„Ehrlichkeit und Politik sind keine Gegensätze“ Interview. Deutschlands ehemaliger Finanzminister Theo Waigel ist einer der Keynote Speaker des Compliance Solutions Day 2019. Wir sprachen mit „Mr. Euro“ über das ethische Rüstzeug künftiger Führungskräfte, die Rolle Europas in geopolitisch unruhigen Zeiten und seine Tätigkeit als Compliance Monitor bei Siemens.
nicht alles ändern oder nach seinem Willen gestalten kann. Das Eingehen auf den Anderen, auch der Kompromiss ist notwendig, um dem Gemeinwohl zu dienen. In welchem Kontext ist Ihnen – als Spitzenpolitiker und -jurist – der Begriff „Compliance“ zum ersten Mal begegnet?
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Compliance Praxis: Herr Dr. Waigel, pünktlich zu Ihrem 80. Geburtstag haben Sie Ihre Autobiografie mit dem Titel „Ehrlichkeit ist eine Währung“ vorgelegt. Sind absolute Ehrlichkeit und Politik denn überhaupt miteinander vereinbar? Theo Waigel: Ehrlichkeit und Politik sind keine Gegensätze. Zur Ehrlichkeit gehört auch in der Politik nicht zu lügen, keine falschen Behauptungen zu verbreiten, zum gleichen Thema an verschiedenen Orten dasselbe zu sagen, auch großen Figuren den notwendigen Widerspruch nicht zu versagen, eigene Fehler einzugestehen und auch zuzugeben, dass man nicht zu jedem Thema etwas zu sagen hat. Betrachtet man aktuelle Skandale in Politik und Wirtschaft, hat man das Gefühl, vielen Entscheidungsträgern fehlt es an einem moralischen Kompass. War das zu Ihrer aktiven Zeit in der Politik denn besser? Was hat sich geändert? Ich glaube nicht, dass zu meiner aktiven Zeit die moralische Seite der Politik aus-
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geprägter war als heute. Geändert hat sich die Reaktion, Stil und Wut der Auseinandersetzung, Beleidigungen ohne Verantwortung, die mangelnde Rechenschaft demgegenüber, was man hinausposaunt. Die Figur des integren, nicht bloß auf Eigeninteressen ausgerichteten Politikers oder Familienunternehmers ist heute selten anzutreffen. Welche Werte sollten Nachwuchsführungskräften vermittelt werden? Nachwuchsführungskräften sollte man sagen: Es stimmt, was der frühere polnische Außenminister Bartoszewski als Titel eines Buches gewählt hat: „Es lohnt sich, anständig zu sein“. In den Spiegel sehen können, vor seinem Partner und seinen Kindern bestehen zu können und nie erpressbar zu werden, das gehört zu den Grundlinien von Nachwuchskräften in der Wirtschaft und in der Politik. Nicht zuletzt eine christliche Grundauffassung sagt einem, dass die Verantwortung gegenüber dem Nächsten aus der Verantwortung vor Gott herrührt. Dazu gehören auch die christliche Gelassenheit und das Wissen darum, dass man
Der Begriff „Compliance“ ist mir eigentlich erst deutlich geworden, als ich mich bei Siemens als Monitor mit dem Thema beschäftigte. Was allerdings hinter Compliance steckt, das habe ich mein Leben lang versucht zu verwirklichen: Anstand, Geradlinigkeit, Ehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber, Denken und Handeln in Einklang zu bringen und Vertrauen durch Ehrlichkeit aufzubauen. Nach Ihrer politischen Karriere waren Sie zwischen 2009 und 2013 bei Siemens als gerichtlich bestellter Compliance Monitor des US-Justizministeriums im Einsatz. Wie kam es zu dieser Bestellung? 2008 fragte mich der Aufsichtsratsvorsitzende bei Siemens, Dr. Cromme, ob ich bereit wäre, als Monitor bei Siemens zur Verfügung zu stehen, wenn SEC1 und DOJ2 in USA mit diesem Vorschlag einverstanden wären. Nach kurzer Bedenkzeit und Studium, auch der amerikanischen Rechtssituation, habe ich mich einverstanden erklärt und wurde von den Institutionen akzeptiert. Welche Ziele sollten Sie erreichen, welche Befugnisse hatten Sie? Ich sollte erreichen und auch bestätigen, dass Compliance bei Siemens Bestandteil der Unternehmensstrategie ist und die Compliance-Bemühungen nachhaltig
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