträger in einem allgemein gebräuchlichen Dateiformat in strukturierter Form dem zuständigen Organ des Amts für Betrugsbekämpfung zur weiteren elektronischen Verarbeitung übermittelt werden. Gängige Praxis in der Finanzverwaltung ist hier die Verwendung von PDF-Dateien. Nicht eingelesen werden können etwa Daten auf CDROM. Für den Fall der Verweigerung der Herausgabe der angeforderten Informationen können Zwangsstrafen verhängt werden. Alle von den Organen des Amts für Betrugsbekämpfung vorgenommenen Handlungen sind in Form von signierten Aktenvermerken zu dokumentieren und mit den Dokumenten zum elektronisch geführten Strafakt im Fallbearbeitungssystem hochzuladen.

3.2.Konteneinschau bzw Auskünfte über Bankkonten und Bankgeschäfte im gerichtlichen Finanzstrafverfahren

Im gerichtlichen Finanzstrafverfahren erfordert die Auskunft über Bankkonten und Bankgeschäfte ebenfalls eine gerichtliche Bewilligung. Seitens der Organe des Amts für Betrugsbekämpfung ist jedoch eine entsprechende Anordnung zunächst – abhängig vom Verfahrens-

stand – in Form eines Anlassberichts oder eines Zwischenberichts bei der zuständigen Staatsanwaltschaft anzuregen. Der Bericht an die Staatsanwaltschaft hat gemäß § 116 Abs 4 StPO folgende Angaben zu enthalten:

 Bezeichnung des Verfahrens und der Tat, die dem Bericht zugrunde liegt;

 Name des Beschuldigten/der Beschuldigten;

 betroffene Bankkonten (IBAN);

 Kredit- oder Finanzinstitut;

 Zeitraum der gewünschten Daten;

 Umschreibung der sicherzustellenden Bankkonten, Unterlagen, Urkunden, Vermögenswerte und Gegenstände;

 Tatsachen, aus denen sich die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit ergibt.

Gerichtlich bewilligte Anordnungen sind dem/ der Beschuldigten und etwaigen Verfügungsberechtigten mittels RSa-Briefs nach Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft und den Kredit- oder Finanzinstituten zuzustellen, die sodann verpflichtet sind, den Anordnungen zu entsprechen. Es darf an dieser Stelle auf die Ausführungen im verwaltungsbehördlichen Verfahren zur Datenübermittlung durch das Kredit- oder Finanzinstitut sowie die Möglichkeit eines Zustellungsaufschubs an den Beschuldigten/die Beschuldigte und etwaige Verfügungsberechtigte verwiesen werden.

Nach erfolgter Durchführung bzw Erlangung aller aufgrund der Anordnung übermittelten Informationen zu den angeforderten Bankdaten und den damit verbundenen Bankgeschäften ist der Staatsanwaltschaft das Ergebnis der Auswertung in Form eines (weiteren) Zwischenberichts vorzulegen und kann um die Durchführung weiterer operativer Ermittlungsmaßnahmen wie Sicherstellung, Beschlagnahme etc angesucht werden.

Auch in diesem Verfahren muss den Dokumentationspflichten entsprochen werden.

3.3.Rechtsmittel

Mit der Zustellung der Ausfertigung der begründeten Anordnung an den Beschuldigten/ die Beschuldigte und allfällige verfügungsberechtigte Personen beginnt im verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren die einmonatige Beschwerdefrist zu laufen. Der Beschwerde kommt gemäß § 152 Abs 2 FinStrG keine aufschiebende Wirkung zu. Eine solche kann jedoch durch den Beschuldigten/die Beschuldigte beantragt werden. Die Entscheidung darüber obliegt dem/der Vorsitzenden des Spruchsenats. Stellt das BFG sodann die Unzulässigkeit der Anordnung fest, unterliegen die aufgrund der Anordnung erlangten Auskünfte in weiterer Folge dem Verwertungsverbot iSd §98 Abs 4 FinStrG. Ein Beschwerderecht des Kredit- oder Finanzinstituts ist nicht vorgesehen. Sie sind lediglich, wie bereits erwähnt, zur Einsichtnahme und Herausgabe der verlangten Auskünfte verpflichtet.

Aus Sicht des ABB Kontenregisterabfrage und Bankauskünfte 156 3/2023 ZWF

Im gerichtlichen Finanzstrafverfahren steht dem/der Beschuldigten und den aus der Geschäftsverbindung verfügungsberechtigten Personen gegen die Anordnung der Staatsanwaltschaft und gegen die Durchführung gemäß §106 Abs 1 StPO der Rechtsbehelf des Einspruchs zu. Gegen die gerichtliche Bewilligung einer Auskunft über Bankkonten und Bankgeschäfte können die genannten Personen gemäß § 87 Abs 1 StPO Beschwerde erheben. Eine aufschiebende Wirkung kommt dieser nicht zu.

Zuständiges Beschwerdegericht ist das OLG. Ein gegen die Anordnung erhobener Einspruch ist gemäß § 106 Abs 2 StPO mit einer gegen die gerichtliche Bewilligung eingebrachte Beschwerde zu verbinden, sodass hierüber das OLG zu entscheiden hat. Nach §116 StPO kommt den Kredit- und Finanzinstituten – im Gegensatz zum verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren – ein Beschwerderecht mit aufschiebender Wirkung zu. Wird einem Einspruch wegen Rechtsverletzung oder einer Beschwerde Folge gegeben, so gilt § 89 Abs 4 StPO, wonach alle durch die Auskunft über Bankkonten und Bankgeschäfte gewonnenen Ergebnisse zu vernichten und sichergestellte Originaldokumente den Kredit- und Finanzinstituten gemäß § 114 Abs 2 StPO zurückzustellen sind.

3.4.Exkurs zu den Bestimmungen im Abgabenverfahren

Als verfahrensrechtliche Normen im Zusammenhang mit Auskünften über Bankkonten und Bankgeschäfte sind hier als rechtliche Grundlage die Bestimmungen der BAO, insbesondere jene über die Abgabenerhebung (§ 114 BAO) zu nennen, die den Abgabenbehörden als Normadressaten vorschreiben, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben auf den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung aller Abgabepflichtigen zu achten und dabei den Grundsatz der Steuerrichtigkeit zu wahren. Ausfluss dieser Bestimmung ist in weiterer Folge die Gewinnung aller für die Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlagen erforderlichen Daten durch die Abgabenbehörden. Der Weg zur Konteneinschau und Herausgabe aller damit verbundenen Daten und Dokumente führt meist über eine Kontenregisterabfrage14 und unterliegt einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung.15 Es muss ein Prüfauftrag (§ 148 BAO) zur Durchführung einer Außenprüfung (§ 147 BAO) vorliegen und folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein:16

 Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Abgabepflichtigen oder Gründe für die Annahme, dass der Abgabepflichtige Angaben hätte machen müssen, um Bestand und Umfang seiner Abgabepflicht offenzulegen;

14 Siehe oben Pkt 2.4.

15 Anwendungserlass des BMF vom BMF vom 15. 11. 2022, 2022-0.812.135, 8 und 12.

16 Anwendungserlass des BMF vom BMF vom 15. 11. 2022, 2022-0.812.135, 12.

 die Erwartung, dass die Auskunft geeignet ist, die Zweifel aufzuklären;

 der Eingriff in die Geheimhaltungsinteressen des Kunden steht im Verhältnis zum Zweck der Ermittlungsmaßnahme.

Zunächst ist aber, um den Anforderungen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gerecht zu werden, von der Möglichkeit eines Vorhalteverfahrens, im Rahmen dessen vom Abgabepflichtigen/von der Abgabepflichtigen Unterlagen abverlangt werden können, Gebrauch zu machen. Werden dem Betriebsprüfer/der Betriebsprüferin keine Unterlagen vorgelegt oder wird die Herausgabe derselben verweigert, so ist dies zu dokumentieren und erforderlichenfalls eine Konteneinschau im Form eines Auskunftsersuchens (gemäß § 143 BAO) entsprechend §8 KontRegG iVm § 38 Abs 2 Z 11 BWG vorzunehmen. Die einschlägigen Bestimmungen hinsichtlich der materiellen und formellen Voraussetzungen sowie das damit verbundene Bewilligungsverfahren werden im Wesentlichen in §§8f KontRegG geregelt.

Die Entscheidung über die Bewilligung oder Ablehnung des vom Leiter/von der Leiterin der Abgabenbehörde zu unterfertigenden Auskunftsersuchens trifft gemäß § 9 KontRegG ein Einzelrichter/eine Einzelrichterin des BFG mittels Beschlusses. Dagegen kann von der betroffenen Person gemäß § 9 Abs 4 KontRegG Rekurs erhoben werden, über den ein Senat des BFG zu entscheiden hat.17

In der an die Kredit- und Finanzinstitute gerichteten Auskunftsanordnung sind das Kreditund Finanzinstitut, der Konto- oder Depotinhaber, die Konto- oder Depotnummer, der beantragte Zeitraum und eine die konkreten Anhaltspunkte für entstandene Zweifel an der Richtigkeit der Unterlagen umfassende Begründung anzuführen.18

Das im Zuge der Steuerreform 2015/2016 beschlossene Bankenpaket kann gleichsam auch als „Betrugsbekämpfungspaket“ bezeichnet werden. Durch die Lockerung des Bankgeheimnisses und die damit einhergehende Erweiterung des Spektrums an Ermittlungsmaßnahmen ist ein weiterer und essenzieller Schritt zur Bekämpfung von Steuerbetrug und Abgabenhinterziehung gelungen, der nicht zuletzt einen wesentlichen, im Interesse aller redlichen Steuerzahler und Steuerzahlerinnen gelegenen Beitrag zur Gleichmäßigkeit der Besteuerung und Steuergerechtigkeit geleistet hat.

17 Anwendungserlass des BMF vom BMF vom 15. 11. 2022, 2022-0.812.135, 14.

18

157 ZWF 3/2023 Aus Sicht des ABB Kontenregisterabfrage und Bankauskünfte
Siehe Drapela, Auskunftsverlangen der Abgabenbehörden an Kreditinstitute, SWK 5/2021, 378. ▶ Auf den Punkt gebracht

Aus der aktuellen Rechtsprechung

Finanzstrafrecht

Rainer Brandl / Roman Leitner

Unwirksamkeit von Anbringen per E-Mail

ZWF 2023/24

§ 85 BAO

BFG 5. 1. 2023, RV/7100043/2023

Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH ist eine Eingabe per E-Mail (wie zB ein per E-Mail gestellter Fristverlängerungsantrag) derart unwirksam, dass hinsichtlich dieser nicht einmal ein Mängelbehebungsverfahren (Verbesserungsverfahren) durchgeführt werden darf. Der Inhalt einer E-Mail und deren Anhänge können aber vom Finanzamt und dem BFG in deren Entscheidungen berücksichtigt werden, weil die Beweismittel an sich unbeschränkt sind.

Anmerkung

Wird zB eine Selbstanzeige per E-Mail eingereicht, ist dieses Anbringen unwirksam. Der Inhalt dieser E-Mail und deren Anhänge können aber – wie oben angeführt – vom Finanzamt oder vom Amt für Betrugsbekämpfung in deren Entscheidungen, insbesondere bei Beurteilung der Rechtzeitigkeit einer Selbstanzeige, berücksichtigt werden.

Rainer Brandl / Roman Leitner

Umfang der Offenlegungspflicht bei einer Selbstanzeige wegen unterlassener Zollanmeldung

ZWF 2023/25

§ 29 FinStrG

BFG 18. 10. 2022, RV/1300008/2015, Lexis 360 Rechtsnews 33760 vom 8. 3. 2023

Voraussetzung für eine strafbefreiende Selbstanzeige ist, dass die Behörde durch wahrheitsgemäße Angaben und die vorgelegten Unterlagen in die Lage versetzt wird, die Abgaben ohne langwierige eigene Ermittlungen zum Sachverhalt so festzusetzen, als wären die für die Verzollung erforderlichen Unterlagen von vornherein ordnungsgemäß abgegeben worden. Diesen Anforderungen genügt eine Offenlegung ausschließlich hinsichtlich des Grundsachverhalts ohne entsprechende Datenlage nicht.

Im zugrunde liegenden Sachverhalt hat der Beschwerdeführer insgesamt 468 Paar Schuhe im Gesamtwert von 15.922,20 € aus dem EUDrittland (Schweiz) in das Gemeinschaftsgebiet der EU (Österreich) verbracht. Dabei hat er vorschriftswidrig kein Zollverfahren in Anspruch genommen, wodurch Eingangsabgaben (Zoll und Einfuhrumsatzsteuer) iHv 4.611,89 € nicht entrichtet wurden. Der Beschwerdeführer erstattete, nachdem er von seinem Steuerberater über die zollrechtlichen Bestimmungen aufgeklärt wurde, eine Selbstanzeige gemäß § 29 FinStrG

und meldete die „versehentlich“ unverzollte Einfuhr hinsichtlich der Schuhe. Nach Feststellungen des BFG mussten die Mitarbeiter des Zollamts umfangreiche Nachforschungen über die Materialien und die prozentuelle Zusammensetzung der Komponente der Schuhe tätigen, um die korrekte Verzollung in einem zweiten Schritt vornehmen zu können. Somit wurden die Anforderungen an eine Offenlegung gemäß § 29 Abs 2 FinStrG nicht erfüllt und konnte die Selbstanzeige daher entgegen dem Beschwerdevorbringen keine strafbefreiende Wirkung entfalten.

Schadensgutmachung durch Verrechnung am Abgabenkonto

ZWF 2023/26

§ 29 Abs 2 FinStrG

BFG 17. 9. 2021, RV/6300001/2021

Die fristgerechte Entrichtung einer Abgabe in Folge einer Selbstanzeige nach § 29 FinStrG ist eine der Voraussetzungen für die Entfaltung der strafbefreienden Wirkung für das begangene Finanzvergehen. Die Schadensgutmachung in Form der Verrechnung mit vorhandenen Guthaben auf dem Abgabenkonto ist möglich. Es sollte jedoch sichergestellt sein, dass das Guthaben auch tatsächlich mit der dafür vorgesehenen Abgabenschuld verrechnet wird.

Eine Schadensgutmachung in Höhe der Insolvenzquote führt nur zu einer teilweisen strafbefreienden Wirkung. Die irrtümliche Annahme, dass eine Tilgung bereits erfolgt sei, ändert nichts daran, dass eine tatsächliche Entrichtung iSd § 29 FinStrG nicht erfolgt ist.

Im konkreten Sachverhalt wurde die aus der Selbstanzeige resultierende Abgabennachforderung aus Gründen der Vereinfachung in die Konkursforderung miteinbezogen und diese vorerst ausgesetzt. Dementsprechend erfolgte seitens des Finanzamts keine (automatisierte) Verrechnung des Betrags mit dem Guthaben. Eine Verrechnung mit Abgabenschulden, deren Einhebung ausgesetzt ist, darf nach § 214 Abs 3 BAO nur nach Maßgabe des § 212a Abs 8 BAO erfolgen, der wiederum ein explizites Verlangen des Abgabepflichtigen zur Verwendung des Guthabens erfordert.

Anmerkung

Siehe dazu auch Grünsteidl/Wochner, BFG: Schadensgutmachung iZm Selbstanzeigen durch Verrechnung mit Guthaben auf dem Abgabenkonto, ZSS 2022, 39.

Finanzstrafrecht Aus der aktuellen Rechtsprechung 158 3/2023 ZWF
Rainer Brandl / Roman Leitner

Keine Tatentdeckung durch Kapitaleinkünfte-Ergänzungsersuchen

ZWF 2023/27

§ 29 Abs 3 FinStrG

BFG 15. 9. 2022, RV RV/1300011/2020

Auch wenn für den Fall einer Nichtbeantwortung des Ergänzungsersuchens nahezu sicher mit einer Einkommensteuerfestsetzung zu rechnen ist, wurde seitens des Finanzamts nicht in der erforderlichen Deutlichkeit bekannt gegeben, dass die Tat seitens der Abgabenbehörden (bereits) entdeckt gewesen wäre. Es genügt dafür nicht, dass aus dem Inhalt des Ergänzungsersuchens hervorgeht, dass dem Finanzamt aufgrund des internationalen Informationsaustausches Daten zu den vom Abgabepflichtigen unterhaltenen ausländischen Konten vorliegen und der Abgabepflichtige wusste, dass er bislang keine Steuererklärungen

Literaturrundschau

Rainer Brandl / Roman Leitner

Berufsgeheimnisse im Abgabenverfahren

§ 171 BAO

Joklik-Fürst, Berufsgeheimnisse im Abgabenverfahren, RdW 2022, 438

Den diversen Berufsgeheimnissen kommt im Abgabenverfahren mitunter unterschiedliche Bedeutung zu:

 Die Verschwiegenheitspflicht des berufsmäßigen Parteienvertreters führt zu einem Aussageverweigerungsrecht gemäß § 171 Abs 2 BAO. Dieses Aussageverweigerungsrecht steht den Parteienvertretern auch zu, wenn keine berufsrechtliche Verschwiegenheitspflicht der Aussage entgegenstünde (zB bei Zustimmung des Klienten).

 Das Bankgeheimnis führt im eigenen Abgabenverfahren des Geheimnisträgers (Kreditinstituts) dazu, dass die abgabenbehördliche Prüfung des Kreditinstituts mit Rücksicht auf die gesetzlich anerkannte Verschwiegenheitspflicht nicht zum Anlass genommen werden kann, abgabenrechtliche Feststellungen in Bezug auf die Kunden des Kreditinstituts zu treffen. Werden Organen von Behörden dem Bankgeheimnis unterliegende Tatsachen bekannt, so haben diese das Bankgeheimnis als Amtsgeheimnis zu wahren. Ohne Entbindung dürfen diese solche Geheimnisse nicht in anderen Abgabenverfahren verwerten.

 Auch die Berufsgeheimnisse der Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sowie der Ärzte müssen nach ständiger höchstgerichtlicher Rechtspre-

eingereicht und keine ausländischen Kapitaleinkünfte erklärt hat.

Beurteilung der besonderen Vertrauenswürdigkeit

ZWF 2023/28

§ 9 WTBG

VwGH 21. 2. 2023, Ra 2019/01/0114

Bei der Beurteilung der besonderen Vertrauenswürdigkeit gemäß § 9 WTBG kommt es auf die jeweilige konkrete Tathandlung an. Nur solche Tathandlungen, die in Beziehung zur ausgeübten Tätigkeit als Wirtschaftstreuhänder stehen, sind geeignet, die ordnungsgemäße Berufsausübung gefährdet erscheinen zu lassen. Demnach steht bei der Beurteilung an der möglichen Gefährdung der ordnungsgemäßen Berufsausübung die jeweils konkrete Tathandlung im Vordergrund und nicht, ob die Verurteilung durch ein inländisches oder ausländisches Gericht erfolgte.

chung im eigenen Abgabenverfahren des Geheimnisträgers berücksichtigt werden. Diese Verschwiegenheitspflicht darf nicht auf Umwegen (zB ungerechtfertigte Schätzung) zunichtegemacht werden.

 Den Berufsgeheimnisträgern wird allerdings eine erhöhte Mitwirkungspflicht auferlegt. Diese verpflichtet nicht nur zum gesteigerten Mitwirken im Verfahren, sondern auch dazu, schon bei Führung der Aufzeichnung und Gestaltung der Belege das Defizit amtswegiger Erhebungsmöglichkeiten im Rahmen des Zumutbaren auszugleichen. Ein Ausweg aus dieser Pflichtenkollision kann nur dergestalt erfolgen, dass versucht wird, beiden gesetzlichen Verpflichtungen bestmöglich zu entsprechen. Wie der Geheimnisträger diesen Interessenkonflikt löst, bleibt letztlich ihm überlassen.

Falsche eidesstattliche Erklärung im Straf- und Strafprozessrecht

§§ 6 Abs 2, 49 Abs 1 Z 4, 55, 252 StPO; §§ 293, 299 StGB

Divjack, Die (falsche) eidesstattliche Erklärung im Straf- und Strafprozessrecht, JSt 2022, 513 Auch wenn eidesstattliche Erklärungen mitunter strafprozessuale Bedeutung erlangen können, ist die Abgabe einer falschen Erklärung im Strafverfahren nur in ganz engen Grenzen strafbar. So ist eine bloß inhaltlich falsche Erklärung weder ein Beweismittel (§293 StGB) noch eine gefälschte Urkunde (§223 StGB). Auch eine Strafbarkeit wegen Täuschung scheidet aus, da §108 StGB

159 ZWF 3/2023 Finanzstrafrecht Literaturrundschau

nur Individualrechte schützt. Übrig bleibt damit nur die Begünstigung nach §299 Abs 1 StGB. Selbst hier ist die Strafbarkeit aber auf Ausnahmefälle beschränkt, weil der Täter absichtlich handeln muss und vor allem umfassende Straffreistellungsgründe zu berücksichtigen sind. All dies gilt freilich für schriftliche Erklärungen generell, sodass der Zusatz „an Eides statt“ auch materiell-rechtlich ohne Bedeutung ist.

Interessenkonflikte für verteidigende Steuerberater

§ 99 Abs 2 FinStrG

Hübner, Vorsicht geboten, ÖGSWissen 1/2023, 19.

Aus der Position des steuerlichen Vertreters können sich bei Personenidentität in einer Verteidigungssituation im Finanzstrafverfahren leicht Interessenkonflikte ergeben. Zielführend ist es, frühzeitig – bereits bei einer Betriebsprü-

SAVE THE DATE

fung oder Umstellung dieser auf eine „§ 99 Abs2 FinStrG“-Prüfung – einen Finanzstrafexperten hinzuzuziehen. Die Wahrung der notwendigen Distanz ist für einen neu hinzugezogenen Vertreter bedeutend leichter als für einen Vertreter, der aufgrund der laufenden Beratung eine entsprechend enge Beziehung zum Mandanten pflegt. Dies ist gerade in Fällen, in denen eine Beteiligung des steuerlichen Vertreters am Finanzvergehen im Raum steht, dringend erforderlich.

Eine gute Kooperation mit dem laufenden Steuerberater ist allerdings für eine gute Verteidigung unumgänglich. Das Detailwissen des laufenden Beraters stellt die Basis für eine Verteidigung im Finanzstrafverfahren dar. Dementsprechend sind Konflikte tunlichst zu vermeiden. Der entsprechende Informationsverlust schadet dem Mandanten.

27. Finanzstrafrechtliche Tagung

Donnerstag, 21. September 2023 – Linz | Online

DIE GEHÖRIGE SORGFALT IM (FINANZ)STRAFRECHT

Von der Regel zum Standard - Diffuses Strafrecht

Fahrlässigkeit - grobe Fahrlässigkeit - Vorsatz im Finanzstrafrecht

Sorgfaltsmaßstab bei Digitalisierung der Steuerfunktionen

Die hinterzogene Abgabe in der Rechtsprechung des VwGH

Business Judgement Rule im Wirtschaftsstrafrecht

Anforderungen an den Anfangsverdacht bei Einleitung von Finanzstrafverfahren und Wirtschaftsstrafverfahren

Anmeldung: meeting.leitner@leitnerleitner.com

Finanzstrafrecht Literaturrundschau 160 3/2023 ZWF
LeitnerLeitner Wirtschaftsprüfer Steuerberater Edthaler Leitner-Bommer Schmieder & Partner Rechtsanwälte GmbH leitnerleitner.comleitnerlaw.eu

Finanzstrafrecht 2023

14. FORUM FÜR PRAKTIKER:INNEN DIENSTAG, 20. JUNI 2023, 9.00 UHR

ORANGERIE SCHÖNBRUNN, WIEN

THEMEN

Neuigkeiten aus dem Amt für Betrugsbekämpfung

Anzeige- und Berichtspflicht der Finanzstrafbehörde

Der objektive Tatbestand der Abgabenhinterziehung

Abgabenvergehen, die als Betrug zu ahnden sind

Verfehlungen und Sanierungsmöglichkeiten iZm WIEREGMeldungen

§ 29 Abs 6 FinStrG Auswirkungen auf die Praxis – offene Fragen

ANMELDUNG bis 6. Juni 2023 unter meeting.leitner@leitnerleitner.com

Die Teilnahmegebühr und weitere Details finden Sie auf unserer Webseite.

VERANSTALTUNGSHINWEIS | 6. ZWF-GET-TOGETHER

REFERENT:INNEN

Dr. Rainer Brandl LeitnerLeitner

Mag. Rainer Kuscher Amt für Betrugsbekämpfung

Mag. Erich Leopold, MSc Bundesministerium für Finanzen

Mag. Rainer Obermann Fachexperte der Staatsanwaltschaft Wien

Mag. Tanja Rösler Amt für Betrugsbekämpfung

Mag. Mario Schmieder LeitnerLaw Rechtsanwälte

Dr. Michaela Schmutzer Bundesfinanzgericht

Mag. Norbert Schrottmeyer LeitnerLeitner

Mag. Elfriede Teichert Amt für Betrugsbekämpfung

Im Anschluss an die obige Veranstaltung findet in der Orangerie Schönbrunn das 6. ZWF-Get-Together statt (Beginn 18.00). Es erwartet Sie eine Podiumsdiskussion zur Verfahrensbeschleunigung in Wirtschafts- und Finanzstrafverfahren. Um Anmeldung wird bis 6. Juni 2023 gebeten.

leitnerleitner.com leitnerlaw.eu

LeitnerLeitner Wirtschaftsprüfer Steuerberater Edthaler Leitner-Bommer Schmieder & Partner Rechtsanwälte GmbH
Österreichische Post AG, PZ 21Z042552 P, Linde Verlag Ges.m.b.H., Scheydgasse 24, 1210 Wien

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.