"Fragile Stabilität" (Dozentin: Dr. Claudia Muth); Leonie Porsche

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“FRAGILE STABILITÄT” Psychologie der Gestaltung

Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle Wintersemester 2021/2022


ORDNUNG & GESTALT Das phänomen der Pareidolie ORDNUNG & STRUKTUR Das Affordanz-Konzept ORDNUNG & UNORDNUNG Der Stil des Pointilismus ORDNUNG & HABITUS Habitus und Identität

Seminar: “Fragile Stabilität” (Psychologie der Gestaltung), Dozentin: Dr. Claudia Muth Leonie Porsche, 9074, MM|VR-Design, 3.Fachsemester, st6033@burg-halle.de, 19.01.2022



ORDNUNG & GESTALT Ob in Wolken, Gesteinsformationen oder sogar auf Toastbrot: oft erkennen wir menschliche Züge an Orten, an denen sie eigentlich nicht üblich sind. Doch was genau ist der Grund für dieses Phänomen? In der Fachsprache nennt man diesen Effekt Pareidolie. Der Begriff setzt sich aus den griechischen Wörtern „Para“ und „Eidolon“ zusammen. Dabei ist zu beachten, dass ein Eidolon eine „Erscheinung“ beziehungsweise ein Bild beschreibt, dass zwar existiert, jedoch nur als Abbildung.1 Hervorgerufen wird dieser Effekt aufgrund dessen, dass unsere Wahrnehmung auf dem Wiedererkennen abstrahierter Gemeinsamkeiten aufgebaut ist. Das heißt, unser Gehirn bildet durch Lernvorgänge Muster, welche bei einer wiederkehrenden Wahrnehmung abgerufen werden. Dieses System soll ein schnelles Erkennen und Einordnen des Gesehenen ermöglichen, um zum Beispiel Gefahren rechtzeitig zu erkennen und auf sie zu reagieren.2 Die „Gesichtspareidolie“, welche das Phänomen Gesichter in der Natur, Gegenständen oder anderem wiederzuerkennen beschreibt, gehört für Menschen zu einer der wichtigsten Formen der Wahrnehmung. Soziale Interaktion ist für uns essenziell, weshalb das Erkennen von Gesichtern und deren „Gestalt“ eine evolutionär geprägte Fähigkeit ist.3 Dafür zuständig ist ein Teil des rechten Schläfenlappens unserer Großhirnrinde, genauer besagt die „Fusiform Face Area“. Dieser Teil des Gehirns entwickelt sich bei Babys bereits im Mutterleib. Erkannt wurde diese faszinierende Tatsache, da in einer britischen Studie4 Lichtbilder in Form von stark reduzierten Gesichtern auf den Bauch der Mutter projizierten und feststellten, dass die Kinder den „Gesichtern“ folgten. Sie bewegten sich jedoch nicht, wenn den Gesichtern Elemente fehlten oder sie zum Beispiel kopfüber dargestellt wurden.5

Otto, A. (2010). Bachelorarbeit IL-LUST-RATIO-N Die Inversion des Illustrationsprozesses. Abgerufen am 11.01.2022 von: http://www.xn--apophnauten-p8a.de/content/4.page-Mitglieder/docs/otto_angela_bac_arbeit.pdf 2 Dr. med. univ. Mörkl, S. & Dipl.-Biol. Freyer, T. (2012). Pareidolie. Abgerufen am 11.01.2022 von: https://flexikon.doccheck.com/de/Pareidolie 3 Palmer, C. J., Clifford, C. W. C., O.Toole, A. J. & Lindsay, D. S. (2020). Face Pareidolia Recruits Mechanisms for Detecting Human Social Attention. Abgerufen am 11.01.2022 von: https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0956797620924814 4 Obermüller, E., science.ORF.at (2017). Schon Ungeborene reagieren auf Gesichter. Abgerufen am 11.01.2022 von: https://science.orf.at/v2/ stories/2847981/ 5 Ried, V. M., Dunn, K., Young, R. J., Amu, J., Donovan, T. & Reissland, N. (2017). The Human Fetus Preferentially Engages with Face-like Visual Stimuli. Abgerufen am 11.01.2022 von: https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(17)30580-8#%20 1



ORDNUNG & STRUKTUR Oft nehmen wir Ordnung erst dann wahr, wenn sie mit unserer individuellen Definition der Unordnung in Kontrast steht. Demnach werden uns bereits bekannte Strukturen unterbewusst ständig hinterfragt, verändert oder erweitert. Es entsteht ein Übergang zwischen einer bereits bestehenden Ordnung in eine neue Struktur dieser. Jeder bestehende Prozess folgt einer bestimmten Struktur, weshalb es uns schwer fällt Vorgänge, welche für uns bereits als automatisiert und alltägliche gelten, überhaupt wahrzunehmen oder sogar zu beeinflussen. Wir handeln in vielen alltäglichen Situationen nach einem Muster beziehungsweise auf eine bestimmte Art und Weise, da diese für uns eine Gewohnheit - eine Stuktur - geworden ist. Wenn wir eine Stimulation bereits erlebt haben, reagieren wir auf diese mit dem jeweiligen Verhaltensmuster, dass uns in der Vergangenheit den größten Erfolg erbracht hat.6 Viele dieser Verhaltensmuster eignen wir uns bereits im Kindesalter an.

Ein Beispiel für die Verselbständigung einer Reaktion wäre das Konsumieren einer Mandarine. Bereits der erste Schritt, das Schälen der Frucht, beinhaltet ein System. Zu erwarten ist jedoch, dass es hierbei eine Vielfalt von Herangehensweisen gibt, was ich mithilfe einer Fotoreportage darstellte. Erkennbar wird dabei, dass der Aufbau der Frucht selbst unsere Reaktion und somit unser Handlungsmuster stark beeinflusst. Ihre Struktur leitet uns dazu an, die vorhandenen Glieder so voneinander zu trennen, dass der Verzehr bequem ist.

Das Affordanz-Konzept nach dem amerikanischen Psychologen James J. Gibson beschreibt diese Wahrnehmung. „Dinge, unsere Umwelt, aber auch Lebewesen zeichnen sich demnach durch das Spektrum ihrer möglichen Verwendungszwecke aus […]“ (Contzen, E., 2017). Das bedeutet jedoch, dass es sich hierbei um eine Wahrnehmung handelt, welche relativ und situativ ist (vgl. Gibson 1986, S. 127– 128). Meine Beobachtungen, welche in den Bildreihen von oben nach unten verlaufend wiedergegen wurden, unterstützen genau diesen Gedanken. Obwohl wir bereits „[…] auch ohne Ausprobieren die eigenen Handlungsmöglichkeiten gegenüber den Umweltobjekten erkennen können“ (Guski, R. & Blöbaum, A., 2008, S. 8) variieren diese zwar von Person zu Person, haben jedoch dasselbe Ziel und Resultat: der Konsum der Mandarine.

Kaffenberger, M. (2018). Potenzial, Psychologie, Wissen. Abgerufen am 05.01.202 von: https://www.marcelkaffenberger.com/ unterbewusstsein/ Contzen, E. (2017) Die Affordanzen der Liste. Z Literaturwiss Linguistik 47, 317–326. Abgerufen am 07.01.2022 von: https://doi.org/10.1007/s41244-017-0062-6 Gibson, J.J. (2014). The Ecological Approach to Visual Perception: Classic Edition (1st ed.). Psychology Press. Abgrufen am 07.01.2022 von: https://doi.org/10.4324/9781315740218 Guski, R. & Blöbaum, A. (2008) Umwelt-Wahrnehmung und Umwelt-Bewertung. Abgerufen am 07.01.2022 von: https://www.researchgate.net/profile/Anke-Bloebaum-2/publication/228872078_Umwelt-Wahrnehmung_und_Umwelt-Bewertung/links/562f6c5f08aeb2ca6962011b/Umwelt-Wahrnehmung-und-Umwelt-Bewertung.pdf 6



ORDNUNG & UNORDNUNG Bei näherem Betrachten gedruckter Bilder wird uns schnell auffallen, dass diese in Wirklichkeit kein homogenes Ganzes sind, sondern aus einer Vielzahl kleiner Punkte bestehen. Doch warum fällt uns diese Tatsache erst bei genauerem Beobachten oder in einigen Fällen sogar gar nicht auf? Grund dafür sind sogenannte Druckraster. Dabei handelt es sich um eine Technologie, welche bestimmt, in welcher Häufigkeit und Größe Punkte gedruckt werden müssen, damit sie von unserem Auge als durchgängiges Bild wahrgenommen werden können. Diese Raster werden grundsätzlich in zwei Ordnungen unterschieden: einfarbige, autotypische Raster und stochastische Raster.7 Bei einem autotypischen Raster werden Punkte nebeneinander und übereinander gedruckt, es findet somit eine Mischung dieser statt.8 Bei einem stochastischen Raster variiert die Anordnung der Rasterpunkte, wodurch ein Moiré-Effekt entsteht. Im Gegensatz zu dem bereits erwähnten autotypischen Aufbau, bleibt bei dieser Form des Druckes die Rasterpunktgröße durchgehend konstant. 9 Das erste Mal angewendet wurde die Technik bereits in der Mitte der 19. Jahrhunderts, da als Folge des Impressionismus der Pointilismus entstand. Anlass für die Entstehung der Strömung war die wissenschaftliche Erkenntnis, dass unsere Netzhaut wahrgenommene Bilder in der Form eines Rastermusters erkennt und zu einem Vollkommenen zusammenfügt.10 Somit erschufen Maler wie Georges Seurat, Paul Signac und Vincent Van Gogh Punkt für Punkt oder Strich für Strich ihre Werke. Ein Künstler, welcher ebenfalls im Stil des Pointilismus arbeitet, ist Nathan Manire. Das Bemerkenswerte an seinen Arbeiten ist, dass es dem Betrachter nur möglich ist das Motiv wahrzunehmen, wenn er es aus der Entfernung anblickt. Von nahem nehmen wir nur farbige Kreise aus Aquarell, welche säuberlich in einem Raster angeordnet wurden, wahr, aus einer Distanz beobachtet entstehen jedoch Gesichter oder gar ganze Körper. Es entsteht folglich eine Art Verwirrung, da unsere Augen versuchen die Bilder zu fokussieren, um das Motiv zu deuten. Am eindeutigsten sind sie somit von Nahem, wodurch die Punkte in Rasterform zu erkennen sind, oder aus einer Distanz, die es uns ermöglicht die Figuren deutlich wahrzunehmen. Alle Zwischeneben scheinen verschwommen und wirken daher unordentlich. Der Abstand stellt hierbei daher eine Grenze zwischen Ordnung und Unordnung her, die bei jedem Blick auf die Bilder Nathan Manire’s neu geformt wird. Es bildet sich eine spannende Interaktion des Betrachters und dem betrachteten Bild.

Blandino, G. (2019). Die Welt Des Drucks DRUCKRASTER UND IHRE FUNKTIONSWEISE. Abgerufen am 08.01.2022 von: https://www. pixartprinting.de/blog/druckraster-funktionsweise/ 8 Autotypische Farbmischung (2014). Druckstudio Gruppe. Abgerufen am 08.01.2022 von: https://www.druckstudiogruppe.com/glossary/ autotypische-farbmischung/ 7





ORDNUNG & HABITUS Die Definition des lateinischen Wortes Habitus begann schon zu Zeiten des Aristoteles, welches er in seiner Philosophie als eine Art Haltung beschrieb. Unter dem Begriff versteht man allgemein die Grundhaltung eines Individuums zu sich selbst und folglich auch zu seiner Umwelt (vgl. Gebauer, G. 2017, S. 1). „Innen und außen des Menschen bilden eine gemeinsame Form.“ (Gebauer, G. 2017, S.1). Geprägt wurde dieses Bild besonders durch die Soziologen Pierre Bourdieu und Norbert Elias.

Daher ist es umso wichtiger das Chaos, welches durch eine Reizüberflutung der verschiedenen auf einen einprallenden und Meinungen oder Haltungen entsteht, zu ordnen. Jeder hat schon einmal davon gehört, dass man am glücklichsten sei, wenn man mit sich selbst im Einklang ist. Dieser Aussage stimme ich auch teilweise zu, jedoch ist wichtig zu beachten, dass man auch mit seiner Umwelt im „Einklang“ sein sollte, da laut Soziologen wie Pierre Bourdieu Pierre unser Habitus auch von außen bestimmt wird.

„Die Begriffe Identität und Habitus bezeichnen Verhaltensdispositionen, die Menschen im Verlauf ihres Lebens entwickeln. Individuen statten sich selbst mit bestimmten sozialen Merkmalen aus und ordnen sich sozialen Gruppen zu. Auch werden sie von anderen zugeordnet und sozial typisiert; […]“ (Liebsch, K. 2006, S.68) Die Entwicklung unseres „Selbstbildes“, welches mehr oder weniger eine Einheit von Fähigkeiten, Neigungen und Vorstellungen beziehungsweise Wünschen darstellt, ist ausschlaggebend für unseren individuellen Begriff der Identität. Unser Selbstbild bezeichnet dementsprechend die Vorstellung, welche wir von uns haben. Natürlich kann diese daher leicht eine Idealisierung oder auch eine Untertreibung unseres eigentlichen Selbst sein. Oft wird unsere Identität stark durch äußere Einflüsse, unserer Umwelt, beeinflusst. Ob dies nun aufgrund von durch Medien popularisierten Schönheitsidealen geschieht oder kulturelle und somit auch familiäre Hintergründe hat, spielt im Allgemeinbild keine Rolle. Es ist schließlich jedem bekannt, dass es schlechte, aber auch gute Einflüsse gibt, die uns in unserem Selbst bestärken oder entmutigen.

Gebauer G. (2017) Habitus. In: Gugutzer R., Klein G., Meuser M. (eds) Handbuch Körpersoziologie. Springer VS, Wiesbaden. Abgerufen am 15.01.2022 von: https://doi.org/10.1007/978-3-65804136-6_5 Liebsch K. (2006) Identität und Habitus. In: Korte H., Schäfers B. (eds) Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. Einführungskurs Soziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90032-2_4



BILDQUELLEN ORDNUNG & GESTALT Abbildung 1: Na, müde? Die Fassade dieses Hauses erinnert an ein Gesicht. © Wolfram Steinberg/DPA https://www.stern.de/gesundheit/psychologie/psychologe-erklaert--darum-erkennen-wir-in-gegenstaenden-gesichter-7784570.html Abbildung 2: ©Shaquiralee Hobbs/Forbidden Fruit Photography https://www.dailymail.co.uk/news/article-10242547/Booragul-woman-sees-face-man-hidden-inside-clouds-stormy-weather.html Abbildung 3: © DREAMSTIME / HUNK (Ausschnitt) https://www.spektrum.de/magazin/gestaltwahrnehmung-warum-wir-in-wolken-strassenschildern-oder-gullydeckeln-gesichter-erkennen/1281573

ORDUNG & STRUKTUR Alle Abblidungen: Porsche, L. (2021) Ordnung & Struktur, Eigene Aufnahmen

ORDNUNG & UNORDNUNG Abbildung 1: (Vollbild) https://www.behance.net/gallery/10030003/Dot-Portrait-%28Lona%29:Lorna von Nathan Manire Abbildung 2: (Vollbild) https://www.behance.net/gallery/7367739/Dot-Portrait-%28Phoebe%29 Phoebe von Nathan Manire Abbildung 3: (Vollbild) https://www.behance.net/gallery/7299115/Dot-Portrait-%28Annie%29 Annie von Nathan Manire


Eidesstattliche Versicherung Hiermit versichere ich, dass ich die Hausarbeit selbstständig verfasst und keine andere als die angegebene Fachliteratur, Quellen und Hilfsmittel benutzt habe, alle Ausführungen, die anderen Schriften wörtlich oder sinngemäß entnommen wurden, kenntlich gemacht sind und die Arbeit in gleicher oder ähnlicher Fassung noch nicht Bestandteil einer Studien oder Prüfungsleistung war.

Leonie Porsche



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