GAST KOMMENTAR
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it dem Coronavirus hat der Sager vom „Tod des Kinos“ erneut Konjunktur. Tatsächlich sind die Auswirkungen der Pandemie für die Filmindustrie und die Filmkultur – von Drehstopps über Startverschiebungen bis zum Kinokonkurs – enorm, wie auch in Celluloid bereits berichtet. Es ist klar, dass die Krise Tendenzen und Trends, die sich seit Jahren abzeichnen, nun entscheidend beschleunigt hat: der Trend zum Streaming; zunehmende Marktkonzentration im Bereich von Rechten und Vertrieb; der Niedergang des Zelluloidfilm als Vertriebs- und Herstellungsmedium; die immer stärkere Segmentierung des Kinopublikums sowie die “Eventisierung” des Kinobesuchs. Das mediale Getöse und das Ausrufen einer „Revolution“, von „Umbruch“ oder „Zeitenwende“ verdeckt dabei allerdings, dass die Katastrophe (oder zumindest Krise), von der die Rede ist, sich bereits lange anbahnte. Das Schlagwort von der „Disruption“, also der mutwilligen (kreativen) Störung oder Unterbrechung des Status quo, gehört seit fast einem Jahrzehnt zum Jargon der digitalen Ökonomie und ihren Superstars wie Google, Facebook oder Amazon. Denn Krisen kommen immer denjenigen zugute, zu deren Arsenal sowieso Überrumpelung und Überwältigung gehört. Speed kills! Problematisch ist bei all dem Gerede vom „Neuen“, dass es als Totschlagar44
Michael Loebenstein, der Direktor des Österreichischen Filmmuseums, schreibt exklusiv in celluloid über die Ist-Situation und die Herausforderungen für das Kino.
A SCHENE LEICH! gument dient. „Neu“ heißt automatisch „besser“, und es sei praktisch Naturgesetz, dass das Alte dem Neuen Platz zu machen habe. Wenn kleine Kinos in die roten Zahlen schlittern, weil sie keine “neue Ware” bekommen, sich zugleich aber die exorbitanten Lizenzen für restaurierte Klassiker nicht leisten können: Pech gehabt! Wenn Festivals, Kinematheken und Filmclubs weltweit der Zugang zu Hunderten Archivfilmen verwehrt wird, weil die Studios und Weltvertriebe zugunsten des Streamings den Hahn zudrehen: dann müsst Ihr halt mit der Zeit gehen! Wenn FilmliebhaberInnen auf ihr Recht bestehen sich auszusuchen, ob Sie einen Film gemeinsam mit anderen oder einsam daheim ansehen wollen: wie altmodisch! VOLLENDETE TATSACHEN Fazit ist dennoch: 2020 stellt uns in mancherlei Hinsicht vor vollendete Tatsachen. Die Hoffnung, dass sich der 35mm-Kinofilm durch den Einsatz von HollywoodSchwergewichten wie P.T. Anderson oder Christopher Nolan langfristig retten ließe, hat sich mit dem jüngsten Skandal um windige Finanzgeschäfte bei Kodak (dem Wandel des einstigen Filmherstellers zum Pharmakonzern) wohl erledigt. Und die Illusion, dass durch VOD und Streaming Schätze der Filmgeschichte gehoben und massenhaft zugänglich werden wurde heuer bitter enttäuscht. Mit dem Kauf von 20th Century Fox durch Disney verschwand nicht nur die legendäre Marke, sondern auch ein Jahrhundert CELLULOID FILMMAGAZIN
Filmgeschichte (hoffentlich nur vorübergehend!) aus den Verleihkatalogen. Und nahezu alle Hollywoodstudios entließen im Laufe der letzten Monate ihre FilmrestauratorInnen: im digitalen Kurzzeitgedächtnis, wo Filmgeschichte mit „Pulp Fiction“ beginnt, bedarf es keiner ArchivarInnen. LERNEN AUS DER KRISE Aber was können wir – das Filmmuseum und alle, die sich mit der Filmgeschichte und ihrer Vermittlung befassen – aus der Krise lernen? Denn die Erfahrungen der letzten Monate waren bei allen Schwierigkeiten auch positiv: unser Sommerkino, welches wir zur Gänze aus unserer eigenen Filmsammlung bestritten, kam hervorragend an und verzeichnete – obwohl „indoor“ und mit Maskenpflicht – eine hohe Auslastung. Hier ein paar Gedanken, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und in loser Reihenfolge: Es gibt nicht nur ein „Entweder / oder“, analog oder digital, physisch oder virtuell. Die letzten Monate haben gezeigt, dass Online keine Alternative zum physischen Zusammenkommen im Kino oder auf Festivals, sondern eine zusätzliche Option ist, um Filme und ihr Publikum zueinander in Beziehung zu setzen. Wenn wir „Kino“ langfristig denken, sollten wir anerkennen, dass die soziale Dimension des Kinogehens wichtiger ist als die Exklusivität des Contents. Es ist unserem Publikum offenbar gleich, ob ein Film, den wir spielen, auf Youtube steht oder nicht. Es ist eine bewusste