CREDO XVII (2013/09)

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Credo LGT Journal der Vermรถgenskultur

Neugier | XVII 2013


Inhalt | Credo XvII 2013

Impressum Herausgeber S.D. Prinz Philipp von und zu Liechtenstein, Chairman LGT Group

Neugier

Beirat Thomas Piske, CEO LGT Private Banking Norbert Biedermann, CEO LGT Bank AG Heinrich Henckel, CEO LGT Bank (Schweiz) AG

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Redaktion, Layout Sidi Staub (Leitung) LGT Marketing & Communications

02 Porträt | Ian Baker Dem amerikanischen Himalaja-Forscher gelang, woran viele vor ihm scheiterten: Er entdeckte die Pforte zum Paradies.

Bildredaktion Lilo Killer, Zürich Design, Koordination Thomas von Ah, Zürich Chris Gothuey, Zürich

10 Portfolio | KinderFragen Was wollen sie unbedingt wissen und woher bekommen sie die Antworten? Wir fragten Kinder aus Chongqing, New York, Beira, Zürich und Moskau.

Lektorat Annette Vogler, Berlin

Zuschriften lgt.credo@lgt.com

Druck BVD Druck+Verlag AG, Schaan

15 Essay | Lebenslanges Lernen Der Lernpädagoge Salman Ansari kennt das Rezept, wie Sie die Lust am lebenslangen Lernen wachhalten können.

Abonnements Haben Sie Interesse an künftigen Ausgaben von CREDO? Dann senden wir Ihnen diese gerne kostenlos zu. Abonnieren Sie CREDO online auf www.lgt.com unter «Publikationen/Druckausgabe bestellen».

Lithografie Prepair Druckvorstufen AG, Schaan

18 Reportage | Urban Explorers Die Entdecker von heute reisen nicht mehr in ferne Kontinente. Sie reisen in die Vergangenheit und finden ihre Terra incognita vor der Haustür.

Bildnachweise Cover, Seiten 4, 6, 7: Sascha Zastiral Seiten 2, 5, 8, 9: Ian Baker Seite 10: pixelio, clipdealer Seiten 11–14: Polaroidrahmen: 123RF Seite 11, links: Alja Kirillova Seite 11, rechts: Nicola Scevola Seite 12: Sacha Batthyany Seite 13: Ruth Fend Seite 14: Dennis Eucker Seiten 16–17: Illustration Markus Roost Seiten 18–25: Simon Cornwell Seiten 22, 24: Bradley Garett Seiten 27, 28, 30: Julian Salinas Seite 29: Illustration Markus Wys Seite 32: LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna Seite 34: Christian Breitler Seite 35: Magdalena Weyrer Seite 36: Pius Theiler Seite 37: Manfred Schiefer

Energieeffizient gedruckt und CO2 kompensiert.

Neu: Die App «LGT Bank» bietet Ausgaben des LGT Kundenmagazins CREDO sowie weitere LGT Publikationen kostenlos zum Download auf iPads an.

26 Interview | Barbara Hohn Die 74-jährige Wissenschaftlerin weiss, dass bahnbrechende Erkenntnisse nur dann zustande kommen, wenn wir unserer Neugier freien Lauf lassen. 32 Meisterwerke | Peter Fendi Ein junges Mädchen blickt durchs Schlüsselloch. Neugier? Nein, nur Vorsicht. Um das zu erkennen, muss man allerdings genau hinschauen.

36 Carte Blanche | Pius Theiler Für seine Erfindung erhielt er einen Sonderpreis von «Schweizer Jugend forscht». Dabei wollte er nur wissen, ob und wie eine mobile Klettersicherung funktionieren könnte.

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18

32 LGT Bank AG Herrengasse 12 FL-9490 Vaduz Tel. +423 235 11 22 Fax +423 235 15 22 info@lgt.com

LGT Bank (Schweiz) AG Lange Gasse 15 CH-4002 Basel Tel. +41 61 277 56 00 Fax +41 61 277 55 88 lgt.ch@lgt.com

LGT Bank AG Zweigniederlassung Österreich Bankgasse 9, Stadtpalais Liechtenstein A-1010 Wien Tel. +43 1 227 59 0 Fax +43 1 227 59 67 90 lgt.austria@lgt.com

www.lgt.com Die LGT Group ist an mehr als 20 Standorten in Europa, Asien und dem Mittleren Osten präsent. Die vollständige Adressübersicht finden Sie unter www.lgt.com

50319de 0913 4.1T BVD

34 Erlesenes | Christoph Ransmayr Ab 1872 sass eine Schiffsexpedition zwei Winter lang im Packeis fest. Auf den Spuren seines Urgrossonkels reist 100 Jahre später ein neugieriger Italiener in den hohen Norden.


Editorial

Sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser, Ist Neugier eine Sucht? Der amerikanische Neurowissenschaftler Irving Biederman will herausgefunden haben, warum wir Menschen neugierig und wissensdurstig sind: Im Moment der Erkenntnis, wenn die Neugier befriedigt ist, würden im Gehirn körpereigene Opiate freigesetzt. Das daraus resultierende Hochgefühl motiviere uns dazu, immer wieder nach neuem Wissen zu streben. Eines ist sicher: Ohne Neugier würde die Menschheit nicht dort stehen, wo sie heute steht. Das Streben nach Neuigkeiten und Wissen, das bis zur Neuzeit durchaus ambivalent bewertet und von manchen als Laster verurteilt wurde, gilt heute als Tugend, die Fortschritt und Wohlstand schafft. Eine Tugend, die in Krisenzeiten noch wichtiger wird. Wohl deshalb hat auch US-Präsident Barack Obama in seiner ersten Antrittsrede mehr «curiosity» gefordert. Für Sie haben wir neugierigen Menschen über die Schulter geschaut: Beispielsweise einem Forscher, der von der National Geografic Society als «Entdecker für das Jahrtausend» ausgezeichnet wurde, einer Wissenschaftlerin, die weit über das Pensionierungsalter hinaus neugierig geblieben ist oder einem Urban Explorer, der verlassene Gebäude und stillgelegte Fabriken erkundet. Und natürlich kommen auch ausgiebig Kinder und Jugendliche zu Wort, die ja das Privileg der unbeschwerten Neugier geniessen. Diese Ausgabe von CREDO ist ein Plädoyer: Bleiben Sie neugierig! Denn schon Goethe wusste: «Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts.» Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.

S.D. Prinz Philipp von und zu Liechtenstein Chairman LGT Group

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Porträt | Ian Baker

Entdecker des verlorenen

Paradieses Text und Fotos: Sascha Zastiral

Es gibt Orte, die tief in unserer Vorstellungswelt ver­ ankert sind und die doch kaum ein Mensch je gesehen hat. Zu ihnen gehört eine sagenumwobene Region im Herzen der tibetischen Tsangpo-Schlucht. Woran in der Vergangenheit viele Expeditionen scheiterten, gelang Ian Baker: Der amerikanische Himalaja-Forscher drang bis unmittelbar vor die Pforte zum Paradies vor. Einer der grössten Entdecker unserer Zeit lebt in Bangkok in einem unscheinbaren Reihenhaus. Hohe Metalltore schirmen die Bewohner in der kleinen Nebenstrasse im Stadtteil Ekkamai von der Aussenwelt ab. Rund zwei Dutzend identisch aussehende Häuser ziehen sich entlang beider Strassenseiten. Sie haben grosse gotische Fensterfronten und Balkone, die an den Baustil der europäischen Renaissance erinnern: Es ist der typische, leicht verkitschte Stilmix, wie man ihn in Asien häufig findet. In der Einfahrt zu seinem Haus steht Ian Baker, USAmerikaner, Himalaja-Forscher, Buchautor und Entdecker. Die National Geographic Society hat ihn vor einigen Jahren zu einem von sieben «Entdeckern für das Jahrtausend» erklärt. Baker ist schlank, sein mittellanges schwarzes Haar ist hinten zusammengebunden. Er hat einen gepflegten Vollbart und trägt ein schwarzes Hemd ohne Kragen. Nur die Fältchen um seine Augen zeugen davon, dass er schon 55 Jahre alt ist.

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Kennt die Himalaja-Region aus unz채hligen Expeditionen: Ian Baker.

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Porträt | Ian Baker

die ein wichtiger Teil der tibetischen Vorstellungswelt sind. Die Legende von Shangri-La, wie sie der Brite James Hilton in seinem 1933 erschienenen Roman «Der verlorene Horizont» beschreibt, basiert auf diesen Vorstellungen. Auch Ian Bakers sensationelle Entdeckung, die ihn Jahre später berühmt machen sollte, hat mit einem solchen mythologisch überlieferten Ort zu tun.

«Er sagte, es seien Orte, die zwar auf der Erde liegen, aber zugleich jenseits der Geografie zu verorten sind.» Nach Abschlüssen in Religionswissenschaften und Literatur in London und Oxford zog Baker 1984 nach Nepal. In den darauffolgenden Jahren organisierte er im Rahmen eines Universitätsprogramms Seminare und Sprachlehrgänge für amerikanische Studenten in Nepal und in Dharamsala, der nordindischen Kleinstadt, in der die Exilresidenz des Dalai Lama liegt. In dieser Zeit liess Baker die Geschichte von den «Beyul» Souvenir aus dem Himalaja: eine Chod-Trommel.

nicht los. Während einer Audienz beim Dalai Lama Ende der achtziger Jahre erklärte ihm dieser mehr darüber: «Er sagte, es seien Orte, die zwar auf der Erde liegen, aber zugleich jenseits

Auf das Haus angesprochen erzählt Baker bereitwillig, dass

der Geografie zu verorten sind», erzählt Baker. Diese Orte, so

er in der Tat gerne unbemerkt bleibt in der Megacity Bangkok.

heisst es in zahlreichen buddhistischen Texten, sollen Täler von

Wenn er von Expeditionen in den Himalaja zurückkehre – so wie

paradiesischer Schönheit sein, die nur unter grössten Mühen

erst kürzlich von einer zweimonatigen Reise in das kleine

zu erreichen sind. Pilger, die versuchen, dorthin zu gelangen,

Königreich Bhutan –, decke er sich oft mit Lebensmitteln für

erzählen von aussergewöhnlichen Erlebnissen. Menschen, die

eine ganze Woche ein, sagt er. Dann sei er froh, tagelang nicht

versuchen, gewaltsam in diese Orte einzudringen, drohen zu

auf die Strasse gehen zu müssen. «In gewisser Hinsicht ist das

scheitern oder sogar umzukommen. «Schon als junger Mann

Haus ein Zufluchtsort», sagt Baker.

fand ich das alles sehr reizvoll. Die Faszination für diese ver­ borgenen Orte und der Wunsch, sie zu dokumentieren, sind

Seine Faszination für den Himalaja hat Baker früh entdeckt.

geblieben.»

Mit 19 Jahren kam er zum ersten Mal nach Nepal. Damals studierte er Kunst am Middlebury College in Vermont. In

Einer dieser Orte sollte Legenden zufolge in Pemako liegen.

seinem dritten Studienjahr beschloss er, nach Nepal zu fliegen,

Dort vollzieht der Fluss Tsangpo, der 1700 Kilometer weiter

um religiöse Rollgemälde zu studieren. «Ich habe mich sofort

westlich am Berg Kailash entspringt, einen grossen Bogen um

in das Land verliebt», sagt er. «Es war, als sei ich nach Hause

den fast 7800 Meter hohen Berg Namjagbarwa und fliesst dann

gekommen.»

in Richtung Süden nach Indien, wo er zum Brahmaputra wird. Die Schlucht, die er dabei durchläuft, ist nach Meinung einiger

Die verborgene Schlucht

Forscher die tiefste der Welt. Und noch Ende des 20. Jahr-

Damals erfuhr Baker zum ersten Mal von den «Beyul»: ver-

hunderts war ein etwa zehn Kilometer langer Abschnitt dieser

borgenen, sagenumwobenen Orten in den Tiefen des Himalaja,

Schlucht völlig unbekannt.

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In der Vergangenheit sind zahlreiche Versuche, den letzten

nach ihrer Rückkehr nach London vor der Royal Geographical

Geheimnissen der Schlucht auf den Grund zu gehen, gescheitert.

Society, die Geschichten über den grossen Wasserfall im Herzen

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts starteten die britischen

der Tsangpo-Schlucht seien wohl nichts anderes als Legenden.

Kolonialherren Indiens mehrere Expeditionen. Die Entdecker glaubten, im Herzen der Schlucht einen riesigen Wasserfall zu

Hundegebell in Mittelerde

finden, der so gross sein könnte wie die Victoriafälle in Afrika.

Die politischen Umbrüche der dreissiger und vierziger Jahre in

«Für das nach Ausdehnung seiner Macht strebende britische

den umliegenden Ländern rückten Pemako für westliche

Empire war dieser damals so etwas wie ‹der Heilige Gral der

Forscher endgültig ausser Reichweite. Mehr als ein halbes Jahr-

Geografie›», sagt Ian Baker.

hundert lang war die Region, die heute im umstrittenen Grenzgebiet zwischen China und dem indischen Bundesstaat Aru-

Doch die Region war nicht nur wegen des schwierigen

nachal Pradesh liegt, Ausländern verschlossen. Erst in den

Terrains und des unberechenbaren Wetters problematisch. Viele

neunziger Jahren war es zum ersten Mal wieder möglich, von

der Stämme, die Pemako damals bevölkerten, waren Fremden

chinesischer Seite aus in die Region zu reisen.

gegenüber feindselig eingestellt. Und der erste Versuch im Jahr 1890, den geheimnisvollen Wasserfall zu finden, endete damit,

Ian Baker ergriff die erste Gelegenheit, die sich bot, um die

dass die Teilnehmer der Expedition von Stammesbewohnern

Schlucht zu erkunden. «Ich habe damals nicht daran geglaubt,

aufgespiesst und geköpft wurden.

dass es die Wasserfälle wirklich gibt», erzählt Baker heute. Das sei ihm ursprünglich auch gar nicht so wichtig gewesen. «Mich

Die letzte britische Expedition im Jahr 1924 scheiterte

faszinierte, dass dieser mehrere Kilometer lange Abschnitt noch

ebenfalls. Den Forschern gelang es trotz grösster Mühen nicht,

immer undokumentiert und unbekannt war.» Auch wegen der

in den verbleibenden, nur noch wenige Kilometer langen

vielen Legenden und Mythen, die sich um den Ort ranken, habe

Abschnitt im inneren Teil der Tsangpo-Schlucht vorzudringen.

er es «sehr fesselnd» gefunden, dort hinzugehen.

Zwar fanden die Entdecker einen kleinen Wasserfall, den sie «Regenbogenfälle» nannten. Den sagenumwobenen gewaltigen

Er schloss sich einer Gruppe von Abenteurern an, die das

Wasserfall jedoch fanden sie nicht. Die Entdecker erklärten

Innere der Tsangpo-Schlucht erkunden wollten. Gemeinsam mit

Ian Baker mit einheimischen Jägern in der Tsangpo-Schlucht.

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Porträt | Ian Baker

angeheuerten Trägern machte sich Baker im April 1993 auf den Weg. Als Orientierungshilfe hatte das Team nur die Auf­zeich­ nungen eines buddhistischen Lamas, der die Region im 18. Jahrhundert besucht hatte. Nach mehreren Wochen in der tiefsten Wildnis drohte die Expedition in einer Katastrophe zu enden. Die Entdecker hatten kaum noch Lebensmittel und die Träger weigerten sich weiterzugehen.

«Es war, als sei ich nach Hause gekommen.» Baker überzeugte sie davon, dass das nächste Dorf nicht weit weg sein könne. Sie ernährten sich von wilden Tieren, die sie mit Schlingen fingen. In den Siebentausendern über der Gruppe gingen Lawinen nieder. Schwerer Regen hinderte sie tagelang daran weiterzugehen. Dann schliesslich fanden die Abenteurer einen schneebedeckten Pass, über den sie nach Pemako vordringen konnten. Kurz darauf hörten sie Hundegebell. «Wir stiessen auf zwei Jäger. Die waren vollkommen geschockt, sie hatten noch nie jemanden aus der Richtung kommen gesehen, aus der wir kamen.» Die Jäger brachten die Gruppe in ihr Dorf, das weitere zwei Tage entfernt lag. Dort,

Sammelobjekte aus drei Jahrzehnten in Asien: Das Rollbild, …

erzählt Baker, kamen ihnen zwei Bärenjungen entgegen. Jäger hatten die Mutter getötet und die jungen Tiere mit in das Dorf gebracht. «Dieser Ort war wie Mittelerde in ‹Der Herr der Ringe›!» Abgesehen von einigen Messern, Töpfen und pri-

In den folgenden Jahren kehrte Baker sechs Mal mit

mitiven Gewehren habe es dort kaum Zeugnisse der Moderne

unterschiedlichen Begleitern nach Pemako zurück, um die

gegeben. «Es war ein Rausch, in einer so ursprünglichen Welt

Region zu studieren und weiter vorzudringen. Er scheiterte

zu sein. Man wollte sich verlieren, verschmelzen.» Baker lacht.

jedes Mal an dem extrem schwierigen Terrain oder an dem

«Das war natürlich gefährlich. Aber ich denke, genau so funk-

unberechenbaren Wetter. Irgendwann weihte ihn ein örtlicher

tionierte meine Psyche.»

Lama in ein Geheimnis ein: Er erzählte Baker, er müsse zu einem bestimmten Berg in der Region pilgern. Dort werde er den

Der geheime Schlüssel zum Paradies

Schlüssel für den Zugang zum Innersten der Schlucht finden.

Was die Wasserfälle anging, kamen die Entdecker nicht weiter. Die Bewohner der Region wiegelten ab. Es sei unmöglich, in das

In den Wolken verloren

Innerste der steilen Schlucht vorzudringen. Auch gebe es dort

Baker ging darauf ein. 1995 unternahm er eine sechswöchige

keine Wasserfälle. Nach ein paar Tagen kehrte das Team um.

Expedition zu dem mysteriösen Berg. «Das war, als würde man einer Erzählung aus Harry Potter folgen», sagt er heute. Und

Die Magie von Pemako liess Baker jedoch nicht mehr los,

tatsächlich sollte ihn die Reise seinem Ziel näherbringen. Denn

und der Gedanke an die letzten unerforschten Kilometer wurde

als Baker in die Tsangpo-Schlucht zurückkehrte, waren die

zu einer regelrechten Obsession. «Irgendwas musste dort doch

Dorfbewohner beeindruckt: Der ausländische Forscher hatte

sein, wenn auch keine Wasserfälle. Warum sonst haben die

sich an die Vorgaben der Tradition gehalten. «Sie sagten: ‹Okay,

Tibeter die Region als Eintrittstor in ein verlorenes Paradies

jetzt seid ihr Eingeweihte. Jetzt sagen wir euch, wie ihr nach

beschrieben?»

unten kommt›», erzählt Baker.

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… Wandteppiche aus Nepal und Tibet sowie kunstvoll verzierte Möbel aus dem gesamten Himalaja-Raum schmücken Bakers Wohnhaus.

Jäger führten Baker und seine Begleiter über schnee-

In Pemako führten Jäger die Gruppe über Schnee und von

bedeckte Pässe, Erdrutsche und Steilhänge zu einem Vor-

Dickicht überwachsene Abhänge immer tiefer in die Schlucht.

sprung, von dem aus sie die Regenbogenfälle sehen konnten, die

Das Wetter war die meiste Zeit über extrem schlecht. «Wir

schon von der Expedition aus dem Jahr 1924 beschrieben

hatten keine Sicht und waren einfach nur in den Wolken ver-

werden. Dann hörte Baker in den Tiefen der Schlucht, mehr als

loren.» Beinahe die ganze Zeit über konnten die Männer die

tausend Meter unter sich, ein Donnern. Er sah, wie Gischt

Quelle des lauten Donnerns weit unter sich nicht sehen.

aufwirbelte. Ob es sich wirklich um einen Wasserfall handelte, konnte er nicht genau sehen. Er beschloss, das nächste Mal

Abstieg in donnernde Tiefen

Kletterausrüstung mitzubringen.

Erst nach einem schwierigen Abstieg mit professioneller Kletterausrüstung, der mehrere Tage dauerte, sahen Baker und

Zurück in den USA stellte Baker sein Projekt der National

sein Team das Ziel der Expedition: Sie blickten auf einen mehr

Geographic Society vor. Die führenden Köpfe der Gesellschaft

als 30 Meter hohen Wasserfall, der mit ohrenbetäubendem

waren sofort von der Idee begeistert, den Forscher bei der

Donnern in die Tiefe stürzte. Mehr noch: Auf der anderen Seite

Suche nach dem sagenumwobenen Wasserfall zu unterstützen.

der Schlucht war, rund zehn Meter über dem Wasser, ein etwa

Sie stellten ihm den Dokumentarfilmer Bryan Harvey an die

sieben Meter grosser, ovaler Eingang zu einer Höhle zu sehen.

Seite. Mit dabei waren auch Hamid Sardar, ein enger Freund

«Es war wirklich erstaunlich zu erleben, dass sich plötzlich

Bakers, und Ken Storm Jr., der Baker bereits im Jahr 1993 bei

Dinge als wahr erwiesen, die ich selbst abgeschrieben hatte und

dessen erster Expedition nach Pemako begleitet hatte. Ende

die 75 Jahre zuvor als phantastische erdkundliche Erzählungen

1998 machten sich die Männer auf den Weg.

und als Wundersage abgetan worden waren», sagt Ian Baker.

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Porträt | Ian Baker

der Zugang zu einem verborgenen Paradies. «Hätte der Tunnel einfach nach 20 Metern aufgehört, oder wäre er tagelang weitergegangen?», fragt sich Baker noch heute und kennt die Antwort nicht.

Wendepunkt Denn kurz nachdem die chinesischen Behörden erfuhren, dass ein ausländisches Entdeckerteam als Erstes den sagenumwobenen Wasserfall in der Tsangpo-Schlucht entdeckt hatte – und nicht ein chinesisches –, sperrte China die Region für Ausländer. «Ich habe seitdem versucht zurückzugehen», sagt Baker. Aber als Ausländer habe er keine Chance. «Wir haben zum Teil deswegen Erfolg gehabt, weil wir uns völlig auf die Bedingungen der Menschen dort eingelassen haben», re­ kapituliert Baker. «Die eigentliche Faszination bestand darin, dieser tibetischen Schatzkarte zu folgen.» In den Tagen nach seiner Entdeckung habe er langsam angefangen zu realisieren, dass sich sein Leben schlagartig verändern würde, erzählt er heute. Immer noch merkt man ihm an, wie sehr ihn das, was folgte, überrumpelt hat. Die Medien feierten Bakers Entdeckung als Sensation. Er gab zahllose Interviews in New York, Washington, Hongkong. «Danach kamen Leute zu mir…», sagt Baker und atmet tief durch. «Das war verrückt! Die haben 60 000 Dollar, 100 000 Dollar geboten, damit ich sie an diesen Ort bringe.» Natürlich habe er diese Angebote abgelehnt, fügt er hinzu. «Aber ich habe verstanden, wie gefährlich das alles werden kann.» Renommierte Verlage standen plötzlich Schlange und überboten sich gegenseitig für einen Buchdeal. Baker unterschrieb einen Vertrag mit Penguin Books. Der Dalai Lama schrieb das Vorwort zu Ian Bakers Buch über die TsangpoExpedition.

Dort erschien 2004 sein Buch «Das Herz der Welt». Darin beschreibt er detailliert seine Reisen nach Pemako in den Jahren 1993 bis 1998.

«Die Tatsache, dass es diesen Tunnel gibt, der in den Fels führt,

Verheissungsvolle Magie der Pflanzen

war einfach nur umwerfend.» Die Abenteurer befanden sich in

Im Moment ist Baker mit den Vorbereitungen für seine nächste

einer eigentümlichen Landschaft. «Wir waren plötzlich in einer

Expedition beschäftigt, zu der er später in diesem Jahr auf­

subtropischen Welt. Man schaute nach oben und sah Gletscher,

brechen möchte. Sie wird ihn wieder in die Pemako-Region

und um uns herum wuchsen wilde Bananen», erzählt Baker.

führen, dieses Mal jedoch von der indischen Seite aus. Und

«Es ist ein Ort, an dem sich alle geografischen Zonen der Erde

wieder geht es darum, einem grossen Mysterium auf den Grund

verdichten.»

zu gehen: Baker wird sich mit einem Pflanzensammler aus Bhutan auf den Weg in eine abgelegene Region machen, in der

Es gelang den Männern jedoch nicht, zu dem mysteriösen

es Überlieferungen zufolge fünf Pflanzen geben soll, die

Tunnel auf der anderen Seite der Schlucht zu gelangen. Baker

magische Kräfte besitzen. Eine von ihnen, erzählt Baker, soll es

erwog alles Erdenkliche, um einen Weg auf die andere Seite zu

Menschen ermöglichen, sich an frühere Leben zu erinnern.

finden, erzählt er heute. Es gab keine Möglichkeit, die reissen-

Eine andere, sich in wilde Tiere zu verwandeln. «Wir wissen

den Fluten des Tsangpo zu überbrücken. In jahrhundertealten

nicht, was das für Pflanzen sind», sagt Baker. «Aber sie sind

Prophezeiungen ist die Rede davon, hinter dem Wasserfall liege

definitiv psychoaktiv.»

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«Es war ein Rausch, in einer so ursprünglichen Welt zu sein. Man wollte sich verlieren, verschmelzen. Das war natürlich gefährlich.»

Und vor allem darum gehe es ihm bei seinen Expeditionen, erklärt Baker dann: Der Weg sei genauso wichtig wie das eigentliche Ziel. Ganz gemäss einem Leitsatz für tibetische Pilger, den er sich vor langer Zeit zu Herzen genommen hat: «Was auch immer passiert, nimm es mit auf den Weg.» Und so ist Baker heute beinahe froh darüber, dass er nicht erkunden konnte, was sich hinter dem mysteriösen Tunneleingang befindet, den er gegenüber dem Wasserfall auf der anderen Seite der Tsangpo-Schlucht gesehen hat. «Es ist wichtig, sich Orte in der Welt zu bewahren, die uns träumen lassen.»

Und auch dieses Mal wird es nicht einfach werden. Die Be­

Sascha Zastiral ist der Bangkok-Korrespondent des Weltreporter-Netzwerkes,

wohner des Berges, an dessen Hängen die mysteriösen Pflanzen

eines Zusammenschlusses freier Korrespondenten in aller Welt. Seit 2007 be-

vermutet werden, sollen Fremden gegenüber feindselig einge-

richtet er aus Süd- und Südostasien. Er schreibt unter anderem regelmässig

stellt sein. Ein weiteres Mal wird Baker sein ganzes Geschick

für die «Neue Zürcher Zeitung». Artikel von ihm sind auch in «Der Spiegel»,

und seine Phantasie einsetzen müssen, um voranzukommen.

«Stern» und «Geo» erschienen.

Ian Baker vor dem geheimnisvollen Wasserfall, der Pforte zum verlorenen Paradies.


Portfolio | KinderFragen

Wieso? Weshalb? Warum?

Ist doch kinderleicht? Von wegen. Wenn Kinder fragen, wird es erst richtig interessant. Wir haben uns mal umgehรถrt. Nur so aus Neugier.

10 | CREDO


Hast du sonst noch Fragen? Ich könnte versuchen, sie dir zu beantworten. Ich will Künstlerin werden, weil die immer so tolle Kleider anhaben. Was muss man tun, um eine Künstlerin zu sein? Man muss gut singen können, zeichnen, musizieren. Irgendwas. Ich tanze gern. Aber jetzt fällt mir auch wieder ein, was ich immer schon wissen wollte. Warum ist es bei uns immer so kalt? Ich verstehe das nicht. Meine Mutter sagt das immer, und sie flucht dabei. Vielleicht … Ja? Vielleicht ist es bei uns so kalt, weil es woanders immer warm ist. Die Sonne kann nicht überall sein.

Sonya, siebe

Vater: Journa

n Jahre, Mosk

list, Radiomod

au, Russland

erator, Mutte r:

Zeichnerin

Klingt logisch. Was bedeutet das, «logisch»? «Logisch» sagen Erwachsene, wenn sie meinen: «Alles klar.» Ach so.

Gibt es Dinge, die du unbedingt wissen willst? Wir fahren bald in die Ferien, in ein Land, das Kroatien heisst. Dort soll es immer warm sein und es gibt einen Strand. Mein Papa sagt, die Menschen dort sprechen eine andere Sprache, die wir nicht verstehen. Warum reden die anders?

«Warum ist es bei uns immer so kalt?» Sonya Was glaubst du? Mein Papa sagt, in jedem Land auf der Welt reden die Menschen eben anders und in Kroatien reden die Menschen kroatisch. Weiss dein Papa alles? Ja klar. Und wenn er mal was nicht weiss, zu wem gehst du dann? Zu meiner Lehrerin. Sie ist sehr nett, aber auch sehr streng. Sie

, Harlem/New , sechs Jahre

Leora

York, USA

nstler

erin, Vater: Kü

Mutter: Lehr

war lange Zeit schwanger, und jetzt ist das Baby da. Sie hat uns immer genau erklärt, wie alles funktioniert und wie das Baby im Bauch wächst und überleben kann. Sie erzählte zum Beispiel, dass das Baby mitisst, wenn sie etwas isst. Das hat mich immer schon interessiert. Jetzt weiss ich es.

«Wieso gibt es fliegende Eichhörnchen?» Leora CREDO | 11


Portfolio | KinderFragen

Weisst du, was Neugier bedeutet? Meine Mutter hat es mir erklärt. Wenn man unbedingt etwas wissen will, dann nennt man das Neugier. Genau. Würdest du sagen, du bist ein neugieriges Kind? Ich glaub schon. Was willst du denn unbedingt wissen? Ich will wissen, wie man Filme macht, ich verstehe das nicht. Ich sehe Filme immer in unserem DVD-Spieler und frage mich: «Woher kommen all die Bilder und die Geräusche?» Und sonst? Wieso gibt es fliegende Eichhörnchen? Ich hab nie eins gesehen,

weiz re, Zürich, Sch af h Ja t ch a , in n gr Leo tin, Vater: Foto

aber eine Freundin von mir hat mir erzählt, dass es sie gibt. Aber wie soll denn ein Eichhörnchen fliegen? Die haben doch keine

anistikstuden

Mutter: Germ

Flügel. Was denkst du? Vielleicht fliegt es mit dem Schwanz oder vielleicht hat es Flügel aus Papier.

Leonin, welche Fragen beschäftigen dich zur Zeit? Viele.

Gibt es sonst noch Fragen, die dich interessieren, aber du findest einfach keine Antwort?

Zum Beispiel?

Ja, wie macht man Babys? Ich hab meine Mami gefragt, aber sie

Warum fährt der TGV von Zürich nach Paris immer auf Gleis 15?

sagte mir, es sei zu kompliziert, mir das zu erklären.

Wer entscheidet das? Ich verstehe das nicht.

Macht dich das wütend, dass sie es dir nicht erklärt?

Und sonst?

Nein. Ich will einfach ganz schnell gross werden, damit ich dann

Mich interessiert, woher die Wörter kommen. Wieso heisst der

so bin wie Erwachsene und alles verstehe.

Tisch Tisch und nicht einfach Hawaii. Und wenn Tisch Hawaii hiesse, wie hiesse dann Hawaii? Wer darf entscheiden, wie die

Zu wem gehst du, wenn du Fragen hast?

Dinge heissen? Die Erwachsenen sagen immer: «Das ist einfach

Zu meinem Vater, er weiss sehr viel.

so.» Aber ich will es halt wissen und es lässt mich nicht in Ruhe. Meine Mutter sagt dann, ich soll an was anderes denken, aber

Weiss er alles?

ich bringe diese Fragen nicht aus meinem Kopf: Warum bleiben

Nein, manchmal weiss er nur einen Teil der Antwort und dann sagt er: «Lass mich noch drüber nachdenken, dann verrate ich dir den Rest.» Was hast du in letzter Zeit so gelernt? Ich hab gelernt zu schwimmen.

«Warum haben die Menschen Haare in der Nase?» Leonin

Interessierst du dich für Erwachsenen-Dinge? Verstehst du alles, was deine Eltern reden und machen? Nein. Ich verstehe nur wenig. Darf ich jetzt wieder spielen gehen? wir nicht in der Luft, wenn wir springen? Wer hat Fussball erfunden? Oder letzte Woche: Da waren wir im Zoo und auf der Rückfahrt haben wir eine tote Schwalbe am Boden entdeckt. Ich

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habe sie mit Blättern zugedeckt, damit sie nicht nass wird, es

Gibt es Dinge, die du nicht verstehst und gerne lernen

hat doch so geregnet. Und wenn sie jetzt tot ist, wo ist sie dann?

würdest? Wenn Mama und Papa über Erwachsenen-Sachen reden, ver­

Was glaubst du?

stehe ich sie kaum. Ich frag dann, was sie sagen, und sie sagen,

Im Himmel. Aber von da kam sie ja. Unter dem Boden vielleicht,

ich soll meine Nase da nicht reinstecken.

ich weiss es nicht. Was tust du, um das rauszufinden? Ich frage meinen Papa oder meine Mama. Oder meine Lehrerin: «Warum haben die Menschen Haare in der Nase?», habe ich sie mal gefragt. Und sie meinte, damit der ganze Schleim nicht raustropft. Stimmt das? Gab es etwas, was du in letzter Zeit gelernt hast und was

«Stimmt es, dass Leute, die im Toten Meer schwimmen, sterben?» Xia Jiayi

dich sehr beeindruckt hat? Hä? Das verstehe ich nicht. Etwas, was du zum Beispiel in der Schule gelernt hast, und

Was möchtest du denn wissen?

du dachtest: «Verdammt cool!»

Wann lernen wir endlich die Bruchzahlen in Mathe? Ich will auch

Wir haben uns die Welt angeschaut, das ist eine Kugel, das

ganz doll wissen, wie mein Cousin Japanisch gelernt hat. Viele

habe ich nicht geglaubt, weil, wenn ich aus meinem Fenster

Spiele kommen aus Japan, und ich bin neidisch, weil er sie ver-

schaue, dann ist alles flach, bis zu den Bergen. Da ist ja gar

steht und ich nicht.

nichts rund, oder? Das fand ich schon cool. Früher, als ich kleiner war, da hatte ich viel mehr Fragen, weil ich ja auch

Was tust du, wenn du etwas nicht verstehst?

weniger wusste. Jetzt weiss ich schon viel mehr, also frage ich

Ich schlage in einem Wörterbuch nach oder frage Mama. Meine

weniger. Wie ist denn das, wenn man gross ist: Weiss man

Klassenkameraden haben auch keine Ahnung.

dann alles? Gibt es etwas, was dich in letzter Zeit beeindruckt hat? Hm ... eine Freundin von Mama hat mir eine Barbie geschenkt, die ich noch nie gesehen hab. Die war sehr beeindruckend, mit vielen Kleidern und Zusatzsachen. Hier, die da! (holt die Barbie) An meinem ersten Schultag war ich sehr aufgeregt, dass ich viele neue Freunde finde. Ich war ganz schüchtern, als ich zum Direktor musste. Aber jetzt hab ich keine Angst mehr. Gibt es etwas, was du übers Ausland wissen willst? In welcher Sprache bellen Hunde dort? Und sprechen Papageien im Ausland Chinesisch? Wie viel Uhr ist es jetzt in Amerika? Mein Papa hat mir erklärt, dass es da Nacht ist, wenn bei uns Tag ist. Wie viel Geld verdient man in Amerika? Und was ist mit dem Lied «Big City?» Singt ihr das auch? Gibt es denn Unterschiede zwischen Chinesen und Ausländern? Ausländer sagen «hello» und Chinesen «nihao». Das ist der grösste Unterschied. Und der Papa sagt, Ausländer essen rohes

Xia Jiayi genannt «Bebe», sieben Jahre, Chongqing, China

Vater: Ingenieur, Mutter: Uni

Essen. Italiener essen Ingwer wie Obst. Das sagen die Eltern von einem Klassenkameraden. Und du hast eine hohe Nase.

versitätsverwaltungsangestel

lte CREDO | 13


Portfolio | KinderFragen

Apropos «Big City», wusstest du, dass deine Heimatstadt die

Wer könnte dir darauf eine Antwort geben?

grösste Stadt der Welt ist?

Hm, vielleicht … mein Lehrer?

Das wusste ich nicht. Ich weiss nur, dass Russland das grösste Land der Welt ist.

Gibt es denn etwas, was er euch schon beigebracht hat und was du toll fandest?

Weisst du, wie viele Leute in Chongqing leben?

Ja, wir lernen gerade die Kinderrechte. Das finde ich toll, dass

Bestimmt 1300! Mehr? Lass mich raten, vielleicht eine Million?

es die gibt. Hier leben viele Kinder auf der Strasse, aber eigent-

Noch mehr? Die Zahl in China hat sicher viele hundert Stellen.

lich sollten sie ja bei ihrer Familie und in einem Haus leben dür-

Ich erzähl dir was, Tante: Blauwale sind viel grösser als wir

fen. Sie haben nämlich ein Recht darauf! Und alle Kinder haben

Menschen.

ein Recht auf genügend Nahrung und darauf, in die Schule gehen zu dürfen und etwas zu lernen. Aber es gibt viele Menschen,

Was möchtest du über deine Heimatstadt wissen?

die lassen Kinder arbeiten. Manchmal sogar ihre eigenen Kin-

Ich will wissen, warum es so heiss ist. Ich hab gehört, Chong­qing

der. Damit sie etwas zu essen haben. Das ist dann sehr kompli-

ist die heisseste der drei heissen Städte in China. Stimmt es, dass Leute, die im Toten Meer schwimmen, sterben?

«Was wohl die Sonne macht, wenn sie untergegangen ist?» Joia ziert. Die Kinder machen dann ja auch Arbeit, die eigentlich ein Erwachsener machen sollte. Und dann können sie nicht spielen und nicht in die Schule gehen. Gibt es einen Ort, den du einmal kennenlernen möchtest? Ja, das Schwimmbad! Ich würde mich gerne gemeinsam mit meiner Mutter zu einem Schwimmkurs anmelden. Gibt es sonst noch etwas, was dich interessiert? Vielleicht in Zusammenhang mit Jungs? Ich würde gerne wissen, warum sie immer Armdrücken spielen.

ik , Mosamb iter a ir e B , re h itarbe ia, acht Ja aftliche M

Jo

issensch Eltern: W r e d f ru ität e B n Univers tholische a k r e d n a

Was würdest du gerne wissen? Was willst du lernen? Wie man Kekse backt. Besonders die Kekse der Marke «Maria», die esse ich am liebsten. Und sonst? Mich interessiert, was wohl die Sonne macht, wenn sie unter­ gegangen ist.

14 | CREDO

Und das, obwohl sie ja gar keine Kraft haben (lacht).


Essay | Lebenslanges Lernen

Der Antrieb zur

Erkenntnis Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft kann man

lernen wollen. Es bedarf aber einer Erklärung, was uns denn am

auch die Kinder gar nicht früh genug fördern. Sollte

Lernen hindert, zu Schulunlust führt und die Neugier erlahmen

man meinen. Doch der Lernpädagoge Salman Ansari

lässt. Dies ist eine Frage nach der Qualität der Lernumgebungen.

sieht das ganz anders. Bildung ist blosser Ballast, wenn ihre Aneignung nicht von der natürlichen Neugier

Begreifen

an­getrieben ist.

Kindliches Lernen ist unmittelbar mit der Anwendung von erworbenem Wissen verbunden. Ein Kind, das sich zum Beispiel

In keinem Lebensalter ist die Bereitschaft, zu lernen und neue

dem mühsamen Unterfangen widmet, laufen zu lernen, übt

Erfahrungen zu machen, so ausgeprägt wie in der frühen Kind-

diesen Vorgang unermüdlich ein, bis es laufen kann. Keinem

heit. Die Antriebskraft hierfür ist die Neugier oder – um einen

Kind würde es – trotz vieler Misserfolge – einfallen, plötzlich

älteren Begriff zu verwenden – die Neubegierde, also das Ver-

aufzugeben. Versuche von Erwachsenen, ihm dabei zu helfen,

langen nach Neuem, das Begehren, sich selbst und die Welt

werden oft vehement abgewiesen. Ähnliche Beispiele gibt es

besser zu verstehen und die eigenen Grenzen auszuloten. Die

zuhauf. Das ursprüngliche Lernen beruht auf sinnlichen Er­

Neugier wachzuhalten bedeutet, die Lust am Entdecken zu

fahrun­gen: Das Kind will begreifen, spüren, anfassen, riechen,

fördern und die Fantasie anzuregen, die Persönlichkeit zu

lauschen. All dies möchte es auf seine eigene Weise und in

stärken und zu entfalten, Wissen altersgerecht zu vermitteln

seinem eigenen Tempo ausprobieren. Ein Eingriff von Erwach­

und – vor allem natürlich – mit Vorwissen zu verknüpfen.

senen wird oft als störend empfunden und kann auf Dauer zu übertriebener Ängstlichkeit und zu Entmutigung führen.

Wie Neugier ein Leben lang lebendig bleiben kann, ist eine drängende Frage in unserer immer komplexer werdenden

Erforschen und integrieren

Gesellschaft. Die in Schule und Ausbildung erworbenen Fähig-

Kleine Kinder können nicht selbst entscheiden, welche Lern-

keiten reichen heute bei weitem nicht mehr aus, um einem

erfahrungen sie in ihrer geistigen und emotionalen Entwicklung

immer längeren Berufsleben Sinn zu geben. Es bedarf also keiner

weiterbringen und welche nicht. Dies zu erforschen ist die Auf­

weiteren Erklärung für die Feststellung, dass die Grundlagen für

gabe von Eltern, Bezugspersonen, Pädagogen, Entwicklungspsy­

eine lebenslange Lernbereitschaft früh gelegt werden müssen.

chologen und Neurobiologen. Letztlich verkümmert jedes Tun, in

Es bedarf auch keiner Erklärung, dass wir alle naturgemäss

das man sich nicht selbst emotional und kreativ einbringen kann,

CREDO | 15


Essay | Lebenslanges Lernen

zu blossem Aktionismus, zu reiner Unterhaltung und hinterlässt

nicht über die Blätter.» Wir stellen uns nun vor, wie die Natur

keine dauerhaften Spuren und Verknüpfungen im Gehirn.

nach einem heftigen Regenguss aussieht, und stellen gemeinsam fest, dass die Blätter nicht dicker werden und die Gräser unver-

Ein Lernen kann auch nicht stattfinden, wenn Lehrende und

ändert aussehen.

andere Bezugspersonen ihre eigenen Vorstellungen und Lebenserfahrungen auf die Kinder zu übertragen versuchen. Inwieweit

Wir nehmen Blätter mit in den Gemeinschaftsraum, und

man die Neugier immer neu entfachen und erhalten kann, hängt

ich schlage vor, Wassertropfen auf die Blätter zu setzen, um

weitgehend davon ab, ob die Bezugspersonen in der Lage sind, die Sicht des Kindes, seinen geistigen, emotionalen und sprachlichen Entwicklungsstand zu erkennen und in wohlüberlegte Konzepte zu integrieren.

Benennen Als Lehrender möchte ich die Kita-Kinder dazu animieren, mir viel zu erzählen und sich mir im Gespräch mittels vertrauter Bilder aus ihrer Wirklichkeit mitzuteilen. So kann ich erkennen, was sie bereits wissen, wie sie sich die Welt aneignen, und die kindlichen Denkmuster nachempfinden lernen. Da sie mit anderen Kindern zusammen sind, lernen sie auch, darauf zu hören, was diese zu sagen haben, über welche Erlebnisse sie berichten und welche sprachlichen Formen sie benutzen. So werden sie neugierig aufeinander und lernen zu verstehen, was die anderen sagen – sie tauschen sich aus. Erst im Dialog kommen unterschiedliche Vorstellungen, Überzeugungen und Bilder zum Ausdruck. Ein Beispiel: Heute habe ich für jedes Kita-Kind Blätter von verschiedenen Bäumen und Sträuchern auf dem Gelände mitgebracht. Sie sollen die Blätter nach Ähnlichkeit sortieren. Schnell erkennen sie die Paare. Wir vergleichen die Blätter miteinander und versuchen, ihre Form zu beschreiben, was nicht ganz leicht ist. Sie finden aber immerhin einige Eigenschaftswörter wie oval, rund, glatt, gezackt. Nun gehen wir hinaus und suchen die zugehörigen Bäume, in unserem Fall Kastanie, Eiche und Rotbuche. Wir betrachten und befühlen ihre Rinde und die Zweige und begreifen, dass sie sich deutlich voneinander unterscheiden. Es gibt glatte, graue, graugrüne, silbergrüne, schwarzbraune, rissige Rinden, die Zweige können elastisch, hart, gebogen, grünbraun sein. Die Kinder sind erstaunt darüber, dass es bei einem einzigen Baum so viel zu entdecken und zu beschreiben gibt.

Experimentieren Wir fragen uns, wie die Bäume Wasser aufnehmen, ob über die Blätter oder die Wurzeln. Ein Kind ist der Meinung, die Pflanzen würden das Wasser nur über die Wurzeln «trinken». «Wie meinst du das?», frage ich. Antwort: «Man begiesst die Pflanzen ja auch

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beobachten zu können, ob sie vielleicht doch allmählich von

leder und experimentieren. Den Kindern wird klar, dass

dem Blatt aufgenommen werden. Jedes Kind erhält einen

Baumwolle Wasser «trinken» kann, Alufolie jedoch nicht. Nun

Becher mit Wasser: Und tatsächlich dringen die Tropfen nicht in

sind sie sich fast sicher, dass Pflanzen das Wasser über die

die Blätter ein, aber sie glänzen wunderschön. Anschliessend

Wurzeln aufnehmen und in Stamm, Äste und Blattwerk ver-

stellen wir uns die Frage, welche Stoffe Wasser «trinken» und

teilen können. Die Kinder fragen nicht danach, wie das Wasser

welche nicht. Hierzu holen wir auf Vorschlag Papier, Alufolie,

bis in die Wipfel der grossen Bäume steigen kann.

ein Baumwollhandtuch, Butterbrotpapier sowie ein Fenster­ Das Beispiel mag einen Eindruck von der unendlichen Vielfalt der Themen und ihrer möglichen Vertiefung an kommenden Tagen oder in späteren Jahren vermitteln. Es gibt hier keine richtigen und falschen Antworten. Wir tasten uns heran, wie die Menschen sich seit jeher an zunächst unbegreifliche Phänomene weiter und weiter herantasten. Jede Antwort wird berücksichtigt und gemeinsam geprüft. Eine wichtige Frage des Lehrenden als Erklärungs- und Denkanstoss lautet stets «Wie meinst du das?»

Motivieren Einer Erzieherin, die an einer meiner Fortbildungsveranstaltungen teilnahm, wurde klar, dass es sehr einfach sein kann, neue Wege zu gehen, wenn man seinen Blickwinkel verändert – und sei es nur ein wenig. Die Kinder hatten getrocknete Bohnen, Wacholder, Erbsen, Linsen, Maiskörner und Rosinen bekommen und sollten Vergleiche anstellen, die Eigenschaften benennen und somit ihren Wortschatz erweitern sowie Grössenund Mengenverhältnisse einschätzen lernen. Das Wort «Rosine» hatten viele noch nie gehört. Zwei Kinder unterhielten sich darüber, ob es eine Gemeinsamkeit zwischen Rosinen und Trauben gebe. Sofort mischte sich die Erzieherin ein und erklärte: «Eine Rosine ist eine getrocknete Traube.» Hier wurde in der späteren Besprechung angesetzt und in einem anschliessenden Interview erzählte die Erzieherin: «Mir wurde plötzlich klar, dass ich das immer getan habe. Ich habe den Kindern auf eine Frage eine direkte, erklärende Antwort gegeben. Inzwischen habe ich erkannt, dass die Neugier der Kinder erlahmt, wenn sie auf ihre Fragen stets derartige direkte Antworten bekommen. Die Gegenfrage ‹Wie meinst du das?› motiviert sie jedoch, sich eingehender mit der Frage zu be­ schäftigen und sich ihre eigenen Gedanken über ein Phänomen zu machen.» Diese Erkenntnis ist ein schönes Beispiel für lebenslanges Lernen und die Chancen, die sich uns eröffnen, wenn wir uns als Erwachsene die Welt gemeinsam mit den Kindern aneignen.  Salman Ansari, 1941 in Indien geboren, arbeitet seit den sechziger Jahren in Deutschland. Der promovierte Chemiker und Lernpädagoge unterrichtete an der Odenwaldschule. Heute ist er ein gefragter Vortragender. Jüngst erschien sein Buch «Rettet die Neugier! Gegen die Akademisierung der Kindheit». CREDO | 17


Reportage | Urban Explorers

Aufbruch in unbekanntes Terrain

18 | CREDO


Text: Sacha Batthyany | Fotos: Simon Cornwell und Bradley Garrett Sie klettern auf Wolkenkratzer, übernachten in stillge­

grimmigen Wächtern und bissigen Hunden gehört Asbest zu den

legten Bunkern und erkundschaften verlassene Schlös­

Dingen, die Simon nicht ausstehen kann. Er scheint nach-

ser: Unterwegs mit Urban Explorers, den Entdeckern

zudenken und im Kopf alles durchzugehen, was er über dieses

von heute.

Sanatorium weiss: die Geschichte, die Bauart, die Materialien, die Ein- und Ausgänge. Dann schüttelt er den Kopf. «Das ist

«Wie lange noch?», ruft Tom.

Gips. Kriechen wir weiter.»

«200 Meter», sagt Simon, «vielleicht mehr.» Er schaut auf seinen Plan. «Wir sind direkt unter der Küche.»

Simon, Tom und Mark haben sich vor dieser Expedition nie

«Das hast du schon vor zehn Minuten gesagt», ruft Tom zurück.

gesehen, am Bahnhof in Colchester, ihrem Treffpunkt, erkennen

«Verlier jetzt nicht die Nerven und kriech weiter.»

sie sich an den Bauarbeiter-Helmen, die an ihren Rucksäcken baumeln, und den dunklen Kapuzenpullovern: Simon Cornwell,

Es ist Samstagmorgen, halb acht, die meisten Einwohner

42, arbeitet in einer Softwarefirma in London. Tom Nelson, zehn

von Colchester, einer Kleinstadt nordöstlich von London, schla-

Jahre jünger, ist Architekt und Verfasser von Science-Fiction-

fen noch. Einige werden mit Pantoffeln in die Küche schlurfen,

Romanen, und Mark Simmons, 25, studiert Philosophie. Die drei

sich Kaffee, Toast und Eier machen und in den verregneten

verbindet unter der Woche nichts. Am Wochenende aber nennen

Himmel starren. Simon, Tom und Mark robben zehn Meter unter

sie sich Urban Explorers: Sie klettern durch stillgelegte U-Bahn-

der Erde im feuchten Heizungsschacht eines ehemaligen Sana­

Schächte, schwimmen in unterirdischen Flüssen, entdecken

to­ri­ums für psychisch Kranke und suchen die Wäscherei. «Wenn

vergessene Kavernen und verlassene Gebäude. Ausgerüstet mit

wir es bis zur Wäscherei geschafft haben», hat Simon am Abend

alten Karten, die sie sich vom Grundbuchamt holen, machen sie

zuvor in einem Pub gesagt, «dann sind wir drin. Dort befindet

sich auf die Suche nach unbekanntem Terrain, der Terra

sich ein Abwassergulli, den brechen wir auf.» Und sie alle haben

incognita: Es ist die Neugier, die sie antreibt.

sich gefreut, einander auf die Schultern geklopft und noch ein Bier bestellt. Wie schwierig es sein würde, sich in den modrigen Schächten eines hundertjährigen Spitals zurechtzufinden, in totaler Dunkelheit, daran dachte – ausser Simon – in diesem Moment niemand. «Ich hasse diesen Schacht», flucht Mark vor sich hin. Die

«Wie sieht es auf dem Dach des Tate-Modern-­ Museums aus?» Mark Simmons

meiste Zeit verbringen die drei auf den Knien, die Nasenspitzen nur wenige Zentimeter über dem lehmigen Boden, was besonders dann unangenehm ist, wenn ihnen eine tote Ratte den Weg versperrt. Oder ein vor sich hin faulender Fuchs.

«Ich frage mich oft», erzählt Mark im Pub mit vollem Mund, bei Hühnchen auf Knoblauchbrot, «wie es wohl auf dem Dach des Tate-Modern-Museums aussieht oder zehn Meter unter dem

Zehn Meter unter dem Eiffelturm

Eiffelturm – und dann mache ich mich auf den Weg, weil ich

Mark, der etwas zurückgefallen ist, ruft von hinten: «Der weisse

wahnsinnig werde, wenn ich es nicht tue.» Es sind Kinderfragen,

Staub da, ist das eigentlich Asbest?» Simon und Tom halten

die sie sich stellen, was nicht heisst, dass sie kindisch sind:

inne. Asbest? Es ist jetzt nur noch ihr Atmen zu hören. Neben

Wegen solcher Fragen flogen Menschen zum Mond.

CREDO | 19


Reportage | Urban Explorers

Mit Simons Auto fahren sie vom Pub in die Nähe des Sanatoriums, schlafen ein wenig, zurren sich dann die Stirnlampen fest und gehen los. Mit einem Metallstück hebt Simon einen Kanaldeckel hoch, lässt die anderen beiden vor, schlüpft hinein und schliesst den Deckel von innen mit einem lauten Klang – es ist der Moment, in dem sie sich von der Welt in Colchester verabschieden: den Coffeeshops, wo viel zu blasse Kinder Zimtschnecken essen; den Einfamilienhäusern aus Backstein; den penibel zurechtgestutzten Gärten, in denen jetzt die ersten Tulpen blühen. Mit dem Schliessen des Deckels betreten sie eine Gegenwelt: Es ist die Welt der Urban Explorers.

Wie einst die Seefahrer nach wochenlanger Fahrt Begonnen hat alles, wie so oft, in San Francisco, als eine Gruppe von Performancekünstlern namens San Francisco Suicide Club Ende der siebziger Jahre begann, den urbanen Raum neu zu definieren. Sie lebten auf Dächern, schliefen auf Brückenpfeilern, feierten Partys in der Kanalisation. Sie waren Hippies, und es war die Zeit der sozialen Bewegungen. Alle Menschen in San Francisco waren für oder gegen irgendwas, vieles verlief im Sande. Erst Mitte der neunziger Jahre tauchte der Begriff «Urban Explorers» wieder auf. Der Kanadier Jeff Chapman, besser bekannt unter seinem Pseudonym Ninjalicious, veröffentlichte ab 1996 als Heftchen und online ein Fanzine mit dem Titel «Infiltration», in dem er Stadtexpeditionen beschrieb und sich an Orte begab, an die sich normale Einwohner nicht begeben. Später schrieb er das Buch «Access All Areas», auf

«Willkommen in Severalls», sagt Simon Cornwell, der die Expedition in das verlassene Sanatorium nordöstlich von London leitet. «Verlassene Räume sind voller Leben», fügt Mark hinzu, ein Philosophiestudent und begeisterter Urban Explorer.

Deutsch etwa: Freier Zutritt zu allen Bereichen. Es gilt unter Urban Explorers heute als Bibel, und Chapman ist ihr Held.

berücksichtigt habe. Ein Brite sei von der Leiter gefallen und sitze jetzt im Rollstuhl. Doch das Gefühl, etwas Neues zu ent­

Chapman formulierte den Codex, an den sich Urban

deck­en und Orte zu sehen, die niemand sonst sieht, überwiegt

Explorers zu halten haben: Nichts darf kaputtgemacht werden,

jegliche Bedenken. «Es gibt nichts Besseres, als nach einer Ex­

nicht mal eine Scheibe darf man einschlagen, um ein Gebäude

pe­dition im Bus zu sitzen», schreibt Vanishing-Girl, ein be­kann­

zu betreten, das unterscheide sie von Dieben und Vandalen. In

tes Forumsmitglied. «Ich pick mir dann jemanden raus, einen

diesem Sinne machen sich die Urban Explorers heute das

möglichst arroganten Geschäftsmann auf dem Weg ins Büro zum

ungeschriebene Gesetz zu eigen «Nimm nichts mit ausser Fotos,

Beispiel, und denke mir: ‹Du hast ja keine Ahnung, wo ich gera-

hinterlasse nichts ausser Fussspuren». Chapman starb 2005 mit

de war: auf der Spitze des Big Ben, in einem stillgelegten Kriegs-

31 Jahren an Krebs, wenige Wochen bevor sein Buch erschien.

bunker von Churchill oder 20 Meter genau unter deinem Bett.›»

Doch nach wie vor wächst die Zahl seiner Anhänger. Sie treffen sich virtuell in Foren wie «28 Days Later» und «Urban Exploration Resource», tauschen sich aus, versorgen sich mit Karten, geben Tipps, warnen vor der Polizei, rostigen Nägeln – oder eben Asbest. Es ist wie beim Bergsteigen, es gibt Risiken und tödliche Un­

«Nimm nichts mit ausser Fotos, hinterlasse nichts ausser Fussspuren.»

fälle: Ein Russe, so heisst es in den Foren, sei in der Londoner Ka­na­lisation ertrunken, weil er die Gezeiten der Themse nicht

20 | CREDO

Kodex der Urban Explorers


«Wir sind da. Die Wäscherei», sagt Simon. Mit seiner Stirn-

einer Küche so gross wie ein Theater. Heute modert Severalls

lampe leuchtet er nach oben und steigt die Leiter hoch. «Bist du

vor sich hin. Wo einst rund 3000 Menschen lebten, herrscht

sicher?», ruft ihm Mark nach, doch da hat Simon mit seinem

Stille. Zerfall. Das Areal wird von einem elek­ trischen Zaun

Rücken schon die Luke aufgestossen und ist draussen. Mark und

umgeben, der Eintritt ist verboten, Schilder warnen, Kameras

Tom folgen ihm. Sie klopfen sich gegenseitig den Dreck von den

stehen an allen Ecken. «So muss es sein», sagt Simon. «Würde

Hosen und schauen um sich, wie vor 600 Jahren die Seefahrer,

jeder Tourist es schaffen, hier einzudringen, würde es mich

die nach wochenlanger Fahrt auf Land stiessen. Doch statt

nicht reizen.»

Palmen und unbekannten Vögeln sehen Simon, Tom und Mark alte Boiler, Wände mit Pilzbefall und Tapeten, die in Bahnen von

Voller Tatendrang laufen Simon, Tom und Mark durch lange

der Wand hängen. «Willkommen in Severalls», sagt Simon, und

Gänge, sie fotografieren, lesen vergilbte Patientenberichte, die

man merkt seiner Stimme an, wie stolz er ist, wie aufgewühlt:

unachtsam liegengelassen wurden. Sie heben Kinderschuhe auf

Würde er die beiden anderen besser kennen, würde er sie

und spekulieren darüber, was das Kind von damals wohl heute

umarmen. Stattdessen verteilt Tom lauwarmes Bier in Büchsen.

tut, sie klettern unters Dach, sitzen auf den Betten und ver­ harren in alten Gummizellen, um sich vorzustellen, wie das

«Ich habe dieses Entdecker-Gen in mir»

damals war. Sie gehen vor wie Ethnografen oder Archäologen –

Das Severalls Hospital steht am Rande von Colchester und be­

und doch sind sie vor allem Abenteurer. Simon hält Monologe

herbergte von 1913 bis 1997 bis zu 2000 Patienten und 900

über die Zustände in den sogenannten Irrenhäusern zu Beginn

Angestellte. Es war ein kleines Dorf für sich, erbaut im viktoria-

des 20. Jahrhunderts, wo psychisch kranke Menschen oftmals in

nischen Stil, mit roten Backsteinen, einer eigenen Kapelle und

Handschellen eingeliefert und jahrelang regelrecht eingesperrt

CREDO | 21


Reportage | Urban Explorers

Der Geograf Bradley Garrett hat seine Doktorarbeit über Urban Exploring verfasst und inspizierte über 300 verlassene Orte: 2012 war er in Detroit (Bild rechts), zwei Jahre zuvor in der Abbey-Mills-Wasserpumpstation in London (Bild oben). Garrett: «In einigen von uns ist dieser Drang, Dinge zu erkunden, einfach zu gross. Die Neugier gewinnt.»

Was Simon Cornwell am liebsten tut: Schächte auskundschaften (Bild unten).

22 | CREDO


wurden. «Ab Mitte der vierziger Jahre haben sie die Patienten

32-jähriger Amerikaner mit Ziegenbart, der einst in L.A. einen

mit Elektroschocktherapien behandelt», sagt er nachdenklich

Skaterladen führte und heute an der renommierten Oxford

und freut sich in der nächsten Minute wie ein Kind, als es

University unterrichtet. Er hat soeben seine Doktorarbeit über

ihm gelingt, eine verschlossene Tür zu öffnen. Den Schacht

diese Stadtexpeditionen verfasst, zwei Jahre lang war er

des ehemaligen Küchenlifts klettern sie hinunter, als wäre es

unterwegs mit einer Gruppe von jungen Entdeckern. «In der

ein Spielplatz.

Ethnologie ist es normal, dass man mit den Menschen, die man untersucht, auch lebt und ihnen folgt, wohin auch immer. ‹Going

«Ich habe dieses Entdecker-Gen in mir, ob ich will oder

native› heisst das Verfahren. Man kann mit den Ureinwohnern

nicht», sagt Simon. «Ich muss immer wieder raus, muss mir Orte

von Papua-Neuguinea auf Jagd gehen, man kann aber auch mit

ansehen, die mich neugierig machen. In England ist das ja nicht

jungen Menschen in London U-Bahn-Schächte auskundschaften,

verboten. Solange man nichts beschädigt, darf man betreten,

so wie ich das getan habe.»

was man will, mit Ausnahme von Militäreinrichtungen. Meine Frau hält das kaum aus. Wenn wir in die Ferien fahren, sehe ich

300 Orte hätten sie inspiziert, Ruinen, Tunnel, Hochhäuser,

keinen Strand. Ich sehe Bunker, ich sehe Schächte, ich sehe ver-

Kirchen. Sie waren im April 2012 auf der Spitze des

lassene Leuchttürme und frage mich: ‹Wie sieht’s da wohl aus?›»

Wolkenkratzers The Shard in London, damals das höchste Gebäude Europas, und luden die Bilder ins Netz hoch, was ihnen

«Ich bin von der Welt, wie wir sie kennen, visuell gelangweilt.» Mark Simmons

eine enorme mediale Aufmerksamkeit bescherte. «Wir sind da hoch, weil wir wissen wollten, wie es da aussieht. Aber auch, weil wir zeigen wollten, was alles möglich ist in einer Stadt, in der hunderttausende von Kameras der Sicherheit dienen sollen. London ist eine Festung, eine scheinbar uneinnehmbare Stadt. Dennoch gelang es uns spielend, in der gutbewachten City auf Gebäude zu klettern und U-Bahn-Schächte abzulaufen. Wir übernachteten in stillgelegten Bunkern und fuhren mit dem

Simon selbst bezeichnet sich als «Guerilla-Historiker», weil es ihm um das Dokumentieren des Zerfalls gehe. Anderen gehe

Schlauchboot in der Kanalisation, ein architektonisches Meisterwerk übrigens.»

es um den reinen Adrenalinschub, wieder anderen um die ganz spezielle Atmosphäre, die an solchen vergessenen Orten herr-

Die Sicherheit, die die Kameras suggerieren, so Garrett, sei

sche. Mark, der Philosophiestudent, nennt das «die Ästhetik des

reine Fiktion. «Ich habe der Polizei bereits meine Dienste

Zerfalls». In den Städten sei heute alles so sauber, glatt und

angeboten, ich kenne alle Lücken in der Stadt. Ich bin wie ein

geordnet, eine Starbucks-Filiale gleiche der anderen, deshalb

Hacker, nur arbeite ich nicht am Computer, sondern am Boden:

sei er von solchen Orten fasziniert: «Ich bin von der Welt, wie

Ich weiss, wie man reinkommt und wo man sich am besten ver-

wir sie kennen, visuell gelangweilt: Paris, London, Rom, ein

steckt. Doch die Polizei wollte meine Hilfe nicht, die hielten

Einheitsbrei. Ich mag Dinge, die einfach so nebeneinander­

mich für einen Spinner.»

liegen, und keiner ist da, der sie wegräumt: ein Stuhl, eine Tasse, eine alte Puppe – lauter kleine Geschichten.» Verlassene Räume, sagt Mark, seien voller Leben, und während er gerade dabei ist, alte Stromgeneratoren zu fotografieren, während Simon die Duschräume auf den alten Plänen sucht und Tom sich Notizen

«Keine Chance. Da kommt man nicht rein.» Simon Cornwell

macht für seine nächste Science-Fiction-Geschichte, hören sie Hundegebell. Erst leise. Dann immer lauter. Tom: «Die Wächter müssen uns gehört haben.»

Die Urban Explorers seien keine verträumten Hippies, die

Simon: «Wir hauen ab. Durch den Schacht.»

nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Im Gegen-

Mark: «Ich hasse diesen Schacht.»

teil. Es seien liberal denkende Menschen, die auf Eigenver­ antwortung setzen. «Die meisten kommen aus aka­de­mischen

«Wir sind keine Hippies»

Kreisen, sind interessiert an Fotografie und leben sehr um­

Es gibt wohl kaum jemanden, der sich intensiver mit Urban

weltbewusst. Dass sie sich an neue Orte begeben, ist auch eine

Exploring auseinandergesetzt hat, als Bradley Garrett, ein

Reaktion auf die Restriktionen im öffentlichen Raum.» Überall

CREDO | 23


Reportage | Urban Explorers

werde immerzu gewarnt: «Tu das nicht, tu jenes nicht, geh da nicht hin und nicht dorthin.» «Der Staat hätte es am liebsten, wir alle würden unsere Zeit vor dem Fernseher verbringen, zu Hause bleiben und keinen Unfug treiben. Aber in einigen von uns ist dieser Drang, Dinge zu erkunden, einfach zu gross. Die Neugier gewinnt. Wir müssen raus. Wir müssen immer weiter.»

«Aus dem gleichen Holz wie Cook oder Scott» Dass so viele Urban Explorers gerade in England leben, erstaunt Garrett kein bisschen. «Es ist eine Insel, umgeben von Meer. Das Fernweh ist stärker ausgeprägt.» Es gebe eine lange Tradition von Entdeckern: Henry Morton Stanley, der Afrikaforscher, James Cook, der den Pazifischen Ozean drei Mal bereiste, und Robert Scott, der Polarforscher, seien nur die bekanntesten. Der Antrieb, unterirdische Schächte zu erkunden, so Garrett, sei derselbe, wie Meere zu befahren und Berge zu besteigen. «Was uns fehlt, ist die Anerkennung. Man hält uns für Clowns, dabei

Weisse Flecken auf der Landkarte

sind wir aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Cook oder Scott.»

Die vier Traumdestinationen des Wissenschaftlers und Urban Explorers Bradley Garrett:

Es ist sechs Uhr abends, dunkel und kalt. Die meisten Einwohner von Colchester sitzen in ihren weichen Sesseln und

1. Kwangmyong: Für den U-Bahn-Betrieb im nordkoreanischen Pjöng-

schauen sich eine der Casting Shows an, die rauf und runter

jang kommen Züge aus dem geteilten Berlin zum Einsatz. Es gibt

laufen, während Simon, Tom und Mark abermals durch den

vereinzelte Stationen, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich sind,

Schacht robben, vorbei an den toten Ratten, am Fuchs und dem

sogenannte Geisterbahnhöfe. Einer von ihnen heisst Kwangmyong.

weissen Staub. Einen ganzen Tag lang haben sie das mehr als einen Quadratkilometer grosse Gelände des ehemaligen

2. Fordlândia: Eine Geisterstadt südlich von Santarém, Brasilien. Henry

Sanatoriums Severalls begutachtet und waren in Gedanken bei

Ford erwarb 1928 ein Stück Urwald, um Kautschuk anzupflanzen

den Patienten des vergangenen Jahrhunderts. Das Hundegebell

und daraus Gummi zu gewinnen. Heute hat der Dschungel vieles

holte sie jäh in die Realität zurück.

verschlungen. Sie sind müde und hungrig. Die Hosen, die Jacken – alles 3. Metro 2, Moskau: Es gibt Gerüchte, wonach der sowjetische Dikta-

feucht vom Schlamm. Mark, der wieder etwas zurückgefallen ist,

tor Josef Stalin ab 1935 für sich und die sowjetische Elite ein gehei-

ruft: «Da soll es so ein Turbinenwerk aus den fünfziger Jahren

mes Metronetz planen und teilweise bauen liess. Es soll eine Verbin-

geben, topsecret damals. In der Nähe von Guildford.» Sie

dung geben zu einem Flughafen und eine, die in den Stadtteil

kriechen weiter. «Habt ihr davon gehört?» Simon bleibt stehen:

Ramenki führt, wo sich verschiedene Bunker befinden sollen.

«Das Testgelände für Jets? Meinst du das? Keine Chance. Da kommt man nicht rein.» Mark: «Sicher?» Simon bleibt stehen

4. Die Fackel der Freiheitsstatue: Im Arm der Statue soll sich eine Leiter

und dreht sich um, mit seiner Stirnlampe leuchtet er den beiden

befinden, auf der man hoch bis zum Ende der Fackel gelangt. Sollte

anderen direkt ins Gesicht. «Zu viele Wächter, vergiss es.» Tom

das nicht stimmen, kann man von der Krone zur Fackel ein Seil zie-

sagt: «Ich bin dabei.» Schweigend robben sie weiter. Kurz bevor

hen und rüberklettern.

sie den Ausgang erreichen, sagt Simon: «Also gut. Ich werde Pläne besorgen.»

Weiterführende Lektüre Bradley L. Garrett: «Explore Everything: Place-Hacking the City from Tunnels to Skyscrapers». Das Buch erscheint voraussichtlich im Oktober 2013.

Sacha Batthyany ist Redaktor von «DAS MAGAZIN», der Wochenendbeilage des Zürcher «Tages-Anzeigers».

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Simon Cornwell, Urban Explorer der ersten Stunde: ÂŤIch bezeichne mich als Guerilla-Historiker. Ich dokumentiere den Zerfall.Âť

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Interview | Barbara ReinhardHohn Schulze

Forscher müssen spielen können Interview: Mathias Plüss | Fotos: Julian Salinas

Auch Pflanzen haben ein Gedächtnis. Das hat die pensionierte, aber immer noch aktive Molekular­biologin Barbara Hohn entdeckt. Solch bahn­brechende Erkenntnisse kommen nur zustande, wenn Wissenschaftler ihrer Neugier freien Lauf lassen.

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Kann die Wissenschaft nicht einfach abdrehen: Molekularbiologin Barbara Hohn.

CREDO: Frau Hohn, was treibt Forscher an?

Sie sind 74 Jahre alt. Haben Sie nie überlegt, aufzuhören?

Barbara Hohn: Der Ursprung der Wissenschaft ist die Neugier.

Das kam für mich nie in Frage. Ich kann die Wissenschaft nicht

Als ich als Studentin zum ersten Mal von der Struktur der

einfach abdrehen. Was nicht heisst, dass es in meinem Leben

Erbsubstanz DNA hörte, die kurz zuvor entschlüsselt worden

nichts anderes gäbe – ich habe Heim, Garten, fünf Enkel.

war, hat mich das sofort fasziniert. Ich wollte nach den bio­ logischen Grund­prinzipien suchen. Ich wollte wissen, wie die

Manche Leute sagen, ihre Enkel helfen ihnen, geistig frisch

Natur funktioniert.

zu bleiben. Das haben Sie wahrscheinlich nicht nötig. Es ist eine andere Art von Frische – eher eine körperliche. Es ist

Die Neugier bleibt bestehen, ein Leben lang?

anstrengend, diese wilden Biester zu bändigen! (lacht) Aber sie

Ja. Ich stelle allerdings fest, dass mein Neugierde-Horizont umso

sind schon süss, die Kleinen.

breiter wird, je älter ich werde. Ich interessiere mich zu­neh­m­end für andere Forschungsgebiete, für Kunst, Natur, Men­ sch­ en.

Sie hüten sie regelmässig?

Aber ich versuche an meinen eigenen Themen dranzubleiben.

Nicht regelmässig. Das ist vielleicht ein wenig egoistisch, aber

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Interview | Barbara Hohn

ich muss flexibel sein: Ich bin mal da, mal nicht, ich gehe auf Seminare, reise zu Meetings. Weil ich in der wissenschaftlichen Denkweise drinbleiben will. Sie arbeiten seit 35 Jahren hier am Friedrich-MiescherInstitut in Basel. Ein guter Ort? Oh ja. Man hat eine ordentliche finanzielle Grundausstattung, und es herrscht ein erfrischender intellektueller Geist. Das Institut gehört zur Novartis-Stiftung. Kann man da überhaupt unabhängig forschen? Wir haben hier die Freiheit, zu erforschen, was wir wollen. Sonst wären die guten Leute längst davongelaufen. Es hat sich herumgesprochen, dass nichts Interessantes herauskommt, wenn man die Forscher einengt. Ich habe auch meine Mitarbeiter stets an der langen Leine gehalten. Sind Sie gut damit gefahren? Ja. Ich habe ihnen freie Hand gelassen, und sie kamen im Gegenzug oft mit tollen Ideen. Wir haben uns immer wieder gegenseitig stimuliert. Nur selten habe ich etwas gestoppt – die jungen Leute sollen sich doch entwickeln können. Und sie sind mir dafür alle dankbar. Ich bekomme immer noch Briefe aus der ganzen Welt von früheren Mitarbeitern. Wie macht man eigentlich Entdeckungen? Was man noch nicht kennt, kann man ja nicht gezielt suchen. Im Englischen gibt es den schönen Ausdruck «serendipity»: das zufällige Entdecken einer Sache, nach der man gar nicht gesucht hat. Dazu braucht es natürlich ein wenig Freiraum, man muss ein bisschen spielen können. Und dann kommen die Entdeckungen automatisch? Nicht automatisch. Es bedarf der Intuition dafür, was interessant sein könnte und was nicht. Ich hatte mal einen chinesischen Mitarbeiter, wenn der auf etwas Unerwartetes stiess und ich ihn fragte, ob er dem nicht nachgehen wolle, dann antwortete er üblicherweise: «Well, that would be a little difficult.» Was so viel hiess wie Nein, denn die Chinesen sagen ja nicht direkt Nein. Eine andere Mitarbeiterin kommentierte dies mit den Worten: «You have to pick the flowers on the way.» Man muss die Blumen auch pflücken, die man findet. Ist Neugier wirklich das alleinige Motiv des Wissenschaftlers? Wollen manche nicht einfach Karriere machen? Natürlich haben Wissenschaftler auch ein gewisses GeltungsBarbara Hohn in ihrem Garten: «Man muss die Blumen auch pflücken, die man findet.»

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bedürfnis. Und einige sind derart erfolgsorientiert, dass ihnen Neugier und Kreativität abhanden kommen. Andererseits muss


man sehen, dass heute der Publikationsdruck ungeheuer gross ist. Wer sich irgendwo bewirbt und keine Publikationen in

Gelerntes vererben

angesehenen Zeitschriften vorweisen kann, macht keinen guten

Das von Barbara Hohn entdeckte «Pflanzengedächtnis» kommt auch

Eindruck. Die Forscher stecken also in der Zwangsjacke, ständig

bei Tieren vor. Beispielsweise lecken manche Rattenmütter ihre Babys

publizieren zu müssen.

oft, andere nur sehr selten. Wenn man nun das Baby einer nicht leckenden Mutter einem leckenden Weibchen unterschiebt, so entwickelt

Gehen uns dadurch womöglich gute Leute verloren?

es sich später selbst zu einem leckenden Weibchen. Das Leckverhalten

Ich hatte mal eine sehr gute Studentin, die verloren ging. Sie

wird also übernommen und dann sogar weitervererbt.

interessierte sich wahnsinnig für die Forschung, sagte immer: «Das nimmt mich wunder», hatte hervorragende Ideen. Aber ihr Ehrgeiz betraf nur die Forschung. Ihre Karriere interessierte sie nicht. Und das reicht nicht, um weiterzukommen. Im Mittelalter ging das vielleicht, wenn man einen Mäzen hatte. Aber wir hier müssen von dem leben, was wir erforschen. Sie selbst haben mehrfach in den angesehensten und meistzitierten Fachzeitschriften publiziert. Eine Arbeit von 2006 in «Nature» ging um die Welt: Da zeigten Sie mit Ihrem Team, dass auch Pflanzen so etwas wie ein Gedächtnis haben. Was hat es damit auf sich? Wir konnten mit unseren Experimenten zeigen, dass Pflanzen ihre Rekombinationsrate erhöhen, wenn sie von einem Krankheitserreger befallen werden. Vereinfacht gesagt: Bei einem Angriff schütteln die Pflanzen ihre Gene heftig durcheinander. Der biologische Sinn dahinter ist möglicherweise, dass dadurch neue Gene oder Genkombinationen gebildet werden, die unter Umständen zu einer erhöhten Resistenz gegen den Krankheitserreger führen, wie auch gegen andere Arten von Umweltstress. Das wirklich Erstaunliche ist nun, dass auch die Nachkommen der befallenen Pflanzen noch eine erhöhte Rekombinationsrate haben, und zwar manchmal bis zur vierten Generation. Die Pflanzen erinnern sich also daran, dass ihre Eltern, Gross- oder Urgrosseltern befallen worden sind. Und das ist es, was mit «Pflanzengedächtnis» gemeint ist? Ja. Diese Art von Gedächtnis existiert übrigens auch bei

Damals, in den fünfziger Jahren, war es wohl keineswegs

Tie­ren. Es geht immer darum, dass Umwelteinflüsse nicht nur

naheliegend, dass ein Mädchen Chemie studierte?

auf die aktuelle Generation Auswirkungen haben, sondern

Nein, wir waren nur wenige Studentinnen. Es gibt eine Anekdote

auch auf die Nachkommen. Vereinfacht gesagt: Auch Gelerntes

dazu: Als ich meiner Mutter sagte, dass ich Chemie studieren

ist vererbbar.

möchte, wusste sie das gar nicht zu beurteilen, denn sie war Künstlerin. Sie hat sich in ihrem Bekanntenkreis umgehört und

Wie sind Sie eigentlich zur Wissenschaft gekommen?

schliesslich über Umwege einen Chemieprofessor aufgetrieben.

Ich habe ursprünglich Chemie studiert – und zwar wegen meiner

Mit dem habe ich eine Weile diskutiert, und dann hat er zu mir

Chemielehrerin in Wien. Ich war an einem Mädchen-Real­gym­

gesagt: «Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum sollte denn

nasium im 19. Bezirk, und die Lehrerin hat die Chemiestunden

ein junges hübsches Fräulein unbedingt Chemie studieren

sehr spannend gestaltet.

wollen?» (lacht)

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Interview | Barbara Hohn

Und daraufhin wollten Sie erst recht? Ja, diese Aussage hat mich herausgefordert. Insofern war sie positiv für mich. Sind Ihnen später viele Steine in den Weg gelegt worden? Es war nicht immer leicht. Mein Mann ist 1967 an die berühmte Stanford University gegangen. Als ich mich da auch um eine Stelle bemühte, hat sich herausgestellt, dass das BiochemieDepartement keine Frauen aufnahm. Ich bin dann am PathologieDepartement untergekommen. 1971 sind wir ans neugegründete Biozentrum der Uni Basel gekommen. Auch hier war es nicht einfach – die Frauen hatten gerade erst das Stimm- und Wahlrecht erhalten. Im Verlauf Ihrer Karriere sind Sie, von der Chemie kommend, immer tiefer in die Biologie eingetaucht. Mein Mann und ich gehörten zu den ersten Molekularbiologen überhaupt. Ich habe mich zunächst vor allem mit Viren beschäftigt und mit der Frage, wie sie ihr Erbgut verpacken. Später haben Sie sich den Bakterien und Pflanzen zugewandt. Manche Ihrer Forschungsresultate spielen heute eine wichtige Rolle in der Landwirtschaft. War das Ihr Ziel? Nein, ich habe meine Forschung stets aus reiner Neugier betrieben. Die Anwendungen kommen dann meistens völlig unerwartet. Nehmen Sie etwa das Agrobacterium tumefaciens, an dem ich selbst viel geforscht habe. Ein Bodenbakterium, das Pflanzen infizieren kann. Es ist ein sehr raffiniertes Biest! Es baut einen Teil seines Erb­ guts in die DNA der Pflanze ein, damit diese Futter für das Bak­

aus­ bringen. Äpfel werden bei uns bis zu zwölf Mal im Jahr

ter­ium produziert. Die übertragenen Gene bewirken gleichzeitig,

gespritzt! Für mich ist der Widerstand gegen Gentechpflanzen

dass die Pflanze Tumore entwickelt. Als man das entdeckte,

nicht ganz verständlich.

hätte niemand gedacht, dass das einmal nützlich sein könnte. Droht denn keinerlei Gefahr? Inwiefern ist es nützlich?

Mir ist kein einziger Fall bekannt, bei dem Gentechpflanzen

Man kann das Bakterium als Genfähre benutzen – indem man

gefährliche Folgen gehabt hätten. Es kann sein, dass Schädlinge

die Tumorgene wegnimmt und andere Gene einsetzt. So lassen

resistent werden gegen das Gift, das eine transgene Pflanze pro-

sich transgene Pflanzen erzeugen, die heute in der Landwirt-

duziert. Das ist nur natürlich, das ist Evolution. Aber dann

schaft global sehr wichtig sind: Mais, Weizen, Reis. Wenn man

spricht nichts dagegen, nochmals ein neues Gen in die Pflanze

die richtigen Gene hineinbringt, kann man Pflanzen beispiels-

einzubauen.

weise dazu bringen, selbst Pestizide herzustellen. Im letzten Jahr ist eine französische Studie erschienen, Gentechnisch veränderte Organismen sind in Europa nicht

wonach Genmais bei Ratten Tumore verursacht.

gerade beliebt.

Das war eine Katastrophe! Die Statistik war falsch, der Ratten-

Nein, das ist ein heikles Thema. Dabei können transgene

stamm sowieso krebsanfällig – das geht nicht. Der eigentliche

Pflanzen zu einer grünen Landwirtschaft beitragen: Wenn die

Skandal ist, dass eine Zeitschrift diese völlig unseriöse Studie

Pflanze ihre Pestizide selbst herstellt, muss man weniger Gift

veröffentlicht hat.

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Brauchen wir überhaupt genveränderte Pflanzen?

Barbara Hohn wurde 1939 in Klagenfurt geboren und hat in Wien Chemie

Den Menschen bei uns geht es gut, und deshalb denken sie,

studiert. Sie forschte als Molekularbiologin in Tübingen, Yale und Stanford,

sie bräuchten sie nicht. Doch nicht überall herrscht Überfluss.

bevor sie 1971 nach Basel zog. Hier wirkte sie zunächst an der Universität

Wir müssen Forschung an transgenen Pflanzen betreiben –

und ab 1978 am privaten Friedrich-Miescher-Institut für Biomedizinische

schon allein, um Menschen auf anderen Kontinenten zu helfen.

Forschung. Im Jahr 2004 wurde sie pensioniert, arbeitet aber weiter. 2010

Aber so weit denken die meisten nicht. Die Medien mit ihrer

erhielt sie für ihre hervorragende wissenschaftliche Leistung den Ludwig-

tendenziösen Berichterstattung spielen dabei leider eine nega­

Wittgenstein-Preis der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.

tive Rolle. Sie haben in den letzten Jahren zahlreiche Wissenschaftspreise erhalten. Was bedeutet Ihnen das? Darüber freue ich mich natürlich. Andererseits kann man sich schon fragen, was eine 74-jährige Wissenschaftlerin mit einem solchen Preis soll. Die jungen Menschen hätten die Unterstützung nötiger.

Mathias Plüss, geboren 1973, ist freier Wissenschaftsjournalist.

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Meisterwerke | Peter Fendi

ツゥ LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz窶天ienna

Der Blick durchs Schlテシsselloch

32 | CREDO


E

ine kleine Szene von grosser Suggestivkraft. Sie widmet

und aus der vorurteilsfreien Betrachtung geschlossen, dass das

sich einem jungen Mädchen, das einen Blick durchs

Stubenmädchen bei seiner Arbeit in einem Eingangsbereich

Schlüsselloch wagt und unsere Neugier weckt. Die weisse Bluse

gestört worden sein muss. Angesichts der Unordnung verge­

gibt ihre Schulterpartie frei. Das Haar ist hochgesteckt. Doch

wissert es sich «in mädchenhafter Vorsicht» zunächst einmal,

eine Strähne fliesst weich herab. Gekleidet in ein Untergewand,

welcher Gast denn da vor der Haustür um Einlass bittet. Seitdem

das Arme und Beine nackt lässt, mit Hausschläppchen an den

trägt das Werk den Titel «Das vorsichtige Stubenmädchen».

Füssen, scheint das Mädchen ganz aufgelöst zu sein. Was mag es wohl erspähen?

Noch immer von dem Mädchen in seiner Anmut bezaubert, mag sich der Betrachter nun in der Vorstellung beflügelt sehen,

Der Maler Peter Fendi (1796–1842) gibt uns mit seinem

es erwarte einen heimlichen Besucher. Diese reizvolle Am­bi­

Genregemälde aus dem Jahr 1834 keine Antwort auf diese

valenz zwischen der Tugend der Vorsicht und dem Ge­danken an

Frage. Vielmehr weckt er durch die körperliche Präsenz des

das Laster eines heimlichen Techtelmechtels, hält unsere Neu­

Mäd­chens pikante Erwartungen, die wir mit umherschweifendem

gier wach. Auch das kleine Format unterstützt eine dop­pel­

Blick zu stillen suchen. Da ist ein Handfeger an die Tür gelehnt,

deutige Bildaussage. Wie eine Miniatur fordert es den Betrachter

in einer Schüssel daneben befinden sich Wasser und Schwamm.

zum neugierigen und zugleich vorsichtigen Nähertreten auf. Der

Hat hier ein Stubenmädchen seine Arbeit unterbrochen, um

Maler Peter Fendi folgt hierin den historischen Vorbildern der

vorwitzig in die Privatsphäre seiner Herrschaft einzudringen?

holländischen Genremalerei, aber auch dem Franzosen Jean Siméon Chardin, von dem sich im 19. Jahrhundert vier solch

Eine solche Lesart hat sich vermutlich schon seit Entstehen

kleiner Kabinettstücke in den Fürstlichen Sammlungen befan­

des Gemäldes fortgeschrieben bis in jüngste Zeit. So lässt es

den, die sich gleichfalls mit häuslichen Alltagsszenen ausein­

sich aus den Titelvarianten schliessen, die für dieses Gemälde

andersetzten. Ganz eigen ist hingegen der malerische Vortrag

und ein zweites, ganz ähnliches Motiv gewählt wurden.

Fendis. Er bleibt der Idee des transparenten Farbauftrags ver-

Erworben 2005 von Fürst Hans-Adam II. von und zu Liechten-

pflichtet, wie er für Aquarelle charakteristisch ist.

stein, trug das Werk in den Fürstlichen Sammlungen zunächst den Titel «Das neugierige Stubenmädchen». Die Österreichi-

Neugier ist nicht nur das Motiv von Kunstwerken, sie war

sche Galerie Belvedere führt für ihre Fassung aus dem Jahr

und ist auch einer der grossen Beweggründe, die Auseinander-

1833 die Varianten «Die Neugierige» und «Die Lauscherin» auf.

setzung mit Kunst zu suchen – und Kunst zu sammeln, um die

Doch bei näherem Betrachten stellt sich die Erkenntnis ein,

Türen zu ganz neuen Welten aufzustossen, wie dies seit Jahr-

dass eine solche – von Fendi möglicherweise nicht ganz unbeab-

hunderten für das Fürstenhaus Liechtenstein gilt. Im latei­ni­

sichtigte Interpretation – der eigenen Begierde zuzuschreiben

schen Begriff der «curiositas», der seit der Antike in der Phi-

ist. Denn dann fallen die Gegenstände in der hinteren Ecke des

losophie überliefert und von «cura» abgeleitet ist, vermitteln

Raumes auf: Links sind über eine Stuhllehne ein Mantel und

sich all diese Facetten: Neugier und das Streben nach Welt-

eine bebänderte Kappe geworfen, davor stehen schwarze

erkenntnis wie auch Fürsorge, Bemühung, Aufmerksamkeit und

Damenstiefel. Rechts davon auf einem Tisch finden sich ein

In­teresse. Glücklich, wer sich diesen Blick auf die Welt in ihrer

Wasserkrug und eine Kerze und an der Türangel über einem

sinnlichen und intellektuellen Fülle zu erhalten weiss.

weissen Tuch – ein Haustürschlüssel. Und tatsächlich: Sehen so die Schlösser und Beschläge einer Zimmertür aus? Dr. Johann Kräftner ist Direktor der Fürstlichen Sammlungen und war von Im Jahr 2005 hat sich ein österreichischer Kunsthistoriker aus eigener Anschauung dem kleinen Genregemälde gewidmet

2002 bis 2011 Direktor des LIECHTENSTEIN MUSEUM, Wien. Er ist Verfasser zahlreicher Monografien zur Architekturgeschichte und -theorie.

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Erlesenes | Christoph Ransmayr

Forscherdrang E

s gibt Bücher, bei deren Lektüre man sich warm anziehen

Winter lang im Packeis festsass. Er berichtet von den Strapazen

muss. Zu ihnen gehört «Die Schrecken des Eises und der

der Reise, die in der zufälligen Entdeckung der Inselgruppe

Finsternis». Mit diesem Roman gab Christoph Ransmayr, heute

«Kaiser-Franz-Josefs-Land» gipfelte, von den unermüdlichen

einer der grossen Namen der deutschsprachigen Literatur, im

Anstrengungen der Mannschaft, ihr Schiff – die «Admiral Te­

Jahr 1984 sein Debüt. Zu einer Zeit, da die literarische Aufar­

gett­hoff» – wieder in freies Wasser zu bekommen, schliesslich

beitung von Forscherschicksalen noch nicht en vogue war,

von der schier unglaublichen Rückkehr zu Fuss über das Eis.

liess er in seinem Werk die 1872 begonnene Nordpolexpedi­tion von Carl Weyprecht und Julius von Payer in einer

Seinen

Tatsachenbericht

verbindet

der

Schriftsteller

meisterlichen Mischung aus Rekonstruktion und Fiktion gegen-

geschickt mit der Geschichte seines imaginären Bekannten

wärtig werden – atmosphärisch so eindringlich, dass es den

Josef Mazzini, der sich gut 100 Jahre später auf den Weg in den

Leser mitunter fröstelt.

hohen Norden macht, um das Abenteuer in allen Einzelheiten nachzuvollziehen, nachdem er erfahren hat, dass sein Urgross-

Doch Neugier erstarrt selbst im ewigen Eis nicht, so wenig

onkel Antonio Scarpa bei der kaiserlich-königlichen Nord-

wie Eitelkeiten und Leidenschaft an den Rändern der Zivilisation

polfahrt mit von der Partie war. Der Italiener Mazzini, der die

erlöschen. Ransmayr erzählt die Geschichte der österreichisch-

Dokumente der Polexpedition ausfindig macht, begreift seine

ungarischen Expedition, die zwischen 1872 und 1874 zwei

Recherche als rückwärtsgewandtes «Spiel mit der Wirklichkeit»

34 | CREDO


und begibt sich auf die Spuren der Eismeerfahrer. Doch anders als seine Helden kehrt Mazzini nicht aus dem Eis zurück, sondern verschwindet in den Gletschern Spitzbergens. Es sind unvergessliche Charaktere, die Ransmayr auferstehen lässt: Carl Weyprecht, der Kommandant zu Wasser, ist der Inbegriff des unerschrockenen Pioniers, ein Mann, der selbst in schwierigsten Situationen die Fassung bewahrt. Julius von Payer hingegen, der an Land das Sagen hat, ist besessen von der Idee des noch nie gesehenen paradiesischen Landes und fühlt sich als dessen Herrscher, nur weil er den schwarzen Felsen als Erster betreten hat. Doch das Faszinierendste an der Expedition ist, dass jeder ihrer Teilnehmer sie anders erlebt. Einen Roman hat Ransmayr sein Buch genannt, sich selbst einen Chronisten. Indem er immer wieder aus Tagebüchern und Berichten der Besatzungsmitglieder der «Admiral Tegetthoff» zitiert, bündelt der Schriftsteller Ansichten und Erfahrungen

Christoph Ransmayr

von Männern, die nach Herkunft, Beruf und Vorstellungen

Christoph Ransmayr, geboren am 20. März 1954 im oberösterrei-

grundverschieden waren. Gerade diese Originaldokumente

chischen Wels, wuchs in Roitham bei Gmunden am Traunsee auf. Auf

tragen zu einem magischen Eindruck bei, weil die in ihnen

das Studium der Ethnologie und Philosophie in Wien folgte die Arbeit

beschworene Realität nicht nüchtern, sondern geradezu fan­

als Kulturredakteur der Wiener Zeitschrift «Extrablatt». Nebenher

tastisch erscheint.

schrieb er Reportagen für Magazine wie «TransAtlantik», «Geo» und «Merian». 1982 liess sich Ransmayr als freier Schriftsteller nieder; im

Ransmayr, dieser barmherzige Chronist jener «unwieder-

selben Jahr erschien «Strahlender Untergang», dem in der Neuauflage

holbaren Empfindung», die er aus den überlieferten Schick­

aus dem Jahr 2000 der Untertitel «Ein Entwässerungsprojekt oder die

salen destilliert, beweist mit «Die Schrecken des Eises und der

Entdeckung des Wesentlichen» beigegeben wurde. «Die Schrecken des

Finsternis», dass Aufklärung und Verzauberung einander

Eises und der Finsternis» (1984), sein erster Roman, trug ihm zahlrei-

kein­es­wegs ausschliessen müssen. Indem er nicht nur die his­

che Auszeichnungen ein. 1988 veröffentlichte er mit «Die letzte Welt»

torischen Figuren ernst nimmt, sondern ebenso den Gesetzen

einen Roman um den römischen Dichter Ovid, der im Jahr 8 n. Chr. in

seiner Geschichte folgt, wird die ungeheure Kluft zwischen der

Ungnade gefallen war und nach Tomis am Schwarzen Meer verbannt

Arktis der Gegenwart und jener der Payer-Weyprecht-Ex­pe­

wurde, wo er neun Jahre später starb. Nach dem grossen Erfolg dieses

dition deutlich.

Buches unternahm Ransmayr zunächst ausgedehnte Reisen. Sieben Jahre später folgte mit «Morbus Kitahara» sein dritter Roman, in dem

Erstaunlicherweise war der Autor selbst damals noch nicht

er eine Gegenwelt zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland

weiter nördlich als bis Kopenhagen gekommen. Er habe keine

und Österreich ausmalt. Seither hat Christoph Ransmayr zahlreiche

Ahnung gehabt von Packeis, Polarnächten, der ungeheuerlichen

Bände mit Essays und ein Buch über das Erzählen, «Die Verbeugung

Verlassenheit dieser Landschaften, bekannte Ransmayr später

des Riesen. Vom Erzählen» (2003), veröffentlicht sowie mehrere

in einem Zeitungsinterview. Seine eigenen Reisen in die Region

Theaterstücke. 2012 legte er mit «Atlas eines ängstlichen Mannes»

unternahm er erst nahezu 20 Jahre später. Als er den Roman

seinen vierten Roman vor.

schrieb, war der Franz-Josef-Archipel sowjetisches Sperrgebiet. Was immer er damals über das Eis sagen oder schreiben konnte, hatte er in Archiven, Bibliotheken und aus Dokumentarfilmen erfahren oder von Polarreisenden. Insofern zeigt dieser pa­ ckende Roman nicht nur die dramatischen Grenzen auf, welche die Natur dem menschlichen Forscherdrang mitunter setzt,

Felicitas von Lovenberg, geboren 1974, leitet das Literaturressort der «Frank-

sondern er selbst stellt einen Triumph der literarischen Neugier

furter Allgemeinen Zeitung» und moderiert im SWR-Fernsehen die Sendung

über die Erfahrung des Autors dar.

«Literatur im Foyer».

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Carte Blanche | Pius Theiler

Gipfelstürmer Aufgezeichnet von: Manfred Schiefer Wichtiger als Lernprogramme seien Freiräume, um die Welt selbst erforschen zu können, meint der mehr­ fach preisgekrönte Nachwuchsforscher Pius Theiler, Erfinder der πCam, sprich: Pi Cam. Freiräume hätten nicht nur seinen Entde­cker­drang befördert. Ihnen verdanke er auch das un­erschütterliche Vertrauen, für Probleme eine Lösung zu finden. Mein Bruder und ich haben als Kinder viel experimentiert. Vor allem unsere Ferien in einem Haus am Wald waren eine Zeit des Forschens und Experimentierens. Wie alle Kinder faszinierte uns das Feuer. Wir machten Holzkohle oder wollten Metall zum Schmelzen bringen. Geforscht haben wir aus eigenem Antrieb. Nachdem wir statt Holzkohle nur Asche produzierten, tüftelten wir weiter. Am Ende haben wir herausgefunden, dass man den Verbrennungsprozess reduzieren muss, indem man die Sauerstoffzufuhr beschränkt. In Büchsen hat es dann geklappt. Auch bis unser erster Aluminiumguss gelang, hergestellt im Kamin unseres Ferienhauses, haben wir einige Zeit gebraucht. Wir hatten mehr Rückschläge als Erfolge. Aber dem Willen, unser Ziel zu erreichen, stand niemand im Weg. Rückblickend betrachtet war das viel wichtiger als eine bewusste Förderung. Meine Eltern haben uns nicht mit speziellen Programmen gefördert. Sie haben uns vielmehr den Freiraum gegeben, Erfahrungen zu machen und uns so Wissen anzueignen. Keine unserer Fragen war ihnen jemals Anlass, unsere Unkenntnis zu kritisieren. Das gab uns den Mut, weiter zu ergründen, was uns gerade interessierte. Davon profitiere ich noch heute. Als wir im Studium Metallurgie behandelten, konnte ich die Theorie mit meinen in der Kindheit gemachten Erfahrungen verknüpfen.

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Ich habe den Eindruck, unsere Gesellschaft ist schon sehr

Die Preise, die ich für die Entwicklung der πCam erhalten

bequem geworden und möchte keine Wagnisse eingehen. Aber

habe, waren nicht das Ziel meiner Arbeit. Ich hatte mich gefragt,

ohne den Mut, Fehler zu machen, kann man sich nicht weiter-

warum es eine so sinnvolle, mobile Klettersicherung nicht gibt,

entwickeln. Denn eigentlich sind es die Fehler, die uns voran-

die sicherlich auch andere Bergsteiger schon vermisst haben,

bringen. Wenn ich etwas baue, was sofort funktioniert, lerne ich

und war neugierig darauf, wie sie funktionieren könnte.

nichts Neues. Daher finde ich es spannender, etwas zu entwickeln, was nicht auf Anhieb klappt. Dann muss ich zwar Rückschläge einstecken. Aber wenn ich nicht aufgebe und den Grund herausfinde, warum etwas nicht funktioniert, ist es keine Niederlage sondern ein Wissensgewinn.

Pius Theiler wurde 1992 im schweizerischen Stans als Sohn einer Landschaftsgärtnerin und eines Architekten geboren. Der Gewinner eines Sonderpreises

Als ich für die Entwicklung meiner Klettersicherung πCam

von «Schweizer Jugend forscht» sorgte mit seiner πCam, gesprochen: Pi Cam,

das erste Mal den kohlefaserverstärkten Bogen laminierte,

beim Europäischen Wettbewerb für Nachwuchsforschende in Helsinki 2011

ähnelte das Ergebnis einer Banane mit Fasern, die wie die

für grosses Aufsehen. Die von ihm entwickelte mobile Zwischensicherung

Stacheln eines Igels abstanden. Der zweite Versuch war besser,

für den Klettersport wurde gleich mit vier Preisen bedacht – ein Erfolg, den

hielt aber im Belastungstest nur einem Viertel der berechneten

zuvor nur Projekte erzielt hatten, die in Teamarbeit entstanden waren. Seit

Last stand. Während der Entwicklung der πCam hätte ich

2012 studiert Pius Theiler Maschinenbau an der Eidgenössischen Techni-

mehr als einen Grund gehabt, aufzugeben. Doch jeder Miss­

schen Hochschule Lausanne (EPFL). Er wird von der Schweizerischen Studien-

erfolg führt zu der Frage nach dem Warum – und einer Ant-

stiftung im Rahmen des Programms «universuisse» gefördert, das von der

wort, auf die ich neugierig bin. Dieses Vertrauen habe ich,

Sophie und Karl Binding Stiftung finanziert wird. Die Schweizerische Stu­

seit­dem ich durch meine frühen Experimente und Basteleien

dienstiftung fördert besonders talentierte Studierende an Universitäten und

mein Wissen und meinen Erfahrungshorizont Stück für Stück

Fachhochschulen in der ganzen Schweiz.

erweitern konnte. Nach einem harmlosen Sturz beim Klettern wollte ich die Klettersicherung als Maturaarbeit realisieren – und habe dabei nebenbei viel mehr gelernt als ich mir jemals erträumt hätte. Das betrifft nicht nur die fachlichen Kompetenzen, die ich jetzt im Studium gut gebrauchen kann. Da mir technische Kenntnisse fehlten, musste ich mir Hilfe von Experten holen. Auf diese Weise habe ich nicht nur gelernt, auf Menschen zuzugehen, sondern auch, wie man eine Idee überzeugend vertritt. Um die Termine für die Maturaarbeit und die Herstellung von zwei weiteren, verbesserten Prototypen für den nationalen und den europäischen «Jugend forscht»-Wettbewerb einzuhal­ten, musste ich die Produktentwicklung vorwärtstreiben. Ich lernte, mich zur Erreichung meiner Ziele auf das Wesentliche zu beschränken, und habe zudem das notwendige Gespür für die interdisziplinäre Arbeit entwickelt.

CREDO | 37


Bestellung

Interessiert

an früheren CREDO-Magazinen? Freiheit, Schönheit, Vertrauen – unser Kundenmagazin Credo

Haben Sie Interesse an bisherigen Credo-Ausgaben? Unter

hat in den vergangenen Jahren viele spannende und unter­

www.lgt.com/credo können Sie die unten abgebildeten Journale

haltsame Themen und Dimensionen der Vermögenskultur be­

bestellen. Künftige Ausgaben können Sie unter «Publika­

han­delt. In jeder Ausgabe wurde eine Persönlichkeit porträtiert.

tionen/Druckausgabe be­stel­len» abonnieren.

Toleranz | XVI 2013 Kiran Bedi Kämpferin für Toleranz zwischen religiösen und ethnischen Gruppen.

Freiheit | XV 2012 Shirin Ebadi Die iranische Friedensnobelpreisträgerin kämpft für Menschenrechte.

Schönheit | XIV 2012 Wolfgang Fasser Wie der blinde Musiktherapeut behinderten Kindern die Welt erschliesst.

Zeit | XIII 2011 Daniel Barenboim Der Dirigent des Friedens bricht gerne Tabus.

Entscheidung | XII 2011 Jane Goodall Die forsche Botschafterin kämpft für die Zukunft unseres Planeten.

Gesundheit | XI 2010 Kofi Annan Symbolfigur für ein gedeihendes Miteinander – mehr noch: für eine bessere Welt.

Vertrauen | VII 2008 Desmond Tutu Der wütende Hirte tänzelt in der Kirche und strahlt wie die Erleuchtung selbst.

Mut | VI 2007 Muhammad Yunus Er ist ein Streiter für das Ende der Armut durch Mikrokredite.

Erbe | V 2006 Paloma Picasso Über die Umsetzung des ideellen Vermächtnisses.

Verantwortung | II 2004 Richard von Weizsäcker Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.

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Inhalt | Credo XvII 2013

Impressum Herausgeber S.D. Prinz Philipp von und zu Liechtenstein, Chairman LGT Group

Neugier

Beirat Thomas Piske, CEO LGT Private Banking Norbert Biedermann, CEO LGT Bank AG Heinrich Henckel, CEO LGT Bank (Schweiz) AG

02

Redaktion, Layout Sidi Staub (Leitung) LGT Marketing & Communications

02 Porträt | Ian Baker Dem amerikanischen Himalaja-Forscher gelang, woran viele vor ihm scheiterten: Er entdeckte die Pforte zum Paradies.

Bildredaktion Lilo Killer, Zürich Design, Koordination Thomas von Ah, Zürich Chris Gothuey, Zürich

10 Portfolio | KinderFragen Was wollen sie unbedingt wissen und woher bekommen sie die Antworten? Wir fragten Kinder aus Chongqing, New York, Beira, Zürich und Moskau.

Lektorat Annette Vogler, Berlin

Zuschriften lgt.credo@lgt.com

Druck BVD Druck+Verlag AG, Schaan

15 Essay | Lebenslanges Lernen Der Lernpädagoge Salman Ansari kennt das Rezept, wie Sie die Lust am lebenslangen Lernen wachhalten können.

Abonnements Haben Sie Interesse an künftigen Ausgaben von CREDO? Dann senden wir Ihnen diese gerne kostenlos zu. Abonnieren Sie CREDO online auf www.lgt.com unter «Publikationen/Druckausgabe bestellen».

Lithografie Prepair Druckvorstufen AG, Schaan

18 Reportage | Urban Explorers Die Entdecker von heute reisen nicht mehr in ferne Kontinente. Sie reisen in die Vergangenheit und finden ihre Terra incognita vor der Haustür.

Bildnachweise Cover, Seiten 4, 6, 7: Sascha Zastiral Seiten 2, 5, 8, 9: Ian Baker Seite 10: pixelio, clipdealer Seiten 11–14: Polaroidrahmen: 123RF Seite 11, links: Alja Kirillova Seite 11, rechts: Nicola Scevola Seite 12: Sacha Batthyany Seite 13: Ruth Fend Seite 14: Dennis Eucker Seiten 16–17: Illustration Markus Roost Seiten 18–25: Simon Cornwell Seiten 22, 24: Bradley Garett Seiten 27, 28, 30: Julian Salinas Seite 29: Illustration Markus Wys Seite 32: LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna Seite 34: Christian Breitler Seite 35: Magdalena Weyrer Seite 36: Pius Theiler Seite 37: Manfred Schiefer

Energieeffizient gedruckt und CO2 kompensiert.

Neu: Die App «LGT Bank» bietet Ausgaben des LGT Kundenmagazins CREDO sowie weitere LGT Publikationen kostenlos zum Download auf iPads an.

26 Interview | Barbara Hohn Die 74-jährige Wissenschaftlerin weiss, dass bahnbrechende Erkenntnisse nur dann zustande kommen, wenn wir unserer Neugier freien Lauf lassen. 32 Meisterwerke | Peter Fendi Ein junges Mädchen blickt durchs Schlüsselloch. Neugier? Nein, nur Vorsicht. Um das zu erkennen, muss man allerdings genau hinschauen.

36 Carte Blanche | Pius Theiler Für seine Erfindung erhielt er einen Sonderpreis von «Schweizer Jugend forscht». Dabei wollte er nur wissen, ob und wie eine mobile Klettersicherung funktionieren könnte.

36

18

32 LGT Bank AG Herrengasse 12 FL-9490 Vaduz Tel. +423 235 11 22 Fax +423 235 15 22 info@lgt.com

LGT Bank (Schweiz) AG Lange Gasse 15 CH-4002 Basel Tel. +41 61 277 56 00 Fax +41 61 277 55 88 lgt.ch@lgt.com

LGT Bank AG Zweigniederlassung Österreich Bankgasse 9, Stadtpalais Liechtenstein A-1010 Wien Tel. +43 1 227 59 0 Fax +43 1 227 59 67 90 lgt.austria@lgt.com

www.lgt.com Die LGT Group ist an mehr als 20 Standorten in Europa, Asien und dem Mittleren Osten präsent. Die vollständige Adressübersicht finden Sie unter www.lgt.com

50319de 0913 4.1T BVD

34 Erlesenes | Christoph Ransmayr Ab 1872 sass eine Schiffsexpedition zwei Winter lang im Packeis fest. Auf den Spuren seines Urgrossonkels reist 100 Jahre später ein neugieriger Italiener in den hohen Norden.


Credo LGT Journal der Vermรถgenskultur

Neugier | XVII 2013


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